Theodor Fontane
Von Zwanzig bis Dreißig
Theodor Fontane

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Sechstes Kapitel

Mein Onkel August (Fortsetzung). Übersiedlung nach Dresden. Rückkehr von Dresden nach Leipzig

Etliche Jahre nach meines Onkels Geschäftsetablierung in der Burgstraße, womit ich das vorige Kapitel abschloß, kam ich nach Berlin, da mein Vater beschlossen hatte, mir statt einer Gymnasialbildung, in deren ersten Anfängen ich stand, eine Realschulbildung, und zwar auf der seit kurzem erst gegründeten Klödenschen Gewerbeschule, zu geben. Das Resultat dieses unterbrochenen Schulganges war, daß ich, anstatt eine Sache wirklich zu lernen, um alles richtige Lernen überhaupt kam und von links her die Gymnasialglocken, von rechts her die Realschule habe läuten hören, also mit minimen Bruchteilen einerseits von Latein und Griechisch, andrerseits von Optik, Statik, Hydraulik, von Anthropologie – wir mußten die Knochen und Knöchelchen auswendig lernen –, von Metrik, Poetik und Kristallographie meinen Lebensweg antreten mußte.

Daß das mit dem Lernen so bis zum Lachen traurig verlaufen würde, davon hatte ich, als ich Herbst 33 in Berlin eintraf, natürlich keine Vorstellung. Ich freute mich nur, von meiner Ruppiner Pension aus, wo der alte hektische Superintendent immer – auch bei Tisch – ein großes Hustenglas neben sich stehen hatte, nach Berlin gekommen zu sein und noch dazu zu meinem »Onkel August«, der – soviel wußt' ich von gelegentlichen Ferienbesuchen her – immer so fidel war und immer so wundervolle Berliner Geschichten erzählte. Mitunter sogar unanständige. Das mußte nun ein reizendes Leben werden!

Und in gewisser Beziehung ging mir das auch in Erfüllung. Nur zeitweilig ergriff mich, in beinahe schwermütiger Stimmung, ein Hang nach Arbeit und solider Pflichterfüllung, mein bestes Erbstück von der Mutter her. Von dem allem aber existierte nichts in meines Onkel Augusts Hause. Da war alles auf Schein, Putz und Bummelei gestellt; medisieren und witzeln, einen Windbeutel oder einen Baiser essen, heute bei Josty und morgen bei Stehely, nichts tun und nachmittags nach Charlottenburg ins Türkische Zelt fahren – das war so Programm. Wo das Geld dazu herkam, erworben oder nichterworben, war gleichgültig, wenn es nur da war.

Aber ich greife vor. All das hier Angedeutete kam mir erst viel, viel später zu bestimmtem Bewußtsein. Um die genannte Zeit, wo ich damals meinen Einzug hielt, lag noch Sonnenschein, echt oder unecht, über dem Hause. Mir tat dieser Sonnenschein wohl, und wie dies, bei all seinen Mängeln, mit viel Hübschem und Apartem ausgestattete Haus in seinen Einzelheiten war, davon will ich hier zunächst erzählen.

Das Haus, das nur drei Fenster Front hatte, gehörte dem Dr. Bietz, einem lebensklugen, nicht allzu beschäftigten Arzte, der sich mit der ersten Etage begnügte. Der zweite Stock aber, wie schon hervorgehoben, war unser, ebenso das Erdgeschoß, in dem sich die Geschäftsräume befanden: ein großer schöner Laden, dem sich allerhand Rumpelkammern anschlossen. Alles in dem Hause war winklig und verbaut, was ihm aber, verglichen mit den nichtssagenden Patentwohnungen unserer Tage, die wie aus der Schachtel genommenes Fabrikspielzeug wirken, einen großen Reiz verlieh. Alles prägte sich ein, und je sonderbarer es war, desto mehr.

An solchen Sonderbarkeiten war nun in unsrer Wohnung ein wahrer Überfluß. Nach vorn heraus lagen zwei reizende Räume, sowie man diese Frontzimmer aber verließ, begannen die Kuriosa. Zwischen Front und Küche war ein Alkoven eingeklemmt, dem zwei portalartige Glastüren einen Lichtschimmer zuführten. Alles in einem verflachten Rokoko gehalten. Dies nahm sich sonderbar genug aus. Was aber dem Alkoven seinen eigentlichen Reiz lieh, hatte mit Architektur nichts zu schaffen. Die Hauptsache war an dieser Stelle die Bewohnerin Charlotte, Köchin und »Mädchen für alles«. Charlotte war eine zwerghafte Person mit Doppelbuckel und klugem, strengem Gesicht, welchem strengen Ausdruck es wohl auch zuzuschreiben war, daß sie trotz des vollkommensten Anspruchs auf eine Diminutivbezeichnung immer bei ihrem vollen Namen Charlotte genannt wurde. Nie Lottchen oder Lotte. Sie war, wie so oft Verwachsene, durch und durch Charakter, was Onkel August in einem schweren Momente seines Lebens, den ich weiterhin zu beschreiben habe, bitter erfahren sollte.

Aus Charlottens Alkoven trat man in die Küche, von der aus eine etwa zehn Stufen zählende Treppe zu einem mir als Wohn- und Schlafzimmer angewiesenen Raume hinunterführte. Meine Lebensgänge, wie hier gleich vorweg bemerkt werden mag, sind nicht derart gewesen, um mich nach dieser Seite hin irgendwie zu verwöhnen, und wenn das Unglück – nach Shakespeare – sonderbare Schlafgesellen gibt, so kann ich vielleicht mit gleichem Rechte sagen, daß bescheidene Lebensverhältnisse sonderbare Schlafzimmer geben. Aber nicht leicht ein sonderbareres als das hier in Rede stehende. Wenn ich nicht irre, heißt es von Mohammeds Sarge, daß er durch vier Magnete, die von allen Seiten her auf ihn einwirken, in der Schwebe gehalten werde. Fast ebenso rätselhaft schwebte mein Schlafzimmer in unserm Treppenhause. Welche Konstruktionen es überhaupt hielten, weiß ich nicht recht. Halb war es wohl in festes Mauerwerk eingebaut, halb aber, so nehm' ich an, wurde es lediglich durch Pfeiler und Eisenarme gehalten. Zwei Seiten, wodurch eine Art Laterne hergestellt wurde, waren Glaswände. Hier, in diesem sonderbaren Zimmer, hab' ich anderthalb Jahre lang meine Nächte zugebracht, mitunter, wenn auf lang oder kurz ein Logierbesuch kam, auch in Gesellschaft.

Dieser Logierbesuch bestand in der Regel aus Verwandten.

Einer war der Bruder meiner Tante, der, von Jugend auf zum Schauspieler gedrillt, auch Schauspieler geblieben war. Leider nicht zu seinem Heil. Ganz kurze Zeit, nachdem er das in Lüften schwebende Zimmer mit mir bewohnt hatte, hörte ich von seinem tragischen Ausgang. Er hatte sich irgendwo zum Gastspiel gemeldet und war in dem Lokalblatt der kleinen Stadt ridikülisiert worden. Er mochte sein Leben ohnehin satt haben. Diese Kritik gab den Ausschlag, und er erschoß sich.

Ein andrer, der mein Zimmer vorübergehend mit mir teilte, kam im Gegensatz zu diesem Unglücklichen zu hohen Jahren. Es war auch ein Verwandter, aber nicht von der Tante, sondern von des Onkels Seite her. Sein eigentümlicher Lebensgang hat ihn vielen Tausenden bekannt gemacht. Es war dies der Maler Heinrich Gaetke. Mit etwa 18 Jahren war er aus seiner Priegnitzer Heimat nach Berlin gekommen und in das Geschäft meines Onkels eingetreten. Er sollte Kaufmann werden. Aber im Verkehr mit den Malern kam ihm, der talentiert für alles war, alsbald die Lust, auch Maler zu werden. Er wurde Schüler von Blechen – wenigstens lebte was von diesem in seinen Landschaften –, und um diese Zeit sah ich ihn häufiger auf Besuch in meines Onkels Hause. Bald danach ging er nach Helgoland, um, wie vorher Landschaften, so jetzt Seestücke zu malen. Kein Zweifel, daß auch das ihm glückte. Zugleich aber wandte sich sein Sinn einer jungen Helgoländerin zu, was er persönlich nicht sonderlich ernsthaft, die Helgoländer dagegen desto ernsthafter nahmen. Er sah sich denn auch, als er die Insel verlassen wollte, zurückgehalten, und kurze Zeit darauf wurde die junge Helgoländerin seine Frau. Darüber sind jetzt nahezu 60 Jahre vergangen. Anfangs blieb er noch in seiner Kunst; bald aber erwies sich die ihn umgebende große Natur mächtiger als alle Kunst, und er wurde ganz Helgoländer, zu seinem und der Insel Segen. In allen möglichen Ehrenämtern war er alsbald tätig und erfreute sich jeder denkbaren Auszeichnung, nicht zum wenigsten auch auf wissenschaftlichem Gebiet. Denn unter den vielen Wandlungen, die er durchzumachen hatte, war auch die, daß er sich zuletzt der Vogelkunde zuwandte. Sein scharfes Auge hatte bald erkannt, daß es dafür keinen besseren Platz gäbe als Helgoland, dieser Rastplatz der von Nord nach Süd und wieder umgekehrt ziehenden Vogelschwärme. So wurde der Maler von ehedem ein Ornitholog und der Schöpfer einer innerhalb eines bestimmten Zweiges vielleicht einzig dastehenden Sammlung. Er genoß bis zu seinem vor kurzem erfolgten Hinscheiden als Ornitholog eines großen Rufes und hat ein vorzügliches Buch herausgegeben, das den Titel führt: »Auf der Vogelwarte«. Sein Leben, das etwas von dem eines Inselkönigs hatte, ist ein Roman, und ausgezeichnete Schriftsteller haben Einzelheiten daraus auch verherrlicht.

Das waren so die gelegentlichen Besucher und Insassen der sonderbaren Laterne, darin ich wohnte. Was im übrigen nach vorne hinaus lag, war, wie schon angedeutet, von sehr entgegengesetzter Art. Es entbehrte der aparten Züge, war aber dafür sehr reizend. Das unter Umständen als Repräsentationsraum dienende größere Zimmer wurde wenig benutzt und kam eigentlich nur als eine Art Belvedere für uns in Betracht. An Sommerabenden lagen wir hier im Fenster und sahen die Spree hinauf und hinunter. Es war mitunter ganz feenhaft, und wer dann von der »Prosa Berlins«, von seiner Trivialität und Häßlichkeit hätte sprechen wollen, der hätt' einem leid tun können. In dem leisen Abendnebel stieg nach links hin das Bild des Großen Kurfürsten auf und dahinter das Schleusenwerk des Mühlendamms, gegenüber aber lag das Schloß mit seinem »Grünen Hut« und seinen hier noch vorhandenen gotischen Giebeln, während in der Spree selbst sich zahllose Lichter spiegelten.

So war es in dem großen Gesellschaftszimmer. Aber viel reizender, weil anheimelnder, war das kleine Wohnzimmer daneben, drin sich unser Leben eigentlich abspielte. Die Fensterwand war so tief, daß sie fast eine Nische bildete, drin kleine Landschaften von Bönisch hingen, überhaupt Bilder und Skizzen, die befreundete Maler der jungen Frau zum Geschenk gemacht hatten. In ebendieser Nische saß sie auch selber an ihrem Nähtisch, den Kopf, wie eine Neapolitanerin, immer in ein mit goldnen Nadeln umstecktes Spitzentuch gehüllt. Am entgegengesetzten Ende des Zimmers aber stand das Klavier, und hier, in den vielen Freistunden, die mein Onkel sich gönnte, saß er tagaus, tagein und sang seine Figaro-Arien zum hundertsten Male, dann und wann eine Kußhand werfend oder sich unterbrechend, um einen reizenden Pudel – der natürlich auch Figaro hieß – durch den gekrümmten Arm springen zu lassen.

Ich hockte auf einem kleinen Stuhl zwischen Ofen und Sofa, sah nach dem Spitzentuch mit den goldnen Nadeln und nach »Figaro«, der eben wieder durchsprang, und glaubte an die beste der Welten.

 

Anderthalb Jahre ging es mir in meiner Onkel-August-Pension durchaus gut, zu gut, denn ich lebte da ganz nach meinem Belieben. Als aber Ostern fünfunddreißig heran war, verließen wir – und nun wurde manches anders – die reizende kleine Wohnung und übersiedelten, während das Geschäft noch eine Zeitlang in der Burgstraße verblieb, nach einem in der Großen Hamburger Straße gelegenen Neubau. Dieser Neubau war ein Doppelhaus, dessen gemeinschaftlicher Hof durch eine traurig aussehende niedrige Mauer in zwei Längshälften geteilt wurde. Trotzdem alles ganz neu war, war alles auch schon wieder wie halb verfallen, häßlich und gemein, und wie der Bau, so war auch – ein paar Ausnahmen abgerechnet – die gesamte Bewohnerschaft dieser elenden Mietskaserne. Lauter gescheiterte Leute hatten hier, als Trockenwohner, ein billiges Unterkommen gefunden: arme Künstler, noch ärmere Schriftsteller und bankrutte Kaufleute, namentlich aber Bürgermeister und Justizkommissarien aus kleinen Städten, die sich zur Kassenfrage freier als statthaft gestellt hatten. Eine Gesamtgesellschaft, in die, was mir damals glücklicherweise noch ein Geheimnis war, mein entzückender Onkel August – er war wirklich entzückend – durchaus hineingehörte. Wir wohnten Parterre. Das von mir bezogene Zimmer, das so feucht war, daß das Wasser in langen Rinnen die Wände hinunterlief, lag schon in einem uns von dem alten Judenkirchhof abtrennenden Seitenflügel, welch letzterer sich, nachdem man einen kleinen, sich einschiebenden Zwischenflur passiert hatte, weit nach hinten zu fortsetzte. Was in diesem letzten Ausläufer des Seitenflügels alles zu Hause war, war mehr interessant als schön. Da hauste zunächst Alma. Alma war eine kleine, sehr wohlgenährte Person mit roten Backen und großen, schwarzen Augen, die mit seltner Stupidität in die Welt blickten. Ihre Hauptschönheit und zugleich auch das Zeichen ihres Berufes war eine mit minuziöser Sorgfalt gepflegte Sechse, die sie, glatt angeklebt, zwischen Ohr und Schläfe trug. Als mein Vater mich einmal in dieser meiner Wohnung besuchte, war er auch dieser Alma begegnet. »Ihr habt ja da merkwürdige Besatzung auf eurem Flur«, sagte er in seiner herkömmlichen Bonhomie. »Das ist ja eine puella publica.« Ich hatte diesen Ausdruck noch nicht gehört, fand mich aber schnell zurecht und bestätigte alles.

Alma hatte Zimmer und Küche. Dahinter kam eine zweite Wohnung, ebenso primitiv, in der, wenn ich den Namen richtig behalten habe, ein Graf Brodczinski mit seinem Sohne wohnte. Der alte Graf – der übrigens vielleicht bloß Edelmann und nur durch das Sensationsbedürfnis Almas und ähnlicher Hausinsassen auf eine höhere Rangstufe gehoben war – war wahrscheinlich Militär gewesen, wenigstens sprach seine Haltung dafür. Es war ein auffallend schöner alter Herr, der in seinem Bettlermantel mich immer an Almagro, der damals, ich war nicht wählerisch, mit unter meinen Lieblingshelden war, erinnerte. Besagter Almagro war eine Zeitlang so arm, daß er mit seinem Offizierkorps zusammen nur einen Mantel hatte, weshalb immer nur einer von ihnen sich vor der Welt sehen lassen konnte. Trotzdem hing ich an ihm, dem richtigen alten Almagro, ja, seine Bettlerschaft steigerte für mich seinen Konquistadorenreiz. Ähnlich erging es mir mit dem alten Brodczinski, betreffs dessen mir feststand, daß er, eh er arm wurde, bei Grochow und Ostrolenka Wunder der Tapferkeit verrichtet haben müsse. Brodczinski, den ich mit allem möglichen Romantischen umkleidete, war übrigens auch Samariter, wobei der Umstand, daß seine Samariterdienste nur seinem Sohne galten, mich nicht störte. Dieser Sohn, ein schöner Mann wie der Vater, war ein Sterbender, in den letzten Stadien der Schwindsucht. Und doch mußte sein Leben, wenn möglich mit allen Mitteln, erhalten werden, denn an seiner Existenz hing auch die des Vaters. Er, der junge Graf, hatte, solange er noch körperlich und geistig bei Kräften war, eine doppelte Einnahmequelle gehabt, als Dichter und als Liebhaber, ein Fall, der öfter vorkommt, wenn Dichter und Liebhaber demselben Gegenstande dienen. Bei dem jungen Grafen aber war alles in einer scharfen Zweiteilung aufgetreten. Seine Liebe hatte sich einer reichen Witwe, seine Dichtung dagegen einer Anzahl älterer Prinzessinnen zugewandt, die, solange es irgendwie ging, mit Loyalitätssonetten überschwemmt worden waren. Es muß dabei übrigens gesagt werden, daß sich alle bei der Sache Beteiligten, also zunächst die Witwe, dann aber auch die Prinzessinnen, in einer gewissen schönen Menschlichkeit bewährten und ihren armen Grafen nicht fallenließen, als längst weder von Liebe noch von loyalen Huldigungen die Rede sein konnte. Verhältnismäßig häufig – und alle Hausbewohner liefen dann zusammen – erschienen königliche Lakaien, um einen Brief samt Geldgeschenk abzugeben, noch viel häufiger aber fuhr die reiche Witwe vor und ließ durch ihren Diener allerlei Speisen und Weine bei dem armen Kranken abgeben. Alles war dann gerührt, am meisten Alma.

Wirklich, an Guttat und Pflege gebrach es nicht. Es war aber umsonst, und eines Tages hieß es, der junge Graf sei gestorben. Dem war auch so, und alles, was sich auf Hof und Flur traf, erörterte die Frage, ob wohl eine königliche Kutsche folgen würde. Die Mehrzahl war dafür. Aber es kam alles ganz anders und nach meinem Gefühl viel interessanter. Der alte Graf, der, seiner Heldenschaft unbeschadet, viel von einem Komödianten hatte, konnte sich im Feierlichen nicht genug tun und beschloß, seinen Toten öffentlich auszustellen, was die Polizei sonderbarerweise zuließ oder vielleicht auch erst zu spät erfuhr. Jedenfalls fand ich, als ich am zweiten Tage mittags aus der Schule kam, den jungen Grafen auf unsrem Hausflur parademäßig aufgebahrt. Auf zwei wackligen alten Kisten stand der offene Sarg, und jeder, der das Haus betrat, mußte hart an dem Toten vorüber. Ich erschrak nicht wenig und verzichtete den ganzen Tag über auf jede Mahlzeit. Es war mir aber eine noch größere Gemütsbewegung vorbehalten, und die Veranlassung dazu war das Folgende. Gegen Mitternacht kam ein oben in der Mansarde wohnender Einlieger, ein sogenannter Schlafstelleninhaber, in einem sehr angeheiterten Zustande nach Haus, und an den Toten nicht denkend, vielmehr lediglich mit der Frage beschäftigt: »Wie komm' ich die vier Treppen hinauf?«, war er im Halbdunkel ahnungslos gegen den wackligen Aufbau gerannt und hatte den Sarg zu Falle gebracht. Am andern Morgen war alles fort, die Polizei hatte dem Unfug, der es war, schließlich ein Ende gemacht; aber ich konnte das Grauen nicht loswerden, ohne doch geradezu Augenzeuge von dem Bilde gewesen zu sein.

 

Ich war Ostern in eine höhere Klasse versetzt worden und hatte den aufrichtigen Willen, fleißig und ordentlich zu sein. Aber es kam nicht dazu. Nach dieser Seite ging mir immer alles verquer, oft ohne jede Schuld von meiner Seite. So wenigstens war es diesmal. Onkel August kam um Pfingsten auf die Idee, ganz in Nähe von Berlin eine Sommerwohnung zu mieten, und wählte dazu das eine gute Viertelstunde vor dem Oranienburger Tor gelegene Liesensche Lokal oder, wie man damals sagte: »bei Liesens«. Der Weg von da bis in meine Schule dauerte gerad eine Stunde. Das war nun wirklich keine Kleinigkeit. Aber was wollte diese Stunde besagen im Vergleich zu der Zumutung, die jeder Mittwoch und Sonnabend noch extra an mich stellte. Mittwoch und Sonnabend waren die Tage, wo wir mit unserm naturwissenschaftlichen Lehrer, dem Oberlehrer Ruthe, botanische Exkursionen zu machen hatten, die, weil Ruthe am Ausgange der Köpnicker Straße wohnte, regelmäßig nach Treptow und am liebsten nach Britz und der Rudower Wiese hin unternommen wurden. Ich war immer gern dabei, was ein klein wenig mit Ruthes Persönlichkeit zusammenhing. Wenn wir auf den Latten einer Dorfkegelbahn saßen und unsre Milch verzehrten, ließ Ruthe, der eine Art Naturmensch war, regelmäßig den Lehrer fallen und spielte sich auf den Rousseauschen Philanthropen und Jugenderzieher aus. Er berührte dann gern Sittlichkeitsfragen. »Ja, meine lieben jungen Freunde, Botanik ist gut, und Naturwissenschaften sind gut. Aber das wichtigste bleibt doch der sittliche Mensch. Ich würde Ihnen gerne davon erzählen, hier jetzt gleich und auch in der Klasse. Sie würden davon mehr haben als von Vielem andrem. Aber ich darf es nicht.« Dies richtete sich gegen den Direktor, den alten Klöden, der, glaub' ich, hinter Ruthes Sittlichkeitsanschauungen ein großes Fragezeichen machte. Nun also, Ruthe war ein prächtiger Mann, trotzdem er uns das »Rätsel des Lebens« immer schuldig blieb, aber wenn ich ihn auch noch mehr geliebt hätte: daß er von der Rudower Wiese nicht loskonnte, das war doch etwas Schreckliches für mich. Denn wenn er in seiner Köpnicker Straße war und der Rest meiner Kameraden es wenigstens nicht mehr allzuweit bis nach Hause hatte, dann fing für mich das Vergnügen erst an, dann mußt' ich mit nur zu oft wundgelaufenen Füßen – Stiefel, in die meine Hacken hineingepaßt hätten, hatte ich fast nie – von der Köpnicker Straße noch bis »zu Liesens« laufen, was wenigstens anderthalb Stunden dauerte. Zuletzt angekommen, hatte ich noch die Pflanzen in Löschblätter zu legen und fiel dann todmüde ins Bett. Man male sich aus, mit welcher Freudigkeit ich dann am Donnerstagmorgen in die Schule ging. Es ging einfach über meine Kräfte.

Die Folge dieser »Liesenschen Sommerfrische« war denn auch, daß ich mehr und mehr in Bummelei verfiel und mich daran gewöhnte, die erste Stunde von acht bis neun zu schwänzen, was sehr gut ging, weil der französische Professor, der an wenigstens drei Schulen Unterricht gab, sich den Teufel darum kümmerte, wer da war und wer nicht. Und wie der Löwe, wenn er erst Blut geleckt, nicht säuberlich innehält, so war auch mir bald die Stunde von acht bis neun viel zuwenig, und binnen kurzem hatt' ich es dahin gebracht, mich halbe Wochen lang in und außerhalb der Stadt herumzutreiben. Es empfahl sich das auch dadurch, daß sich bei solchen Tagesschwänzungen leichter von »Krankheit« sprechen ließ. Und das Vierteljahr von Oktober bis Weihnachten war die schönste Zeit dazu.

Das Verwerfliche darin war mir ganz klar, aber man findet immer etwas, sein Gewissen zu beschwichtigen. Und in der Jugend natürlich erst recht. Ich redete mir also ein, es sei mein Beruf, binnen kurzem »Botaniker« zu werden, und für einen solchen sei ein regelmäßiges Abpatrouillieren von Grunewald und Jungfernheide viel, viel wichtiger als eine Stunde bei dem Deutschgrammatiker Philipp Wackernagel, der uns – ich glaube sogar zum Auswendiglernen – unzählige Beiwörter auf »ig« und »ich« in unser Heft diktierte. Noch jetzt blick' ich mit Schrecken darauf zurück. Was er, Wackernagel, ein ausgezeichneter Mann und Gelehrter von Ruf, sich eigentlich dabei gedacht hat, weiß ich bis diese Stunde nicht. Also Grunewald und Jungfernheide nahmen mich auf, und wenn ich es an dem einen Tage mit den Rehbergen oder mit Schlachtensee versucht hatte, so war ich tags darauf in Tegel und lugte nach dem Humboldtschen »Schlößchen« hinüber, von dem ich wußte, daß es allerhand Schönes und Vornehmes beherberge. Nebenher war ich aber auch wirklich auf der Suche nach Moosen und Flechten und bildete mich auf diese Weise zu einem kleinen Kryptogamisten aus. Nicht allzusehr zu verwundern; Moose sind nämlich, wenn sie blühen, etwas tatsächlich ganz Wunderhübsches. Gegen ein Uhr war ich dann meist wieder zu Haus, aß mit beneidenswertem, durch Gewissensbisse nicht wesentlich gestörten Appetit und sah mich, wenn ich von Tisch aufstand, nur noch der Frage gegenüber, wie die zwei verbleibenden Nachmittagsstunden geschickt unterzubringen seien. Aber auch das ging. An der Ecke der Schönhauser- und Weinmeisterstraße, will also sagen an einer Stelle, wohin Direktor Klöden und die gesamte Lehrerschaft nie kommen konnten, lag die Konditorei meines Freundes Anthieny, der der Stehely jener von der Kultur noch unberührten Ostnordostgegenden war. Da trank ich dann, nachdem ich vorher einen Wall klassisch-zeitgenössischer Literatur: den »Beobachter an der Spree«, den »Freimütigen«, den »Gesellschafter« und vor allem mein Leib- und Magenblatt, den »Berliner Figaro«, um mich her aufgetürmt hatte, meinen Kaffee. Selige Stunden. Ich vertiefte mich in die Theaterkritiken von Ludwig Rellstab, las Novellen und Aufsätze von Gubitz und vor allem die Gedichte jener sechs oder sieben jungen Herren, die damals – vielleicht ohne viel persönliche Fühlung untereinander – eine Berliner Dichterschule bildeten. Unter ihnen waren Eduard Ferrand, Franz von Gaudy, Julius Minding und August Kopisch die weitaus besten, Talente, die sich denn auch, trotz allem Wandel der Zeiten, bis diese Stunde behauptet haben. Der am ehesten Zurückgetretene – Ferrand; er starb sehr früh – war vielleicht am hervorragendsten. Eins seiner schönsten Gedichte wurde Vorbild zu Georg Herweghs berühmt gewordenem: »Ich möchte hingehn wie das Abendrot«. Die Anlehnung ist in jedem Punkte unverkennbar. Bei Ferrand heißt es: »Ich möchte sterben jener Wolke gleich«, eine Wendung, die sich dann eingangs jeder neuen Strophe mit einer kleinen Änderung immer wiederholt.

Überblick' ich noch einmal jene vormittags im Grunewald und nachmittags bei Anthieny verbrachten Tage, Tage, die nicht bloß Bummeltage, sondern auch Tage voll Lug und Trug waren, so schreck' ich bei diesem Rückblick einigermaßen zusammen, ähnlich jenem »Reiter über den Bodensee«, dem sein fährlicher Ritt erst klar wurde, nachdem alle Gefahr hinter ihm lag. Ich erschrecke davor, sag' ich, und bitte meine jungen Leser, es mir nicht nachmachen zu wollen. Eine Gefahr war es, und sie läuft nicht immer so gnädig ab. Aber, nachdem ich der Gefahr nun mal entronnen, sprech' ich, aller Unrechtserkenntnis zum Trotz, doch auch wieder meine Freude darüber aus, der Schule dies Schnippchen geschlagen und meine ›Wanderungen durch die Mark Brandenburg‹ lange vor ihrem legitimen Beginn schon damals begonnen zu haben. Ich habe mich gesundheitlich sehr wohl dabei gefühlt und mich in den Nachmittagsstunden bei Freund Anthieny zu einem halben Literaturkundigen ausgebildet, derart, daß ich in der norddeutschen Lyrik jener dreißiger Jahre vielleicht besser beschlagen bin als irgendwer. Hätte ich statt dessen pflichtmäßig meine Schulstunden abgesessen, so wäre mein Gewissen zwar reiner geblieben, aber mein Wissen auch, und auf dem ohnehin wenig beschriebenen Blatte meiner Gesamtgelehrsamkeit würd' auch das wenige noch fehlen, was ich dem »Freimütigen«, dem »Gesellschafter« und dem »Figaro« von damals verdanke. Mein Vater, wenn ihm meine Mutter vorwarf, »er habe alles bloß aus dem Konversationslexikon«, antwortete regelmäßig: »Es ist ganz gleich, wo man's herhat.« Und dieser Ansicht möcht' ich mich anschließen.

Bei manchem meiner Leser wird sich nun wohl mittlerweile die Frage gemeldet haben: »Ja, wo war denn, als alles dies sich ereignete, der zur sittlichen Pflege für Sie bestellte Pensionsvater, wo war Onkel August?« Ach, der arme Onkel August! Der hatte seinen Kopf voll ganz andrer Dinge, denn das Gewitter, das wohl schon lange zu seinen Häupten gestanden haben mochte, ging, gerad als mein Bummeln auf der Höhe stand, mit Donner und Blitz auf ihn nieder. Ein Glück, daß das Hereinbrechen der Katastrophe fast mit meinem Abgang aus seinem Hause zusammenfiel. Der Tag steht mir noch deutlich vor der Seele.

Ich kam aus der Schule, diesmal wirklich aus der Schule, und freute mich, in Coopers »Spion«, der mir gerade kurz vorher in die Hände gefallen war, weiterlesen zu können. Aber die Situation, die meiner gleich beim Eintritt in die Vorderstube harrte, ließ mich schnell erkennen, daß hier an Romanlesen nicht zu denken sei, vielmehr ein lebendiges Romankapitel sich vor mir abzuspielen beginne. Mein Onkel August, wie mir hier nachträglich einzuschalten bleibt, hatte sich, etwa fünf, sechs Monate zurück, in ziemlich rätselhafter Weise zum Vormund und Vermögensverwalter einiger Anverwandtenkinder ernannt gesehen, und an dem hier von mir zu schildernden Tage war ein mit höheren Vollmachten ausgerüsteter und wohl auch schon gut unterrichteter Freund des Anverwandtenhauses, ein Artilleriemajor, in pontificalibus erschienen, um zu recherchieren, eventuell das Vermögen der Onkel Augustschen Mündel wieder in Empfang zu nehmen. Aber wo nichts ist, hat auch der Kaiser sein Recht verloren. Nur die Tante war, als ich eintrat, zugegen. Ein Tisch war aufgeklappt, und auf der blanken Mahagoniplatte standen Schachteln und Sparbüchsen umher, auch einige Schmucketuis, während der Raum dazwischen mit minderwertigen, ganz gleichgültigen Geldstücken ausgefüllt war. Der Major überzählte rasch, was da lag, und seine sich wie im Unmut mit hin und her bewegenden Kantillen drückten nur zu deutlich aus, daß auch dies »letzte Aufgebot« kleiner Münze ganz außerstande war, die Rechnung zu begleichen. Die Tante ihrerseits suchte durch eine merkwürdige Mischung von Liebenswürdigkeit und Würde, worauf sie sich überhaupt gut verstand, für das Defizit aufzukommen, aber der unerbittliche Stabsoffizier wollte von diesen doch nur eine Hinausschiebung bezweckenden Mittelchen nichts wissen, und so wurde mir denn der Auftrag, den mutmaßlich nach allerhand letzten Hülfen ausschauenden Onkel herbeizurufen. Ich fand ihn auch in der nach hinten hinaus liegenden Küche, kam aber nicht dazu, meinen Auftrag an ihn auszurichten. Denn vor ihm stand Charlotte, die zwerghafte Person mit dem Vogelgesicht und dem Doppelbuckel. Und wie stand sie vor ihm! Als der Zwergin bei der sich in den Vorzimmern abspielenden Szene die Gesamtlage klargeworden war, war ihr auch sofort zum Bewußtsein gekommen, daß ihr eigenes, aus mehreren hundert Talern bestehendes Vermögen, das sie meinem Onkel, natürlich auf dessen Beschwatzungen, anvertraut hatte, mit verloren sei, und dies ihr Erspartes, um das sie gelebt und gearbeitet, jetzt mit vor Wut zitternder Stimme von ihm zurückfordernd, überschüttete sie ihn mit Verwünschungen und Flüchen.

Mir lief es kalt über den Rücken.

Alles nahm einen elenden Ausgang, und ich war froh, daß ich drei Tage später das Haus verlassen und in anständige, wohlgeordnete Lebensverhältnisse – meine Lehrjahre begannen – eintreten konnte.


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