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Koster und Bial's weltberühmte Music Hall erstrahlte in unvergleichlichem Lichterglanz. Es war der Höhepunkt der Saison. Ganz Manhattan Island hatte seinem Tribut gezollt. In Autos und Equipagen rollten die weltberühmten upper four hundred herbei, die Elektrischen und Elevated-Züge entluden vor der Tür und an der Ecke Hunderte und aber Hunderte, die von Gold und Schnüren strotzenden Portiers an den lichtüberstrahlten und teppichbelegten Entrances hatten alle Hände voll zu tun und bald alle Taschen voll von tips in Gestalt von Silbermünzen und Nickeln. Alle, die Bewohner der fünften Avenue bis zu den vereinzelten Repräsentanten von Little Germany und Chinatown hatten sich, wie in dem protzigen New-York nicht anders üblich, in ihre respektive Gala gehüllt und fühlten sich sämtlich als die Nabobs, die sie wirklich waren oder zu werden hofften, als sie von dem glaçebehandschuhten und reich betreßten Theater-Lakaien zu ihren Sitzen geleitet wurden.
Das Programm war das üblich glänzende und rechtfertigte die hohen Eintrittspreise vollständig. Sousas Kapelle spielte diesen Monat und aller Blicke hingen mit Entzücken an den gepflegten und doch so energischen Händen des berühmten leader, der wie kein anderer Dirigent es versteht, aus allen, selbst den unbedeutendsten Instrumenten seines einzig dastehenden Orchesters das heraus zu holen, was sein Genie in seine großartigen Tonschöpfungen hinein zu legen gewünscht hatte.
Wenn auch das Programm meine Aufmerksamkeit fesselte, so war doch das Studium des so bunt zusammengewürfelten und in seiner Verschiedenheit doch so einheitlichen Publikums für mich, der erst vor wenigen Tagen aus der verhältnismäßigen Wildnis nord-mexikanischer Minen-Regionen in dieses Acme einer überladenen Super-Zivilisation zurück gekehrt war, aufs höchste interessant und meine Blicke glitten immer wieder über die juwelenbesäten Damen und blasiert oder gönnerhaft ausschauenden Herren der Schöpfung, welche die Logen und den ersten Rang garnierten. Die Logen glichen allerdings wenig oder garnicht dem, was wir unter diesem Begriff zu verstehen gewohnt sind. Keine steifen Theaterstühle zwischen kahlen Wänden, sondern mit dem äußersten Raffinement ausstaffierte Boudoirs waren aus ihnen unter den Händen geschickter Dekorateure nach den Anweisungen der respektiven Abonnentinnen geworden. Und jede Loge zeigte je nach dem Geschmack der Inhaberin einen anderen Stil, war mehr oder weniger überladen, aber alle huldigten sämtlich nur dem Zweck, den Inhabern selbst während der wenigen Theaterstunden das kosige Heim zu ersetzen.
Da mit einmal, ohne daß ich es mir für den Augenblick erklären konnte, verstummten wie mit Zauberschlag die tausend Zwiegespräche. Aller Blicke wandten sich, bewaffnet oder unbewaffnet, einem Punkte hinter mir zu. Die Musik intonierte die schwungvollen Rhythmen des Marche Lorrain. Männer erhoben sich, Frauen stiegen auf ihre Sitze, um besser sehen zu können, und während ich mich noch verwundert fragte, warum dies alles geschehe, erschienen vom Haupteingange her den breiten, mit schweren Teppichen belegten Mittelweg herab vier gepuderte und bezopfte Lakaien und zwischen diesen und vier anderen, die den Abschluß bildeten, im gehörigen Abstande ein Paar, dem all dieses Interesse, diese fieberhafte Erregtheit galt, von Händeklatschen und Zurufen begrüßt, von Scheinwerfern mit magischem Licht begossen. So machte der Chevalier de Nemo und Miß Violet ihren Einzug auf die Bühne, nicht durch die Kulissen, nicht von hinten, wie andere gewöhnliche Sterbliche und Künstler, nein, wie ein König und seine Königin im festlichen Aufzug, von seinem Volke bejubelt und durch leichtes Kopfneigen huldvoll dankend.
Als das Paar auf einer speziell hergerichteten Treppe, die über den Orchesterraum führte, die Bühne und die Rampe erreicht hatte, brach die Musik mit einem schwungvollen Satz ab. Das Auditorium hatte sich wie von einem innern Drange getrieben von den Sitzen erhoben, die Damen winkten mit den Taschentüchern und die Herren gaben durch Zurufe und durch Werfen ihrer » buttonholes« ihre Bewunderung kund.
Das wunderbar schöne und doch so ungleiche Paar hatte, dicht vor der Rampe dem Publikum zugewandt, Halt gemacht. Da stand es da, Hand in Hand, keine Muskel, kein Nerv zuckte in diesen edelsten aller edlen Zügen. Er, eine hochgewachsene, dem Prototyp der Mannesschönheit wunderbar nahekommende Gestalt mit stark prononçiertem, romantischen Typus; sie: Juno, ihre märchenhafte Schönheit beschreiben zu können, ist meiner Feder leider versagt. Wie in einem überaus glücklichen Traume befangen, die süßen Lippen unwillkürlich in eben diesem Traume zu einem bezaubernden Lächeln halb öffnend, schaute sie ruhig und doch wie verklärt über das sich vor ihrer Schönheit beugende Publikum und dann immer wieder zu ihm auf, der für sie sichtlich ihr alles war und der fraglos eine dämonische, unwiderstehliche Gewalt über ihr ganzes Ich, ihren Körper, ihr Herz, und ihre Seele hatte. Aber die Ausübung dieser Gewalt schmerzte nicht, nein, sie war die Sonne, die ganze Sonne, die ihr sonst, wenn ich so sagen darf, nur von einem wohl silberhellen, aber kalten Mondeslichte erfüllten Daseins erwärmte, wenn es ihm, dem Gnadenspender, zu erwärmen beliebte. Alles an ihr erschien edel, makellos schön und ebenmäßig. Ihr reiches dunkles Haar, das jenen märchenhaften, tiefblauen Schimmer hatte, umwölbte ihre Stirn, umkränzte ein mattbleiches, äußerst sympathisches Babygesichtchen, mit einem Paar Augen, großen dunklen Veilchen-Augen, die so unendlich ruhig und beruhigend blickten, daß man sich sagte, hier wohnt das Glück.
Dann sprach der Chevalier, ohne ihre Hand loszulassen, die sie selig in der seinen ruhen ließ, einige erklärende Worte in einem reizenden gebrochenen pigeon Englisch. Sie wären erst vor einigen Wochen von La belle France angelangt, des englischen sehr wenig kundig und erbäten dafür die gütige Nachsicht von ces belles dames et ces bons messieurs. Es wäre ihr erstes Auftreten in der Öffentlichkeit, ihre Kunst wäre keine Kunst, nichts Eingelerntes, nichts Eingeübtes, sondern nur ein so wunderbar inniges Zusammen- und Ineinanderleben und -Wirken zweier sich unendlich liebenden und ganz in einander aufgehenden Seelen. Würde dieses feine Gewebe ihrer Seelenfäden auch nur im geringsten verletzt, würde die vollständig wolkenlose Ruhe dieser makellos reinen Liebe, dieses unbewußten und unendlichen Vertrauens ineinander auch nur im geringsten getrübt, so wäre es auch mit ihrer Kunst, wenn er das Wort gebrauchen wolle, vorbei und sie würden sich unter dem Hohngelächter des Publikums durch ein Hinterpförtchen aus dem Theater schleichen müssen.
Kein Beifallsklatschen, kein lauter Zuruf ertönte, als der Chevalier diese kurze Ansprache beendet hatte. Alle und jeder sahen mit stummen Entzücken auf dieses wunderbare Paar, bei dem die Allmacht der Liebe merveilleuse, fast unglaubliche Wirkungen hervorgebracht hatte, wie sie die gesamte Presse New-Yorks in den Abend- und Morgen-Ausgaben einem fast ihren Augen nicht trauenden Leserkreise entgegenposaunt hatte, solch wunderbare Effekte hatte am Abend vorher der Chevalier und sein Medium, sein anderes Ich, Miß Violet, vor einem geladenen Publikum und vor den Vertretern der Presse erzielt. Es ist nicht meine Absicht, die unglaublich erscheinenden Einzelheiten der Nummer zu beschreiben. Es war, wie der Chevalier vorher gesagt hatte, eben nur durch die grenzenlose Harmonie ihrer Seelen möglich, daß Miß Violet, wie der Theaterzettel die Maitresse de Nemos benannte, im lieblichen Schlummer gelullt, das Auditorium nicht sehend, alles das in sich aufnehmend und in Dutzend Sprachen instantiter wiedergab, was ihrem Herrn und Gebieter in irgend einem Teile des Zuschauerraumes gesagt, gezeigt oder anvertraut wurde.
Die verblüffendsten Aussagen und Enthüllungen in Sprachen und in dem reinsten Accent, von denen Miß Violet im wachenden Zustande auch keine Silbe hervorgebracht haben könnte, sie, ein echtes Kind von La belle France, das mit allem, was nicht französisch war, auf dem unnahbarsten Kriegsfuße lebte.
Als der Chevalier nach der Bühne zurückgekehrt war, und Mademoiselle Violet aus ihrem Traumschlummer erweckt, sich mit einem wonnigen Lächeln Hand in Hand mit dem Chevalier vor dem entzücktesten aller Publica verbeugte, war ein Hurrikan von Applaus ausgebrochen, wie ihn eben nur Jung- und Alt-Amerika entfesseln kann, ein Publikum, das unter allen Zutaten einer angezogenen und übertünchten Hyper-Zivilisation unter den gestärkten und gestickten Hemdeinsätzen und juwelenbesäten corsages ein unendlich kindliches und allen äußeren Eindrücken äußerst empfängliches Herz schlagen hat. Blumen, Geschmeide und tausend kleine Gegenstände von Wert, die das verehrliche Publikum gerade in den Händen hielt oder bei sich hatte, regneten äußerst geschickt geworfen zu den Füßen des sich langsam unter immerwährendem Verbeugen wieder der Treppe zuwendenden Paares, und wie es gekommen, stolz, erhobenen Hauptes, verließ es durch den breiten Mittelgang und das Hauptportal, unter dem Jubel der Anwesenden, das Theater, keinen, selbst die wertvollsten Gegenstände, die ihnen zugeworfen, auch nur eines Blickes würdigend.
Auf dem Schilde an der Türe meines despacho in der Hauptstadt Mexikos stand aus Geschäftsrücksichten unter manchem andern auch zu lesen: On parle français.
Wenn diese drei Worte nicht dort gestanden hätten, wäre diese Geschichte nie geschrieben worden, denn dann hätte ich den Chevalier und seine schöne Demoiselle nie persönlich kennen gelernt.
So aber kams, daß ungefähr dreiviertel Jahr nach jenem, eben beschriebenen New-Yorker Abend, Carlito, mein mexikanischer Dreiachtel-Blut-Comptoir-Jüngling, mir den Besuch eines caballero frances muy distinguido y de su señora hermosissima ankündigte und, nachdem ich schleunigst meine Beine von dem Pulte, auf dem sie nach amerikanischer Sitte bequem ruhten, in eine mehr comme il faut Lage gebracht hatte, erschien von Carlito unter vielen Verbeugungen geleitet zu meinem größten Erstaunen in der Türöffnung der Chevalier und Miß Violet.
Während Fräulein Violet der ganzen Unterhaltung, die mehr denn eine Stunde in Anspruch nahm, derselben in völlig apathischer Weise folgte, oder vielleicht auch keinen Ton derselben wirklich bei sich aufnahm, zeigte der Chevalier, besonders nachdem ich ihm von jenem New-Yorker Abende und von meiner Bewunderung gesprochen hatte, den liebenswürdigen Weltmann. Entzückt darüber, sich in seinem lieben Pariserisch nach Herzenslust ergehen zu können und Verständnis für alle seine vielen kleinen Klagen und Kritiken über dies und jenes, das ihm in diesem Affenlande besonders aufgefallen oder zugestoßen, zu finden, ließ er sich nach Herzenslust gehen und schon bei diesem ersten Besuch war ich sein Freund und Vertrauter geworden.
Seit jenem ersten Auftreten in New-York waren sie viel herumgekommen, in Baltimore und Washington, Philadelphia und St. Louis, in Louisville und New-Orleans, in San Antonio und Monterey waren sie aufgetreten, aber nicht immer mit gleichem Erfolge. Er gestand mir den Grund davon.
Zerwürfnisse, kleinere und größere, hatten die Harmonie und die Akkord-Reinheit zwischen ihren Seelen öfters getrübt und die negativen Resultate waren nicht ausgeblieben. Augenblicklich lachte wieder purer Sonnenschein, cette chère petite war wieder ganz sein, im Fühlen, Denken und Wollen, aber hélas, sie waren ohne Engagement. La chère petite, wie sich der Chevalier auszudrücken beliebte, war während der letzten Bemerkung, die ihre Person direkt betroffen hatte, etwas aus ihrer Lethargie und Nonchalance aufgewacht und hatte einige bittende oder schmollende » mais, mon ami«, oder » je t'en prie« eingeworfen, worauf er ihr mit einigen zärtlichen Bemerkungen wieder den Mund schloß.
Die Mittel waren durch die lange Reise etwas knapp geworden und nun hieß es überlegen, wie der verfahrene Karren wieder ins Geleise zu bringen war. Im einzigen Varieté der Stadt, dem Circo Orrin, war nichts zu machen, dafür kannte ich die Verhältnisse zu genau. Dort beherrschte der berühmte englische Komiker Frank Brown das Repertoire und ließ auf keinen Fall einen zweiten Stern neben sich aufkommen. Da fiel mir meine Nachbarschaft mit dem Direktor Arcaraz vom Teatro Principal ein und meinen Hut ergreifend, bat ich die Herrschaften, sich eine halbe Stunde gedulden zu wollen. Noch vor Ablauf dieser Zeit konnte ich dem Chevalier verkünden, daß ihm und Miß Violet, falls das erste Auftreten befriedigend ausfiel, für den Zeitraum eines Monats ein Kontrakt zu einer Gage von 50 mexikanischer Pesos pro Abend gesichert sei und daß das Auftreten allabendlich Punkt 10 Uhr zwischen der zweiten und dritten Tanda, d. h. nach der zweiten und vor Beginn der dritten Zarzuela, zu erfolgen habe. Auch das Betreten der Bühne vom Zuschauerraum aus mit dem nötigen Effekt hatte ich ihnen erwirkt. Der Chevalier war entzückt, die Situation war wieder einmal gerettet.
So vergingen vierzehn Tage. Der Erfolg war gut, wenn er auch in nichts an jenen Bomben-Abend in New-York erinnerte, die Kritik hielt sich etwas zurück, am interessiertesten war die Damenwelt, die das Mysterium, das die Person von Miß Violet umgab, äußerst fascinierte.
Tagtäglich nach dem Dejeuner in der Maison dorée erschienen mit großer Pünktlichkeit der Chevalier und seine Begleiterin in meinem Despacho, ersterer um mit mir zu plaudern und seine Cigarette zu rauchen, letztere um, in einem apathischen Halbschlummer versunken, in einem Lehnstuhle hingegossen, den Aufbruch abzuwarten, der dann nach einer Stunde oder so nach einem viens cherie etwas widerwillig erfolgte ...
Und wieder einmal kam der Tag, an dem das – on parle français – an meiner Tür eine Wirkung erzielte. Diesmal waren es dos caballeros franceses, welche Carlito anmeldete und welche mich auf meine französischen Sprachkenntnisse hin zu interviewen wünschten.
Es waren sichtlich französische Offiziere oder so etwas ähnliches, denn wenn man den deutschen Offizier in Zivil unter hunderttausend gewöhnlicher Sterblicher herausfinden kann, so ähnlich ist es mit ihren französischen Kameraden der Fall, wenn auch diese in ihrem Äußeren mit ihren Vettern in Marte jenseits der Vogesen absolut nichts gemein haben.
Als die Herren höflich grüßend eingetreten waren und sich kurz vorgestellt hatten, konnte ich mich daher nicht enthalten, diese meine große Menschenkenntnis sofort auszuspielen und sagte den Herren auf den Kopf zu, wie ich es zu schätzen wisse, Vertreter der Armee eines Landes bei mir zu sehen, dessen Gastfreundschaft ich so lang und voll genossen hätte.
Die Herren lächelten verbindlich und gestanden dann auch zu, daß eine Connextion zwischen der Armée de la république und ihnen bestände. Sie hatten verschiedene Informationen zu erbitten. Eben erst in der Hauptstadt angekommen, wollten sie morgen Vormittag dem Gouverneur des Distrito Federal, Don Pedro Rincon Gallardo und dem jefe politico ihre Aufwartung machen und erbaten diesbezüglich Auskunft. Diese war rasch erteilt und dann bat ich die Herren, eine gute San Andrés mit mir zu rauchen und stellte mich den Herren auf deren Anspielung hin für den Abend gern zur Verfügung. Überhaupt französische Offiziere, die waren, nach einem Erlebnis zwei Jahre vorher im südlichen Frankreich, mein ganzes Faible. Ich war fest überzeugt, daß ich auf ewig und drei Tage in dem Schuldbuch des französischen Offizierkorps stände und das war so zugegangen.
Ich war in St. Nazaire auf La Navarre aus Veracruz angekommen und reiste nun über Orleans und Toulouse nach Marseille. Die Bahn fuhr an den Schlachtfeldern von Orleans vorbei, Kreuze gefallener Krieger stiegen allenthalben gen Himmel und erweckten naturgemäß meine Teilnahme und Aufmerksamkeit. Die im compartiment anwesenden vier Herren waren über die Schlachtfelder und ihre ganze große historische Vergangenheit genau informiert und plauderten in liebenswürdigster Weise über alles das, was mich interessierte. Ich erzählte den Herren von meinen Reisen in Mexiko und auch dies begegnete ihrem Interesse, da sich herausstellte, daß zwei der älteren Herren in den 60er Jahren längere Zeit im Lande der Azteken verweilt hatten. Dann sprachen wir von dem Endziel der Reise, von Marseille, und da war eine neue Unterhaltungstopik gegeben, nämlich von den bösen Erfahrungen, die ich bei früheren Gelegenheiten in den dortigen Gasthöfen gemacht hatte. Teuer, unverschämt teuer, und schlecht. Die Herren widersprachen dem nicht, lächelten jedoch dabei und ihr Lächeln schien mir zu sagen, ja, wenn ein Prussien kommt.
Der Zug rollte in den Bahnhof ein, wir passierten die Barriere und waren bald von hundert voyoux, in Gestalt spitzbübischer Droschkenkutscher umringt. Ich verabschiedete mich von den Herren und war eben im Begriff, dem Jebu, der von mir Besitz ergriffen hatte, die Weisung zu erteilen, mich nach einem bekannten Hôtel der Cannebière zu fahren, als nochmals einer der Herren hinzutrat und dem Kutscher eine Karte reichte, auf der etwas gekritzelt stand, dann lüftete er gegen mich den Hut und sagte: »Auf Wiedersehen, mein Herr, ich habe dem Kutscher da ein kleines Hotel angegeben, das vielleicht des Versuches wert ist.«
Der Wagen rollte auf Zickzackwegen den Berg herunter, troddelte durch eine Anzahl enger und holpriger Gassen und hielt schließlich in einer stillen Seitenstraße vor einem weder hohen noch langem, etwas unscheinbaren Hause, das vergessen schien und von einer besseren Vergangenheit träumte. Der Kutscher knallte mit der Peitsche. Ein älterer, etwas beleibter Herr erschien in der Tür und hinter ihm ein ebenso bejahrter und beleibter Kellner, nach Art der französischen Garçons. Der Kutscher reichte die Karte, forderte vier Francs für la course, konnte auf das Fünf-Francsstück kein Wechselgeld finden und trug schließlich für den fälligen Franken das Gepäck ins Haus.
Der Kellner leitete mich über unzählige Treppen und Treppchen und durch lange Gänge, die mit schweren, aber etwas »gewesenen« Teppichen belegt waren, nach meinem Zimmer. Die Luft war drückend, alles atmete Vergangenheit, das Zimmer war kein Zimmer, sondern ein Salon, kein Salon, sondern ein Saal. Deckengemälde, Gobelins, eingelegte Spiegel, Sèvres-Vasen. Das anstoßende Schlafgemach war ein Traum, allerdings ein recht vergilbter Traum, aber gerade deshalb das Ideal Amors, des Traumgottes und seines ernsteren Vetters Morpheus.
Das Essen und Trinken, der ganze service waren exquisit, es war le comble du paradis du gourmand et du gourmet!
Abends traf ich die Herren noch einmal im Café de la Bourse an der Cannebière; die beiden jüngeren Herren waren jetzt in Uniform, Artillerie aus Toulon. Der ältere Herr wurde von den Anwesenden mehrmals mit mon général angeredet. Doch schien gerade dieser hohe Titel der Grund, warum die Herren vermieden, sich förmlich vorzustellen, da es dem Geiste des französischen Offiziers widersteht, mit seinem hohen Range dem Fremden zu imponieren. Der General frug mich einmal lächelnd im Laufe des Gespräches, wie mir le petit Hôtel gefiel. Ich erwiderte ihm, daß ich aus der Geschichte noch nicht recht klug wäre, ich wüßte noch nicht recht, ob ich in einem verschwundenen Schlosse oder in einer Räuberhöhle ersten Ranges wohnte. Ich hatte nur zwei Tage in Marseille zu tun, verzögerte aber meine Abreise bis zum dritten, schließlich bis zum vierten Tage und zwar aus zwei Gründen; der eine war: die Wohnung und die Verpflegung in meinem Märchenhôtel waren so wunderbar, daß es einer stärkeren Willenskraft, als der meinen bedurft hätte, um sich glatt dieser Umgarnung zu entreißen: der zweite und vielleicht noch gewichtigere war der, daß ich eine Angst, eine furchtbare Angst vor der Rechnung hatte, die der Wirt doch sicherlich – ohne mich machte. Am Morgen des vierten Tages faßte ich endlich Herz und forderte energisch l'addition, s. v. p.
Fünf Minuten später brachte der Kellner dieselbe auf einem silbernen Tablett und auf ihr stand kurz zu lesen: 3 Tage logement et pension à 8 Francs = Francs 24.
Ich war ganz baff, das hatte ich nicht erwartet, sondern das ganze Gegenteil, den fünf- bis zehnfachen Betrag. Den dreifachen war die Sache unter Brüdern sicherlich wert.
Als ich mich vom Wirte verabschiedete und ihm für die anerkennungswerte Verpflegung meinen Dank aussprach, sagte er etwas verschmitzt lächelnd: »Monsieur ist mir vom Chef des Generalstabes empfohlen worden!«
Diese Affäre kam mir durch die Anwesenheit der beiden französischen Militärs wieder in den Sinn und ich beschloß, von meinem Schatze an Dankbarkeit soviel als möglich an diese Herren abzutragen.
Das Programm für den Abend wurde entworfen: Zwei Tandas in der Zarzuela; die Herren würden da auch Gelegenheit haben, einen compatriote und eine payse kennen zu lernen, eine payse, die zu sehen allein eine Reise nach Mexiko wert sei. Wie hätte ich ahnen können, daß die Herren wirklich die Reise wegen eben dieser Landsmännin gemacht hatten! Nach der Vorstellung ein kurzer Besuch einer casa de juego. Nach der Spielhölle ein kleines souper im hôtel del Jardin. Man speist dort vorzüglich. Die Herren waren bereits in Gesellschaftstoilette und zehn Minuten später waren wir im nahen Teatro Principal.
Das Parquet und die Logen waren gänzlich gefüllt, die Ränge zeigten große Lücken. Es war kein angenehmer Theaterabend. So etwas wie nervöse Schwüle, abwechselnd mit einem an und für sich unerklärlichen, fröstelnden Unbehaglichsein lagerte auf dem Auditorium. Die Beleuchtung hatte sich der Spärlichkeit des Publikums angepaßt, die ganze Situation war von einer fühlbaren Ungemütlichkeit und ich bereute bereits, die Herren hierher geführt zu haben. Diese waren zu sehr gentlemen, um meiner abfälligen Kritik beizustimmen und musterten mit einem gekünstelten Interesse die wenigen interessanten Gesichter in den Logen.
Die zweite Tanda fing an. Man gab die alte spanische Burleske Don Jaime el Conquistador und der Komiker Fernandez versuchte vergebens, mit seinen Mätzchen das wenig stimmungsvolle Publikum zu erheitern. Ich gab mir alle Mühe, den fremden Herren die schnell auf einander folgenden Späße, Witze und Zoten des dramatischen Clowns zu übersetzen und zu erklären und diese waren jedenfalls ebenso erleichtert als ich, als um zehn Uhr diese martervolle Prozedur ihr Ende erreicht hatte.
Ein Exodus eines Teiles des Publikums erfolgte, neues füllte die Parquet- und Plateauplätze, dann intonierte das Orchester die Marcha Real und der Herr Chevalier und seine Dame machten wieder durch den großen Mittelgang ihren gewohnten Aufzug zur Bühne.
Wir saßen in der vierten oder fünften Parquetreihe gleich am Mittelgang. Das Paar kam ganz dicht an uns vorbei. Es war sichtlich in ähnlich gedrückter Stimmung wie das Publikum. Die Gesichter fahl, die Köpfe etwas gebeugt, so schritten sie unsicheren Schrittes Hand in Hand die Stufen zur Bühne hinauf. War die Spärlichkeit des Publikums, das Fehlen von Applaus, die ärmliche Beleuchtung daran schuld oder lastete ein Alp auf ihnen, war ein Mißakkord in dem feinen Seitengewebe ihrer gleichmäßig gestimmten Seelenanalogie?
Mir schien es, als ob beim Vorbeischreiten des Paares meinem Nachbarn zur Linken ein voyons mit dem prononcierten Accent des Erstaunens entfahren war, doch hatte ich, da ich selbst das Paar interessiert beobachtete, dem Ausruf nicht die richtige Bedeutung beigelegt. Aber jetzt, als das Paar die Rampe erreicht hatte, und de Nemo mit etwas unsicherer Stimme und im schlechten Castellanisch seine gewohnte Erklärung begann, entwickelte sich plötzlich bei meinen Begleitern und zwischen ihnen eine fieberhafte Tätigkeit mit kurzem hastigen Austausch von Worten, Herausholen von Papieren großen Formats, vergleichen von Photographien und sonstige merkwürdige Hantierungen. Meine Person war gänzlich in Vergessenheit geraten und ich konnte nur, wie die andern Herren in der Nähe, diesem uns unerklärlichen Betragen zuschauen.
Indessen hatte der Chevalier seinen inkoherenten Vortrag beendet und Miß Violet mit einigen nervösen Handbewegungen in den bekannten Bühnenschlummer versetzt. Dann begab er sich mit langen, steifen, unsicheren Schritten ins Auditorium, fiel dabei beinahe auf der Treppe und nun begann die Gedanken-Übertragung. Die ersten Experimente, die der Chevalier bei den Logeninsassen machte, gelangen so ziemlich, wenn auch Miß Violets Geist nicht so prompt reagierte, wie bei früheren Gelegenheiten. So schien es mir wenigstens, oder war die Nervosität, die auch mich ergriffen hatte, daran schuld, daß ich das, was um mich herum vorging, falsch beurteilte?
Der Chevalier kam immer näher, er überschlug einige Parquetreihen, als wenn ihn ein unbestimmbares Etwas mit unwiderstehlicher Gewalt in unsere Nähe triebe, und plötzlich stand er neben den Herren aus Frankreich. Als wenn eine schwere Hand auf meinem Herzen läge, beobachtete ich schwer atmend, stieren Auges die Szene, die sich nun blitzschnell abwickelte. Kalten Auges beobachteten die beiden Herren de Nemos Bewegungen; der eine der Herren hielt in seiner Hand ein Dokument, der andere zwei Photographien. Des Gauklers Auge überflog und erfaßte mit einem Blick den Inhalt des in klaren Zügen abgefaßten Schriftstückes, keine Muskel in seinem bleichen Gesicht zuckte, seine Linke suchte tastend einen Stützpunkt an der vorderen Stuhllehne. Sein geistiges Auge verschlang das Dokument, sein Gehirn verarbeitete fieberhaft den Inhalt, die Gedankenübertragung arbeitete mechanisch in augenblicklicher, vollständig sich deckender Reproduktion und in demselben Momente, als sein halb verlöschendes Auge über die Linien glitt, ertönte es von der Bühne her in schrillen, unheimlich, abgerissenen Schreitönen: » Ordre d' arrêt contre l'ex capitaine Achille Verdalle, du 132me d'Artillerie à Valence, commandé à l'Ecole Militaire de Paris et contre Mlle. Félicie Colombier de Versailles pour homicide commis à la personne de l'agent de change François ...
Sauve-toi, Achille ... grâce, grâce! ...
Aber die Warnungsrufe Miß Violets kamen zu spät. Schon hatte der Detektiv die Handschellen um die Handgelenke des Ex-Hauptmanns geschnellt und der starke Mann war wie ein geknicktes Rohr zusammengebrochen.
Herzzerreißende Schreie brachen aus Miß Violets zuckendem Munde in das von Schreck und Panik erfüllte Auditorium. Der Wahnsinn hatte von ihrem schwächeren Geiste auf ewig Besitz ergriffen.
Die Nemesis hatte das Mörderpaar erreicht.