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Dickens als Novellist.
1836–1870.
Die Geschichte zweier Städte.
Große Erwartungen. Weihnachstskizzen. |
Unser gegenseitiger Freund.
Dr. Marigold und Erzählungen für Amerika. |
Was ich im Allgemeinen über Dickens' schriftstellerisches Genie zu sagen habe, mag den Bemerkungen angeschlossen werden, welche noch über seine Schriften, von der Geschichte zweier Städte an bis zu der Zeit, bei der wir jetzt angekommen sind, gemacht werden müssen, mit Ausnahme Edwin Drood's, der an seiner Stelle erwähnt werden wird; und wie bei den früheren Bemerkungen über die einzelnen Romane werden auch hier Erläuterungen aus seinen Briefen und seinem Leben herangezogen werden. Seine literarische Arbeit war so vollkommen eins mit seiner Natur, daß er nicht davon zu trennen ist, und der Mensch und die Methode werfen auf einander ein merkwürdiges Licht. Aber eine Hinweisung auf das, was von Schriftstellern, welche den Ton von Autoritäten annehmen, über diese Bücher gesagt worden ist, wird angemessener Weise demjenigen vorhergehen, was ich selbst zu bemerken habe, und ich will diesem Theile meiner Aufgabe den Wink Carlyle's voranschicken, daß es bei der Beurtheilung eines ungewöhnlichen Menschen für gewöhnliche Menschen gerathen sei, sich zu vergewissern, daß sie ihn sehen, ehe sie versuchen, ihn zu übersehen.
Ueber den französischen Schriftsteller, Henry Taine, wurde schon früher bemerkt, daß seine Unfähigkeit den Humor zu würdigen, für seine Ansprüche als Kritiker des englischen Romans verhängnißvoll ist. Aber nichtsdestoweniger verdient sowohl seine Kritik als seine ungewöhnliche Kenntniß der englischen Sprache Beachtung; seine Stellung berechtigt ihn, ohne einen Verdacht von Parteigängerschaft oder absichtlicher Unbilligkeit, gehört zu werden; was man auch über den Werth seiner Ansichten denken mag, die Sorgfalt ihrer Form und Ausdrucksweise ist an sich kein geringer Tribut, und was er über Dicken's Behandlung in Bezug auf Styl und Charakter sagt, verkörpert in maßvoller Weise Einwendungen, welche seitdem von einigen englischen Kritikern ohne seine Unparteilichkeit und von geringerer Begabung als er erhoben worden sind.
Was zunächst den Styl betrifft, so findet Taine nicht, daß das Natürliche oder Einfache hinreichend vorherrscht. Der Ton ist zu leidenschaftlich. Die phantastische oder poetische Seite der Dinge wird so durchgängig hervorgehoben, daß die Beschreibungen aufhören bloßes Beiwerk zu sein und die dadurch hervorgerufenen kleinsten Details des Schmerzes oder der Freude zu thätigen Mächten in der Erzählung werden. So lebendig und kraftvoll ist die Entfaltung der Phantasie, daß Alles von ihr mit fortgerissen wird. Erdichtete Gegenstände nehmen die Genauigkeit wirklicher Gegenstände an; lebendige Gedanken werden durch leblose Dinge beeinflußt; die Glocken trösten den armen alten Zettelträger; das Heimchen bringt die Zweifel des rauhen Kärrners zur Ruhe; die Meereswogen besänftigen den sterbenden Knaben; Wolken, Blumen, Blätter, alle spielen ihre Rolle; kaum eine Form der Materie ist ohne eine lebendige Eigenschaft, kein schweigendes Ding ohne seine Stimme. Indem Taine so das, was bei dem Gegenstande seiner Kritik gelegentlich vorkommt, zu einem Etwas verzärtelt und übertreibt, in Bezug worauf er sich offenbar endlich selbst überredet, daß es ein stehendes und allgemeines Verfahren bei Dickens sei, fährt er fort die Ueberfülle seiner Einbildungskraft zu erklären, die er in ihrer Lebhaftigkeit mit der eines Wahnsinnigen vergleicht. Es fehlt ihm vollständig an dem Verständniß für diejenige Eigenthümlichkeit des Humors, welche die Empfindung der feinsten und zartesten Analogieen einschließt und aus welcher jene seltene Einsicht in die Sympathieen zwischen der Natur der Dinge und ihren Eigenschaften oder Gegensätzen hervorgeht, worin Dickens' Phantasie mit solchem Entzücken schwelgte. Die berühmten Zeilen, welche den Wahnsinnigen, den Liebenden und den Dichter als »von demselben Gefühle beseelt« darstellen, in einem Sinne auffassend, der den großen Dichter, welcher sie schrieb, nicht wenig überrascht haben würde, stellt Taine die Phantome des Wahnsinnigen und die Charaktere des Künstlers auf dasselbe Niveau schöpferischer Phantasie. Er schildert Dickens als von Zeit zu Zeit, in den verschiedenen Phasen seiner einander folgenden Romane, einer einzigen Idee hingegeben, von dieser besessen, nichts anderes als sie sehend, sie in hundert Formen verkörpernd, sie übertreibend und seine Leser so dadurch blendend und überwältigend, daß kein Entrinnen möglich ist. Er behauptet, diese Wirkung werde ebenso sehr erzielt, wenn Mr. Mell, der Schullehrer, die Flöte spielt, wenn Tom Pinch sich über seinen Pecksniff freut oder ihn entlarvt, wenn der Wächter auf Tom's Fahrt nach London das Horn bläst, wenn Ruth durch Fountain-Court dahinschreitet oder den Beefsteak-Pudding macht, wenn Jonas Chuzzlewit den Mord begeht und von demselben zurückkehrt, und wenn der Sturm, der Steerforth's Todtenglocke ist, gegen die Küste von Yarmouth brandet. Derselben Geisteskraft schreibt Taine die außerordentliche Klarheit zu, womit in allen Dickens'schen Büchern die gewöhnlichsten Gegenstände, ein altes Haus, ein Wohnzimmer, ein Boot, eine Schule, fünfzig Dinge, die bei dem gewöhnlichen Erzähler unbemerkt bleiben würden, lebendig gegenwärtig und unzerstörbar gemacht und mit einer Schärfe und Kraft der Umrisse vorgeführt werden, die kein andrer Romandichter auch nur annähernd erreicht hat – Alles deutlich und doch nichts kalt, »voll von der ganzen Leidenschaft und Geduld der Maler seines Vaterlandes«. Und während die Aufregung des Lesers so in einem Maaße wachgehalten wird, das unvereinbar ist mit einem natürlichen Styl und einer einfachen Erzählung, glaubt Taine doch, er habe in eben diesem Talent, eine fieberische Empfindsamkeit zu erwecken und durch die gewöhnlichsten Dinge zum Gelächter oder zu Thränen zu bewegen, die Quelle von Dickens' erstaunlicher Popularität entdeckt. Gewöhnliche Leute, sagt er, sind so müde von dem, was sie immer umgibt, und fassen von den kleinen Dingen, welche ihr Leben zusammensetzen, so wenig auf, daß, wenn plötzlich Jemand kommt, der ihnen diese Dinge interessant macht, und sie in Gegenstände der Bewunderung, der Zärtlichkeit oder des Schreckens verwandelt, die Wirkung bezaubernd ist. Ohne ihre Lehnstühle oder ihre Kamine zu verlassen, finden sie, daß sie vor innrer Erregung zittern; ihre Augen sind mit Thränen gefüllt, ihre Backen werden durch Lachen breit und durch die so gemachte Entdeckung, daß auch sie leiden, lieben und empfinden können, scheint ihr ganzes Dasein ihnen verdoppelt. Der Gedanke, daß ein solcher Erfolg wenig noch zu Erringendes übrig lasse, war Taine nicht gekommen.
Weit davon entfernt, hatte der Kritiker sich vielmehr überzeugt, daß eine solche Macht des Styls einer richtigen Zeichnung der Charaktere zuwiderlaufen muß. Dickens ist nicht ruhig genug, sagt er, um auf den Grund dessen zu dringen, womit er sich beschäftigt. Er nimmt als Freund oder als Feind Partei dafür, lacht oder weint darüber, macht es hassenswerth oder rührend, abstoßend oder anziehend und ist zu heftig und nicht wißbegierig genug, um ein Porträt zu malen. Seine Einbildungskraft ist zugleich zu lebhaft und nicht umfassend genug. Ihre Zähigkeit und die Kraft und Concentration, womit seine Gedanken in die Details eindringen, die er erfassen will, setzen seiner Erkenntniß Grenzen, beschränken ihn auf einzelne Züge und verhindern es, daß er alle Tiefen einer Seele ergründet. Er bemerkt eine Eigenthümlichkeit, eine Sonderbarkeit, einen Ausdruck, eine Grimasse, sieht nichts Andres und hält unwandelbar daran fest. Mercy Pecksniff lacht bei jedem Worte, Mark Tapley ist nichts als jovial, Mrs. Gamp spricht beständig von Mrs. Harris, Mr. Chillip ist ohne Ausnahme furchtsam, und Mr. Micawber wird es nie müde, seinen Phrasen Emphase zu verleihen, oder mit lächerlicher Plötzlichkeit von der Freude zum Schmerz überzugehen. Ein Jeder ist die Verkörperung eines Lasters, einer Tugend oder einer Absurdität, deren Aeußerung häufig, ausnahmelos und ausschließlich ist. Die hier von mir gebrauchte Sprache kürzt mit strenger Genauigkeit das ab, was Taine gesagt hat und was von andern, angeblichen Bewunderern sowohl als offenen Verunglimpfern, ad nauseam wiederholt worden ist. Mrs. Gamp und Mrs. Micawber, die zu den humoristischen Schöpfungen ersten Ranges gehören, werden so ohne ein weiteres Wort von dem französischen Kritiker abgefertigt, und er ist sich nicht im mindesten bewußt, daß er in eben denselben Fehler verfällt, wegen dessen er Dickens verurtheilt, den nämlich, lebhafte Beobachtung mit wirklicher Einsicht zu verwechseln.
Er behält sich jedoch bedeutende Zugeständnisse vor, da seine in England gemachten Beobachtungen ihn überzeugt haben, daß Dickens' Mängel in seiner Kunst wesentlich dem Volke zuzuschreiben sind, für das er schrieb. Der Geschmack seiner Nation hatte ihn verhindert, Charaktere in großem Styl darzustellen. Die Engländer verlangen zu viel Moral und Religion für wirkliche Kunst. Sie veranlaßten ihn, die Liebe nicht als an sich heilig und erhaben zu behandeln, sondern als der Ehe untergeordnet; sie zwangen ihn, die Gesellschaft und die Gesetze gegen die Natur und die Begeisterung aufrecht zu erhalten und bei der Darstellung einer Verführung, wie der in Copperfield, nicht den Fortschritt, die Glut und die Berauschung der Leidenschaft zu schildern, sondern nur das Elend, die Reue und die Verzweiflung. Die Folgen einer so oberflächlichen Religion und Moral, verbunden mit dem Krämergeist (fährt Taine fort), führen zu so vielen nationalen Formen der Heuchelei, der Geldgier und der Anbetung des Geldes, daß dieser große Schriftsteller der Nation dadurch in Bezug auf die häufige Wahl jener Laster zur Darstellung in seinen Romanen gerechtfertigt wird. Aber der Mangel seiner Methode macht sich hier von Neuem fühlbar. Er behandelt die Laster nicht nach Art eines Physiologen, der eine gewisse Liebe für sie fühlt und sich an ihren feineren Zügen freut, als wären sie Tugenden. Er wird ärgerlich über sie. (Ich will Taine nicht unterbrechen; aber um nur ein Beispiel als Probe von vielen zu nehmen, ist doch wahrlich Dickens' Genuß bei seiner Behandlung Pecksniff's ebenso offenbar, als daß er während der ganzen Zeit nicht aufhört, ihn sehr hassenswerth zu machen.) Er kann nicht, wie Balzac, die Moral unberücksichtigt lassen, und wie jener große Romandichter eine Leidenschaft, so verabscheuenswürdig sie auch sein mag, von der allein sichern Grundlage des Glaubens behandeln, daß sie eine Kraft ist, und daß jede Kraft als solche gut ist. Es ist für einen Künstler jenes höhern Ranges wesentlich (meint Taine), so verworfen der dargestellte Charakter auch ist, seine Erziehung und seine Versuchungen, die Form des Gehirns und die geistigen Gewohnheiten, welche den Hang seiner Natur bestärkt haben, aufzudecken, ihn herzuleiten aus seiner Ursache, ihn mit seinen Verhältnissen zu umgeben und seine Wirkungen zu ihren Extremen zu entwickeln. Indem er einen solchen trefflichen Geizhals, Heuchler, Wollüstling oder was sonst behandelt, sollte er sich nie um die übeln Folgen der Laster kümmern. Er sollte zu sehr Philosoph und Künstler sein, um sich zu erinnern, daß er ein respektabler Bürger ist. Aber dies vergißt Dickens nie und er entsagt allen Schönheiten, die einem so verdorbenen Boden entwachsen. Nichtsdestoweniger kommt Taine im Allgemeinen zu dem Schlusse, daß er, obgleich jene Triumphe der Kunst, welche zu einem Besitzthum der ganzen Erde werden, ihm nicht beschieden waren, doch viel geleistet habe. Seine unvergleichliche Beobachtung, seine Satire und seine Empfindsamkeit haben eine Reihe selbstständiger Charaktere geschaffen, die nirgends als in England existiren und künftigen Generationen nicht bloß sein eignes Genie, sondern den Geist seines Volkes und seiner Zeit zur Anschauung bringen werden.
Zwischen diesem, von dem berühmten französischen Professor abgegebenen Urtheil und den sogleich zu erwähnenden späteren Bemerkungen eines englischen Kritikers, die jenem Urtheil keinesfalls Abbruch thun, mag es angemessen sein, eine Stelle aus einem Briefe von Dickens einzuschalten, worin er sich über die Beschränkungen äußert, welche dem Künstler in England auferlegt werden. Sie liest sich halb und halb wie ein Eingeständniß einer der Beschuldigungen Taine's, obgleich sie nicht mit Bezug auf Dickens' eigne, sondern auf einen von Sir Walter Scott's späteren Romanen geschrieben wurde. »So habe ich auch« (schrieb er am 15. August 1856 aus Paris) »immer eine schöne Empfindung des ehrbaren Zustandes, in den wir hineingerathen sind, wenn ein glatter Herr gegen mich, oder gegen sonst Jemand, wenn ich dabei bin, bemerkt, wie wunderlich es sei, daß der Held eines englischen Buches immer uninteressant ist – zu gut – nicht natürlich, &c. Ich höre dies beständig über Scott von Engländern hier, die ihr Leben mit Balzac und Sand zubringen. Aber, o mein glatter Freund, für was für einen glänzenden Betrüger mußt Du Dich halten und für was für einen Esel mußt Du mich halten, wenn Du glaubst, daß Du, indem Du eine freche Miene annimmst, die Thatsache aus meiner Erkenntniß auslöschen kannst, daß eben dieser unnatürliche junge Mann (wenn es nothwendigerweise unnatürlich ist, anständig zu sein), dem Du in jenen andern Büchern und in meinen eigenen begegnest, Dir in jener unnatürlichen Gestalt vorgeführt werden muß wegen Deiner Moral und, ich will nicht sagen keine von Unanständigkeiten die Dir gefallen, sondern sogar nicht einmal die Erfahrungen, Prüfungen, Verlegenheiten und Verirrungen haben darf, welche von dem Werden und dem Verfall aller Menschen unzertrennlich sind!«
Taine's Kritik wurde drei oder vier Jahre vor Dickens' Tode geschrieben und derselben Zeit gehören mehrere englische Kritiken an, welche mehr oder weniger in absprechendem Tone gehalten waren, die großen, von dem Autor errungenen Erfolge zugaben, aber das Wesen und den Gehalt seiner Kunst bestritten. Denn es ist allen diesen Beurtheilungen von Dickens eigenthümlich, daß sie nothwendigerweise von dem Geständniß begleitet sind, daß kein Schriftsteller sich der Zeit, in der er lebte, so vollständig aufgeprägt, daß er seine Charaktere zu einem Theil der Literatur gemacht hat und daß seine Leser die ganze Welt sind.
Aber etwas mehr als ein Jahr nach seinem Tode wurde ein Artikel veröffentlicht, dessen Zweck es war, diese anscheinenden Unvereinbarkeiten zu versöhnen, die innere Bedeutung von »Dickens' Verhältniß zur Kritik« darzuthun und zu zeigen, daß, obgleich er ein glänzendes Genie und eine wunderbare Einbildungskraft besaß, die Gegner, welche ihn nur einen theatralischen Sentimentalisten und einen talentvollen Karrikaturisten nannten, doch nicht ganz unrecht hatten. Dieser kritische Essay erschien in der »Fortnightly Review« vom Februar 1872, mit der Unterschrift von George Henry Lewes, und der anmaßende Ton dieses Machwerks mit seinen gewaltigen Bekenntnissen von Offenherzigkeit zwingt mich zu der peinlichen Aufgabe, zu erklären, was es eigentlich ist. Zu Dickens' Lebzeiten, besonders wenn irgend ein neuer Novellist auftauchte, der zu einer gezwungenen Vergleichung mit ihm verwandt werden konnte, fehlte es nicht an Versuchen, ihn herabzusetzen, aber das Kunststück absichtlicher Geringschätzung wurde nie durch die unerträgliche Anmaßung einer nachsichtigen Ueberlegenheit so weit getrieben und so gehässig gemacht als in diesem Falle; und es in dieser Form ein für allemal abzuweisen, ist eine Pflicht gegen Dickens' Andenken.
Der Artikel beginnt mit den gewöhnlichen Zugeständnissen – daß er ein gewaltig populärer Schriftsteller gewesen, daß er zahllose Menschen entzückt habe, daß seine Bewunderer allen Volksklassen und Ländern angehören, daß er die Sympathie von Massen erregt habe, die nicht leicht durch die Literatur erreicht werden und zwar immer in gesunder Weise, daß er der Volksschriftstellerei eine neue Richtung gegeben, und die Literatur seiner Zeit in Bezug auf Geist sowohl wie auf Form verändert habe. Andrerseits aber vertiefte grade der Glanz dieser Erfolge den Schatten seines Mißlingens so sehr, daß für Viele nichts als Finsterniß da war. War dies unnatürlich? Konnten die höhern Kritiker einem Schriftsteller, dessen Mängel so grell, so übertrieben, so unwahr, so phantastisch und melodramatisch waren, wirkliche Größe zugestehen? Konnten sie nicht billigerweise darauf bestehen, daß solche Mängel alle positiven Talente überwögen und mit herablassendem Gönnertone oder spöttischer Gereiztheit von ihm reden? Hatte der gegenwärtige Kritiker nicht sehr oft bemerkt, wie solche Menschen, obgleich sie ihr Gespräch mit Citaten und Anspielungen auf Dickens' Schriften würzten und obgleich sie ihre Lieblingsbücher bei Seite legten, um sich in sein neuestes Heft zu vergraben, ebenso karg mit ihrem Lobe gegen ihn waren als verschwenderisch mit ihrem Spott? Er hörte thatsächlich bei einer Gelegenheit › einen sehr ausgezeichneten Mann‹ maßlose Verachtung gegen Dickens ausdrücken und einige Minuten später zugeben, daß Dickens »ein Theil seines Lebens geworden sei«. Und so machte denn dieser Kritiker sich an die Aufgabe, jene ungeheuere Popularität und jene kritische Verachtung mit einander zu versöhnen, was er auf folgende Weise thut.
Er sagt, Dickens habe im ›Spaß‹ (Humor gesteht er ihm nirgends zu) so Großes geleistet, daß Fielding und Smollett im Vergleich mit ihm klein seien, aber dies würde nur eine vorübergehende Belustigung für die Welt gewesen sein, wäre er nicht auch »begabt gewesen mit einer Phantasie von wunderbarer Lebendigkeit und einer erregbaren sympathischen Natur, welche fähig war, seine Phantasie mit den Elementen allumfassender Macht auszustatten.« Leuten, die der Meinung sind, daß Worte einen gewissen Sinn haben sollten, möchte es scheinen, daß wenn ein Mensch nur mit allem Diesen »begabt« sein könnte, weiter nichts über ihn gesagt zu werden brauchte. Im Besitze einer wunderbaren Phantasie und einer Natur, welche diese mit den Elementen allumfassender Macht ausstattet, – welche Geheimnisse der schöpferischen Kunst konnten ihm verschlossen sein? Doch das hieße, ohne euern philosophischen Kritiker rechnen. Taine sah in der Lebendigkeit von Dickens' Phantasie einfach Wahnsinn, und sein Nachfolger sieht darin nichts als Sinnentäuschung. Nichtsdestoweniger überhäuft er sie mit rührenden Beiwörtern. Er spricht von ihrem strahlenden Glanze, nennt sie sowohl glorreich als souverän und wunderbar, und um uns ganz darüber zu beruhigen, daß er mit diesen schönen Phrasen keinen geringen Artikel anpreist, bemerkt er nebenbei, daß eine solche Phantasie »allen großen Schriftstellern gemeinsam ist«. Zum Glück für die großen Schriftsteller im Allgemeinen sind jedoch ihre Schöpfungen von der alten, unsterblichen, alltäglichen Sorte, während Dickens, dieser Philosophie der Kritik zufolge, bei seinem schöpferischen Verfahren streng eingeschlossen bleibt in die Grenzen der Sinnentäuschung.
»Er war,« so wird uns erklärt, »ein Seher von Visionen.« In Schweigen und in Dunkelheit, so wird uns versichert, hörte er Stimmen und sah er Gegenstände, deren erneute Eindrücke für ihn die Lebendigkeit von Empfindungen besaßen, während die Bilder, welche sein Geist zu ihrer Erklärung schuf, die zwingende Macht von Realitäten hatten, Ich hoffe, meine Leser werden im Stande sein, dies zu verstehen, sowie auch das folgende. »Was uns widersinnig, unmöglich scheint, schien ihm eine einfache Thatsache der Beobachtung. Wenn er sich eine Straße, ein Haus, ein Zimmer, eine Gestalt vorstellte, sah er sie nicht nach der unbestimmten schematischen Weise einer gewöhnlichen Einbildungskraft, sondern in den scharfen Umrissen wirklicher Wahrnehmung, wobei alle hervorragenden Details sich seiner Beachtung aufdrängten. Da er selbst den Gegenstand so lebendig sah, machte er ihn auch uns sichtbar, und da er, so phantastisch der Gegenstand auch sein mochte, selbst an seine Wirklichkeit glaubte, theilte er uns etwas von seinem Glauben mit. Er stellte ihn in einer solchen Fassung dar, daß wir aufhörten daran zu denken als an ein Gemälde. So bestimmt und klar war das Bild, daß wir, selbst während wir wußten, es sei unwahr, nicht umhin konnten, einen Augenblick gleichsam durch seine Sinnentäuschung beeinflußt zu werden.« so daß das, was er auf diese Weise in's Dasein rief, so phantastisch und unwirklich es auch sein mochte, doch allgemein verständlich war. »Seine Typen setzten sich in dem öffentlichen Bewußtsein wie persönliche Erlebnisse fest. Ihre Unwahrheit wurde bei dem Glanze der Beleuchtung nicht bemerkt. Jeder Humbug schien ein Pecksniff, jeder joviale sorglose Lebemann ein Micawber, jedes karg behandelte Dienstmädchen eine Marquise.« Der Kritiker durchschaute dies Alles freilich, aber seine Warnungen waren umsonst. »Umsonst zeigte die kritische Reflexion, daß diese Gestalten bloße Masken seien, keine Charaktere, sondern personificirte Charakterzüge, Karrikaturen und Entstellungen der menschlichen Natur. Die Lebendigkeit ihrer Darstellung trug über das Nachdenken den Sieg davon; es gelang ihrem Schöpfer, dem Publikum seinen zweifellosen Glauben einzuflößen.« Was ist aber das Publikum? Hierüber spricht Herr Lewes sich folgendermaßen aus. »Man gebe einem Kinde ein hölzernes Pferd, mit Haar für die Mähne und den Schwanz und bunten Oblatenstücken zur Färbung – und es wird sich nicht durch den Umstand stören lassen, daß dies Pferd die Beine nicht bewegt, sondern auf Rädern läuft und es glaubt fester an dies hölzerne Pferd, das es handhaben und ziehen kann, als an ein gemaltes Pferd von einem Wouvermann oder einem Ansdell (!). Man kann von Dickens' menschlichen Gestalten sagen, daß sie auch von Holz sind und auf Rädern laufen; aber das sind Details, welche den Glauben seiner Bewunderer kaum stören. Grade wie das hölzerne Pferd in den Bezirk der Gemüthsbewegungen und der dramatisirenden Neigungen des Kindes gebracht wird, wenn es dasselbe handhaben und ziehen kann, so werden Dickens' Gestalten in den Kreis der Interessen des Lesers gezogen und empfangen durch diese Interessen eine plötzliche Beleuchtung, wenn sie die Puppen eines Dramas sind, das in allen seinen Vorgängen an das Mitgefühl appellirt.«
Risum teneatis? Aber das Lächeln ist grimmig, das in dem Gesichte dessen auftaucht, dem die Beziehungen des Schriftstellers und des Kritikers, so lange sowohl der Schriftsteller als der Kritiker am Leben waren, bekannt sind und der den Zweck, weshalb ein feststehender Ruhm jetzt mit solchem Unrath überschüttet wird, durchschaut. Wie es mit der souveränen Phantasie geht, so mit dem Drama, das in allen seinen Vorgängen an das Mitgefühl appellirt. Wenn die Charaktere eines Stückes Puppen sind und die Zuhörer des Theaters Narren oder Kinder, so büßt kein weiser Mann seine Weisheit ein, indem er weiterhin zugibt, daß der erfolgreiche Theaterdichter »mit glücklichem Instinkt« Situationen für seine hölzernen Figuren erfunden hat, welche einen unwiderstehlichen Einfluß auf die liebende Empfindung ausüben, daß er durch seine Puppen »in der Muttersprache des Herzens« geredet, daß er mit seinen gefleckten Pferden und so fort »das Leben, welches er kannte und welches ein Jeder kannte, geschildert hat«; daß er natürlich nichts Ideales oder Heroisches schilderte, und daß die Welt des Gedankens und der Leidenschaft über seinen Horizont hinaus lag, aber daß ihm mit seinen künstlichen Darstellern und seinen schwachsinnigen Zuhörerschaften, »alle Hülfsquellen des bürgerlichen Epos zu Gebote standen, – die Freuden und Leiden der Kindheit, die kleinliche Tyrannei unedler Naturen, die heitern Scherze glücklicher Naturen, das Leben der Armen, die Kämpfe der Straße und der Dachstube, die Unverschämtheit des Beamtenthums, die scharfen gesellschaftlichen Gegensätze, Ostwind und Weihnachtsfreuden, Hunger, Elend und heißer Punsch« – so daß selbst kritische Zuschauer, die darüber klagten, daß diese stark aufgetragenen Gemälde artistische Klecksereien seien, ihrer wirkungsvollen Bedeutsamkeit nicht ganz widerstehen konnten.« Seit Trinculo und Caliban unter einem Mantel steckten, hat es sicherlich kein solch‹ delikates Ungeheuer mit zwei Stimmen gegeben. »Seine vordere Stimme spricht gut über seinen Freund, seine hintere Stimme äußert sich in faulen Reden und Verläumdungen.« Noch eine der faulen Reden darf ich nicht unbeachtet lassen, weil sie eine angebliche persönliche Enthüllung enthält, die Dickens dem Kritiker selbst gemacht haben soll.
»Wenn man an Micawber denkt, der sich immer in derselben Lage darstellt, von denselben Motiven bewegt wird und dieselben Laute ausstößt, immer hofft, daß eine günstige Wendung eintreten wird, immer zu Boden geschmettert wird und wieder aufspringt, immer Punsch macht – und dessen Frau immer erklärt, daß sie sich nie von ihm trennen will, und die immer auf seine Talente und auf ihre Familie hinweist – wenn man an die als Charaktere personificirten Stichwörter denkt, so wird man an die Frösche erinnert, deren Gehirn zu physiologischen Zwecken aus ihrem Kopfe genommen ist und deren Handlungen es hinfort an der auszeichnenden Eigenthümlichkeit organischer Handlungen, der wechselnden Spontaneität, fehlt.« So groß war in der That Dickens' völlige Unfähigkeit, diese Zusammengesetztheit des Organismus zu begreifen, daß, der Meinung dieses Philosophen zufolge, seine ganze Unnatürlichkeit, alle seine phantastischen Personen und die geschraubten Unterredungen, woraus seine Bücher bestehen, und die in ihrer Widersinnigkeit »eine peinliche Aehnlichkeit haben mit den, von wahnsinnigen Patienten in das Ohr des Hörers ausgeströmten, abgeschmackten und eifrigen Auseinandersetzungen über ihre Pläne oder das ihnen widerfahrene Unrecht« sich daraus erklärt. »Dickens erklärte mir einmal,« fährt Herr Lewes fort, »daß jedes von seinen Charakteren gesprochene Wort deutlich von ihm selbst gehört werde. Es verursachte mir anfangs kein geringes Kopfbrechen, mir die Thatsache zu erklären, daß er eine Sprache hören könne, die der Sprache wirklicher Gefühle so ungleich war, ohne ihre Widersinnigkeit zu bemerken, aber mein Staunen verschwand, als ich an die Phänomene der Sinnentäuschung dachte.« Wunderbarer Scharfsinn! ein so verwirrendes Räthsel so leicht zu lösen! – Und so bis zum Schlusse. Zwischen den Ungebildeten, die Dickens rührte, und den Gebildeten, die zu rühren ihm nicht gelang; zwischen dem Genie, das auf eine Weise in Steingut arbeitete, welche die Herzen Aller bewegte, und der Gewöhnlichkeit, die sich nicht mit Porzellan abgeben oder an einem edeln Thon versuchen konnte, wird das klägliche Schaukelspiel fortgeführt bis zum letzten Satze, wo Herr Lewes, mit dem Eifer des unparteiischen Kritikers, sogar den Werth der in solchen Männern wie Jeffrey durch solche Schöpfungen wie die kleine Nell hervorgerufenen Gemüthsbewegung herabzusetzen, Alles, was er über die Gebildeten und die Ungebildeten gesagt hat, umstößt und uns einen gebildeten Philosophen vorführt, der wegen seiner Unkenntniß der Bühne einem Schauspieler Beifall spendet, welchen jeder ungebildete, an theatralische Vorstellungen gewöhnte Lehrling als gekünstelt verachtet. Doch der eben erwähnte kühne Streich, Dickens selbst inmitten der wirklichen Krise eines seiner Anfälle von Sinnentäuschung vorzuführen, erfordert noch ein weiteres Wort.
Um die Theorie der Sinnentäuschung festzustellen, wird bemerkt, er habe bei einer Gelegenheit dem Kritiker erklärt, daß jedes von seinen Charakteren gesprochene Wort deutlich von ihm gehört werde, ehe es niedergeschrieben sei. Wenn eine solche Behauptung in dieser Form und Weise völlig unglaublich, ja in dem angegebenen Umfange einfach unwahr ist, so kann sie doch angenommen werden in dem beschränkten und ganz verschiedenen Sinne, den eine Stelle in einem von Dickens' Briefen ihr verleiht. Alle Schriftsteller von Genie, denen ihre Kunst zur zweiten Natur geworden ist, sind gelegentlich im Stande zu thun, was der große Haufen für die Folge einer »Sinnentäuschung« halten mag, aber Sinnentäuschung wird nie als Erklärung dafür dienen. Nachdem Scott seine Braut von Lammermoor angefangen hatte, hatte er einen seiner schrecklichen Krampfanfälle; doch inmitten seiner Qualen diktirte er diesen schönen Roman; »Obgleich er,« erzählte John Ballantyne an Lockhart, »sich oft mit einem Stöhnen des Schmerzes auf seinem Kissen umdrehte, setzte er doch den Satz gewöhnlich in demselben Athem fort. Wenn er aber in einem besonders lebhaften Dialog begriffen war, schien der Geist vollständig über den Körper zu triumphiren – er erhob sich von seinem Lager und schritt im Zimmer auf und ab, indem er seine Stimme erhob und senkte, und gleichsam die verschiedenen Rollen spielte.« (Lockhart's »Leben Sir Walter Scott's«, VI. 67–68.) Die Erklärung von James Ballantyne findet sich auf S. 89 desselben Bandes. Der ursprünglichen Vorgänge, worauf Scott den Roman gegründet hatte, erinnerte er sich, »aber keines einzigen von dem Romandichter geschaffenen Charakters, keiner einzigen der vielen humoristischen Scenen und Einzelnheiten und keines Umstandes, der ihn als Verfasser mit dem Werke verknüpfte.« und als er sich von seinem Lager erhob und das gedruckte Buch ihm in die Hand gegeben wurde, »erinnerte er sich,« so versicherte James Ballantyne ausdrücklich an Lockhart, »keiner einzigen Begebenheit, keines Charakters und keiner Unterhaltung, die es enthielt.« Als Dickens die größte Prüfung seines Lebens durchmachte und Krankheit und Kummer sich um die Herrschaft über ihn stritten, schrieb er an mich wie folgt: »Von meinem Schmerz will ich nicht mehr sagen, als daß er in schrecklichem, furchtbaren, entsetzlichen Verhältniß gestanden hat zu der Lebendigkeit der Talente, an die Du mich erinnerst. Aber ist es nicht verzeihlich, daß ich ein wunderbares Zeugniß für meinen Beruf als Künstler darin erkenne, daß, wenn ich, inmitten dieser Unruhe und Schmerzen, mich an mein Buch setze, eine wohlthätige Macht mir Alles zeigt und mir Interesse dafür abgewinnt und ich es nicht erfinde – nein, wahrhaftig nicht – sondern es sehe und so niederschreibe. Erst wenn es Alles verblichen und verschwunden ist, fange ich an zu ahnen, daß diese augenblickliche Befreiung mich etwas gekostet hat.«
Was für eine Ansicht man auch über den Mann haben mag, der diese Worte schrieb, er durfte beanspruchen, mit Bezug auf die höchsten Vorbilder in der Kunst, der er sich widmete, beurtheilt zu werden. In der Literatur seiner Zeit, von 1836–1870, nahm er die hervorragendste Stelle ein und sein Anspruch auf die Stelle des volksthümlichsten Romandichters wurde durch allgemeine Uebereinstimmung zugegeben. Er errang diese Stelle lediglich durch die Macht seines Genies, ohne jeden andern Beistand, und er behauptete sie ohne Widerspruch. Wie er begann, so endete er. Nachdem er nur vier Monate geschrieben, und nachdem er unaufhörlich vier und dreißig Jahre lang geschrieben hatte, wurde er von allen lebenden Schriftstellern am allgemeinsten gelesen. Es ist natürlich ganz möglich, daß eine solche Volksthümlichkeit mehr ein Beweis für die Kleinheit seiner Zeitgenossen als für seine Größe gewesen wäre; aber seine Bücher bieten dafür den Prüfstein des Urtheils. Jedes derselben wurde in der Reihenfolge seines Erscheinens, mit Bezug auf das Licht, welches dadurch auf sein Leben geworfen wurde, mit Bezug auf die Methode seines Arbeitens und die darin offenbarte Mannigfaltigkeit und Vielseitigkeit seines Talents, in diesen Bänden besprochen. Seine späteren Bücher erfordern jedoch noch Berücksichtigung, und das was noch über seine allgemeine Stelle in der Literatur zu bemerken ist, wird hier am zweckmäßigsten erwähnt werden.
Seine Haupteigenschaft war der Humor. Derselbe findet in keiner der beiden angeführten Kritiken Erwähnung, aber er war seine höchste Fähigkeit und erklärt sowohl seine glänzenden Erfolge als seine nicht seltenen Mängel in der Zeichnung der Charaktere. Er war sich dessen selbst bewußt. Fünf Jahre vor seinem Tode bat ihn ein großer und edler Kunstgenosse, Lord Lytton, während er zugleich einem damals in Veröffentlichung begriffenen Werke von Dickens das vollste Lob spendete, zu erwägen, ob in einem Theile desselben die Formen der Kunst nicht etwas überschritten seien. »Ich kann Ihnen nicht sagen,« erwiderte Dickens, »wie hoch ich Ihren Brief schätze und mit welchem Stolz und welcher Freude er mich erfüllt. Auch stelle ich die Richtigkeit seiner Kritik (wenn so edle und feine Einwendungen mit diesem harten Namen bezeichnet werden können) keinen Augenblick in Frage, es sei denn aus dem Grunde, daß ich langsam und mit großer Sorgfalt arbeite und meiner Erfindung nie den Zügel schießen lasse, sondern ihr beständig Einhalt thue, und daß ich es für meine Schwäche halte, Beziehungen an den Dingen wahrzunehmen, welche gewöhnlich nicht wahrgenommen werden. Außerdem empfinde ich ein so unaussprechliches Vergnügen an Allem, was ich in komischem Lichte sehe, daß es sehr möglich ist, daß ich es verhätschle, wie ein verzogenes Kind. Das ist Alles, was ich gegen Ihr Urtheil vorzubringen habe.« Beziehungen an den Dingen wahrzunehmen, welche gewöhnlich nicht wahrgenommen werden, ist eine jener auszeichnenden Eigenschaften des Humors, wodurch die Verwandtschaften zwischen dem Hohen und dem Niedrigen, dem Anziehenden und dem Abstoßenden, den seltensten Dingen und den alltäglichen Dingen entdeckt werden, die uns Alle unsern Platz auf dem Niveau einer gemeinsamen Menschheit anweisen. Das ist es, was dem Humor einen unsterblichen Zug verleiht, einen Zug, der selbst den vorzüglichsten Charakter- und Sittengemälden nicht nothwendigerweise zukommt – die Eigenschaft, welche Carlyle in ihrer höchsten Form so scharfsinnig bezeichnet hat als eine Art umgekehrter Erhabenheit, welche das, was unter uns ist, in unsre Empfindung emporhebt, während die andre in unsre Empfindung hinabzieht, was über uns ist. Aber der Humor hat auch eine Gefahr; und auch diese deutet Dickens an und oft stürzte er in sie hinein. Aller Humor hat das in sich, ja ist identisch mit dem, was gewöhnliche Menschen geneigt sind Uebertreibung zu nennen; aber selbst hier gibt es ein Uebermaaß, das über das Erlaubte hinausgeht, und die humoristische Empfindung desjenigen, was komisch ist, zu »verhätscheln« oder über ihre gebührenden Grenzen hinaus zu vergrößern, heißt das bloß Groteske an ihre Stelle setzen. Was bei einem Schriftsteller von keiner ungewöhnlichen Erfindungsgabe hätte übersehen werden können, gewann durch Dickens' Phantasiereichthum eine hervorragende Beachtung, und so kam es, daß Einwendungen erhoben wurden gegen ein glänzendes Uebermaaß seines Genies, als wäre dies seine wahre und wesentliche Eigenschaft.
Man kann nicht sagen, daß dieses Uebermaaß in seinen früheren Büchern zum Vorschein kommt. Sein Genie stand damals noch nicht in voller Blüthe und der Humor war weniger fein und scharf; aber kein solcher Einwand ließ sich dagegen erheben. Kein Verdacht störte den Genuß der wunderbaren Lebensfrische Pickwick's, aber unter seinem Scherz, seinem Gelächter und seiner Ausgelassenheit lagen Andeutungen eines Genies ersten Ranges in der Zeichnung der Charaktere. Etwas von Karrikatur lag in dem Plane, aber indem der Kreis der handelnden Personen sich über den Cockney-Club hinaus erweiterte und die köstliche Wunderlichkeit Mr. Pickwick's eine unabhängigere Existenz annahm, enthüllte sich eine andre Methode; nichts ging über die dem humoristischen Lustspiel erlaubten Uebertreibungen hinaus, und man erkannte die Kunst, welche es versteht, die Charakterschilderung besonderer Männer und Frauen in lebendiger Wahrheit mit Eigenthümlichkeiten zu verbinden, welche der ganzen Menschheit gemeinsam sind. Diese Kunst findet ihren höchsten Ausdruck in Fielding; aber auch schon das erste von Dickens' Büchern offenbarte etwas von derselben Meisterschaft, und neben seinen allgemein bekannten lebensgetreuen Personen aus den Mittelklassen erschien eine Gestalt, die vorher von Niemandem gesehen, aber sofort Allen erkennbar war, köstlich durch die Ueberraschung, welche sie durch ihre Natürlichkeit und das Vergnügen, welches sie durch ihre Wahrheit gewährte und die, obgleich den höchsten Schöpfungen dieser Kunstform nicht ganz ebenbürtig, sich doch der geringen Zahl der in ihrer Art einzigen Erfindungen anschloß, welche den englischen Roman unsterblich gemacht haben. Es ist kaum nöthig zu bemerken, daß hier Sam Weller gemeint ist. – D. Uebers. Die Gruppen in Oliver Twist, Fagin und seine Schüler, Sikes und Nancy. Bumble und der Waisenknabe des Kirchspiels gehören derselben Periode an, in der Dickens auch jene pathetischen Darstellungen begann, die den Vernachlässigten, den Armen und den Gefallenen eine Welt des Zartgefühls und der Sympathie eröffneten. Aber wie ich glaube, fing man erst bei seinem dritten Buche, Nickleby, an, ihm seinen Rang als Schriftsteller zuzugestehen und hörte auf, ihn als bloßes Phänomen oder Glückswunder zu betrachten, als Jemanden der seinen Erfolg auf jede andere Weise errungen, als dadurch, daß er desselben verdiente, und der keine des Namens werthere Kritik herausforderte, als diejenige, welche ihm durch den Kritiker der »Fortnightly Review« zu Theil geworden ist. Zu dem, was schon früher über Nickleby gesagt wurde, muß hinzugefügt werden, daß dieser Roman über jeden Widerspruch hinaus Dickens' Meisterschaft im Dialog feststellte, und seine Gabe, Charaktere zu wirklichen Existenzen zu machen, nicht indem er sie beschrieb, sondern indem er sie sich selbst beschreiben ließ, eine Gabe, welche nur Romandichtern des ersten Ranges eigen ist. Dickens übertraf nie die leichte Behandlung der untergeordneten Gruppen in diesem Roman und er wiederholte nie dessen Fehler nach der Richtung des aristokratischen oder bloß fashionabeln und ausschweifenden Lebens. Er entfaltete mehr als früher seinen Humor nach der tragischen Seite, und in engen Zusammenhang mit seinen ergreifenden Scenen mißhandelter und verwahrloster Kindheit wurden jene Gegensätze von Geizhals und Verschwender, von Habgier und Freigebigkeit, von Heuchelei und Offenherzigkeit gebracht, die er in spätern Büchern mit größerer Kraft und Gründlichkeit behandelte, aber denen er hier ihren ersten förmlichen Ausdruck verlieh. Nickleby war, so zu sagen, Dickens' erstes allgemeines Charakter- und Sittengemälde seiner Zeit, welche zur Darstellung zu bringen mehr oder weniger der Plan aller seiner Bücher war, und er verliert durch den Vergleich mit seinen späteren Erzeugnissen, weil sein Humor nicht in demselben Grade bereichert ist durch die Phantasie; aber er ist frei von der nicht seltenen Uebertreibung, zu welcher jene hohe Gabe ihren Besitzer auch verleitete. Keiner von Dickens' Romanen ist durchweg anziehender, und im Ganzen bezeichnete er einen Fortschritt, selbst über den früher gemachten Fortschritt hinaus. Und dieser Gewinn wurde in dem dann folgenden Roman Der Raritätenladen nicht verloren. Die humoristischen Züge Mrs. Nickleby's konnten kaum übertroffen werden; aber Dick Swiveller und die Marquise zeigten eine Feinheit und Leichtigkeit der Behandlung, die eine tiefere Wirkung zur Folge hatten, und um die kleine Nell »Kennen Sie Master Humphrey's Wanduhr? Ich bewundre Nell in dem Raritätenladen außerordentlich. Viel davon ist Wilhelm Meister entlehnt. Aber die kleine Nell ist eine viel reinere, lieblichere und englischere Conception als Mignon, so hochverrätherisch es auch sein mag, dies zu sagen. Ohne Frage wurde sie durch Mignon hervorgerufen.« Sara Coleridge an Aubrey de Vere ( Memoirs and Letters, II. 269–70). Ohne eine Ansicht über diesen Vergleich auszusprechen, will ich hier als eine mir bekannte Thatsache bemerken, daß Dickens das in Rede stehende Buch damals nicht kannte. und ihr Schicksal gruppirten sich einige kleine Charaktere, die eine tiefere Absicht und eine phantasievollere Einsicht offenbarten, als alles Andere, was Dickens bis dahin geleistet hatte. Striche dieser Art waren auch in dem gehetzten Leben des Mörders in Barnaby Rudge bemerkbar und sein nächstes Buch, Chuzzlewit, war, wie es noch geblieben ist, eine seiner größten Leistungen. Auch ein so kurzer Rückblick auf die sechs ersten Jahre von Dickens' literarischer Arbeit wird zu einem klareren Urtheil über die acht und zwanzig ihm später noch bleibenden Jahre beitragen.
Den besonderen Bemerkungen, welche schon über die nach Dickens' Rückkehr von Amerika veröffentlichte Reihe von Romanen ( Chuzzlewit, Dombey, Copperfield und Bleak House) gemacht und in welchen die sie auszeichnenden höheren Zwecke und die phantasievollere Behandlung hervorgehoben wurden, will ich noch eine allgemeine Bemerkung hinzufügen. Obgleich das Gebiet ihrer Charakterschilderungen kein weites ist, ist es doch erfüllt von einer Fruchtbarkeit der Erfindung und des Details, die über alles von frühern Novellisten Geleistete hinausgeht und eine Anzahl der darin geschilderten Persönlichkeiten ist von solcher Wirklichkeit, daß sie ihre Stelle gleichsam unter den wirklichen Existenzen der Welt eingenommen haben. Könnten nur halb so viele bekannte und allgemein erkennbare Männer und Frauen aus einem Roman irgend eines andern Prosaschriftstellers ersten Ranges ausgewählt werden, als sofort aus einem der Meisterwerke von Dickens vor dem Geiste aufsteigen? Es ist so schwer, dies zu bestreiten, daß man es vermuthlich ohne Widerrede zugeben wird; wenn aber die Antwort von einem Kritiker der durch Herrn Lewes carrikirten Schule kommt, so wird zugleich bemerkt werden, daß es doch nicht so sehr individuelle oder besondere Männer und Frauen seien, als allgemeine Verkörperungen von Männern und Frauen, abstrakte, aus pikanten Stichwörtern oder oberflächlichen Charakterzügen zurecht gemachte Typen, nur mit einem so wunderbaren Reichthum humoristischer, von der umfassendsten und genauesten Kenntniß des Lebens erfüllter Details ausgestattet, daß die wirkliche Nacktheit des Charaktergebiets dadurch verborgen wird. Hierauf ist weiter nichts zu erwiedern, als daß die Armuth oder der Reichthum jedes der Beachtung werthen Gebietes wesentlich in der Art und Weise der Anschauung liegt, welche dabei zur Geltung kommt. Es gab keinen feineren Beobachter der Sitten seiner Zeit als Johnson, und dieser behauptete von ihrem größten Darsteller: er kenne nur die äußere Schaale des Lebens. Eine andere Bemerkung von ihm, im Style der Dickens'schen Kritiker, stellt Fielding unter einen seiner berühmten Zeitgenossen; aber wer wird jetzt nicht ohne Bedenken einen solchen Vergleich umkehren, wie: daß Fielding richtig genug sagt, wie viel Uhr es ist, indem er das Zifferblatt ansieht, aber daß Richardson zeigt, wie die Uhr gemacht ist? Es gab nie einen feineren oder scharfsinnigeren Beobachter als Fielding, oder Einen, der besser verdiente, was Smollett edelmüthig von ihm gesagt hat: daß er mit ebenso viel Kraft als mit Humor und Schicklichkeit die Charaktere schildere und die Thorheiten des Lebens lächerlich mache. Aber könnte man nicht von ihm wie von Dickens sagen, daß der Kreis seiner Charaktere beschränkt sei und daß seine Methode, bei allen seinen Hauptpersönlichkeiten von einer Central-Idee auszugehen, ihn ebenso sehr dem Vorwurf aussetze, dann und wann die menschliche Natur selbst an die Stelle des Individuums zu setzen, das nur ein kleiner Theil davon sein solle? Dies ist in der That nur eine andre Form von dem, was ich auf einer früheren Seite bemerkte: Vgl. oben S. 25. daß nämlich die äußere oberflächliche Erscheinung eines von Meisterhand gezeichneten Charakters oft auch der daran gestellten feineren Anforderung genügt und daß, wenn nur die hervorspringenden Punkte oder die schärferen Umrisse so zur Darstellung kommen, der große Romandichter sich seines unzweifelhaften Vorrechts bedient, zu zeigen, in wie hohem Maaße der menschliche Verkehr nicht durch die alltäglichsten Gewohnheiten und Handlungsweisen der Menschen im Gange gehalten wird, sondern durch die Berührung ihrer Extreme. Man hat Fielding's Genie ganz richtig dahin definirt, daß er allgemeine menschliche Neigungen in Verbindung mit den identischen ungeschminkten Eigenschaften darstellt, welche dem Individuum eigenthümlich sind – und eine herrlichere Genialität der Behandlung könnte Niemand erstreben oder wünschen; aber es würde ebenso leicht sein, dieselbe mittelst der auf Dickens angewandten kritischen Regeln in einen Gegenstand des Tadels zu verwandeln. Partridge, Adams, Trulliber, Squire Western und die Andern zeigen sich oft genug in demselben Lichte und gebrauchen mit hinreichender Einförmigkeit dieselben Stichwörter, um sich derselben Beschuldigung des Manierismus auszusetzen, und obgleich Taine nicht billigerweise von Fielding sagen kann wie von Dickens, daß er an zuviel Moral leide, so bringt er doch gegen ihn ganz dieselbe Beschuldigung vor wie gegen den späteren Novellisten: »daß er die Leidenschaften nicht als einfache Kräfte betrachte, sondern als Gegenstände der Billigung oder des Tadels.« Wir müssen uns an alles dies erinnern, um den Werth der verhungerten Phantasie zu verstehen, welche in einem Charakter wie Micawber nur den Menschen finden kann, wie Herr Lewes ihn schildert: der sich immer in derselben Lage darstellt, von denselben Motiven bewegt wird und dieselben Laute ausstößt, immer hofft, daß eine günstige Wendung eintreten wird, immer zu Boden geschmettert wird und immer wieder aufspringt, immer Punsch macht – und dessen Frau immer wieder erklärt, daß sie sich nie von ihm trennen will. Das ist nicht die Art, wie solche Schöpfungen betrachtet werden müssen. Sie müssen in dem Lichte betrachtet werden, welches uns in den Stand setzt zu verstehen, warum die Landjunker, die Dorfschulmeister und die Heckenpastoren Fielding's unsterblich geworden sind. Die späteren werden leben wie die früheren durch die belebende Kraft des Genies, welches ihr Thun und ihr Reden zu einem Theil jener allgemeinen Energieen macht, welche die Menschheit durchdringen. Wer hat nicht Gelegenheit gehabt, so viel er sich auch auf seine Unähnlichkeit mit Micawber einbildet, an Micawber zu denken, wenn er seine eigenen Erlebnisse überschaute? Wer hat nicht selbst, wie Micawber, auf das Eintreten einer günstigen Wendung gewartet? Wer hat nicht gelegentlich bei einem oder dem andern Bekannten und Freund einen oder den anderen jener scharfsinnigen Winke und Bruchstücke menschlichen Lebens und Verhaltens entdeckt, welche Dickens' heitre Phantasie in dieser köstlichen Gestalt verkörperte? Wenn der unvermeidliche Neuseeländer je herüberkommt, um seine langversprochene Skizze der Paulskirche zu machen, – wer kann zweifeln, daß es ein Anderer sein wird als unser unsterblicher Micawber, der, als wir ihn das letztemal sahen, angefangen hatte sich mit Colonisation zu beschäftigen und der nun so noch einmal wieder zum Vorschein kommt? Es gibt nicht viele Lagen des Lebens und der Gesellschaft, worauf seine Erfahrungen und die seiner Frau nicht anwendbar sind und als, ein Jahr nachdem das unsterbliche Paar zuerst auf Erden erschienen war, die englischen Protektionisten sich in einer ihrer damals sehr häufigen Nöthe befanden und erklärten, sie könnten nicht leben, ohne daß bald eine von den bestehenden Verhältnissen sehr verschiedene günstige Wendung eintrete und ihre Führer beschworen, den Handschuh hinzuwerfen und die Gesellschaft kühn aufzufordern, daß sie eine Majorität herbeischaffe und sie aus ihren Verlegenheiten rette, faßte ein geistreicher Beobachter die Aehnlichkeit mit Micawber auf, zeigte wie vollständig dieselbe durch die Heiterkeit und den Gin-Punsch der Zweckessen, wo man jene Klagen vernahm, bewahrheitet werde und fragte, ob Dickens die Freunde der Pächter bestohlen habe, oder ob die Freunde der Pächter Dickens bestohlen hätten? »Korn, sagte Mr. Micawber, mag gentlemännisch sein, aber es ist nicht lohnend. Ich stelle mir diese Frage: wenn man sich nicht auf Korn verlassen kann, worauf kann man sich dann verlassen? Man muß leben« . . . So laut das allgemeine Gelächter war, so glaube ich doch, daß Dickens' eignes Gelächter über diese Entdeckung einer so genauen und unerwarteten Aehnlichkeit am lautesten war. Die obigen Bemerkungen waren schon einige Zeit im Druck gewesen, als Lord Lytton mir den nachstehenden Auszug aus einem der unveröffentlichten Notizbücher seines Vaters zuschickte. Derselbe stimmt wesentlich mit dem von mir Gesagten überein und ein solches unbewußtes Zeugniß eines Kunstgenossen von so hohem Range und solcher Sorgfalt in der Ausübung seiner Kunst hat besondern Werth. »Die größten Meister des neueren Sittenromans haben sich gewöhnlich des Humors zur Erläuterung der Sitten bedient, und mit einer tiefen und wahren, aber vielleicht unbewußten Kenntniß der Kunst haben sie den Humor fast bis an die Grenze der Carrikatur getrieben. Denn wie das ernste Ideal eine gewisse Uebertreibung in den Verhältnissen des Natürlichen erfordert, so auch das heitre. So benutzt Aristophanes, indem er die Eigenthümlichkeiten seiner Zeit schildert, die poetischste Extravaganz der Maschinerie und ruft die Wolken zu seiner Verspottung der Philosophie zu Hülfe, oder läßt die Frösche und die Götter gemeinsam an seiner gegen Euripides gerichteten Satire theilnehmen. Der Don Quixote des Cervantes hat nie gelebt und hätte, trotz des vulgären Glaubens, nie in Spanien leben können, aber die Kunst des Porträts liegt in der bewundernswürdigen Erhöhung des Humoristischen, mittelst des Uebertriebenen. Mit mehr oder weniger Modifikation kann dasselbe von Pastor Adams, von Sir Roger de Coverley, und sogar von dem Vicar von Wakefield gesagt werden . . . Hieraus ergibt sich, daß Kunst und Correktheit mit nichten identisch sind und daß die eine oft bewiesen wird durch die Verachtung der andern. Denn das Ideal, sei es nun humoristisch oder ernst, besteht nicht in der Nachahmung, sondern in der Steigerung der Natur. Und wir müssen bei der Kunst nicht sowohl fragen, inwiefern sie dem gleicht, was wir gesehen haben, als inwiefern sie das verkörpert, was wir uns vorstellen können.«
Eine Bereitwilligkeit, seine eigne Heiterkeit so in allen Formen zu genießen, war in der That stets bei ihm bemerkbar (sie ist allen großen Humoristen gemeinsam, und es würde nicht leicht sein, sie weiter zu treiben als Sterne sie trieb) und sein eignes Geständniß in Bezug auf diesen Punkt mag noch durch einige andre Beispiele erläutert werden, ehe wir zu der Betrachtung seiner späteren Bücher übergehen. Er fand darin, wie wir gesehen, die Erklärung für gelegentliche, selbst groteske Uebertreibungen. In einem andern Briefe von ihm findet sich die folgende Stelle: »Ich kann berichten, daß ich das Stück Arbeit, das ich mir vorgesetzt, beendet habe, und daß (wenigstens für mich) etwas so außerordentlich Komisches darin liegt, daß, obgleich ich es während des Schreibens einige hundert mal durchgelesen habe, ich es doch nie mit der geringsten Fassung habe ansehen können, sondern immer in das unaufhaltsamste Gelächter ausgebrochen bin. Ich überlasse Dir, zu entdecken was es war.« Es war die Begegnung zwischen dem Major und dem Steuercollector, in der zweiten Erzählung von Mrs. Lirriper. In Bezug auf die Artikel in Household Words unter dem Titel »Die müßige Tour zweier müßigen Lehrlinge« bemerkte er in einem Briefe an mich, daß er und Wilkie Collins eine Erzählung in dem zweiten Theile gemeinschaftlich verfaßt hätten und daß es mir, seiner Ansicht nach, »sehr schwer werden würde, zu entdecken, wo ich aufhöre und wo er anfängt.« Dann bemerkte er über die vorhergehenden Schilderungen: »Einige von meinen eignen kitzeln mich gewaltig; aber das mag großentheils daher rühren, daß ich die Originale kenne und mich über ihre phantastische Aehnlichkeit freue.« »Ich habe mit solcher Energie gearbeitet,« schrieb er später über eine humoristische Weihnachtserzählung, »daß der Anfang und der Schluß des Heftes fertig sind. Sie sind in dem Charakter eines Kellners geschrieben und außerordentlich komisch. Der Faden, woran die Erzählungen hängen sollen, wird von diesem Kellner gesponnen und ist absichtlich sehr dünn, hat aber, wie mir scheint, ein lächerlich komisches und unerwartetes Ende. Der Bericht des Kellners über sich selbst, umfaßt (wie ich hoffe) in humoristischer Darstellung Alles, was Du von Kellnern weißt.« Man vergleiche die Weihnachtserzählung: » Jemandes Gepäck«. – D. Uebers. Hier haben wir einen Hinweis auf die »phantastische Aehnlichkeit«, womit er, wenn eine Phantasie ihn »kitzelte«, den Humor eines Gegenstandes in einer so erstaunlichen Mannigfaltigkeit denkbarer und undenkbarer Formen erfinderischer Uebertreibung zu entwickeln wußte, daß dem Gegenstande nichts weiter mangelte als jene besondere individuelle Personificirung. Hierin jedoch war der Humor nicht sein Diener, sondern sein Herr, weil er die grotesken Phantasieen, zu denen große Humoristen geneigt sind, die tief in ihrer Natur liegen und aus denen ihre geniale Sympathie für excentrische Charaktere entspringt, welche sie in den Stand setzt, Beweggründe zu finden für das, was andern Menschen hoffnungslos dunkel ist, das, wovon die Welt sich ungeduldig abwendet, zu menschlichen Typen zu erheben, und grillenhafte Absonderlichkeiten wie Capitän Toby Shandy in einer zu ewiger Huldigung und Liebe geeigneten Form aufzubewahren, zu leicht hervorbrachte und zu weit trieb. Aber Dickens wurde sich dieser Uebertreibungen von Zeit zu Zeit zu lebhaft bewußt, um nicht eifrig bemüht zu sein, die Hauptcharaktere seiner bedeutenderen Romane unter strenge Zucht zu stellen. Die Beschränkung der Uebertreibung auf angemessene Grenzen war eine Kunst, die er fleißig studirte, und was auch während seiner späteren Jahre das Maaß seines Erfolges oder Mißlingens in dieser Hinsicht sein mochte, er fuhr stets fort, sie nach Kräften zu üben. In Bezug auf bloße Beschreibung ließ er sich allerdings häufiger gehen und mitunter vertheidigte er dies sogar aus Gründen der Kunst. In der That würde es nicht gerecht gegen ihn sein, wenn seine gelegentliche Erwiederung auf ähnliche Einwendungen wie diejenigen, welche Taine in seiner feindlichen Kritik gegen den zu großen Reichthum der Phantasie, den er an die bloße Erzählung verschwende, verkörpert hat, hier unerwähnt bliebe. Ich kann mir die Befriedigung nicht versagen, aus der besten Kritik über Dickens, die ich seit seinem Tode gesehen habe, im Zusammenhang mit dem oben Gesagten, folgende treffende Bemerkungen anzuführen. »Dickens besaß eine nicht bloß an Lebendigkeit, sondern an Schnelligkeit unübertroffene Phantasie. Ich habe absichtlich alle nutzlosen Vergleiche zwischen seinen Werken und denjenigen andrer zeitgenössischer Schriftsteller vermieden, von denen Einige schon vor ihm dahingeschieden sind, während Andre noch bemüht sind, die Dunkelheit unsres täglichen Lebens zu erhellen, seine Einförmigkeit zu erleichtern. Aber durch die Macht seiner Phantasie – davon bin ich überzeugt – übertraf er sie Alle, ohne Ausnahme. Diese Phantasie vermochte es, aus freien Stücken alle jene menschlichen Beziehungen heraufzubeschwören, die, könnten wir sie nur alle in Kraft setzen, die menschliche Familie vereinigen und diesen Ausdruck aus einem bloßen Namen zur Wirklichkeit machen würden . . . Solche menschlichen Beziehungen kann die Sympathie allein zum Leben erwärmen, und zuweilen kann nur die Phantasie sie entdecken. Der große Humorist offenbart sie uns Allen und sein Genie ist in der That eine Begeisterung aus keiner menschlichen Quelle, insofern es ihn befähigt, der Brüderschaft der Menschheit diesen Dienst zu leisten. Aber noch mehr als dies. In so wunderbarer Weise ist diese Erde das Erbtheil der Menschheit geworden, daß nichts Lebendiges oder Lebloses auf ihr besteht, mit dem oder mit dessen Ebenbild der Mensch nicht in Berührung gekommen ist, zu dem die menschlichen Gefühle, Bestrebungen, Gedanken nicht in endlos mannigfaltige nahe Beziehungen getreten sind. Auch diese, die wir unvollkommen ahnen, oder sorglos übersehen, enthüllt uns die Phantasie des Genius und bringt sie zu eindringlicher Erkenntniß. Wenn sie sich unmittelbar an die Empfindungen des Herzens wenden, so ist es die Macht des Pathos, welche sie erweckt hat, und wenn das Plötzliche, das Unerwartete, die scheinbare Sonderbarkeit des Einen neben dem Andern den Geist mit unwiderstehlicher Macht ergreifen, so ist es die ebenso göttliche Gabe des Humors, welche die Quelle des Gelächters neben der Quelle der Thränen geöffnet hat.« – Charles Dickens. Eine Vorlesung, von Professor Ward. Gehalten in Manchester, 30. November, 1870. »Es scheint mir nicht genug, von einer Beschreibung sagen können, daß sie genau der Wahrheit entspricht. Sie muß der Wahrheit genau entsprechen; aber das Verdienst oder die Kunst des Erzählers besteht in der Art und Weise, wie er die Wahrheit darstellt. In Beziehung auf diesen Punkt scheint mir noch immer unendlich viel in der Literatur zu thun. Und in unsern Zeiten, wo die Neigung dahin geht, entsetzlich buchstäblich und katalogartig zu verfahren, kurz, die literarische Arbeit zu einer Art Rechenexempel zu machen, so daß jedes elende Geschöpf sie thun kann, scheint es mir (eine Ansicht, die sich wirklich auf die Liebe zu meinem Berufe gründet), daß die Fortdauer populärer literarischer Schöpfungen inmitten eines dunkeln populären Zeitalters recht eigentlich durch eine solche phantasievolle Behandlung bedingt sein mag.«
*
Die Geschichte zweier Städte.
Dickens' nächster Roman nach Klein-Dorrit war die Geschichte zweier Städte; der erste Gedanke dazu kam ihm, während er im Sommer 1857 mit seinen Freunden und seinen Kindern in Wilkie Collins' Drama » Die gefrorene Tiefe« spielte. Aber es war nur ein unbestimmter Einfall, und der Schmerz und die Unruhe jenes Winters waren seiner weiteren Ausführung nicht günstig. Zu Ende Januar 1858, als er mir über Verbesserungen in Gadshill schrieb, woran er wenig Interesse nahm, beschäftigte jener Gedanke ihn von Neuem. »Wachsende Neigungen von ruckweiser und unbestimmter Art erfüllen mich zuweilen, die Arbeit an einem neuen Buche in die Hand zu nehmen. Dann denke ich wieder, es wäre besser, wenn ich meinen gequälten Geist noch eine Weile nicht quälte. Dann wieder denke ich, es würde nichts nützen, wenn ich es auch thäte, denn ich könnte mich doch nicht an eine Beschäftigung binden. Und das ist das Ende vom Liede.« – »Wenn ich meine Gedanken in den Canal eines Romans hineinlenken kann,« schrieb er drei Tage später, »so bin ich entschlossen, die Arbeit daran zu beginnen, immer vorausgesetzt, daß ich bei dem Versuche finde, daß es mir gelingt. Nichts in der Welt wird mir bei der Ueberzeugung von der Nothwendigkeit der Veränderung, welche uns bevorsteht, einer Ueberzeugung, welche jeder Tag befestigt, im mindesten » gut« thun; aber wenn ich während des Sommers mit einiger Beständigkeit weiter arbeiten könnte, so würde die ängstliche Mühe eines neuen Buches so ziemlich überwunden sein, ehe die Veröffentlichung im nächsten Oktober oder November anfängt. Zuweilen glaube ich, daß ich fortfahren kann zu arbeiten, zuweilen glaube ich es nicht. Was sagst Du zu dem Titel: An einem dieser Tage?« Dieser Titel behauptete sich nur sehr kurze Zeit. »Was denkst Du,« schrieb er nach sechs Wochen, von folgendem Namen für meine Erzählung: Lebendig begraben? Klingt das zu düster? Oder: Der Goldfaden? oder: Der Doktor von Beauvais?« Aber erst zwölf Monate später waffnete er sich wirklich für die Aufgabe, die er so lange in's Auge gefaßt hatte. Während der Zwischenzeit war All the Year Round an die Stelle von Household Words getreten – und die Veröffentlichung des Romans wurde dann begonnen, um der neuen Wochenschrift, für die er bestimmt war, einen festen Halt zu geben.
»Dies soll nur die Thatsache feststellen,« schrieb er 11. März 1859, »daß ich ganz genau den Namen für den Roman gefunden habe, den ich gebrauchte, der für den Anfang auf's Haar passen wird. Eine Geschichte zweier Städte. Ferner, daß ich auf einen ganz originellen und kühnen Gedanken gekommen bin, nämlich den: am Ende eines jeden Monats das Monatsheft in dem grünen Umschlage, mit den zwei Illustrationen, für den alten Schilling, zu veröffentlichen. Dies wird All the Year Round immer das Interesse und den Vorzug eines frischen wöchentlichen Abschnitts während des Monats geben und mir mein altes Verhältniß zu meinem alten Publikum und den bei diesem Roman sehr nothwendigen Vortheil, eine große Anzahl von Leuten zu haben, die ihn in keinen kleineren Abschnitten als einem Monatshefte lesen. Mein amerikanischer Gesandter zahlt für das erste Jahr für das Recht, den Roman einen Tag nachdem wir ihn hier veröffentlichen, dort herauszugeben, 1000 Pfd. St. Nicht übel.« Im Beginn hatte er einen scharfen Krankheitsanfall durchzumachen und am 9. Juli schrieb er folgendermaßen über seinen Fortschritt: »Mein Befinden hat sich sehr langsam gebessert und ich habe verdrießliche Plackereien genug ausgestanden. Aber ich glaube, ich bin jetzt über den Berg. Diese Ursache und die Hitze haben bewirkt, daß ich mit der Geschichte zweier Städte nicht mehr gethan habe, als den alten Monatsvorsprung zu behaupten. Die kleinen Theile machen mich toll; aber der Roman muß einen bedeutenden Eindruck hervorgebracht haben. Die Bestellungen auf unsre Monatshefte sind überraschend groß, und vorigen Monat verkauften wir 35,000 von den früher erschienenen Nummern. Ein Brief, den ich von Carlyle darüber bekommen habe, hat mir besondere Freude gemacht.« Ein Brief aus dem folgenden Monat drückt die Absichten aus, womit er den Roman anfing und inwiefern derselbe hinsichtlich der Methode von allen seinen andern Büchern verschieden sei. Bei Gelegenheit der Sendung der Druckbogen von vier über die laufende Veröffentlichung hinausgehenden Monatsheften bemerkt er: »Ich hoffe, sie werden Dir gefallen. Nichts als das Interesse an dem Gegenstande und das Vergnügen mit den Schwierigkeiten der Behandlung zu kämpfen – nichts in Bezug auf Geld, meine ich – könnte mich sonst für die Zeit und die Mühe beständiger Condensation entschädigen. Aber ich stellte mir die kleine Aufgabe, eine malerische Geschichte zu schreiben, die sich in jedem Kapitel hebt, mit Charakteren, welche der Natur getreu sind, aber welche die Erzählung mehr zur Anschauung bringen sollte, als sie sich selbst im Dialog darstellen. In andern Worten: ich dachte, es möchte sich ein Roman der Ereignisse schreiben lassen (anstatt des greulichen Zeugs, was unter diesem Vorwande geschrieben wird), der die Charaktere in seinem eigenen Mörser zerstampfte und das Interesse aus ihnen herausschlüge. Hättest Du den Roman auf einmal lesen können, so hoffe ich, Du würdest nicht auf halbem Wege stehen geblieben sein.« Der Anfang dieses Briefes (25. August 1859) bezog sich auf eine Verurtheilung wegen eines Mordes, die nachher durch den Minister des Innern, trotz der fest und entschieden ausgesprochenen Gegenansicht des vorsitzenden Richters, bei Seite gesetzt wurde, und ist für den Schreiber zu charakteristisch, als daß er verloren gehen dürfte. »Ich kann Dir nicht leicht ausdrücken, wie sehr das, was Du mir von unserm wackern und vortrefflichen Freunde erzählst, mich interessirt. Ich habe mich oft fast gedrungen gefühlt, an den gerechten Richter zu schreiben und ihm zu danken. Ich erkläre hiermit feierlich, daß ich einen solchen Dienst zu den größesten zähle, den ein Mann von Einsicht und Muth der Gesellschaft leisten kann. Natürlich habe ich die Mädchen hier halb toll gemacht, indem ich fortwährend erklärte, es bedürfe durchaus keiner ärztlichen Zeugenaussagen, die Sache sei ohne dieselben vollkommen klar . . . Schließlich versteht es sich von selbst, daß ich (obgleich ein barmherziger Mensch – weil ich ein barmherziger Mensch bin, meine ich) gern jeden Minister des Innern, Whig, Tory, Radikalen oder von irgend einer andern Partei, hängte, der sich zwischen einen so schwarzen Bösewicht und den Galgen stellt. Der Gedanke, welch kurzen Prozeß König Arthur mit dem liebenswürdigen Manne gemacht haben würde, erinnert mich an Tennyson. Wie schön seine Idyllen sind! Himmel. Welch ein Segen ist es, einen Mann zu lesen, der wirklich schreiben kann! Ich dachte, nichts könnte schöner sein, als das erste Gedicht, bis ich an das dritte kam, aber als ich das letzte gelesen hatte, schien es mir absolut unübertrefflich.« Andre literarische Neigungen stiegen und sanken bei ihm, aber nie wankte er in seiner Liebe für Tennyson. Ein andrer Brief von ihm gibt die letzte Erläuterung über den Plan und die Bedeutung dieses Romans, wie er selbst dieselben auffaßte, deren Mittheilung hier nöthig ist. Es war eine Antwort auf einige Einwände, worin ein Zweifel ausgedrückt worden war, ob die feudalen Grausamkeiten hinlänglich in die Zeit der Handlung hineinfielen, um seine Benutzung derselben zu rechtfertigen und eine Frage über die Art und Weise, wie der hauptsächliche revolutionäre Agent der Erzählung verwendet werden sollte. »Ich war natürlich mit der formellen Abschaffung der feudalen Privilegien bekannt; doch dieselben waren bitter empfunden worden zu einer Zeit, welche der Revolution ebenso nahe lag als die Erzählung des Doktors, die, wie Du Dich erinnern wirst, lange vor die Schreckensherrschaft fällt. Bei dem Kauderwälsch der neuen Philosophie auf der einen Seite, war es gewiß nicht ungerechtfertigt oder unerlaubt, sich auf der andern einen Edelmann vorzustellen, der an den alten grausamen Ideen festhält und die verschwindende Zeit ebenso repräsentirt wie sein Neffe die kommende. Wenn irgend etwas auf der Erde gewiß ist, so ist es meiner Ansicht nach das, daß die Lage der französischen Bauern in jener Epoche im Allgemeinen unerträglich war. Keine späteren Untersuchungen oder Beweise durch Zahlen werden gegen das überwältigende Zeugniß damals lebender Menschen standhalten. Es gibt ein merkwürdiges, in Amsterdam gedrucktes Buch, das ohne jeden Parteizweck geschrieben wurde und in seiner buchstäblichen wörterbuchartigen Genauigkeit langweilig genug ist, dessen Seiten aber eine Menge Thatsachen enthalten, die den Charakter meines Marquis vollständig rechtfertigen. Es ist Mercier's Tableau de Paris. Rousseau ist meine Autorität dafür, daß der Bauer sein Haus verschloß, wenn er ein Stück Fleisch hatte. Die Steuertabellen sind meine Autorität für die Verarmung des elenden Geschöpfes . . . Ich bin mir nicht klar und bin mir nie klar gewesen über das Gesetz des dichterischen Schaffens, welches die Einmischung des Zufalls in eine Begebenheit wie Madame Defarge's Tod verbietet. Wo der Zufall von der Leidenschaft und den Handlungen des Charakters unzertrennlich ist, wo er in genauer Uebereinstimmung ist mit dem ganzen Plane und hervorgeht aus einer entscheidenden Handlung des Individuums, auf welche die ganze Erzählung hingeführt hat, scheint er mir gewissermaßen zu einem Akt göttlicher Gerechtigkeit zu werden. Und wenn ich mich Miß Proß's bediene (obschon dies eine ganz andre Frage ist), um eine solche Katastrophe herbeizuführen, so habe ich dabei die ganz bestimmte Absicht, diese halbkomische Intervention zu einem Theile des Mißgeschicks jener verzweifelten Frau zu machen und ihren gemeinen Tod, statt eines verzweifelten in den Straßen, der ihr nicht unwillkommen gewesen sein würde, dem würdevollen Tode Carton's entgegenzusetzen. Mit Recht oder mit Unrecht war dies Alles in meinem Plane und schien mir der Natur der Dinge angemessen.«
Dies sind interessante Andeutungen der Sorgfalt, mit welcher Dickens arbeitete; und keiner seiner Romane, außer diesem, läßt eine absichtliche und vorher bedachte Abweichung von der Methode der Behandlung erkennen, welche vor allen die Quelle seiner Popularität als Novellist gewesen war. Sich weniger auf die Charaktere als auf die Begebenheiten zu verlassen, und zu beschließen, daß die handelnden Personen mehr durch die Erzählung zur Darstellung kommen sollten als durch den Dialog, war für ihn ein gewagtes, und man kann kaum sagen, ein ganz erfolgreiches Experiment. Bei ausgezeichneter dramatischer Lebendigkeit, großer Kunst der Anordnung und vielen beschreibenden Stellen von hoher Vortrefflichkeit (ich erwähne nur die Dämmerung des schrecklichen Ausbruchs auf der Reise des Marquis von Paris nach seinem Landsitze und die Londoner Volksmenge bei dem Begräbnisse des Spions als Beispiele) gibt es wohl kein anderes Werk eines großen Humoristen und eines in Charakterschilderungen so fruchtbaren Künstlers, mit so wenig Humor und so wenigen bemerkenswerthen Persönlichkeiten. Seine Verdienste liegen anderswo. Obgleich die revolutionären Scenen voll sind von vortrefflichen Zügen, ist doch das einzige lebensgroße, vor allen andern hervorragende Bild, das Gemälde des vergeudeten Lebens, welches endlich durch ein heroisches Opfer gerettet wird. Dickens spricht von seiner Absicht, durch den würdevollen Tod Carton's einen tiefen Eindruck hervorzubringen, und dies gelang ihm vielleicht über seine eigne Erwartung hinaus. Carton läßt es geschehen, daß man ihn irrthümlich für eine andere Person hält und gibt sein Leben hin, damit das Mädchen, das er liebt, glücklich sein möge mit jenem Andern. Sein Geheimniß ist nur einem armen kleinen Mädchen in dem Todeskarren, der sie nach dem Schaffotte führt, bekannt, und sie hat es erst eben entdeckt und fühlt sich selbst dadurch zum Sterben gekräftigt. Diese Episode ist schön erzählt und es ist nicht mehr als billig, den nicht sehr günstigen Urtheilen über dies Werk seiner Erfindungsgabe das gegenüberzusetzen, was über eben diesen Charakter und diese Scene und über das Buch im Allgemeinen von einem amerikanischen Kritiker gesagt wurde, dessen literarische Studien ihn mit den seltensten Formen geistigen Schaffens vertraut gemacht hatten. Mr. Grant White, dessen Ausgabe Shakespeare's mit vieler Achtung in England aufgenommen wurde. »Die Schilderung des edelgesinnten Ausgestoßenen in diesem Buche ist in der neuern Literatur fast einzig in ihrer Art und weist ihm eine Stelle an unter den höchsten Mustern literarischer Kunst . . . Die Auffassung des Charakters offenbart in dem Autor ein Ideal unübertroffener Hochherzigkeit und Menschenliebe. Es gibt weder in der Literatur noch in der Geschichte eine großartigere, liebenswerthere Gestalt, als die des selbstzerstörten, selbstaufopfernden Carton, und die Erzählung als solche ist von so edlem Geiste durchdrungen, so groß und malerisch in der Darstellung und erfüllt von so tiefem und einfachem Pathos, daß sie eine Stelle verdient unter den großen ernsten Schöpfungen der Phantasie und dieselbe gewiß einnehmen wird.« Ich meinerseits würde vorziehen zu sagen, daß das auszeichnende Verdienst dieses Werkes weniger in der Auffassung irgend eines seiner Charaktere liegt (den Carton's eingeschlossen) als in dem dadurch gelieferten Beweis von Dickens' Talent für phantasievolle Erzählung. Ich kenne keinen Roman, worin das häusliche Leben einiger wenigen einfachen Privatleute auf solche Weise mit dem Ausbruch eines schrecklichen öffentlichen Ereignisses verknüpft und verwoben ist, daß das eine nur als ein Theil des andern erscheint. Indem wir die ersten schwülen Tropfen eines Gewitters fühlen, die auf eine kleine, in einer obscuren englischen Miethwohnung sitzende Familie fallen, sind wir Zeugen des wirklichen Anfangs eines Sturmes, der Alles in Frankreich fortfegen soll. Und bis an's Ende ist das Buch in dieser Hinsicht wirklich bemerkenswerth.
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Große Erwartungen.
Die Geschichte zweier Städte wurde 1859 veröffentlicht; die unter dem Titel Der ungeschäftliche Reisende gesammelte Reihe von Abhandlungen beschäftigte Dickens im Jahre 1860 und während er daran arbeitete und im Verlaufe derselben köstliche »Proben« von Scherz und Heiterkeit hinwarf, erwiederte er folgendermaßen auf einen Vorschlag, die Ausführung eines einzigen humoristischen Gegenstandes, nach Art seiner jugendlichen Leistungen auf diesem Gebiet, in Angriff zu nehmen. »Bei einem kleinen Stück das ich geschrieben habe, oder an dem ich vielmehr noch schreibe, (denn ich hoffe es heute zu beenden), ist mir ein so sehr schöner, neuer und grotesker Gedanke gekommen, daß ich anfange zu zweifeln, ob es nicht besser wäre, die kleine Arbeit fallen zu lassen und den Plan für ein neues Buch aufzubewahren. Du wirst Dir ein Urtheil darüber bilden, sobald ich es habe drucken lassen. Aber vor meinen Augen breitet der Plan sich so aus, daß ich sehe, wie eine ganze lange Geschichte sich auf die eigenthümlichste und lustigste Weise darum dreht.« Dies war der Keim von Pip und Magwitch, den er zuerst zur Grundlage eines Romans in der alten Form von zwanzig Heften machen wollte, aber später, aus vielleicht glücklichen Gründen, innerhalb der Grenzen eines weniger großen Werkes ausarbeitete. »Vorige Woche,« schrieb er am 4. Oktober 1860, »fing ich die Arbeit an dem neuen Roman an. Ich hatte vorher den Zustand und die Aussichten von All the Year Round sehr sorgfältig erwogen und je mehr ich sie erwog, desto geringer wurde meine Hoffnung, jetzt wieder zu dem Vortheil einer abgesonderten Publikation in den alten zwanzig Heften zurückkehren zu können.« (Eine Erzählung, welche damals in seiner Wochenschrift erschien, hatte seine Erwartungen enttäuscht.) »Aber ich arbeitete weiter, denn ich wußte, daß das was ich that auf eine andere Bahn führen würde, und am Dienstag berief ich in unserm Büreau einen Kriegsrath. Es war vollkommen klar, daß eins vor allen Dingen nothwendig sei, nämlich daß ich mich in's Mittel legte. Ich habe daher beschlossen, einen Roman von derselben Länge wie die Geschichte zweier Städte am 1. December anzufangen – d. h. mit der Veröffentlichung anzufangen. Ich muß so viel aus dem Buche machen als irgend möglich. Du sollst die zwei oder drei ersten Wochenhefte morgen haben. Der Titel ist Große Erwartungen. Ein guter Name wie mir scheint.« Zwei Tage später schrieb er: »Das Opfer von Große Erwartungen wird wirklich und wahrhaftig für mich selbst gebracht. All the Year Round ist in jeder Hinsicht ein viel zu werthvoller Besitz, als daß man ihn zu sehr in Gefahr bringen dürfte. Die Abnahme unsrer Subscribenten ist nicht groß, aber wir haben noch einen bedeutenden Theil der jetzt erscheinenden Geschichte in Händen und es ist keine Lebensfähigkeit darin und keine Aussicht, daß der Abnahme dadurch Einhalt geschieht, im Gegentheil wird sie ganz gewiß noch zunehmen. Wenn ich nun einen Roman in zwanzig Monatsheften zu veröffentlichen anfinge, würde ich mir die Möglichkeit, unserer Zeitschrift durch ein größeres Werk zu Hülfe zu kommen, auf zwei volle Jahre abschneiden – und das würde ein sehr gefährliches Ding sein. Wenn ich dagegen jetzt hineinstürze, so komme ich grade zu einer Zeit, wo es am nothwendigsten ist; und wenn Reade und Wilkie mir folgen, so wird für die nächsten zwei oder drei Jahre eine breite und hoffnungsvolle Bahn vor uns daliegen. Tausend Pfund werden für die Sendung früher Druckbogen nach Amerika bezahlt werden.« Einige Tage später erhielt ich den ersten Abschnitt des Romans nebst erklärenden Bemerkungen. »Das ganze Buch wird in der ersten Person geschrieben werden und in diesen ersten drei Wochenheften wirst Du finden, daß der Held ein Knabe ist, wie David. Dann wird er ein Lehrling werden. Wegen Mangel an Humor, wie in der Geschichte zweier Städte, wirst Du nicht zu klagen haben. Ich hoffe, daß ich den Anfang in seiner allgemeinen Wirkung äußerst komisch gemacht habe. Ich habe ein Kind und einen gutmüthigen einfältigen Mann in Beziehungen gesetzt, die mir sehr spaßhaft scheinen. Natürlich habe ich auch den Angelpunkt hineingebracht, um den die Geschichte sich drehen soll – und der, wie Du Dich erinnern wirst, in der That den grotesken tragikomischen Gedanken bildet, wodurch ich zuerst ermuthigt wurde. Um ganz sicher zu sein, daß ich mir nicht, ohne es zu wissen, Wiederholungen habe zu schulden kommen lassen, las ich David Copperfield neulich wieder durch und wurde auf eine Weise dadurch ergriffen, wie Du es kaum für möglich halten würdest.«
Schwerlich hätte Dickens sein Recht auf einen Platz in der ersten Reihe der größesten Romandichter besser feststellen können, als durch die Leichtigkeit und die Meisterschaft, womit er in diesen beiden Werken, Copperfield und Große Erwartungen, die beiden in Form einer Selbstbiographie erzählten Geschichten der Kindheit eines Knaben vollkommen auseinanderhielt. Ein scharfer Einblick in die Charaktere läßt die Unähnlichkeit in der Aehnlichkeit erkennen; es ist zugleich genug Aehnlichkeit und Verschiedenheit in der Stellung und den Umgebungen eines Jeden, um die hervortretenden Charakterunterschiede zu erklären; beide Kinder sind gutmüthig und beide haben den Vortheil der Verbindung mit Mustern zarter Einfachheit und Seltsamkeit, die in ihrer Wahrheit vollkommen von einander verschieden sind; aber ein plötzliches Hineinstürzen in's Unglück gibt Peggotty's kleinem Freunde einen festen Halt und ein ebenso unerwarteter Glücksfall verdreht dem kleinen Schützling Joe Gargery's den Kopf. Wie viel Verwöhnung übrigens eine Natur, die im Grunde wirklich gut ist, ohne dauernden Schaden ertragen kann, wird bei Pip hübsch gezeigt, und die Art, wie er seinen Entschluß, die Freunde seiner Jugend schäbig zu behandeln, mit der selbstzufriedenen Vorstellung versöhnt, daß er ihnen ein moralisches Beispiel gibt, bildet einen bemerkenswerthen Zug in einem Charakter, der mit außerordentlichem Geschick gezeichnet ist. Seine größte Prüfung entsteht aus seinem guten Glück, und der Grund für Beide wird im Beginne der Erzählung gelegt, auf einem Kirchhofe am untern Lauf der Themse, da wo sie auf einer Strecke von vier bis fünf Meilen an öden Marschen hin dem Meere zufließt. Ein meisterhaftes Bild dieser Flußgegend in einem halben Dutzend Zeilen gibt nur ein Durchschnittsbeispiel der vortrefflichen Beschreibungen, welche durchweg einen Zauber dieses Buches bilden. Es ist seltsam, mit welch' wunderbarer Lebendigkeit die Worte, indem ich sie niederschreibe, mir genau die Stelle zurückrufen, wo wir standen, als er sagte, er wolle dieselbe zum Schauplatz des Anfangs seines Romans machen – die Trümmer von Cooling Castle und die öde Kirche, mitten in den Marschen, anderthalb Meilen von Gadshill! »Mein erster lebhafter und bedeutender Eindruck an einem denkwürdigen rauhen, dem Abend sich zuneigenden Nachmittag war, daß dieser öde, mit Nesseln überwachsene Ort der Kirchhof war und daß die dunkle flache, von Dämmen und Erdhügeln und Schleusen durchschnittene Fläche jenseits des Kirchhofes, worauf verstreutes Vieh weidete, die Marschen waren; und daß die niedrige bleierne Linie jenseits derselben der Fluß war, und daß die ferne wilde Höhle, aus der der Wind hervorstürzte, das Meer war . . . Am Rande des Flusses schienen, so weit das Auge reichte, nur zwei schwarze Gegenstände aufrecht zu stehen; der eine: die Feuerwarte, wonach die Schiffer steuerten, wie ein Faß ohne Reifen auf einer Stange, ein häßliches Ding, wenn man nahe dabei war; der andre ein Galgen, mit einigen daran hängenden Ketten, die einmal einen Seeräuber gefesselt hatten.« Hier bringt Magwitch, ein aus Chatham entflohener Sträfling, Pip durch Furcht dahin, daß er Etwas zu essen und eine Feile für ihn stiehlt und obgleich er wieder eingefangen und transportirt wird, nimmt er doch ein so dankbares Herz für den von dem kleinen Geschöpf ihm geleisteten Dienst mit nach Australien, daß er, als er dort ein Vermögen erwirbt, beschließt, seinen kleinen Freund zu einem Gentleman zu machen. Dies erfordert ein umsichtiges Verfahren und wird durch den Old-Bailey-Advokaten, der Magwitch vor Gericht vertheidigt hat (einen Charakter von überraschender Neuheit und Wahrheit) so eingerichtet, daß Pip meint, seine gegenwärtigen Geschenke und »großen Erwartungen« kämen von der vermeintlichen reichen Dame des Romans, deren Absonderlichkeiten den wenig anziehenden Theil desselben bilden, doch aber von so eigenthümlicher Art sind, daß sie mit dem von ihr erlittenen Unrecht in einem innern Zusammenhange zu stehen scheinen. Als daher in den Schlußscenen Magwitch selbst wieder zum Vorschein kommt, der sein Leben auf's Spiel setzt, um seine Sehnsucht nach dem Anblick des Gentleman, den er gemacht hat, zu befriedigen, erkennt Pip mit unaussprechlichem Entsetzen in seinem Wohlthäter den verurtheilten Verbrecher. Wer etwa an Dickens' Fähigkeit zweifelt, einen Charakter so zu zeichnen, daß er in's Herz desselben eindringt, durch die oberflächlichen Eigenthümlichkeiten die innern bewegenden Kräfte des menschlichen Wesens selbst erkennt, prüfe genau diese Scenen. Nicht in der geringsten Kleinigkeit werden bloße Gefühle oder äußere Umstände an die Stelle der innern und absoluten Wirklichkeit der Lage gesetzt, worin diese zwei Menschen sich befinden. Pip's Abscheu vor dem, worauf sein Glück erbaut ist, und sein Entsetzen vor dem rohen Baumeister sind selbst in seinen hochherzigsten Bemühungen, denselben vor Entdeckung und Verurtheilung zu schützen, erkennbar. Magwitch's Sträflingsgewohnheiten vermischen sich auf seltsame Weise mit seinem wilden Stolze und seiner Liebe zu dem Jüngling, den sein Geld in einen Gentleman verwandelt hat. Er verlangt danach, bei diesem eine günstige Meinung zu erwecken. Fürchtet, ihn durch seine Vielesserei und die Flüche, die er dann und wann fallen läßt, zu beleidigen, und hofft pathetisch, daß sein Pip, sein lieber Junge, ihn nicht für gemein halten wird; aber als ein Freund Pip's unerwartet erscheint, während sie zusammen sind, zieht er ein gewaltiges Messer heraus, um anzudeuten, daß er sich vertheidigen kann, und holt später eine fettige kleine schwarze Bibel hervor, auf welche der erstaunte Ankömmling, nachdem es klar geworden ist, daß er keine feindlichen Absichten hat, schwören muß, das Geheimniß zu hüten. Im Anfange des Romans findet sich eine aufregende Scene über die auf den unglücklichen Mann gemachte Jagd und seine Wiedergefangennahme in den Marschen; diese hat ihr Seitenstück am Schlusse in der Jagd auf ihn und in seiner Wiedergefangennahme auf dem Flusse, während der arme Pip ihm bei der Flucht hilft. Um über den wirklichen Weg eines Bootes und die bei einem solchen Abenteuer möglichen Zwischenfälle Gewißheit zu erlangen, miethete Dickens ein Dampfschiff auf einen Tag, von Blackwall nach Southend. Acht oder neun Freunde und drei oder vier Mitglieder seiner Familie waren an Bord, und an jenem ganzen Sonntage (22. Mai 1861) schien er keine andere Sorge zu tragen, als die, ihren Genuß mitzugenießen und sie durch seinen eigenen, in Gestalt von tausend Launen und Einfällen, zu unterhalten; aber seine schlaflose Beobachtung war während der ganzen Zeit thätig und nichts war seinem scharfen Blicke auf beiden Seiten des Flusses entgangen. Das fünfzehnte Kapitel des dritten Bandes ist ein Meisterstück.
Die Charaktere im Allgemeinen liefern denselben Beweis wie diese beiden, daß sowohl Dickens' Humor als seine schöpferische Kraft in diesem Buche auf ihrer Höhe standen. Der Old-Bailey-Advokat Jaggers und sein Schreiber Wemmick (Beide vortrefflich und der Letztere eine der Wunderlichkeiten, die um der Gutherzigkeit ihrer humoristischen Ueberraschungen willen in Jedermanns Neigung fortleben) sind ebenso gut als seine frühesten Versuche in dieser Richtung; die Pumblechooks und Wopsles sind so vollkommen als Stücke Nickleby's, frisch aus der Münze, und die Scene in welcher Pip und Pip's Freund Herbert ihre Rechnung und eine Liste ihrer Schulden und Verbindlichkeiten aufsetzen, ist so eigenthümlich und köstlich wie Micawber selbst. Es ist die Kunst des Lebens von Nichts und des daraus gezogenen größtmöglichen Genusses in der gefälligsten Form. Herbert's Pläne, nach Osten und Westen Handel zu treiben und Geschäftsunternehmungen von großartigstem Umfang und Mannigfaltigkeit in's Werk zu setzen, erwecken uns durch die Art, wie er sie darlegt, indem er »bloß in einem Handlungshause ist und die Augen offen hat«, ein ebenso vollkommenes Vertrauen, als Pip's Mittel zur Bezahlung seiner Schulden wachsen, indem er sie einfach mit einem Ueberschuß zusammenzählt. »Es kommt eine Zeit,« sagte Herbert, »wo Du Deine Chance siehst. Und dann gehst Du darauf los und hältst sie fest und machst Dein Capital und bist ein gemachter Mann. Hast Du Dein Capital einmal gemacht, so hast Du weiter nichts zu thun, als es anzuwenden.« Auf ähnliche Weise sagt uns Pip: »Angenommen, Deine Schulden belaufen sich auf hundert und vier und sechzig Pfund, vier Schillinge und zwei Pence, so würde ich sagen, lasse einen Ueberschuß und setze sie auf zweihundert Pfund an; oder angenommen, daß sie viermal so viel betragen, so lasse einen Ueberschuß und setze sie auf siebenhundert Pfund an.« Er ist aufrichtig genug, hinzuzufügen, daß, während er auf's Tiefste von der Weisheit und Klugheit des Ueberschusses überzeugt ist, die Gefahren desselben darin bestehen, daß in dem Gefühle der Freiheit und der Zahlungsfähigkeit, das er erweckt, eine Tendenz liegt, sich in neue Schulden zu stürzen. Aber die Satire, welche so die Warnung einschärft, daß man nicht von unbestimmten Hoffnungen leben und alte Schulden nicht bezahlen solle, indem man neue mache, stellte sich nie in einer heitereren oder wohlwollenderen Gestalt dar. Ein Wort muß noch über den Vater des Mädchens gesagt werden, die Herbert heirathet: Bill Barley, Ex-Schiffszahlmeister, ein gichtischer, bettlägeriger, betrunkener alter Taugenichts, der in einem oberen Stockwerk in Mill Pond Bank, bei Chinks's Bassin, auf dem Rücken liegt, wo er die Familienvorräthe bewahrt, wiegt, und austheilt, während er, alter amtlicher Gewohnheit gemäß, ein Auge an einem Fernrohr hält, das an seinem Bette befestigt ist, um ihm einen bequemeren Ueberblick über den Fluß zu öffnen. Dies ist eine der an sich unbedeutenden, aber durch den darauf verwandten Reichthum komischer Beobachtung merkwürdigen Skizzen, an welchen Dickens' Humor besonders Gefallen fand; und dieser ganze Theil des Romans ist durchweht von einem eigenthümlichen Flußuferduft, der ihm frische Wirklichkeit und Reiz verleiht.
Als er mir die Kapitel dieses Abschnitts schickte, welche den dritten Theil des Romans einleiten, schrieb er mir: »Es ist schade, daß der dritte Theil nicht auf einmal gelesen werden kann, weil dann sein Zweck viel deutlicher werden würde; und es ist um so mehr schade, weil die allgemeine Wendung und der allgemeine Ton der Entwickelung völlig verschieden sein werden von dem, was sie gewöhnlich sind. Aber was sein muß, muß sein. Was die Eintheilung von Woche zu Woche angeht, so kann Niemand, der es nicht versucht hat, sich vorstellen, wie schwierig dieselbe ist. Aber wenn diese Schwierigkeit überwunden ist, ist auch das Vergnügen, wie in allen solchen Fällen, verhältnißmäßig groß. Noch zwei Monate mehr und ich werde, wie ich hoffe, mit dem Ganzen fertig sein. Alles Eisen ist im Feuer und ich brauche es nur noch auszuhämmern«. Ein andrer Brief wirft Licht auf einen Einwand, der nicht mit Unrecht gegen die zu große Geschwindigkeit erhoben wurde, womit die Heldin, nachdem sie verheirathet, gebessert und verwittwet ist, nach wenigen Seiten wieder zum Gegenstand einer Liebeserklärung gemacht und von Neuem an den Helden verheirathet wird. Dies summarische Verfahren war ursprünglich nicht beabsichtigt. Aber über die allgemeine Gunst seines Empfanges hinaus hatte das Buch auch einige Personen interessirt, deren Urtheil Dickens besonders hochschätzte, (Carlyle unter andern, wie ich mich erinnere, Ein theurer, jetzt dahingeschiedener Freund pflegte lachend zu erzählen, was für ein Rufen an dem Abend der Woche, wenn ein Heft erschien, in Carlyle's Hause gewöhnlich nach jenem »Pip-Unsinn« erscholl und welch' lautes Gelächter folgte, obgleich das Buch anfangs völlig bei Seite gelegt wurde, als etwas, woran man keine Zeit verschwenden dürfe.) und als Bulwer Lytton sich gegen einen Schluß aussprach, der Pip als einsamen Mann zurückließ, setzte Dickens das an die Stelle, was jetzt dasteht. »Es wird Dich,« schrieb er, »überraschen zu hören, daß ich den Schluß von › Große Erwartungen‹, von Pip's Rückkehr zu Joe an, wo er sein kleines Ebenbild findet, verändert habe. Bulwer, der sich, wie Du wohl weißt, außerordentlich für das Buch interessirt hat, redete mir, nachdem er die Druckbogen gelesen, so entschieden in diesem Sinne zu und stützte seine Ansicht auf so gute Gründe, daß ich mich für die Aenderung entschied. Du sollst es sehen, wenn ich nach London komme. Ich habe eine so hübsche kleine Stelle hineingesetzt, als ich konnte, und ich zweifle nicht, daß der Roman durch diese Aenderung noch mehr gefallen wird.« So war es in der That; aber der erste Schluß scheint nichtsdestoweniger in besserm Einklang mit dem Gange und der natürlichen Entwickelung des Ganzen und aus diesem Grunde soll er hier in einer Anmerkung aufbewahrt werden. Es war kein Kapitel XX. da, wie jetzt, sondern der Satz, welcher dasselbe eröffnet, folgte dem Paragraphen über Pip's Geschäftstheilhaberschaft mit Herbert und führte zu Biddy's Frage, ob er ganz sicher sei, daß er sich nicht um Estella gräme, – von welcher Stelle der Schluß anfing. »Noch zwei Jahre verflossen, ehe ich sie selbst sah. Ich hatte gehört, sie führe ein sehr unglückliches Leben und sei geschieden von ihrem Manne, der sie sehr grausam behandelt hatte und als eine Mischung von Stolz, Rohheit und Gemeinheit berüchtigt geworden war. Ich hatte von dem Tode ihres Mannes (durch einen Unfall, den er bei der Mißhandlung seines Pferdes erlitten) gehört und daß sie sich wieder verheirathet habe mit einem Arzte in Shropshire, der einmal, gegen sein eignes Interesse, als er Mr. Drummle ärztlich behandelte und Zeuge ihrer schmählichen Behandlung war, zu ihren Gunsten aufgetreten war. Ich hatte gehört, daß der Arzt in Shropshire nicht reich sei und daß sie von ihrem eigenen persönlichen Vermögen lebten. Ich war wieder in England – in London und wanderte mit dem kleinen Pip durch Piccadilly, als ein Diener mir nachgelaufen kam und mich bat, zu einer Dame in einen Wagen zu kommen, die mit mir zu sprechen wünsche. Es war ein kleiner Ponywagen, den die Dame fuhr, und die Dame und ich blickten einander traurig genug an. ›Ich bin sehr verändert, ich weiß es, aber ich dachte, auch Du würdest Estella gern die Hand drücken, Pip. Hebe das hübsche Kind auf und laß es mich küssen.‹ (Sie meinte, glaube ich, das Kind wäre mein Kind.) Es freute mich nachher sehr, sie gesehen zu haben, denn in ihrem Gesicht und in ihrer Stimme und in ihrem Ausdruck gab sie mir die Versicherung, daß ihre Leiden stärker gewesen waren als Miß Havisham's Lehren, und ihr ein Herz gegeben hatten zu verstehen, was mein Herz einst gewesen war.«
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Weihnachtsskizzen.
Zwischen diesem schönen Roman, der im Herbste 1861 in drei Bänden ausgegeben wurde, und der Vollendung seines nächsten in Monatsheften erscheinenden Werkes lagen drei in seiner besten Weise geschriebene Skizzen, über welche alle Welt in den Weihnachtszeiten der Jahre 1862, 1863 und 1864 lachte und weinte. Ueber den Kellner in » Jemandes Gepäck« hat Dickens selbst schon gesprochen, und wenn ein Thema als gut behandelt gelten darf, wenn von dem dabei eingenommenen Gesichtspunkte aus nichts mehr darüber zu sagen bleibt, so ist dieses Stück Komik in seiner Weise vollkommen. Man nenne es übertrieben, grotesk, oder was man will, das Gelächter wird immer jede ernstere Kritik unterbrechen. In einem Briefe aus Paris, worin er seinen Antheil an den von »Jemandem« bei seinem wunderbaren Kellner gelassenen Artikeln feststellte, bemerkte er, er habe in einem derselben die Erzählung zu einer Camera obscura gewisser französischer Orte und Menschenklassen gemacht und sie auf Beobachtungen gegründet, die er bei einem französischen Soldaten angestellt habe. Dies war die Erzählung von der kleinen Bebelle, deren Held ein kleiner französischer Korporal war und die sehr populär wurde. Aber der Triumph der Weihnachtsleistungen in diesen Jahren war Mrs. Lirriper. Sie nahm ihren Platz sofort unter den Persönlichkeiten ein, welche alle Welt kannte, und alle Welt sprach von Major Jemmy Jackman und seiner Freundin, der armen alten Wohnungsvermietherin im Strand, mit ihren kläglichen Sorgen und Eifersüchteleien und Quälereien, als wären Beide ebenso lange in London gewesen und ebenso gut bekannt gewesen als Norfolkstreet selbst. Ein Dutzend Bände hätten nicht mehr erzählen können als diese zwölf Seiten erzählten. Auf » Mrs. Lirriper's Miethswohnung« folgte dann im Jahre 1864 » Mrs. Lirriper's Vermächtniß«, das in Komik und dadurch hervorgerufener Heiterkeit nicht hinter jenem zurückstand.
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Unser gegenseitiger Freund.
Die Veröffentlichung » Unsres Gegenseitigen Freundes« in der Form seiner frühesten Romane, dauerte vom Mai 1864 bis zum November 1865. Schon vier Jahre vorher hatte er diesen Titel als einen guten ausgewählt, und trotz vieler Einwände hatte er daran festgehalten. Zwischen jener Zeit und dem wirklichen Beginn seiner Arbeit finden sich in seinen Briefen Erwähnungen der drei Hauptgedanken, worauf er den Roman gründete. Bei seinen Wanderungen am Themseufer während der Arbeit an » Große Erwartungen«, brachten die vielen dort angeschlagenen Annoncen mit traurigen Beschreibungen von im Flusse ertrunkenen Personen ihn auf die Idee der Uferleute und ihres grauenhaften Berufs, die er in Hexam und Riderhood skizzirte. »Ich glaube,« schrieb er damals, »ein junger und vielleicht excentrischer Mann, der vorgibt, daß er todt ist, und in Bezug auf alle äußerlichen Verhältnisse wirklich todt ist, und Jahre lang die dadurch bedingte eigenthümliche Lebensansicht und Stellung bewahrt, würde ein guter Grundgedanke für einen Roman sein;« und diesen Gedanken führte er theilweise in Rokesmith aus. Zu andern handelnden Personen hatte er einen »armen betrügerischen Menschen ausersehen, der eine Frau um ihres Geldes willen heirathet, und den auch sie um seines Geldes willen heirathet; die dann nach der Heirath Beide ihren Irrthum entdecken und einen Bund gegen die Menschen im Allgemeinen schließen.« Mit diesen war es seine Absicht, einige »Vollkommen Neue Leute« in Verbindung zu setzen. »Alles an ihnen ist neu. Wenn sie einen Vater und eine Mutter darstellten, würde es scheinen, daß diese funkelnagelneu wären, grade wie die Meubeln und die Kutschen – glänzend von Firniß, und grade aus der Fabrik angekommen.« Diese Gruppen nehmen in den Lammles und den Veneerings Gestalt an. »Ich muß,« bemerkte er in einem andern Briefe, »irgendwie von dem ungebildeten Vater in Barchent und dem gebildeten Sohn mit Brillen Gebrauch machen, die Leech und ich in Chatham sahen.« Hiervon findet sich eine Andeutung in Charley Hexam und seinem Vater. Der wohlwollende alte Jude, den er zu dem unbewußten Werkzeug eines Spitzbuben macht, sollte einen Vorwurf gegen seinen Juden in Oliver Twist auslöschen, demzufolge letzterer die Religion des Volkes, dem er angehörte, in Mißachtung gebracht haben sollte. Ueber diesen Vorwurf, der ihm von einer jüdischen Dame gemacht wurde, welche er hochschätzte, hatte er vor zwei Jahren geschrieben. »Fagin, in Oliver Twist, ist ein Jude, weil es zu der Zeit, in welcher die Geschichte spielt, unglücklicherweise wahr war, daß diese Klasse von Verbrechern fast ohne Ausnahme aus Juden bestand. Aber kein verständiger Bekenner Ihres Glaubens kann wohl umhin zu bemerken: erstens, daß alle übrigen bösen dramatis personae Christen sind, und zweitens, daß er » der Jude« genannt wird, nicht wegen seiner Religion, sondern wegen seiner Race.«
Nachdem er im Jahre 1861 seinen Titel gefunden, hoffte er im Jahre 1862 beginnen zu können. »Ach!« schrieb er im April jenes Jahres, »ich habe nichts für einen Roman entdeckt. Wieder und wieder habe ich's versucht. Aber dies scheußliche kleine Haus« (er hatte damals Gadshill auf einige Wochen mit dem Hause eines Freundes in Kensington vertauscht) »scheint meine Erfindungsgabe erstickt und verdunkelt zu haben.« Erst im Herbste des folgenden Jahres sah er seinen Weg zu einem Anfang. »Die Zeit für das Weihnachtsheft ist wieder da« (30. August, 1863) – »mir ist, als hätte ich das letzte erst gestern geschrieben – aber ich bin außerdem voll von Gedanken für die neuen zwanzig Hefte. Wenn ich den Weihnachtsstein aus dem Wege räumen kann, so glaube ich, werde ich mich für die größere Fahrt hineinstürzen können.« Er beharrte dabei, trotz vieler Schwierigkeiten, die er sechs Wochen später, mit charakteristischen Hinblicken auf die Art seines schriftstellerischen Schaffens, in einem Briefe aus dem Büreau seiner Zeitschrift beschrieb. »Ich kam gestern Abend hierher, um meinem gewöhnlichen Redaktionstage zu entrinnen – in der That, um ihn gänzlich zu vermeiden und fünf oder sechs Tage ununterbrochen in Gadshill bleiben zu können. Mein Grund dafür ist, daß ich außerordentlich wünsche, mit meinem Buche anzufangen. Ich bin zu der Arbeit daran entschlossen. Ich will es für den Frühling vorbereiten; aber die Veröffentlichung soll nicht beginnen, ehe mindestens fünf Hefte fertig sind. Der Anfang ist mir vollkommen klar und auch die Hauptbahn, worauf die Geschichte sich bewegen soll, und wenn ich nicht hämmere, während das Eisen (das heißt ich) heiß ist, werde ich wieder davon abgebracht werden und alle diese Unruhe noch einmal durchmachen müssen.«
Er hatte nach vier Monaten fast drei Hefte beendet, als ihm, bei einer nothwendig gewordenen neuen Anordnung seiner Kapitel, ein neuer Gegenstand für eines derselben aufstieß. »Während ich überlegte, was es sein solle« (25. Februar 1864), »erzählte Marcus, Marcus Stone hatte bei der Separatausgabe der Geschichte zweier Städte die Stelle Hablot Browne's als Illustrator von Dickens' Werken eingenommen. Harte Zeiten und die erste Ausgabe von Große Erwartungen waren nicht illustrirt; aber als Pip's Geschichte in einem Bande erschien, trug Stone Zeichnungen dazu bei. der einen vortrefflichen Umschlag gezeichnet hat, mir von einem außerordentlichen Handelszweige, den er mittelst eines seiner Malerbedürfnisse entdeckt hatte. Ich ging sofort mit ihm nach St. Giles, um mir den Ort anzusehen, und fand – was Du sehen wirst.« Es war das Etablissement von Herrn Venus, Ausstopfers von Thieren und Vögeln und Anordners menschlicher Knochen; und dasselbe wurde an die Stelle des letzten Kapitels des zweiten Heftes gesetzt, welches dann an das Ende des dritten Heftes übertragen wurde. Aber ein Anfang mit drei ganz fertigen Heften, obgleich in früheren Zeiten mehr als genug, um den strengsten sich selbst auferlegten Bedingungen Genüge zu leisten, befriedigte ihn nicht mehr. Trotz des bereits auf den Roman verwendeten Nachdenkens, trotz der Hülfe, welche seine Aufzeichnungen ihm gewährten, trotz der schon entwickelten Charaktere, mit denen er weiter arbeiten konnte, und so bereit er sein mochte, seine unermüdliche Beobachtung unmittelbar für den Roman zu verwenden, bewegte er sich jetzt doch auf dem vor ihm ausgebreiteten alten großen Cannevas langsam und mühevoll vorwärts. »Wenn ich«, schrieb er am 29. März, »eine Seite von den fünf Heften verlöre, die meinem Plane gemäß am Tage der Veröffentlichung fertig sein sollen, würde ich die Empfindung haben, daß zu wenig geschehen wäre. Ich thue mir jetzt schwer Genüge und schreibe sehr langsam. Und ich habe so viel andre Dinge, die bedacht sein wollen, auch wenn ich nicht daran denken mag, daß ich gezwungen bin, sorgfältiger zu sein, als ich früher war.«
Das erste Heft wurde endlich am 1. Mai vom Stapel gelassen, und zwei Tage später schrieb er: »Nichts kann besser gehen als Unser Freund, der jetzt in seinem dreißigsten Tausend ist, während noch immer Bestellungen herbeiströmen.« Aber zwischen dem ersten und zweiten Hefte fand ein Fall von Fünftausend statt, eine auffallende Thatsache, da vor dem Schluß des Buches die größere Zahl wieder erreicht und weit übertroffen wurde. »Ich fliege in diesem Augenblicke« (10. Juni) »um und um, wie eine Brieftaube, ehe ich mich auf das siebente Heft niederstürze.« So weit hatte er seinen Grund und Boden behauptet; aber bald nachher kam Krankheit nebst andern Sorgen, und am 29. Juli schrieb er traurig genug. »Obgleich ich es nicht an Fleiß habe fehlen lassen, hat es mir an schöpferischer Kraft gefehlt und ich bin mit dem Buche in Rückstand gekommen. Die Weihnachtsarbeit dämmert schon in großen Umrissen vor mir auf und ich kann nicht hoffen, sie zu thun, ohne ein Heft von › Unserm Freunde‹ zu verlieren. Ich habe fast schon eins verloren und zwei würden meinen Vorsprung um die Hälfte verkürzen. Diese Woche bin ich sehr unwohl gewesen, fühle mich noch gar nicht wohl und werde, wie ich aus einer langsamen Erfahrung von zwei Tagen weiß, einen wahren Berg zu erklimmen haben, ehe ich das offne Land meiner Arbeit vor mir sehe.« Die drei folgenden Monate brachten kaum günstigere Berichte. »Ich bin mit meinem Hefte noch nicht fertig. Der Tod des armen Leech ist (wie ich glaube) die traurige Ursache meines Mißlingens. Gestern und vorgestern konnte ich nichts thun, schien für den Augenblick die Kraft dazu vollständig verloren zu haben, und gelange erst heute langsam und allmälig in die alte Bahn zurück.« Hierauf nahm seine Kraft wieder zu und er that sich eine Zeit lang Genüge; aber im Februar 1865 brach die bedenkliche Krankheit in seinem Fuße aus, die ihn während des Restes seines Lebens zu gewissen Zeiten mehr oder weniger des unschätzbaren Trostes körperlicher Bewegung beraubte. Im April und Mai litt er schwer daran, und nachdem er einen Aufenthalt an der See versucht, reiste er zu vollständigerer Erholung in's Ausland. »Arbeit und Unruhe ohne Bewegung würden mir bald den Garaus machen. Wenn ich jetzt nicht fortginge, würde ich zusammenbrechen. Niemand weiß, so wie ich es heute weiß, wie nahe ich daran gewesen bin.«
Dies schrieb er an dem Tage seiner Abreise nach Frankreich, und der Tag seiner Rückkehr brachte mir die folgenden rasch hingeworfenen Zeilen. »Sonnabend, 10. Juni 1865. Ich war gestern bei dem traurigen Unfall bei Staplehurst und arbeitete stundenlang unter den Sterbenden und den Todten. Ich war in dem Wagen, der nicht von der Bahn fiel, aber die Schienen verließ und auf unerklärliche Weise über der Brücke hing. Keine Worte können die Scene beschreiben. Er sprach folgendermaßen davon in seiner »Nachschrift statt des Vorworts« (datirt vom 2. September 1865), welche das letzte Heft des hier besprochenen Romans begleitete. »Am Freitag, den 9. Juni des gegenwärtigen Jahres, waren Mr. und Mrs. Baffin mit mir auf der Südost-Eisenbahn, bei einem schrecklich zerstörenden Unfall. Nachdem ich gethan was ich konnte, um Andern zu helfen, kletterte ich in meinen Wagen zurück, der beinahe über einen Viadukt gefallen und grade am Rande hängen geblieben war, um das würdige Paar herauszuziehen. Sie waren sehr beschmutzt, aber übrigens unverletzt. Dasselbe glückliche Resultat erzielte Miß Bella Wilfer an ihrem Hochzeitstage und Mr. Riderhood, der sich Bradley Headstone's rothes Halstuch betrachtete, während dieser schlafend da lag. Ich erinnere mich mit tiefgefühlter Dankbarkeit, daß ich nie viel näher daran sein kann, auf immer von meinen Lesern Abschied zu nehmen, als ich es damals war, bis unter mein Leben die beiden Worte geschrieben werden, mit welchen ich heute dies Buch beschlossen habe: Das Ende.« »Ich gehe nach Gadshill.« Obgleich er den Wirkungen jenes schrecklichen neunten Juni auf ihn selbst mit charakteristischer Energie widerstand, waren sie doch eine Zeit lang offenbar, und bis zu seinem Todestage, dem verhängnißvollen fünften Jahrestage des Unfalls, waren sie wohl nie ganz abwesend. Aber nur sehr wenige Klagen wurden von ihm gehört. »Ich »fühle mich seltsam schwach – schwach, als genäse ich von einer langen Krankheit.« – »Ich fange an, es mehr im Kopfe zu fühlen. Ich schlafe gut und habe guten Appetit; aber wenn ich ein Dutzend Briefe schreibe, wird mir schwach und übel.« – »Es geht mir besser, obgleich mein Puls noch sehr matt ist und ich nervös erregt bin. Als ich gestern Abend nach Rochester hineinfuhr, fühlte ich mich heftiger erschüttert, als je seit dem Unfalle.« – »Ich kann das Fahren auf der Eisenbahn noch nicht aushalten. Eine vollständige Ueberzeugung; daß der Wagen auf einer Seite liegt, trotz dem was ich mit Augen sehe (und gewöhnlich ist es die linke Seite, und nicht die Seite, nach welcher der Wagen bei dem Unfalle wirklich hinüberfiel), erfüllt mich, sowie es etwas schnell geht, und das ist unaussprechlich peinlich.« Dies sind Stellen aus seinen Briefen bis Ende Juni. Die unmittelbare Wirkung auf sein Buch war, daß noch ein verlorenes Heft den Verlusten der vorhergehenden Monate hinzugefügt wurde, »und ach!« schrieb er zu Anfang des Juli, – »die beiden Hefte, von denen Du schreibst! Es existirt nur ein einziges. Ich habe das andre erst eben angefangen.« – »Stelle Dir vor,« schrieb er am nächsten Tage, »daß ich für das sechzehnte Heft drittehalb Seiten zu wenig geschrieben habe – etwas, was mir seit Pickwick nicht begegnet ist.« Es war ihm einmal bei Dombey begegnet und sollte ihm noch einmal begegnen.
Das so begonnene und unter widrigen Einflüssen fortgesetzte Buch wird, obgleich es ihm nicht an Phantasie, an trefflichen Beschreibungen und gut gezeichneten Charakteren fehlt, nie eine Stelle unter seinen höheren Leistungen einnehmen. Es enthält einige Gemälde von seltener Seelenwahrheit, inmitten der niedrigsten Formen gesellschaftlicher Entartung, und andre von bloßer Falschheit und Anmaßung, inmitten unangreifbarer gesellschaftlicher Respektabilität, welche den Autor zu seiner frühern hohen Stellung erhoben; aber im Ganzen muß man dahin urtheilen, daß es dem Werke an Frische und natürlicher Entwicklung fehlt. Dies wird in der That am Bereitwilligsten von Denen zugegeben werden, welche am stärksten fühlen, daß das ganze alte Geschick der Meisterhand sich noch offenbart in der launenhaften liebevollen Bella Wilfer, in dem vulgären Heuchler Podsnap und in der Puppenschneiderin Jenny Wren, deren scharfes, kleines, wunderliches, seltsames Wesen und frühreifer durch Noth geschärfter Witz einem Charakter angepaßt sind, welcher ebenso eigenthümlich und schön empfunden, als bis an's Ende lebensvoll durchgeführt ist. Ihr kleines Leben scheint aus einem dunkeln rauhen Gewebe zusammengesetzt, aber schon seine für die Kinderwelt unternommene Arbeit schlingt glänzende Fäden durch das Gewebe von Sorgen. Die unbewußte Philosophie ihrer selbständigen Denk- und Handlungsweise enthält mehr von der feineren Ader der Satire, welche der Zweck des Buches ist, als sogar die Stimmen der Gesellschaft, mit denen der Roman anfängt und endet. In ihrer Freundlichkeit selbst liegt ein Zug von Bosheit, der eine mit unnatürlichen Entbehrungen vertraute kindliche Launenhaftigkeit erkennen läßt; dies gibt ihrem Humor sowohl eine Tiefe als eine Zartheit, welche demselben eine Stelle anweist unter den gelungensten Leistungen des Verfassers; und obgleich das seltsame kleine Geschöpf fortwährend spricht, wenn es auf der Bühne ist, ist seine Individualität von der Art, welche so selten ermüdet. Es ist in Wahrheit ihre eigne kleine Art und Weise, nie mißzuverstehen als die irgend eines Andern. »Ich habe,« schrieb mir Dickens aus Frankreich, während er an dem Buche arbeitete, »eine vortreffliche kleine Erzählung von Edmund About gelesen – Die Nase des Notars. Ich habe andere Bücher versucht, aber sie sind so verteufelt voll von Conversation, daß ich vergesse, wer die Leute sind, ehe sie zu reden aufhören, und mich nicht im mindesten auf das besinne, was sie vorher gesagt haben, wenn sie wieder zu reden anfangen.« Der vollständige Gegensatz gegen seine eigne Kunst konnte nicht klarer ausgedrückt werden, und andere Belege dafür liefert dieser Roman in den verschiedenen Mitgliedern der Familie Wilfer, in den Flußufer-Leuten bei Fellowship Porters, in solchen wunderbaren tragikomischen Scenen, wie der Rettung Rogue Riderhood's vom Ertrinken, und in den kurzen und einfachen Annalen von Betty Higden's Leben und Tod, die auch einem Buche rettende Kraft verliehen haben würden, dessen baldiges Vergessenwerden wahrscheinlicher ist, als das » Unsres Freundes«. Es hat nicht die schöpferische Kraft, welche Dickens' frühere Werke erfüllte und die Schatten seiner Phantasie in volksthümliche Realitäten verwandelte; aber die Beobachtung und der Humor, welche ihn auszeichneten, fehlen nicht darin. Auch enthielt sein erstes vollendetes Werk keine beredtere und hochherzigere Fürsprache für die Armen und Vernachlässigten, als dies letzte von ihm vollendete Werk. Betty Higden beendet, was Oliver Twist anfing.
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Dr. Marigold und Erzählungen für Amerika.
Er hatte, etwas ermüdet von einer Arbeit der Erfindung, welche nicht so frei oder selbsterhaltend gewesen war, als in den alten, leichten und fruchtbaren Tagen, kaum im September 1864 sein Buch beendet, als sein gewöhnlicher Weihnachtsbeitrag fällig wurde, und seine Phantasie, auf einem engeren Gebiete frei gegeben, zu ihrem alten Luxus des Genusses zurückkehrte. Hier sind einige Notizen darüber aus seinen Briefen. »Wenn das große Publikum versteht, was ein Hausirer ist, so wird mein Theil an dem Weihnachtshefte guten Erfolg haben. Er ist dem wirklichen Dinge wunderbar ähnlich, natürlich etwas civilisirter und humoristischer.« – »Ich hoffe, daß Du am Anfange und am Ende dieses Weihnachtsheftes etwas finden wirst, was Dir als frisch, kräftig und voll von Leben auffällt.« Die Art, wie er es abfaßte, beschrieb er später. »Ermüdet von › Unserm Gegenseitigen‹ setzte ich mich hin, um nach einem Gedanken zu suchen, unter dem niederschlagenden Eindruck, daß ich für den Augenblick überarbeitet sei. Plötzlich blitzte der kleine Charakter, den Du sehen wirst, und Alles was dazu gehört auf die erfreulichste Weise vor mir auf, und ich brauchte nur hinzusehen und mit Muße zu schildern.« Dies war Dr. Marigold's Recepte, eines der populärsten von allen für seine Vorlesungen ausgewählten Stücken und ein glänzendes Beispiel seines Humors, seines Pathos und seiner Charakterdarstellung. Ehe er seinen letzten Besuch in Amerika machte, schrieb er dann noch drei Weihnachtsstücke: Gebrüder Barbox; Der Junge an der Station in Mugby und Keine Durchfahrt, – das letzte ein gemeinsam mit Wilkie Collins verfaßtes Stück Arbeit, das von diesem während Dickens' Abwesenheit in Amerika für Fechter in ein Schauspiel verwandelt wurde, zu welchem Zweck es ursprünglich bestimmt gewesen war. Außerdem schrieb Dickens zwei Erzählungen, die zuerst in Amerika erschienen: George Silverman's Erklärung und Ferienroman. Dieselben enthielten etwa so viel Material, als ein halbes Schillingsheft seiner gewöhnlichen monatsweise veröffentlichten Romane und wurden auf eine in der Geschichte der Literatur beispiellose Art honorirt. Die Arbeit daran beschäftigte ihn nicht viele Tage und er empfing dafür 1000 Pfd. St.
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Das Jahr nach seiner Rückkehr sah, wie der Leser weiß, den Anfang des Werkes, welches durch den Tod unterbrochen wurde. Das Fragment wird später besprochen werden; und hier mag inzwischen meine Kritik schließen, selbst ein Fragment, das ich einer würdigeren Vollendung durch eine stärkere Hand als die meine hinterlasse.
Aber ich darf wohl wenigstens hoffen, daß ich dadurch den Boden von jenen Unterscheidungen und Vergleichen geklärt habe, deren Anwendung auf einen originellen Schriftsteller immer bedenklich ist, und die seiner wirklichen Würdigung immer mehr oder weniger im Wege stehen. Es war lange die Mode, eine bedeutende Verschiedenheit anzunehmen zwischen Sittenromanen und Charakterromanen, und das engere Gebiet Fielding und Smollett anzuweisen, das weitere Richardson; jetzt aber wird es wohl nicht Viele geben, die einer solchen Classifikation beistimmen. Und nicht mehr Wahrheit liegt in andern ähnlichen Unterscheidungen, zwischen Novellisten, denen eine ideale oder eine reale Methode der Behandlung eigenthümlich sein soll. Für einen originellen Romandichter der höhern Art liegt kein Sinn in der Gegenüberstellung dieser Phrasen. Keine von beiden Behandlungsweisen kann in irgend welcher Vollkommenheit bestehen ohne die andere. So sensitiv der Geist auch für äußere Eindrücke ist, so scharf die Beobachtung von Allem was gesehen werden kann, sein mag, ohne das seltenere Sehen der Phantasie wird nichts erzielt werden, was in einem echten Künstlersinne real ist. Man kehre den Satz um, und das Resultat wird ausgedrückt in einer vortrefflichen Bemerkung Lord Lytton's: daß der höchste Erfolg auch der erhabensten Phantasie darin bestehe, daß sie heiter zu Hause sei in dem Realen. Ich habe gesagt, daß Dickens jede Kritik tiefer empfand, als bei seiner vorgeblichen Gleichgültigkeit gegen die Kritik möglich schien; aber das Geheimniß war, daß er sich zu einer höheren Anerkennung berechtigt glaubte als derjenigen, welche ihm gewöhnlich zu Theil wurde. Es war dasselbe Gefühl, welches einen denkwürdigen Ausspruch von Wordsworth hervorrief. »Ich wünsche nicht im mindesten, daß Jemand eine Kritik über meine Gedichte schreibe. Wenn sie von oben sind, werden sie im Laufe der Zeit ihre Wirkung ausüben; wenn nicht, werden sie vergehen, wie sie vergehen sollten.«
Das Etwas »von oben« scheint mir nie bei Dickens abwesend zu sein, selbst nicht in seinen am wenigsten gelungenen Schriften. Als seine Erfindungsgabe nachließ, und er sich nur auf einem beschränkteren Raume als früher mit Freiheit bewegen konnte, behauptete jenes Etwas sich doch auf siegreiche Weise, und sein Einfluß über seine Leser dauerte dadurch bis zum letzten Tage seines Lebens fort. Indem man auf die Reihe seiner Schriften zurückblickt, ist der erste Gedanke, welcher in dem Geiste jedes denkenden Menschen aufsteigt, der Gedanke der Freude, daß der volksthümlichste der Schriftsteller, der die niedrigsten Umgebungen und Lebenslagen mit einer von keinem seiner Zeitgenossen erreichten Fülle der Beobachtung, der Heiterkeit und des Humors durchdrungen, jenen weltweiten Einfluß nie auch nur durch eine unreine Andeutung oder die Möglichkeit einer nachtheiligen Wirkung getrübt hat. Auch überrascht nichts mehr als die Frische und die Mannigfaltigkeit dieser Schriften, innerhalb des Kreises der nicht sehr zahlreichen Charaktertypen, welche die Grenze des Genies ihres Autors bildeten. Denn auch das wird bei einem Gesammtüberblick über dieselben klar, daß das in ihnen pulsirende Leben das Leben der Zeit ist, in der sein eignes Leben dahinfloß, und daß mit dem Bemühen, ein lebhaftes Bild derselben zu entwerfen, die Hoffnung und der Zweck verknüpft ist, sie besser zu hinterlassen als er sie fand. Man hat ihm vorgeworfen, daß die Menschheit keine Vermehrung ihrer besten Typen von ihm empfangen habe, daß der burleske Humorist immer stärker in ihm sei als der denkende Moralist, daß das Licht, welches sein Genie in abgelegene Winkel des Lebens wirst, nie beständig scheine auf dessen höheren Bahnen und daß, außer seinen Bildern von dem was der Mensch ist oder thut, kein Versuch gemacht werde, durch die Darstellung eines erhabenen Zweckes oder einer großen Laufbahn zu zeigen, was der Mensch sein oder thun kann. Abstrakt genommen ist etwas Wahres an diesem Vorwurf; aber es ist nur billig darauf zu erwiedern, daß dasjenige, was in dem dadurch bezeichneten Mangel als wesentlich betrachtet werden kann, in andern Formen in seinen Schriften enthalten ist, daß die vollkommene Unschuld ihres Gelächters und ihrer Thränen an sich ein reicher Segen gewesen ist, und daß es übrigens einem so großen Humoristen eigen ist, nach der Weise zu schaffen, welche dem Genie des Humors am natürlichsten ist. Welcher Art diese Schöpfungen bei Dickens waren, habe ich in den vorstehenden Blättern zu zeigen versucht, und im Ganzen kann man mit ziemlicher Gewißheit sagen, daß die besten Ideale in diesem Sinne nicht gewonnen werden, indem man die Gestalten, welche das Leben immer als die vortrefflichsten seiner Art vorzuführen bemüht ist, mit erhöhtem Reiz darstellt, sondern indem man die Eigenthümlichkeiten und Sonderbarkeiten, welche das gewöhnliche Leben leicht zurückweist oder übersieht, mit der Würdigung verbindet, welche am tiefsten ist, und mit den Gesetzen der Einsicht, welche am allgemeinsten sind. Auf solche Weise wird alles Menschliche in den Bereich der menschlichen Sympathie gebracht. Dickens schrieb in das Herz von Allem hinein. Darin lag das Geheimniß seiner Hoffnung, daß seine Bücher mitwirken möchten, die Menschen besser zu machen. Und sie wurden dadurch so vor dem Uebel bewahrt, daß unter den Tausenden von Seiten, die er geschrieben hat, kaum eine ist, die man einem kleinen Kinde nicht in die Hand geben könnte. Er wurde dadurch zum Vertrauten jedes englischen Haushalts und zu einem lieben Freunde überall, wo die Sprache gesprochen wird, deren Schatz an harmloser Freude er so reich vermehrt hat. Ich entlehne diese Worte dem Bischof von Manchester, der drei Tage nach Dickens' Tode, in der Abtei, wo er so bald bestattet werden sollte, eine Rede zu Gunsten der Duldung von Meinungsverschiedenheiten, wenn die Grundlagen der religiösen Wahrheiten anerkannt werden, folgendermaßen schloß. »Es wird den Einklang der Gedankenrichtung, welche wir verfolgt haben, nicht stören – jedenfalls wird es mit den Ideenassociationen dieses Ortes übereinstimmen, welcher den Engländern theuer ist, nicht bloß als einer der erhabensten christlichen Tempel, sondern als Sammelpunkt der Denkmale so Vieler, die durch ihr Genie in den Künsten, im Kriege, in der Staatsverwaltung, in der Literatur England zu dem gemacht haben, was es ist, wenn ich in den einfachsten und kürzesten Worten an den betrübenden und unerwarteten Todesfall erinnere, welcher die englische Literatur eines ihrer größten zeitgenössischen Führer beraubt hat und dessen Kunde vor zwei Morgen in jedem Haushalt in England die Empfindung erweckt haben muß, als hätten die Hausgenossen einen persönlichen Freund verloren. Man hat ihn in einem Nekrologe einen Apostel des Volkes genannt. Man wollte damit wohl sagen, daß er eine Mission hatte, nach seiner eigenthümlichen Art und Weise, ein Evangelium, eine heitere, frohe, erfreuende Botschaft, welche das Volk verstand und wodurch es kaum umhin konnte, gebessert zu werden, denn es war das Evangelium des Wohlwollens, der brüderlichen Liebe, der Sympathie, im weitesten Sinne des Wortes. Ich bin gewiß, daß ich in mir selbst den gesunden Geist seiner Lehre gefühlt habe. Vielleicht hätten wir uns nicht zu demselben Glauben bekennen können im Verhältniß zu Gott, aber ich glaube, wir würden uns zu demselben Glauben bekannt haben im Verhältniß zu den Menschen. Er, der uns unsre Pflichten gegen unsre Mitmenschen besser gelehrt hat, als wir sie vorher kannten, der es so gut verstand, mit denen zu weinen, welche weinten, und sich zu freuen mit denen, die froh waren, der bei aller seiner Kenntniß der dunkeln Winkel der Erde gezeigt hat, wie viel Sonnenschein auf dem niedrigsten Loose ruhen kann, der solch offenbares Mitgefühl für die Leidenden hatte und einen so natürlichen Instinkt der Reinheit, daß unter den Tausenden von Seiten, die er geschrieben hat, kaum eine ist, die man einem kleinen Kinde nicht in die Hand geben könnte, muß von denen, welche die Verschiedenheit der Gaben des Geistes erkennen, als ein von Gott gesandter Lehrer betrachtet werden. Er würde als Mitarbeiter für die gemeinsamen Interessen der Menschheit bewillkommnet worden sein von dem, welcher die Frage that: ›Wenn ein Mensch seinen Bruder nicht liebt, den er siehet, wie kann er Gott lieben, den er nicht siehet‹«
»Der Verlust keines einzelnen Menschen der gegenwärtigen Generation, wenn wir Abraham Lincoln allein ausnehmen,« sagte Horace Greeley, indem er den tiefen und allgemeinen Schmerz Amerika's über Dickens' Tod schilderte, »hat Trauer in so viele Familien gebracht und ist von allen Gesellschaftsclassen so aufrichtig beklagt worden.« »Die schreckliche Nachricht aus England,« schrieb mir Longfellow (12. Juni 1870) »erfüllt uns Alle mit unaussprechlichem Schmerz. Dickens war so voll von Leben, daß es nicht möglich schien, er könne sterben und doch ist er vor uns dahin gegangen und wir trauern um seinen Tod. Ich entsinne mich nicht, daß der Tod eines Schriftstellers je so allgemeinen Schmerz hervorrief. Es ist keine Uebertreibung zu sagen, daß das ganze Land von Kummer erfüllt ist . . .« Auch fehlte es damals nicht an Beweisen, daß der Einfluß des englischen Schriftstellers in jenem gewaltigen Erdtheil weit über die Grenzen der Gesellschaft hinaus vorgedrungen war. Ein sehr rührendes Beispiel davon wurde in meinem ersten Bande mitgetheilt Vgl. Bd. I. S. 187 f. und ein noch merkwürdigerer Beweis ist mir seitdem zu Händen gekommen, daß nicht bloß in wilden und rohen Gemeinschaften, sondern in dem wildesten und einsamsten Leben sein Genie geholfen hatte, die Zeit zu vertreiben. »Wie alle Amerikaner, die lesen« (schreibt mir ein Amerikaner), »und das begreift so ziemlich unser ganzes Volk in sich, bin ich ein Bewunderer und eifriger Leser von Dickens. Die Lektüre des zweiten Bandes Ihrer Biographie hat mich an einen Vorfall erinnert, der Sie vielleicht interessirt. Vor zwölf oder dreizehn Jahren bestieg ich als Regierungsingenieur die Berge der Sierra Nevada, in Gesellschaft eines berühmten Grenzlers und Civilingenieurs – Oberst Lander. Wir kamen einen Monat zu früh und wurden oben auf dem Gipfel eingeschneit. Unter diesen Umständen war es nothwendig, die Wagen eine Zeit lang zu verlassen und die Maulesel von den Bergen in die Thäler zu treiben, wo Weideland und fließendes Wasser waren. Es war dies eine lange und schwierige Aufgabe, die uns mehrere Tage beschäftigte. Am zweiten Tage, an einem Orte, wo wir nichts Menschlicheres zu finden erwarteten, als einen Bären oder ein Elennthier, fanden wir eine kleine Hütte aus Tannenzweigen und einigen rohen Brettern, die mit einer Axt ungeschickt aus kleinen Bäumen herausgehauen waren. Die Hütte war viele Fuß tief mit Schnee bedeckt, mit Ausnahme eines Loches im Dache, welches als Schornstein diente und einer kleinen grubenartigen Stelle vorn, die den Ausgang gestattete. Der Bewohner kam heraus, rief uns an und bat uns um Branntwein und Tabak. Er war in einen ganz aus Mehlsäcken gemachten Anzug gekleidet und an verschiedenen Theilen seiner Person auf curiose Weise mit Aufschriften wie Bestes Mehl zum Hausgebrauch – Extra – &c. versehen. Sein Kopf war bekleidet mit einem Wolfsfelle, das vom Kopfe des Thieres heruntergezogen war und an dem die Ohren wild und lebhaft in die Höhe standen. Er war ein höchst außerordentlicher Gegenstand und erzählte uns, er habe seit vier Monaten kein menschliches Wesen gesehen. Er lebte von Bären- und Elennthierfleisch und von Mehl, das er während seines kurzen Sommers aufgespeichert hatte. Die Auswanderer zahlten ihm während der Saison eine Art von Fährzoll. Ich fragte ihn, wie er sich die Zeit vertreibe und er ging an eine Tonne und zog Nicholas Nickleby und Pickwick hervor. Ich fand, daß er sie fast auswendig wußte. Von dem Verfasser schien er nichts zu wissen, noch sich darum zu kümmern, wer er wäre; aber er war stolz auf Sam Weller und verachtete Squeers und würde den Letzteren vermuthlich mit großer Geschicklichkeit und Genugthuung scalpirt haben. Für Mr. Winkle hegte er kein anderes Gefühl als Verachtung, in der That betrachtete er eine Vogelflinte als ein bloßes Spielzeug für Frauen. Er hatte keine Bibel, und wenn er auf seine rauhe wilde Weise Alles übte, was Dickens ihn lehrte, hätte er den Mangel auch dieses Gefährten wohl weniger empfinden mögen.«
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