Anatole France
Der dürre Kater
Anatole France

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Die Novemberstürme peitschten seit drei Tagen die dicht bevölkerte Vorstadt, die sich jetzt in die ersten Schatten der Nacht hüllte. Wasserlachen blinkten unter den Gaslaternen. Trottoir und Straße waren mit einem schwarzen Schlamm bedeckt, den die Schritte der Menschen und Pferde stets von neuem aufwühlten. Die Arbeiter, ihr Werkzeug auf dem Rücken, und die Frauen, die ihre Portion Rindfleisch zwischen zwei Tellern aus der Garküche heimtrugen, duckten sich unter dem Regen und trotteten stumpfsinnig dahin wie müde Lasttiere. In seinen schwarzen Anzug eingezwängt, stieg Herr Godet-Laterrasse unter der Menge die schmutzige Straße zum Montmartre hinan. Unter seinem Regenschirm, der, von manchem Sturm zerzaust, wie der Flügel eines großen verwundeten Vogels im Winde schwankte, schritt Herr Godet-Laterrasse erhobenen Hauptes. Sein vorspringender Kiefer und die eingedrückte Stirne brachten sein Gesicht unwillkürlich in eine horizontale Lage, und seine Augen konnten, ohne sich zu heben, durch den zerschlissenen Taft den rußigen Himmel sehen. Bald fieberhaft eilig, bald nachdenklich langsam ausschreitend, lenkte er in eine dunkle, schlammige Sackgasse ein, ging an den vermoderten Latten des entblätterten Hagebuchengangs längs der Badeanstalt vorbei und betrat nach kurzem Zögern eine Kneipe; die Menschen hier, in zerknittertes, abgewetztes schwarzes Tuch gekleidet wie er, saßen stumm vor ihren Speisen, in einer Atmosphäre von abgestandenem Fett und dem widerlichen, feuchtwarmen Wäschedunst der benachbarten Badeanstalt.

Herr Godet-Laterrasse grüßte das Fräulein am Büfett in seiner üblichen Art: mit einem ernsten Lächeln und einem Zurückschleudern des Kopfes. Dann hängte er den abgegriffenen und verbeulten Hut an einen Haken, setzte sich an einen kleinen, fettglänzenden Marmortisch und glättete sein Haar mit der Geste, die gewohnheitsmäßig seine Meditationen begleitete. Das summende Gas beleuchtete die wolligen Haare dieses Mannes und sein Mulattengesicht. Vom Schnee und Regen der europäischen Winter schlecht gebleicht, erschien seine Haut schmutzig und die flachen Nägel seiner runzligen Hände waren an den Spitzen mit milchigen Strichen gezeichnet.

Ohne den Kellner zu rufen, ohne nach dem Schanktisch hinzusehen, zog er aus der Tasche eine Zeitung, die er mit lauter Stimme zu lesen begann. Er unterbrach kaum seine Lektüre, um von dem Kalbskopf zu essen, der portionsweise schon vor all diesen stummen und resignierten Gästen erschienen war. Die Gäste entschwanden jetzt einer nach dem andern in die Nacht und in den Regen. Nur einer noch kaute trübsinnig mit dem zahnlosen Mund getrocknete Weinbeeren. Der Mulatte leerte seinen Schoppen, auf dessen Grund ein Bodensatz von Hefe und Schalen zurückblieb, wischte sich den Mund und faltete seine Serviette. Mit der Geste eines Ringers, der seinen Gegner an sich drückt, steckte er die Zeitung in seine Brusttasche und erhob sich, nahm seinen Hut vom Haken und machte einen Schritt zur Tür. Schon wollte er in die feuchte Nacht hinauseilen, als in der von schmierigen Händen ganz geschwärzten Seitentür ein kleiner, fettriefender, purpurroter Mann auftauchte und hinkend durch den Saal auf ihn zuschritt. Herr Godet-Laterrasse begrüßte den Wirt des Restaurants in der gewohnten Weise mit dem Zurückwerfen des Kopfes.

»Guten Abend, Herr Godet«, sagte der kleine fette Mann. »Ein schlimmes Wetter, heut', richtet viel Schaden an! Was ich sagen wollte, Herr Godet, könnten Sie mir nicht morgen eine kleine Anzahlung machen, es wäre mir sehr angenehm. Ich will Sie ja nicht drängen, das wissen Sie doch; aber ich habe in dieser Woche große Zahlungen zu leisten.«

Herr Godet-Laterrasse erwiderte in einem Tonfall, redegewandt und kindlich zugleich, und ohne das R auszusprechen, daß man ihm Geld schulde, daß er morgen bestimmt eine beliebige Summe bei seinem Verleger oder in der Redaktion sich holen werde; er begreife wirklich nicht, wie er nur diese Schuld bei seinem Wirt habe vergessen können, es sei doch nur eine Bagatelle.

Der fette Mann schien durch dieses Versprechen nicht geblendet. Er erwiderte mit klagender Stimme: »Vergessen Sie mich nicht, Herr Godet. Guten Abend, Herr Godet.«

Und nun trat auch Herr Godet-Laterrasse in das vom Regen durchfurchte Dunkel, in das sich bereits all die hageren Kostgänger der ›Impasse du Baigneur‹ verloren hatten. Sämtliche Wege der Erde standen ihm offen. Er nahm den zum Montmartre, den der Sturm verheerte und ein hartnäckiger Regen überschwemmte. Ein Wirbelwind wollte den Mulatten zu Boden stürzen. Ein tückischer Stoß packte seinen Schirm von unten und drehte ihn plötzlich um. Herr Godet-Laterrasse gab diesem nützlichen Instrument seine ursprüngliche Gestalt zurück; aber der Taft war nun überall geplatzt und flatterte wie eine schwarze Fahne um das nackte Gerippe. Herr Godet-Laterrasse kletterte unter dieser düsteren und seltsamen Flagge vorbei, an den Treppenkönigen, der Passage Cotin, die in einen Sturzbach verwandelt war. Er hörte nur das Aufklatschen seiner Sohlen im Wasser und das geheimnisvolle Zwiegespräch der Winde. Die schwanken Gestalten eines Verlegers und eines Zeitungsdirektors, nur ihm allein sichtbar, entflohen vor ihm ins Weite. Er stieg achtzig Stufen empor und blieb an einer kleinen Türe stehen, unter einer Laterne, die wie ein krankes Auge blinzelte und knarrend an ihrem Ring schwankte. Er betrat das Haus und huschte eilig an der Portiersloge vorbei. Aber ein mehrmaliges Klopfen gegen den Bretterverschlag rief ihn zurück. Er öffnete die Glastür mit einem beklemmenden Angstgefühl. Eine scharfe Stimme, die weder einem Manne noch einer Frau anzugehören schien, drang aus einem Alkoven und benachrichtigte ihn, daß auf der Kommode ein Brief für ihn liege. Er nahm den Brief, stieg fünf glitschige Stufen hinab und trat in sein Zimmer. Bei dem ersten Schimmer der Kerze prüfte er mit argwöhnischem Blick den Briefumschlag.

Seit langem schon brachte ihm die Post nichts Erfreuliches. Aber als er das Siegel erbrochen und zu lesen begonnen hatte, entblößte ein naives Lächeln seine weißen Zähne. Seine kindliche Natur, vom Elend bedrückt, erheiterte sich bei der geringsten freundlichen Wendung des Schicksals. In diesem Augenblick freute ihn das Leben.

Er kehrte alle seine Taschen um und fand darin noch etwas Tabakstaub, vermischt mit Brotkrumen und Wollflocken; er stopfte damit seine kurze Pfeife, streckte sich dann behaglich zwischen den schmutzigen Laken seines Bettsofas aus und begann halblaut den Brief zu singen, der ihn so erheitert hatte.

Sehr geehrter Herr!

Ich bin vorübergehend in Paris mit meinem Sohn Remi den ich aus Brest abholte, wo er bis jetzt studiert hat. Ich habe an Sie gedacht, um ihn zum Baccalaureat vorzubereiten. Was Erziehung anlangt, so bin ich, wie übrigens in allem ein Anhänger fortschrittlicher Ideen. Wollen Sie morgen, Samstag, 11 Uhr zum Frühstück ins Grand-Hotel kommen, damit wir uns verständigen.

Ihr aufrichtiger

A. Sainte-Lucie.

Als Herr Godet-Laterrasse den Gesang dieses Briefes beendet hatte, steckte er sich die Pfeife an und hüllte sich in Rauchwolken und Träume. Welch ein Glücksfall, dieser unerwartete Brief! Gegen Ende des Kaiserreichs hatte er in Paris bei irgendeiner hervorragenden Persönlichkeit der demokratischen Welt Herrn Sainte-Lucie kennengelernt, der ihm sogar einen Besuch gemacht hatte. »Das war,« so dachte der Mulatte, »zu jener Zeit, als ich die Abhandlungen für die Große Universal-Enzyklopädie schrieb. Ich bewohnte damals ein schönes möbliertes Zimmer in einem Hotel der Rue de la Seine. Und ich muß sogar noch die Karte dieses zuvorkommenden Herrn besitzen.« Er streckte den mageren, braunen Arm nach dem Kaminsims aus und holte eine alte Zigarrenschachtel herab, die voll von Papieren war, in denen er zu kramen begann.

Man hatte wohl beim Umzug auf einmal den ganzen Inhalt einer langsam angefüllten Schublade in diese Schachtel entleert, denn die Papiere, die ihm zuerst in die Hände fielen, waren die ältesten.

Er öffnete einen Umschlag, der in ihm nur ferne, undeutliche Erinnerungen zurückrief. »Ach!« dachte er, »das ist ein Brief meines armen Bruders, der in Saint-Paul Kaffee verkauft. Ihn hat es nicht nach Paris gezogen; er war nicht von der Idee besessen wie ich.« Herr Godet-Laterrasse schlug den Brief auf und las:

Du wirst aus den Zeitungen erfahren haben, daß Bourbon von einem Zyklon heimgesucht worden ist, der alle Plantagen vernichtet hat. Ich bin zum Guano umgeschwenkt. Und was machst Du? Schreibst Du immer noch Deine Mordgeschichten für die Pariser Käsblättchen?

»Der Unselige! Der Unselige!« flüsterte Herr Godet-Laterrasse, den Ellenbogen auf sein Kopfkissen aufgestützt. Und er entfaltete einen anderen Brief von derselben Hand und las wieder:

Ich kann Dir kein Geld schicken, denn die Kaffeernte war hervorragend, und ich habe alle disponiblen Kapitalien zum Ankauf verwenden müssen, während der Markt mit Produkten zu Spottpreisen überschwemmt war. Ich habe ein glänzendes Geschäft gemacht. Du wirst doch verstehen, daß es mir unmöglich ist, Dir Geld zu schicken. Durand, der aus Paris zurück ist, hat mir gesagt, daß Du mit öffentlichen Versammlungen zu tun hättest und mit dem Spektakel auf den Boulevards. Es geht Dir doch noch mal an den Kragen, und dann wird es bei Deinen Freunden heißen, Du seist ein Polizeispitzel gewesen. Wenn Du Deiner Gimpelrolle überdrüssig bist, dann komm nach Bourbon zurück. Hier kannst Du auf meine Magazine aufpassen. Das richtige Handwerk für einen Faulenzer, das Dir sehr zusagen wird.

»Auf seine Magazine aufpassen, eine solche Blasphemie!« rief Herr Godet-Laterrasse entrüstet aus. Und er warf den ruchlosen Brief beiseite.

Auf dem Boden der Schachtel häuften sich Todesanzeigen, Vorladungen und Gerichtsurteile, Rechnungen und kleine Zeitungsausschnitte. Auf einem solchen Ausschnitt, auf dessen Rückseite die Annonce eines Hühneraugenoperateurs mit dem nackten Fuß auf einem Schemel prangte, las er die nachfolgenden Zeilen, die wieder ein Lächeln auf seinem naiven Gesicht erweckten:

Einer unserer kühnsten Geister, einer der tapfersten Pioniere des Fortschritts, Herr Godet-Laterrasse, ein Kreole aus der Réunion, versendet soeben sein großes Werk: ›Die Regeneration der Gesellschaft durch die schwarze Rasse‹. Eines der Hauptkapitel dieses bedeutsamen Werkes wird demnächst im »Literarischen Trichter« erscheinen.

»Ach!« seufzte Herr Godet-Laterrasse, »als dieses Kapitel erscheinen sollte, verkrachte der ›Literarische Trichter‹. Wie viele Zeitungen werden so in ihrer Blüte schon geknickt!«

Endlich fand er inmitten einer Handvoll Visitenkarten auch die Karte, die er suchte. Er betrachtete sie aufmerksam und las:

 

Alidor Sainte-Lucie

Advokat
Unterrichts- und Marineminister a. D.,
Mitglied der Abgeordnetenkammer,
Präsident der Kunstkommission der Republik Haiti

Paris, Grand-Hôtel

Und in dem Rauch, der das Zimmer verfinsterte, sah Herr Godet-Laterrasse den riesenhaften Mulatten vor sich, der mit Gold und glückverheißendem Lächeln aus Haiti gekommen war, dann löschte er die Kerze und schlief ein.

Gespenster beunruhigten seine Träume. Er sah den Geist des Schankwirts der ›Impasse du Baigneur‹ hinkend auf sich zuschreiten und hörte ihn mit entsetzlicher Sanftmut unaufhörlich wiederholen: »Denken Sie an mich, Herr Godet!«

Es war fast neun Uhr und regnete immer noch, als ein Streifen Tageslicht in das Zimmer drang – der widerwärtige Reflex eines Lichts, das sich mehrmals besudelte, ehe es durchdrang. Das Zimmer hatte nur den Ausblick auf die Stützmauer des Nachbarhauses, das mit seinen fünf Stockwerken aus Gips alle Dächer der Passage überragte. Diese fünf, sechs Meter hohe Mauer aus gewölbten Bruchsteinen, schadhaft, rissig, modrig, von Feuchtigkeit triefend, trug oben als Abschluß eine italienische Terrasse mit einer Galerie von roten Ziegelsteinen und stand dicht vor dem Zimmer des Herrn Godet-Laterrasse, so daß ein ewiges Dunkel es beschattete. Das Fenster war von der Mauer nur durch eine schlammige, zwei Schritt breite Allee getrennt, die mit Salatblättern, Eierschalen und Trümmern von Papierdrachen übersät war. Bei seinem Erwachen sah der Mulatte nach den triefenden Fenstern und hob dann die schweren Stiefel auf, deren Sohlen auf dem Fußboden eine nasse Spur hinterlassen hatten. Er zog sie dennoch an, vollendete rasch seine einfache Toilette, ergriff die Ruinen seines Regenschirms und verließ das Zimmer. Als er an der Loge vorbeikam, aus der ein undeutliches Brummen drang, sagte er: »Frau Alexandre, ich werde für die Begleichung Ihrer kleinen Rechnung Sorge tragen.«

Er stieg die zehn höchsten Stufen der Passage Cotin empor, ging in einem Meer von Schmutz an der Fassade des verödeten Schweizerhauses und am Bauplatz der Kirche der Nationalstiftung vorbei. Am unteren Ende der Rue Lepic blieb er plötzlich stehen, um nicht auf zwei Strohhalme zu treten, die durch den Regen auf dem Trottoir vor dem Laden eines Packers in Kreuzform festgeklebt waren. Dieser Gefahr entronnen (denn er zweifelte nicht, daß es von übler Vorbedeutung sei, auf ein Kreuz zu treten) gewann er seine Seelenruhe wieder und hob sein stolzes Haupt. Er schritt als ein Sieger des Geistes auf das Herz von Paris zu und trug hoch erhoben das achtzackige Gerippe seines zertrümmerten Regenschirmes, – wie die Waffe eines wilden Kriegers.

Herr Alidor Sainte-Lucie, Sohn eines reichen Kaufmanns aus Port-au-Prince, absolvierte sein juristisches Studium in Paris und kehrte dann nach Haiti zurück, um der Krönung des Negers Soulouque zum Kaiser Faustin I. beizuwohnen. Er hatte von der schwarzen Majestät alles zu fürchten, da er ein Farbiger und reich war. Mutig ging er der Gefahr entgegen und machte sich dem kaiserlichen Palast durch den Eifer bemerkbar, mit dem er die schwarze Politik des Herrschers unterstützte. Zum Generalprokurator am kaiserlichen Hofe von Port-au-Prince ernannt, ließ er in bester Absicht einige seiner Mitbürger erschießen. Er nahm vom Kaiser das Portefeuille des Unterrichts und der Marine in Empfang; da er aber merkte, daß im geheimen eine energische Opposition sich vorbereitete, nahm er Urlaub und trat eine Reise nach Frankreich an. Von Paris aus nahm er mit begeisterten Briefen an der Revolution teil, die den blutigen Belustigungen der schwarzen Herrschaft ein Ende setzte, und kehrte dann nach Haiti zurück, um sich zum Mitglied der Deputiertenkammer ernennen zu lassen. Seine erste Amtshandlung in dieser Versammlung war die Vorlage eines Projekts zur Errichtung eines Sühnedenkmals für die Mannen der Opfer der Tyrannei. Es gab unter diesen Opfern wohl etliche, denen der einstige kaiserliche Prokurator ein Grabmal schuldig war.

Das Projekt wurde in Erwägung gezogen, der Vorschlag durch Abstimmung angenommen und der Bürger Alidor Sainte-Lucie zum Präsidenten der Kommission ernannt, die mit der Ausführung dieses Nationalwerks beauftragt wurde. Herr Alidor erfaßte die ganze Tragweite dieser Präsidentschaft. Kaum ging es auf der Insel wieder ans Füsilieren, so nahm er seinen Paß und reiste ab, um bei Pariser Künstlern Entwürfe von Sühnedenkmälern zu bestellen. Er vergötterte Paris wegen der kleinen Theater und politisierenden Kaffees. Jetzt nach zwanzig Jahren war die Kunstkommission immer noch in Tätigkeit.

Herr Alidor Sainte-Lucie war damals ein prachtvoller Mulatte, großmächtig und doch geschmeidig. Sein breites, kupferfarbiges Gesicht sah trotz der eingedrückten Nase imposant aus, besonders seit seine Stirne vom Haare entblößt, wie eine helle Bronze strahlte. Er ließ sich nicht dazu herab, sein rüstiges Alter zu verheimlichen, trug aber den graugesprenkelten Bart ganz kurz gestutzt. Auf seine Person verwandte er viel Sorgfalt, liebte weiße Westen, Lackschuhe und den Duft von berauschend süßen Parfüms.

In einer solchen Wolke von Duft, den mächtigen Körper in einem gutsitzenden Jackett nach englischem Schnitt, schritt er in seinem Hotelzimmer auf und ab, in Erwartung des Erziehers, indessen sein Sohn Figuren auf einen Buchumschlag kritzelte und der Kellner neben dem Kamin einen Tisch für drei Personen deckte.

Alle Möbel waren bedeckt mit den Modellen, Skizzen, Entwürfen, Photographien, Plänen, Aufrissen, Tuschezeichnungen und Bauanschlägen des Gedächtnisdenkmals für die Opfer der Tyrannis. Auf der Konsole stand eine kleine Pyramide aus bemaltem Gips, mit goldenen Palmen bedeckt; auf dem Schreibtisch eine Säule aus gebranntem Ton, darüber eine Art geflügelter Affe und auf dem Sockel die Inschrift: »Dem Genius der schwarzen Freiheit.« Eine Photographie auf dem Kamin, an den Spiegel gelehnt, stellte eine Negerin dar, die auf einen Sarkophag eine Papierrolle niederlegt mit den einfachen Worten: »Kunstkommission: Präsident Herr Sainte-Lucie.« Nichts weiter.

Am Boden lag eine halbgeöffnete gußeiserne Hand, eine riesenhafte Hand, die aus den Falten eines Vorhangs wie aus einem ihrer Größe angepaßten Ärmel herausragte; am Handgelenk trug sie die Etikette: ›Detail der Ausführung. Projekt 17. E. D.‹ Drei kleine goldgelbe Brötchen ruhten auf den Servietten. Herr Sainte-Lucie sah nach der Kaminuhr. Hatten die knusprigen, mit Eiweiß polierten Brötchen seinen Appetit erweckt oder fürchtete er, warten zu müssen; – seine Sammetaugen, die eben noch in sanftem Leuchten unter den leicht gespannten Augenlidern rollten, funkelten jetzt plötzlich wild auf. Aber sie wurden gleich wieder zärtlich und mild, als Herr Godet-Laterrasse unter der vom Kellner zurückgeschlagenen Portiere erschien. Man sah zunächst nichts als ein Kinn über einem langen Adamsapfel, der aus einer weißen Baumwollkrawatte herausgerutscht war; Herr Godet-Laterrasse grüßte.

»Mein Sohn Remi«, sagte Herr Sainte-Lucie, den jungen Mann vorstellend, der von seiner unvollendeten Skizze aufzustehen geruhte und sich lässig räkelnd nähertrat.

Er war ein hübscher Bursche mit ganz reinem olivenfarbigem Teint. Er blickte mit gelangweilten Augen um sich und schien seinen großen sinnlichen Mund jeder Laune hinzugeben.

Man setzte sich zu Tisch. Herr Sainte-Lucie war noch einmal so breit wie Herr Godet-Laterrasse. Der Mulatte aus Haiti hatte eine warme, schimmernde Hautfarbe, die neben der schmutzigen und wie mit Ruß schlecht verwischten des andern noch mehr zur Geltung kam. Der Mulatte aus Bourbon war dürftig, schäbig, dreckig. Aber der Ausdruck naiver Emphase und kindlichen Stolzes in seinem Antlitz flößte jene mitleidige Sympathie für ihn ein, wie man sie für gelehrte Hunde und unglückliche Genies empfindet.

Die Angelegenheit, die sie zusammengeführt hatte, wurde zwischen dem Nierenragout und den Zuckererbsen verhandelt. Herr Godet-Laterrasse wollte Erklärungen veranlassen.

»Nun, mein Freund!« sagte er zu seinem künftigen Schüler, ihm auf die Schulter klopfend, »wir streben also nach Würden unserer alten Universität?«

Und Herr Alidor, so geködert, zerkrümelte nachlässig sein Brot und entgegnete: »Wie ich Ihnen bereits geschrieben habe, mein lieber Godet, nebenbei gesagt, es ist mir schwer gefallen, Ihre Adresse ausfindig zu machen. Nur durch einen großen Zufall hat Brandt . . . Sie wissen doch, der Schneider Brandt, Sie entdeckt. Es scheint, daß auch er Sie suchte.«

»Schon möglich«, sagte Herr Godet-Laterrasse, indem er mit einer Geste etwas weit von sich schob.

»Wie ich Ihnen bereits geschrieben habe, ich zähle auf Sie, um diesen Burschen zum Baccalaureat vorzubereiten und einen Mann aus ihm zu machen.«

Herr Godet-Laterrasse stemmte seinen Rücken gegen die Lehne des Sessels, stellte sein Gesicht wagrecht und sagte: »Vor allem, mein lieber Sainte-Lucie, muß ich Ihnen mein Glaubensbekenntnis ablegen. Was meine Prinzipien anlangt, so bin ich unerschütterlich. Ich bin ein Mann von Eisen, den man brechen, aber nicht biegen kann.«

»Ich weiß, ich weiß«, sagte Herr Sainte-Lucie, indem er unausgesetzt sein Brot zerkrümelte.

»Die Erziehung, die ich Ihrem Sohne geben werde, wird eine wesentlich freie sein.«

»Ich weiß, ich weiß . . .«

»Ich werde unseren Remi die bürgerliche Reifeprüfung rühmlich bestehen lassen. Nicht zu einer ehrenvollen Universitätslaufbahn will ich ihn vorbereiten, sondern zum Gesetzgeber der haitischen Republik. Was kümmert mich diese alte pedantische Göttin, die sich Universität nennt!«

Der einstige Minister, ein beredter aber praktischer Mann, winkte ihm mit den Augen, er solle vor seinem Schüler nicht solche Reden führen. Aber der freie Erzieher wurde von der Erhabenheit seiner eigenen Gedanken fortgerissen: »Die Universität!« rief er aus, »sie ist das Monopol! Die Universität ist die Routine! Die Universität ist der Feind! Nieder mit der Universität!«

Er legte seine Hand auf die Schulter des jungen Mulatten, der eigentlich mehr gleichgültig als verwundert war, und fuhr fort: »Mein Freund, wenn ich Sie zum Baccalaureat vorbereite, werde ich Sie die Fundamentalwahrheiten lehren. Und wenn Sie, aus meiner Hand entlassen, sich den Examinatoren in der Sorbonne vorstellen, werden Sie eher deren Richter sein, als umgekehrt. Zu den Caros und Taillandiers werden Sie sagen können: ›Ich habe Prinzipien, und ihr habt keine. Ein Mann von Eisen, – Godet-Laterrasse, hat meinen Geist geformt‹; Ah! Sie sollen mich eines Tages kennen lernen, diese Herren!«

Während dieser Rede holte der junge Remi verstohlen ein Stückchen Zucker ums andere aus der Zuckerdose und stopfte sich mit größter Seelenruhe die Taschen voll.

Herr Alidor hatte eine natürliche Vorliebe für Beredsamkeit; die in Aussicht gestellte Vorbereitung zum Baccalaureat schien ihm schön, jedoch gefährlich. Sehr eigensinnig von Charakter, blieb er dennoch bei seinem Vorhaben, seinen Sohn dem Kreolen aus Bourbon anzuvertrauen.

»Remi,« sagte er, nachlässig ein Zwanzigfrankstück aus der Tasche ziehend, »hole unten ein paar Zigarren und sag, es sei für mich.«

Allein mit seinem Gaste, zerkrümelte er immer noch sein Brot und blieb in Schweigen versunken. Er hatte eine besondere Art zu schweigen, die geheimnisvoll und Achtung heischend war. Dann stellte er, mit der milden Stimme des starken Mannes, dem künftigen Erzieher vor, daß es sich doch um eine Vorbereitung zum Baccalaureat handle, also um ein wesentlich praktisches Unternehmen, daß man sich genau an den Lehrplan halten müsse und daß – mit einem Wort – es viel mehr auf Latein und Griechisch ankomme, als auf die Fundamentalwahrheiten.

»Selbstverständlich, selbstverständlich«, erwiderte der Mann von Eisen.

Man befragte ihn, ob er bereits Unterricht erteilt habe. Seine Antwort war ausweichend. Man mußte die Geldfrage berühren.

Der einstige Minister bat den Mentor ein monatliches Gehalt von zweihundert Franks annehmen zu wollen.

Aber Herr Godet-Laterrasse, den Kopf vollständig zurückgeworfen, schien mit einer Geste diese Bagatelle fortzuschieben! Remi kehrte mit den Zigarren zurück. Ein sehr schöner, schlanker Mann, dessen goldgelber Bart bis auf die Brust herabfiel, betrat zugleich mit ihm das Zimmer; er nahm den kleinen weichen Hut nicht ab, der nach Art eines Baretts auf seinem behaarten Nacken saß.

»Seien Sie mir willkommen, Labanne«, sagte Herr Sainte-Lucie, ohne sich zu erheben. »Nehmen Sie eine Zigarre?« Aber ohne zu erwidern, zog Labanne aus seiner Tasche eine Pfeife aus Bernstein und Meerschaum und einen Tabaksbeutel mit dem bretonischen Wappen. Dann machte er die Runde im Zimmer und prüfte mit Kennermiene die Photographie auf dem Kamin. Endlich sagte er, mit einem Blick auf die Säule aus gebranntem Ton: »Welcher Witzbold hat Ihnen dieses Modell eines Ofenrohrs geliefert?«

Dann wandte er sich zu der vergoldeten Pyramide, heuchelte Interesse, drückte ein Auge zu und sagte: »Es fehlt der Schlitz zum Einwerfen der Münzen.«

Die andern verstanden ihn nicht. Er erklärte: »Nun ja! Das kann doch nur eine Sparbüchse sein, dies Ding da!«

»Was wollen Sie?« sagte Herr Sainte-Lucie philosophisch.

»Ich nehme, was man mir gibt. Nur Sie bringen mir keinen Entwurf, Labanne.«

»Ich arbeite daran«, erwiderte der Bildhauer. »Erst gestern habe ich in einer medizinischen Zeitschrift einen sehr interessanten Artikel über das pigmentum der schwarzen Rasse gelesen. Und heut morgen habe ich am Quai Voltaire bei einem meiner Antiquare eine Abhandlung über die geologische Zusammensetzung der Antillen gekauft.«

»Zu welchem Zweck?« fragte Herr Sainte-Lucie vollständig aus der Fassung gebracht, obgleich er diese Art schon kannte.

»Wenn ich den Entwurf meiner Statue ausführen will,« erwiderte Labanne verachtungsvoll, »so muß ich, ehe ich überhaupt zum Ton greife, fünfzehnhundert Bände lesen. Wenn man das Höchste erstrebt, muß man alles kennen. Es ist ein künstliches und verbrecherisches Verfahren, irgendeinen Gegenstand für sich allein zu behandeln. Was, Godet, Sie sind da! Welch Zufall! Ich hatte Sie nicht bemerkt.«

Der Mulatte aus Bourbon, den Ellenbogen auf den Kaminsims gestützt und die rechte Hand zwischen zwei Knöpfen seines Gehrocks, lächelte bitter.

Der Bildhauer zündete sich die Pfeife an und sprach weiter: »Ich bin keine Naturkraft, ich bin keine rohe Kraft. Ich bin nicht wie jener Hanswurst, der diesen Affen ausgebrütet hat«, und er wies mit seinem Pfeifenrohr auf den Genius der schwarzen Freiheit. »Ich bin eine Intelligenz, ein Gewissen, und ich lege einen Gedanken in mein Werk.«

Herr Alidor Sainte-Lucie nickte zustimmend. Aber er bestand darauf, von dem Bildhauer wenigstens einen Entwurf zu erhalten, nur eine einfache Skizze, um sie der Kommission vorzulegen. In etwa acht Tagen wollte er die Heimfahrt nach Haiti antreten.

Labanne, der auf dem Sofa lag, war in tiefes Nachdenken versunken. Endlich, nachdem er die Asche seiner Pfeife ausgeschüttet und auf den Teppich gespuckt hatte, betrachtete er die Rosette des Plafonds und sagte: »Mit welchem Recht schaffen wir Geschöpfe unserer Phantasie? Phidias oder Michelangelo oder irgendein anderer geben einer ihrer Schöpfungen den Schein des Lebens; sie drängt sich den Augen auf, setzt sich in unserer Vorstellung fest. Es ist die Athene des Parthenon, der Moses oder die Nymphe von Asnières. Man spricht davon, man träumt davon. Und siehe da, es gibt ein Geschöpf mehr auf der Welt! Aber wozu wird es denn in die Welt gesetzt?

»Es zerrüttet den Verstand, korrumpiert die Herzen, verwirrt die Sinne und macht sich über das Publikum lustig. Jedes Kunstwerk, jedwede Schöpfung des menschlichen Geistes ist eine gefährliche Illusion und ein schuldvoller Betrug. Die Bildhauer, die Maler und die Dichter sind wundervolle Lügner und erhabene Schurken, nichts weiter. Ich, der ich zu Ihnen spreche, ich bin sechs Monate lang in die Antiope des Salon Carré närrisch verliebt gewesen. Mit anderen Worten, dieser Schurke von Correggio hat sich sechs Monate lang über mich lustig gemacht.

»Kennen Sie meinen Freund Branchut, den Moralisten? Er ist häßlich, aber das weiß er nicht. Er ist arm und gottbegnadet. Er verblüfft die Kaffees mit feinem Griechisch und er hat Hegel gelesen. Er lebt von einer Semmel und löscht seinen Durst am Straßenbrunnen. Nach Beendigung seiner Vogelmahlzeit schreibt er die erhabensten Dinge in den öffentlichen Gärten oder, wenn es regnet, unter einem Torbogen. Manchmal fällt es Ihm ein, in mein Atelier zu kommen, um dort zu schlafen. Eines Nachts schrieb er gar ein sehr feines und gelehrtes Kommentar zum Phaedon an meine Wand. So ist Branchut. Voriges Jahr habe ich ihm einen Anzug geliehen und ihn zu einer russischen Fürstin geführt, deren Büste ich machen sollte. Aber die Fürstin wollte diese Büste in Marmor und ich sah sie nur in Bronze. Man kann nur das verwirklichen, was man sieht. Also wurde die Büste nicht gemacht.

Die Fürstin brauchte einen Literaturprofessor für ihre Tochter Feodora, die sehr schön war. Ich brachte Branchut in Vorschlag; er wurde angenommen. Auf meine Empfehlung und auf sein kümmerliches Aussehen hin zahlte man ihm ein Monatshonorar im voraus. Er kaufte sich zwei Hemden, mietete ein möbliertes Zimmer und machte Bekanntschaft mit Servelatwurst. In der sechsten Stunde, während er den Aufbau der homerischen Epopöe erklärte, umschlang er Fräulein Feodora so heftig, daß sie laut schreiend davonlief. Der Moralist wartete, er war bereit, seinen Fehler wieder gutzumachen. Er hätte seine hochgeborene Schülerin geheiratet, falls es erforderlich gewesen wäre. Aber man warf ihn hinaus. Am Abend fand ich ihn in meinem Atelier. ›Weh mir!‹ schluchzte er, ›Saint-Preux hat mich ins Verderben gestürzt. O Julie! O Jean Jacques!‹ – So hat also Rousseau den wundervollen Roman der Leidenschaft nur geschrieben und

›Julie, die schwache und ruhmvoll gefallene Geliebte‹

nur geschaffen, um meinen Freund Branchut, den Moralisten, eine Dummheit begehen zu lassen.«

Herr Alidor Sainte-Lucie unterdrückte ein Gähnen. Sein Sohn, das Gesicht auf beide Fäuste gestützt, hörte zu wie im Theater. Herr Godet-Laterrasse mit feurigem Auge und herausgeworfener Brust, bereitete eine vernichtende Entgegnung vor. Aber Labanne erhob sich, ging zu dem runden Tischchen, nahm eine Zeitung, und indes er ein Stück davon abriß, um damit seine Pfeife wieder anzustecken, verfolgte sein Auge mit dem Instinkt des geborenen Lesers die gedruckten Zeilen.

»Sagen Sie doch, Sainte-Lucie,« fragte er, »glauben Sie eigentlich an die Demokratie?«

Bei diesen Worten richtete sich Herr Godet-Laterrasse mit einem so heftigen Ruck auf, daß es ein Geräusch gab wie beim Laden einer Pistole. Aber der einstige Minister antwortete nur mit einem rätselvollen Lächeln.

Labanne legte sein Glaubensbekenntnis ab. Er liebte die Aristokration. Er wünschte sie stark, prunkvoll und gewalttätig. Sie allein, sagte er, hatte die Künste zur Blüte gebracht. Er trauerte um die eleganten und grausamen Sitten eines kriegerischen Adels.

»Wie kläglich ist unser Zeitalter! Als man der Politik ihre beiden unentbehrlichen Attribute – Dolch und Degen – entzog, wurde sie unschuldig, albern, dumm, schwatzhaft und bürgerlich. In Ermanglung eines Borgia, stirbt die Gesellschaft. Ihr werdet keine stilvollen Statuen haben, keine Marmorpaläste, keine geistreichen und großzügigen Kurtisanen, keine ziselierten Sonette, keine Musik in euren Lustgärten, keine goldenen Pokale, keine außerordentlichen Verbrechen, keine Gefahren, keine Abenteuer. Ihr werdet ein flaches, blödes Glück genießen bis zum Verrecken. Amen!«

Seit geraumer Zeit machte Herr Godet-Laterrasse kleine, ruckweise Bewegungen, wie ein Mensch, der sich nicht wohl fühlt. »Wundervoll!« rief er aus, »ganz wundervoll! Sie sind äußerst geistreich, Herr Labanne. Aber, lassen Sie es sich gesagt sein: es gibt Scherze, die Gotteslästerungen sind.«

Er nahm seinen Hut, drückte seinem Schüler die Hand und zog Herrn Alidor, dem er noch ein Wort zu sagen hatte, mit ins Vorzimmer hinaus.

Labanne hörte das Klingen von Goldmünzen, und Herr Alidor kehrte zurück. »Welch naiver Mensch!« sagte Labanne zu ihm. »Aber er ist gutmütig!«

»Pst! . . .« Herr Alidor flüsterte Labanne einige Worte ins Ohr, worauf dieser erwiderte: »Hätte ich geahnt, daß Sie einen Hauslehrer brauchen, so hätte ich Ihnen meinen Freund Branchut, den Moralisten, geschickt. Jetzt geh' ich ins Quartier. Adieu!«

Er meinte das Quartier Latin, das einzig wirkliche Quartier. Herr Sainte-Lucie bat den Bildhauer, seinen Sohn Remi, der Paris nicht kannte, in einem anständigen Hotel nahe am Luxembourg unterzubringen.

Schon schritt Labanne, seinen rötlich schimmernden Bart streichelnd, Seite an Seite mit Remi, dessen Oberkörper wie ausgerenkt schien (eine Eigentümlichkeit seiner Rasse), die vergoldete Hoteltreppe hinab, als Herr Sainte-Lucie, über die Rampe gebeugt, seinen Sohn zurückrief und zu ihm sagte: »Ich mache dich schon jetzt, ehe ich es vergesse, darauf aufmerksam, daß ich voraussichtlich den General Télémaque nicht aufsuchen werde. Solltest du ihn aber besuchen, so ist es mir sehr recht und deine Mutter wird es sehr freuen. Télémaque wohnte in Courbevoie, neben der Kaserne. Adieu! Adieu!«

Remi erinnerte sich nur undeutlich an sein Geburtshaus in Port-au-Prince, an jenen fürstlichen Palast im Louis-Seize-Stil, voll verstümmelter Statuen und halb verwischter Embleme; in dem geborstenen, eingefallenen Hausflur standen Palmen, schwere Mahagonifauteuils mit Sphinxköpfen standen umher, an deren Schatten er während der großen Stille des Mittags schlief; die tief gelegene Stadt erschien ihm blendend bunt, vergnüglich wie ein großer Bazar. Und der Laden seiner Patin Olivette! Wie oft hatte er, hinter Kisten verborgen, der Negerin Bananen und Breiäpfel gestohlen! Er erinnerte sich seiner Mutter. Ihre kohlschwarzen unergründlichen Augen, die gebieterische Nase, der lüsterne Mund und die prachtvolle wie aus Bronze gemeißelte Brust in den weißen Musselinhüllen hatten ihr Bild in dem Gedächtnis des Kindes tief eingegraben. Wie oft hatte er es erlebt, daß sie in einer Wolke von berauschendem Parfüm, das Haupt zurückgeworfen, Herrn Alidor durch eine schroffe und verächtliche Antwort in Raserei versetzte, bis er sich eines Tages mit knirschenden Zähnen auf sie stürzte und die schönsten Schultern der Antillen mit seinem Stock bearbeitete.

Remi hatte aber auch noch vieles andere gesehen: das Bombardement und die Feuersbrunst von Port-au-Prince, die Plünderungen, das Gemetzel, die Hinrichtungen, – und neues Gemetzel und neue Hinrichtungen; und seine Patin Olivette erschlagen zwischen den aufgeschlagenen Fässern, neben ihren Mördern, die von Whisky stockbetrunken waren.

Kurz darauf war er, nach einer langen Überfahrt, eines Abends in einer herrlich beleuchteten Stadt gelandet. Frankreich gefiel ihm anfänglich. Er wurde in einem Pensionat in Nantes untergebracht; dort schleppte er sich, ewig frierend, von einer Schulbank zur andern und führte ein einförmiges, langweiliges Leben. Während der langen Schulstunden lutschte er Zuckerwerk und zeichnete Karikaturen. An jedem Donnerstag und jedem Sonntag des Jahres gingen die Zöglinge – zu zweien in endloser Reihe – unter den alten Rüstern am Ufer der breiten, hellen Loire spazieren. Er liebte diese Spaziergänge bei Wind und Regen nicht. Um freizukommen, heuchelte er Krankheit und rollte sich dann unter seinen Decken zusammen wie die Schlange im Glaskäfig des Museums. Doch er war unübertrefflich, sobald es sich darum handelte, über die Anstaltsmauer zu springen und im Galopp nach dem andern Ende der Stadt zu laufen, wo er Rum kaufte, aus dem nachts im Schlafsaal Punsch gebraut wurde. Seine Studien nahm er leicht, zeichnete auf seine Hefte die Porträts seiner Lehrer, wurde trotzdem in die Rhetorikklasse versetzt, lernte hier nichts mehr, vergaß alles wieder, wurde nach Paris befördert und Herrn Godet-Laterrasse anvertraut.

Herr Sainte-Lucie war nun schon seit drei Wochen auf hoher See und der Mentor hatte sein pädagogisches Werk bereits begonnen, indem er mit seinem Schüler auf dem Verdeck der Omnibusse vom Boulevard Saint-Michel zum Montmartre und von der Madelaine zur Bastille spazieren fuhr. Hierauf blieb er acht Tage verschwunden. Remi, den Labanne in einem anständigen Hotel in der Rue des Feuillantines untergebracht hatte, stand um die Mittagszeit auf, frühstückte, ging in der Sonne spazieren, bewunderte – in einem Atavismus seiner Rasse – die in den Schaufenstern ausgestellten Glassachen und schlürfte gegen fünf Uhr seine »vermouth gommé«. Er hatte seinen bereits schon seit acht Tage abwesenden Lehrer ein wenig vergessen, als am Morgen des neunten Tages ein Telegramm von Herrn Godet-Laterrasse ihn um zwei Uhr auf die Brücke des Saint Pères bestellte.

Es fror an dem Tage und ein eisiger Wind blies über die Seine. Remi hatte an der Seite eines Pariser Parkwächters an dem gußeisernen Sockel einer der vier Gipsstatuen Schutz gesucht. Er stand mit hochgezogenen Schultern gelangweilt da und streckte von Zeit zu Zeit den Kopf vor, um zu sehen, wie eine Schiffsladung Kuhhörner auf die Brücke Saint Nicolas ausgeladen wurde. Er wartete schon seit einer halben Stunde und war im Begriff, sich nach dem nächstgelegenen Café zu begeben, als Herr Godet-Laterrasse, eine Mappe unter dem Arm, im Portal des Louvre auftauchte.

»Ich habe Sie heute hierher bestellt,« sagte er zu Remi, »um mit Ihnen die grundlegenden Bücher zu kaufen. Ich schere mich nicht um Virgil und Cicero, deren Sie wohl auch bedürfen und die Sie bei den Antiquaren der Rue Cujas kaufen können. Ich will mich nur mit der Auswahl der wichtigsten Bücher befassen, nach denen Sie Ihr Gewissen heranbilden sollen, das Gewissen eines Menschen und Bürgers.«

Bald hatten sie den Quai Voltaire erreicht und traten in den Laden eines Buchhändlers.

»Haben Sie die Werke von Proudhon, Quinet, Cabet und Esquiros?« fragte Herr Godet-Laterrasse.

Der Buchhändler hatte die gewünschten Werke. Er machte daraus gleich vor den Augen der Käufer ein Paket, das zu Sainte-Lucies Bestürzung sich immer höher türmte.

»Mein Herr,« sagte er treuherzig zu dem Buchhändler, der das Paket schon verschnürte, »mein Herr, fügen Sie diesem Berg noch ein paar Romane von Paul de Kock bei. Ich habe in Nantes einen Roman von ihm zu lesen begonnen, der mir sehr gefallen hat. Der Studienaufseher hat mir ihn aber weggenommen.«

Der Buchhändler erwiderte mit würdigem Ton, daß er keine Romane »führe«, und wollte schon den Strick zusammenknoten, als Herr Godet-Laterrasse ihn daran hinderte. Er hatte sich etwas überlegt; er entlieh von seinem Schüler die beiden ersten Bände der Geschichte Frankreichs von Michelet, um darin etwas nachzuschlagen. Auf dem Trottoir wechselten sie einen Händedruck. Und während Herr Godet-Laterrasse auf einen Omnibus kletterte, rief er noch: »Büffeln Sie den Quinet heute abend! Nur Mut!«

Einen Augenblick beherrschte die schwarze Silhouette das Verdeck; dann verschwand sie unter den alltäglichen Profilen der Menschen, die auf der Doppelbank dicht beieinander saßen. Der Abend brach an. Remi, wenig geneigt, sein Zimmer aufzusuchen, wo die grundlegenden Bücher seiner warteten, schlenderte über den Boulevard Saint-Michel zu Bullier. Schon näherte er sich dem maurischen Portal des Ballokals, das von einem Halbkreis gaffender Mädchen und Arbeiter umlagert war, in dem scharenweise Studenten und Kommis mit ihren Frauenzimmern verschwanden, als er auf der andern Seite der Straße unter einer Laterne den schimmernden Bart von Labanne erblickte. In dem Rauhreif, der die Bäume überstäubte, und in dem Wind, der die Gasflamme peitschte, las der Bildhauer einen Zeitungsartikel.

Sainte-Lucie trat auf den Lesenden zu.

»Verzeihen Sie, daß ich Sie unterbreche«, sagte er; »denn Ihre Lektüre muß wohl sehr interessant sein.«

»Nicht im mindesten,« erwiderte Labanne, indem er die Zeitung in die Tasche schob. »Ich las ganz mechanisch irgend etwas recht Dummes. Kommen Sie mit in den ›Dürren Kater‹?«

Sie bogen in die Rue Saint Jacques ein; dort, wo sie am engsten, am schmutzigsten, am finstersten, am rußigsten und am ekelerregendsten war, traten sie in eine Kneipe ein. Der Raum war mit kleinen Tischen angefüllt, den Hintergrund bildete ein Verschlag mit Fensterscheiben, vor die weiße Vorhänge gespannt waren. Die Wände, der Verschlag, sogar die Decke waren mit Malereien bedeckt. In der Mehrzahl waren es schroffe, ungestüme Skizzen, deren lebhafte Farben unter dem flimmernden Schein der beiden Gasflammen und in der dicken Atmosphäre von Pfeifenqualm schillerten. Sainte-Lucie, der Bilder liebte, bemerkte gleich beim Eintritt die auffallendsten dieser Gemälde: einen Raben im Schnee, eine alte nackte Frau mit gesenktem Kopf, eine Ochsenlende in einer Zeitung, und vor allem einen nachtwandelnden Kater, dessen dürre und wie eine mittelalterliche Brücke gewölbte schwarze Silhouette sich zwischen den Schornsteinen von einem riesenhaften, kupferroten Mond abhob. Dieses Werk eines jungen impressionistischen Malers war das Aushängeschild der Gaststätte. Junge Leute saßen an den Tischen, tranken und rauchten.

Eine sorgfältig frisierte, rundliche kleine Frau in einer weißen Schürze, deren Latz sich wie ein Segel blähte, sah Labanne mit der zärtlichen Lebhaftigkeit ihrer Augen an, in denen immerwährend einige Körnchen Schießpulver aufzublitzen schienen. Sie erkundigte sich bei dem Bildhauer nach dem Kater aus gebranntem Ton, den er ihr versprochen hatte und der zwischen Sauerkrautschüsseln und Schalen mit Dörrpflaumen im Schaufenster prangen sollte.

»Ich denke schon an Ihren Kater, o nahrhafte Virginia!« erwiderte Labanne, »aber er ist mir noch nicht dürr und ausgehungert genug. Auch habe ich erst etliche fünf Bände über die Katzen gelesen.«

Virginia hatte sich schon mit einer langen Wartezeit abgefunden; sie bemerkte, es sei sehr liebenswürdig von Labanne, daß er einen neuen Freund mitbrächte, sagte, daß Herr Mercier und Herr Dion da seien, und ging hinter den Verschlag mit Fenstern zu einer Wasserleitung, denn kurz darauf hörte man sie Gläser spülen.

Die neuen Gäste setzten sich an einen Tisch zu zwei trinkenden Herren, denen Sainte-Lucie sogleich vorgestellt wurde. Der Kreole wußte bald, daß der junge, schmächtige, blonde Herr Dion lyrischer Dichter war und der kleine, schwarze, mit einer Brille bewaffnete Herr Mercier etwas sehr Unbestimmtes aber sehr Wichtiges. Es war heiß in der Kneipe; Sainte-Lucie fühlte sich hier so behaglich, daß er lächelte und sein großer Mund aufblühte; indes Virginia, die ihn mit ihrem kritischen Auge durch das Fenster des Verschlags beobachtete, fand ihn sehr schön und vornehm und bewunderte seine Wangen, mattleuchtend, ähnlich dem Metall ihrer so reinlich gescheuerten Pfannen. Wie alle liebebedürftigen alternden Frauen, war auch Virginia sehr sauber.

Der Dichter Dion fragte Labanne mit einer Sanftmut, die zugleich süßlich und boshaft klang, was der Bischof Gozlin mache.

In der Tat, seit einiger Zeit war im ›Dürren Kater‹ viel von einer Statue des Bischofs Gozlin die Rede, die – wie verlautete – bei Labanne für eine der Nischen des neuen Rathauses bestellt worden war. Labanne nahm ohne weiteres an, daß er den Auftrag erhalten hatte; aber er fand, daß der Bischof Gozlin niemals in einer Nische stehen könne. Er sah ihn nur sitzend auf seinem Bischofsstuhl.

Sainte-Lucie trank ein Glas Bier.

»Sie wissen doch«, sagte der junge Dion, »wir gründen eine Revue. Mercier hat mir einen Artikel versprochen. Nicht wahr, Mercier? Sie, Labanne, übernehmen wohl die bildende Kunst. Herr Sainte-Lucie, ich hoffe, Sie werden gleichfalls für uns schreiben. Wir können wohl in der kolonialen Frage auf Sie rechnen?«

Sainte-Lucie, der schon so manches erlebt hatte, wunderte sich nicht. Er trank, er fühlte die wohltuende Wärme, er war glücklich.

»Es tut mir unendlich leid, daß ich Ihrem Wunsche nicht entsprechen kann«, erwiderte er. »Ich war bis vor kurzem in Nantes in einem Pensionat und bin über die koloniale Frage nicht auf dem Laufenden. Übrigens schreibe ich auch nicht.«

Dion war verblüfft. Er begriff nicht, daß es jemanden geben konnte, der nicht schrieb. Aber er dachte, daß die Kreolen eben sehr eigenartige Menschen seien. »Was mich betrifft«, sagte er, »so bringe ich in der ersten Nummer meine ›Wilde Liebe‹. Kennen Sie meine ›Wilde Liebe‹?«

Gealtert sehr, von Kümmernis gequält, die mir mein Tag gebracht,
Will endlos irren ich durch deiner Flechten träumerische Nacht.

»Ist das von Ihnen?« rief Sainte-Lucie mit aufrichtigem Enthusiasmus. »Das ist sehr schön!«

Und er trank sein Glas aus. Er war entzückt.

»Habt Ihr auch das nötige Kapital für eure Revue?« fragte der skeptische Labanne.

»Gewiß,« antwortete der Dichter. »Meine Großmutter hat mir dreihundert Franks gegeben.«

Labanne war geschlagen. Übrigens blätterte er schon in den Schmökern, die er heute auf den Quais aufgestöbert hatte. »Dieses Werk ist sehr interessant«, sagte er, und betrachtete ein kleines Buch mit rotem Schnitt. »Es ist eine Abhandlung von Salmasius über den Wucher – de usuris. Ich werde es Branchut geben.«

Jetzt erst fiel es allen auf, daß Branchut heute nicht in den ›Dürren Kater‹ gekommen war.

»Wie geht es dem armen Branchut mit dem Tic?« fragte der Dichter Dion. »Fällt er immer noch russischen Fürstinnen zu Füßen?

Er muß einen Artikel für unsere Revue schreiben.«

Sainte-Lucie erkundigte sich bei Labanne, ob dieser Herr Branchut jener Literaturprofessor sei, von dem eines Tages im Grand-Hotel die Rede gewesen war.

»Jawohl, er ist es, junger Mann,« sagte Labanne. »Sie werden ihn zu sehen bekommen.«

»Sainte-Lucie,« sagte der Dichter, »ich will Ihnen meine Gedichte vorlesen, damit Sie noch vor der Drucklegung mir über alles Ihr Urteil sagen können.«

»Nein! Nein!« rief Mercier, dessen kleines rundes Gesicht sich unter der Brille zusammenrunzelte. »Sie können ihm Ihre Gedichte vorlesen, wenn Sie mit ihm allein sind.«

Dann drehte sich das Gespräch um Ästhetik. Dion betrachtete die Poesie als die »natürliche und ursprüngliche« Sprache. Mercier erwiderte bissig: »Nicht der Vers, sondern der Schrei ist die primitive und natürliche Sprache. Die ersten Menschen sagten nicht: In seinen Tempel trete ich – anzubeten den Ewigen. Sondern sie sagten: Hau, hau, hau! Ma, ma, ma! kuik! Übrigens, sind Sie Mathematiker? Nein. Nun, dann ist es zwecklos, mit Ihnen zu diskutieren. Ich diskutiere nur mit einem Gegner, der die mathematische Methode beherrscht.«

Labanne behauptete, die Poesie sei eine erhabene Monstrosität, eine wundervolle Krankheit. Für ihn war eine schöne Dichtung ein schönes Verbrechen, nichts weiter.

»Gestatten Sie,« erwiderte Mercier, indem er seine Brille zurechtrückte. »Wie weit haben Sie es in der mathematischen Analyse gebracht? Ich werde aus Ihrer Antwort ersehen, ob ich mit Ihnen disputieren kann.«

Sainte-Lucie, der ein neues Glas hinunterschüttete, dachte: »Meine neuen Freunde sind sehr sonderbar, aber sehr angenehm.«

Da er jedoch nicht ein Wort von der Diskussion verstand, die jetzt sehr lebhaft wurde, verfolgte er den verworrenen Faden des Gesprächs nicht weiter und ließ seine naiven und kühnen Blicke durch den Saal schweifen. An der Glastür des Verschlags bemerkte er die liebestrotzenden Augen der rundlichen Virgina, die ihn anstarrten, indessen sie ihre roten Hände abtrocknete. Er dachte: »Eine sehr angenehme Frau.«

Ein weiteres Glas, das er trank, bestärkte ihn in diesem Gedanken und dieser Empfindung.

Die Wirtschaft hatte sich nach und nach geleert. Nur die Begründer der Revue saßen noch hinter ihren Stößen von Untersetzern, die sich auf dem Tisch gleich zwei Porzellantürmen einer chinesischen Stadt erhoben.

Virginia schickte sich an, die eisernen Rolläden des Schaufensters herabzulassen, als sich die Türe vor einem langen, bleichen Menschen öffnete; er trug einen sehr kurzen Sommerrock, dessen Kragen er hochgeschlagen hatte, und schleuderte zwei ungeheure Plattfüße in erbärmlichen Schuhen vor sich her.

»Da kommt Branchut,« rief das Komitee.

»Wie geht es Ihnen, Branchut?«

Aber Branchut blieb finster.

»Labanne,« sagte er, »Sie haben aus Unachtsamkeit – wie ich hoffen will – den Schlüssel Ihres Ateliers eingesteckt, und hätte ich Sie nicht hier getroffen, würde ich unweigerlich die Nacht im Freien verbringen müssen.«

Branchut sprach mit der Eleganz eines Cicero. Dabei hatte er ein nervöses Zittern. Fürchterlich rollten die Augen und die ganze Nase zuckte unaufhörlich; aber von seinen Lippen flossen die reinsten und sanftesten Töne.

Labanne gab ihm seinen Schlüssel und entschuldigte sich. Aber Branchut wollte weder Bier noch Kaffee, noch Kognak, noch Chartreuse trinken. Er wollte nichts trinken.

Dion verlangte von ihm einen Artikel für seine Revue, aber der Moralist ließ sich lange bitten.

»Nehmen Sie doch seinen Kommentar zum Phaedon«, sagte Labanne, »er ist mit Reißkohle an die Wand meines Ateliers geschrieben. Sie müssen ihn abschreiben lassen, außer Sie zögen es vor, meine Wand in die Druckerei zu tragen.«

Branchut versprach, den Artikel zu liefern, als man aufhörte, ihn darum zu bitten.

»Es wird eine eigenartige Studie über die Philosophen sein.« Er hustete, wie ein großer Redner hustet, nahm ein leeres Glas, stellte es vor sich hin und fuhr bedächtig fort: »Hören Sie meinen Standpunkt: Es gibt zwei Arten von Philosophen, jene die sich hinter mein Glas stellen, wie Hegel, und jene, die sich zwischen mein Glas und mich stellen, wie Kant. Sie begreifen meinen Standpunkt?«

Dion begriff den Standpunkt. Branchut konnte fortfahren: »Wenn nun ein Philosoph hinter meinem Glas steht, wissen Sie, was ich dann mache? . . .«

In diesem Augenblick drehte Virginia die eine der Gasflammen aus, schraubte die andere zurück und machte die Herren darauf aufmerksam, daß es halb Eins sei und Zeit zum Aufbruch. Branchut, Mercier, Labanne und Dion gingen, einer nach dem andern gebückt unter dem zur Hälfte herabgelassenen Rolladen hinaus. Sainte-Lucie, als Letzter in dem dunklen Lokal, umschlang Virginia und gab ihr auf gut Glück drei, vier Küsse aufs Ohr, auf den Nacken. Virginia widerstand einen Augenblick, dann zerschmolz sie und ergoß sich in die Arme des Mulatten.

Indessen sagte Branchut, draußen auf dem Trottoir, zu Labanne: »Werde ich nun mein Glas nehmen, um es hinter den Philosophen zu stellen? Nein. Werde ich den Philosophen nehmen, um . . .

»Kommen Sie doch endlich, Sainte-Lucie«, rief der Dichter Dion, der sich darauf freute, dem Kreolen unterwegs seine Verse hersagen zu können, jedoch Sainte-Lucie gab keine Antwort.

An diesem Morgen schneite es. Das halb erstickte Geräusch der rollenden Wagen erstarb an den Fensterscheiben des ›Dürren Katers‹. Ein fahler Widerschein beleuchtete kraß die Bilder an den Wänden und verlieh den gemalten Gestalten ein leichenhaftes Aussehen. In der vereinsamten Wirtschaft saß Remi an einem kleinen Tisch und verschlang ein Beefsteak mit Kartoffeln, indessen Virginia unbeweglich vor ihm stand, die Hände über ihrer weißen Schürze gefaltet hielt und ihn mit den Augen einer Heiligen betrachtete.

»Es ist zart, nicht wahr?« sagte sie mit Hingebung. »Sind Sie satt? Ich habe in der Küche noch eine schöne Scheibe kaltes Roastbeef, soll ich es bringen? Sie trinken ja gar nicht!« Er aß, er trank und sie bewunderte ihn andächtig. Sie sagte: »Hier haben Sie Schweizerkäse; er zerfließt, er ist gut. Herr Potrel liebte solchen Schweizerkäse sehr.«

Und Remi aß. Virginia brachte ihm auch noch Früchte und Kompott. Dann versank sie lange in mystische Betrachtung, und seufzte: »Vielleicht war es falsch zu handeln, wie ich gehandelt habe. Sie werden genau so sein, wie die anderen, Herr Sainte-Lucie. Die Männer sind sich alle gleich. Aber ich, ich bin nicht eine Frau wie so viele andere. Wenn ich eine Zuneigung fasse, so ist es fürs ganze Leben. Ich habe Ihnen erzählt, was Potrel mir angetan hat. Sagen Sie selbst, war das ein Benehmen? Ein Mann, dem ich alle erdenklichen Dienste erwiesen habe . . . Ich habe seine Wäsche ausgebessert, ich wäre für ihn durchs Feuer gegangen. Er war geistreich, hatte Talent, alles stimmte. Aber er ist ein undankbarer Kerl!« Und die betrübten Augen der Dame wandten sich zu dem Bildnis des dürren Katers, als wollte sie ihn zum Zeugen anrufen für den Undank Potrels. Ihr üppiger Busen hob sich, ihr dreifaches Kinn zitterte; sie fügte mit erstickter Stimme hinzu: »Und dabei weiß ich nicht mal, ob ich ihn nicht immer noch liebe! Wenn du mich auch verließest . . . ich wüßte nicht, was aus mir werden sollte. Komm doch heut abend, mein Schatz . . . Was steht zu Ihren Diensten, meine Herren?« Diese letzte Phrase von einem Lächeln begleitet, wandte sie sich an zwei Gäste, die soeben eingetreten waren.

Sainte-Lucie fühlte sich glücklich. Im Examen war er zwar glänzend durchgefallen. Aber er wärmte sich an allen gastlichen Öfen, lachte sein breites, sinnliches Lachen, freute sich über alles, was er sah und hörte, und lebte sorglos in den Tag hinein. Die schlecht verborgene Gunst, die Virginia ihm schenkte, hatte ihm die Achtung der Stammgäste des ›Dürren Katers‹ erworben. Die Frauen erhöhen die Männer, die sie sich wählten. Im Atelier von Labanne fühlte er sich noch wohler als in Virginias Schlafzimmer. Aber der Ofen des Bildhauers brannte nie. Das war Remi unangenehm, denn er zeichnete gerne und begann auch zu malen. Labanne sagte: »Dieser Bursche hat einen Zeicheninstinkt. Er hat keine Einfälle, aber er hat eine gute Hand. Ich glaube ganz entschieden, daß man so dumm sein muß wie Potrel, um ebenso gut zu modellieren.«

Wohl versuchte Herr Godet-Laterrasse, seines Schülers wieder habhaft zu werden. Manchmal trug ihn um die Mittagszeit ein Omnibus von den Höhen des Montmartre hinab; keuchend betrat er das Zimmer seines Schülers und rief: »Büffeln Sie den Tacitus! Nur Mut!«

Und mit Emphase sagte er: »nox eadem Britannic, necem atque rogum conjunxit.« Dann verwickelte er sich in irgendwelche grammatikalische Schwierigkeiten, aus denen er sich durch ganz oberflächliche Betrachtungen über den großen Schriftsteller herauszuwinden suchte, der – so sagte er – die Stirne der Tyrannen mit glühendem Eisen gezeichnet hatte. Nach beendigtem Unterricht erhob er sich, griff mit einer edlen Geste nach einigen Bänden von Proudhon oder Quinet, die unberührt auf der Kommode ruhten, schob sie unter seinen Arm und sagte, er wolle darin etwas nachschlagen. Remi sah sie niemals wieder. Nach Verlauf von einigen Monaten waren von dem ungeheuren Paket nur noch vereinzelte Bände vorhanden. Remi nahm sie eines Tages und verkaufte sie einem Buchhändler der Rue Soufflot. Es war nie wieder von den grundlegenden Werken die Rede.


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