Anatole France
Das Hemd eines Glücklichen
Anatole France

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Der Pfarrer Handschuh

»Ich kehre zu der Meinung zurück«, sagte Waldteufel zu Vierblatt, »daß wir, wenn wir nichts fanden, schlecht gesucht haben. Ich glaube fest an die Tugend, glaube an das Glück. Sie sind unzertrennlich. Sie sind selten; sie verbergen sich. Wir entdecken sie vielleicht unter Strohdächern fern auf dem Lande. Wenn Sie auf mich hören wollen, so suchen wir sie namentlich in der unwirtlichen Berggegend, die unser Savoyen und unser Tirol ist.«

Vierzehn Tage darauf hatten sie sechzig Bergdörfer abgestreift, ohne einen Glücklichen zu finden. All das Elend, das die Städte erfüllt, fanden sie in diesen Weilern wieder, durch die Roheit und Unwissenheit der Menschen nur noch verschlimmert. Hunger und Liebe, diese beiden Geißeln der Natur, schlugen hier die unglücklichen Leute häufiger und ärger. Sie sahen geizige Besitzer, eifersüchtige Ehemänner, verlogene Frauen, giftmischerische Mägde, mordlustige Knechte, blutschänderische Väter, Kinder, die ihrem alten Großvater, der am Herd schlummerte, den Backtrog über den Kopf stülpten. Die Bauern fanden nur an der Trunkenheit Spaß; ihre Freude selbst war brutal, ihre Spiele waren grausam. Ihre Feste endeten mit blutigen Schlägereien.

Je länger sie diese Menschen beobachteten, desto mehr erkannten Vierblatt und Waldteufel, daß ihre Sitten weder reiner noch besser sein konnten, da der geizige Boden sie geizig machte und ein hartes Leben sie gegen fremdes Leid wie gegen das eigene verhärtete; und wenn sie eifersüchtig, begehrlich, falsch, verlogen waren und stets bestrebt, einander zu übervorteilen, so war dies die natürliche Wirkung ihrer Dürftigkeit und ihres Elends.

»Wie konnte ich auch nur einen Augenblick glauben«, sagte Waldteufel, »daß das Glück unter einem Strohdache wohnt! Das ist vielleicht nur die Folge der klassischen Bildung. Virgil sagt im Lehrgedicht über den Landbau, den Georgica, die Landleute seien glücklich, wenn sie sich ihres Glückes bewußt seien. Er gibt also zu, daß sie keine Ahnung davon haben. In der Tat schrieb er auf Befehl des Augustus, dieses trefflichen Reichsverwalters, der befürchtete, es möchte in Rom an Brot fehlen, und der das Land wieder zu bevölkern suchte. Virgil wußte wie alle Welt, daß das Landleben hart ist. Hesiod hat ein furchtbares Bild davon entworfen.«

»Etwas steht fest«, sagte Vierblatt, »überall auf dem Lande haben die Burschen und Mädchen nur ein Verlangen: sich nach der Stadt zu verdingen. An der Küste träumen die Mädchen davon, in die Sardinenfabriken zu gehen. In Kohlendistrikten denken die Bauernjungen an nichts anderes, als in die Bergwerke hinabzusteigen.«

Ein Mensch in diesen Bergdörfern zeigte unter all den sorgenvollen Stirnen und gerunzelten Mienen ein treuherziges Lächeln. Er konnte weder das Feld bestellen noch Tiere lenken; er wußte nichts von dem, was die Menschen sonst wissen, hielt sinnlose Reden und sang den ganzen Tag eine Weise, die er nie beendete. Alles entzückte ihn. Er war stets im Himmel. Seine Kleidung bestand aus Flicken in allen Farben, die seltsam zusammengestoppelt waren. Die Kinder liefen ihm nach und höhnten ihn; doch da er für einen Glücksbringer galt, tat ihm niemand etwas zuleide, und man gab ihm das wenige, dessen er bedurfte. Das war Hurtepoix, der Tor. Er aß mit den jungen Hunden vor den Türen und schlief in den Scheunen.

Da Waldteufel gemerkt hatte, daß er glücklich war, und vermutete, daß die Landleute ihn nicht ohne tieferen Grund für einen Glücksbringer hielten, suchte er ihn nach reiflicher Überlegung auf, um ihm sein Hemd fortzunehmen. Er fand ihn, in Tränen gebadet, in der Vorhalle der Kirche auf dem Boden liegend: Hurtepoix hatte soeben vom Tod Jesu Christi vernommen, der für das Heil der Menschheit gekreuzigt worden war.

Die beiden Beamten des Königs kamen in ein Dorf, dessen Schulze das Wirtshaus führte. Sie tranken mit ihm und forschten ihn aus, ob er nicht zufällig einen Glücklichen kenne.

»Meine Herren«, antwortete er, »gehen Sie in das Dorf, dessen weiße Häuser Sie da am andern Talrand über den Berghang verstreut sehen, und sprechen Sie beim Pfarrer Handschuh vor. Er wird Sie sehr gut aufnehmen, und Sie werden einen Menschen finden, der glücklich ist und sein Glück verdient. Sie kommen in zwei Stunden hin.«

Der Schulze erbot sich, ihnen Pferde zu vermieten. Nach dem Frühstück ritten sie fort.

Ein junger Mann, der denselben Weg ritt und ein besseres Pferd hatte, holte sie an der ersten Biegung ein. Er hatte eine offene Miene, ein fröhliches, gesundes Aussehen. Sie knüpften eine Unterhaltung mit ihm an.

Als er hörte, daß sie zum Pfarrer Handschuh wollten, sagte er: »Grüßen Sie ihn, bitte, von mir. Ich reite etwas höher hinauf, nach Finkenau, wo ich wohne, mitten im schönsten Weideland. Ich hab's eilig nach Hause.«

Er erzählte ihnen, er habe das liebenswürdigste und beste Weib geheiratet und von ihr zwei Kinder, schön wie die Sonne, einen Jungen und ein Mädchen.

»Ich komme aus der Stadt«, setzte er in fröhlichem Tone hinzu, »und bringe schöne Kleiderstoffe heim, mit Mustern und Modebildern, auf denen man das fertige Kleid sieht. Alix, so heißt meine Frau, ahnt nichts von dem Geschenk, das ich ihr mitbringe. Ich werde ihr das Paket zugeschnürt geben und freue mich schon darauf, wie ihre hübschen, ungeduldigen Finger sich abquälen werden, die Schnur aufzunesteln. Sie wird sehr zufrieden sein; ihre Augen werden sich entzückt und strahlend zu mir erheben, und sie wird mich umarmen. Wir sind glücklich, meine Alix und ich. Seit den vier Jahren, die wir verheiratet sind, lieben wir uns täglich mehr. Wir haben die fettesten Triften im Lande. Unsere Dienstleute sind auch glücklich; sie können gut mähen und tanzen. Sie müssen den Sonntag mal zu uns herauskommen, meine Herren: da trinken Sie unsern leichten Landwein und sehen unsere hübschesten Mädchen tanzen und unsere kräftigsten Burschen, die Ihnen ihre Tänzerin aufheben und herumwirbeln wie eine Feder. Unser Haus liegt eine halbe Stunde von hier. Man reitet rechtsherum zwischen den beiden Felsen, die Sie da fünfzig Schritte vor sich sehen und die man die Gemsfüße nennt. Dann geht es über eine hölzerne Brücke, die über einen Gießbach führt, und quer durch das Fichtengehölz, das uns vor dem Nordwind schützt. In weniger als einer halben Stunde hab ich meine kleine Familie wieder, und wir werden alle zufrieden sein.«

»Man muß ihn um sein Hemd bitten«, flüsterte Vierblatt seinem Gefährten zu. »Ich vermute, es ist mehr wert als das des Pfarrers Handschuh.«

»Ich glaube auch«, antwortete Waldteufel.

In dem Augenblick, da sie diese Worte wechselten, kam ein Reiter zwischen den Gemsfüßen hervor und machte stumm und finster vor den Reisenden halt. Der junge Landmann erkannte einen seiner Pächter.

»Was gibt's, Ulrich ?« fragte er.

Ulrich gab keine Antwort.

»Ein Unglück? Sprich!«

»Herr, Ihre Frau war so ungeduldig, Sie wiederzusehen, und da ist sie Ihnen entgegengegangen. Die Holzbrücke ist eingestürzt, und sie ist mit ihren zwei Kindern im Gießbach ertrunken.«

Sie verließen den jungen Bergbewohner, der vor Schmerz rasend war, und begaben sich zum Pfarrer Handschuh. Sie wurden in ein Zimmer geführt, das als Sprechzimmer und Bibliothek diente. Auf Brettern von Fichtenholz standen etwa tausend Bände, und an den weißgetünchten Wänden hingen alte Stiche nach Landschaften von Claude Lorrain und Poussin. Alles offenbarte eine Bildung und geistige Gewohnheiten, die man in einem Pfarrerhaus auf dem Lande nicht häufig antrifft. Der Pfarrer Handschuh, ein Mann in mittleren Jahren, schaute klug und gutmütig drein.

Seinen beiden Besuchern, die so taten, als wollten sie sich in der Gegend niederlassen, rühmte er das Klima, die Fruchtbarkeit und Schönheit des Tales. Er bot ihnen Weißbrot, Obst, Käse und Milch an. Dann führte er sie in seinen Gemüsegarten, der von reizender Frische und Sauberkeit war. Auf der Sonnenseite der Mauer breiteten Spaliere ihre Äste mit geometrischer Regelmäßigkeit aus; die spindelförmigen Obstbäume standen in gleichen Abständen, gut ausgerichtet und wohlgepflegt.

»Langweilen Sie sich nie, Herr Pfarrer?« fragte Vierblatt.

»Die Zeit dünkt mir kurz zwischen meiner Bibliothek und meinem Garten«, antwortete der Priester. »So ruhig und friedlich mein Dasein auch verläuft, so ist es darum doch nicht minder tätig und arbeitsam. Ich lese die Messe, besuche die Kranken und Bedürftigen, nehme meiner Gemeinde die Beichte ab. Die armen Kreaturen haben nicht viele Sünden zu bekennen. Kann ich darüber klagen? Aber sie erzählen sie lang und breit. Etwas Zeit brauche ich auch, um meine Predigten und Katechismusstunden vorzubereiten; vor allem diese machen mir viel Mühe, obgleich ich sie seit zwanzig Jahren abhalte. Es ist so schwer, zu Kindern zu sprechen: sie glauben alles, was man ihnen sagt. Ich habe auch meine Erholungsstunden. Ich mache Spaziergänge; es sind immer die gleichen, und doch sind sie ungemein abwechslungsreich. Eine Landschaft verändert sich mit den Jahreszeiten, den Tagen, Stunden, Minuten; sie ist stets anders, stets neu. Die langen Abende der schlechten Jahreszeit verbringe ich angenehm mit alten Freunden, dem Apotheker, dem Steuereinnehmer und dem Friedensrichter. Wir musizieren. Morine, meine Magd, röstet ausgezeichnet Kastanien; wir regalieren uns damit. Was schmeckt besser als Kastanien mit einem Glase Weißwein?«

»Herr Pfarrer«, sagte Vierblatt zu dem guten Geistlichen, »wir stehen im Dienste des Königs und kommen, Sie um eine Erklärung zu bitten, die für das Land, ja für die ganze Welt von großer Bedeutung sein kann. Die Gesundheit, wo nicht gar das Leben des Monarchen steht auf dem Spiele. Darum bitten wir Sie, unsere Frage zu entschuldigen, so seltsam und indiskret sie Ihnen auch scheinen mag, und sie ohne Rückhalt und Verschweigung zu beantworten: Herr Pfarrer, sind Sie glücklich?«

Herr Handschuh ergriff Vierblatts Hand, drückte sie und sagte kaum hörbar: »Mein Dasein ist eine Qual. Ich lebe in beständiger Lüge. Ich bin ungläubig.«

Und zwei Tränen rollten über seine Wangen.

 


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