Theodor Fontane
Unwiederbringlich
Theodor Fontane

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Dreizehntes Kapitel

Punkt zwei und ein halb fuhren die Wagen vor, offen, das Verdeck zurückgeschlagen; neben der Prinzessin nahm die Gräfin Schimmelmann Platz, beiden Damen gegenüber Holk. Im Fond des zweiten Wagens saß das Fräulein von Rosenberg, auf dem Rücksitz Pentz und Erichsen.

Die Schimmelmann, eine Dame von vierzig, erinnerte einigermaßen an Erichsen; sie war hager und groß wie dieser und von einem ähnlichen Ernste; während Erichsens Ernst aber einfach ins Feierliche spielte, spielte der der Schimmelmann stark ins Verdrießliche. Sie war früher Hofschönheit gewesen, und die dann und wann aufblitzenden schwarzen Augen erinnerten noch daran; alles andere aber war in Migräne und gelbem Teint untergegangen. Man sprach von einer unglücklichen Liebe. Gesamthaltung: Hof Philipps von Spanien, so daß man unwillkürlich nach der Halskrause suchte. Sonst war die Gräfin gut und charaktervoll und unterschied sich von den anderen bei Hofe dadurch sehr vorteilhaft, daß sie gegen alles Klatschen und Medisieren war. Sie sagte den Leuten die Wahrheit ins Gesicht, und wenn sie das nicht konnte, so schwieg sie. Sie war nicht geliebt, aber sehr geachtet, und verdiente es auch.

Im ersten Wagen wurde, solange man innerhalb der Stadt war, kein Wort gesprochen; Holk und die Schimmelmann saßen aufrecht einander gegenüber, während sich die Prinzessin in den Fond zurückgelehnt hatte. So ging es durch die Bred- und Ny-Öster-Gade zunächst auf die Österbroër Vorstadt, und als man diese passiert, auf den am Sunde hinlaufenden Strandweg zu. Holk war entzückt von dem Bilde, das sich ihm darbot: unmittelbar links die Reihe schmucker Landhäuser mit ihren jetzt herbstlichen, aber noch immer in Blumen stehenden Gärten und nach rechts hin die breite, wenig bewegte Wasserfläche mit der schwedischen Küste drüben und dazwischen Segel- und Dampfboote, die nach Klampenborg und Skodsborg und bis hinauf nach Helsingör fuhren.

Holk würde sich diesem Anblick noch voller hingegeben haben, wenn nicht das Leben auf der Chaussee, drauf sie hinfuhren, ihn von dem Landschaftlichen immer wieder abgezogen hätte. Fuhrwerke mannigfachster Art kamen ihnen nicht bloß entgegen, sondern überholten auch die Prinzessin, die, wenn sie Spazierfahrten machte, kein allzu rasches Tempo liebte. Da gab es dann in einem fort Begegnungen und Erkennungsmomente. »Das war ja Marstrand«, sagte die Prinzessin. »Und wenn ich recht gesehen habe, neben ihm Worsaae. Der fehlt auch nie. Was will er nur bei dem de-Meza-Fest? De Meza soll gefeiert, aber nicht ausgegraben werden. Er lebt noch und hat auch nicht einmal das Maß für Hünengräber.« Es schien, daß die Prinzessin dies Thema noch weiter ausspinnen wollte; sie kam aber nicht dazu, weil im selben Augenblicke mehrere Offiziere bis ganz in die Nähe des Wagens gekommen waren und die Prinzessin von links und rechts her zu kotoyieren begannen. Unter diesen war auch Oberstleutnant Tersling, unser Bekannter von Vincents Restaurant her, ein schöner großer Mann von ausgesprochen militärischen Allüren. Er sah sich mit besonderer Freundlichkeit seitens der Prinzessin begrüßt und erkundigte sich seinerseits nach dem Befinden derselben.

»Es geht mir gut, doppelt gut an einem Tage wie heute. Denn ich höre, daß Sie und die anderen Herren de Meza ein Fest geben wollen. Das hat mich herausgelockt, ich will mit dabei sein.«

Tersling lächelte verlegen, und die Prinzessin, die sich dessen freute, fuhr erst nach einer Weile fort: »Ja, mit dabei sein; aber erschrecken Sie nicht, lieber Tersling, nur an der Peripherie. Wenn Sie den Toast auf den König oder den zu Feiernden ausbringen, werd ich mich mit meiner lieben Gräfin hier und mit Ebba Rosenberg, die Sie wohl schon in dem zweiten Wagen gesehen haben werden, in unserem Klampenborger Tiergarten ergehen und mich freuen, wenn das Hoch gut dänischer Kehlen zu mir herüberklingt. Übrigens bitte ich Sie, de Meza meine Grüße zu bringen und ihm sagen zu wollen, daß ich immer noch an alter Stelle wohne. Generäle sind freilich nie leicht zu Hofe zu bringen, und wenn sie gar noch Beethoven Konkurrenz machen und Symphonien komponieren, so ist es vollends vorbei damit; indessen, wenn er von Ihnen hört, daß ich Idstedt immer noch in gutem Gedächtnis habe, so hält er es vielleicht für der Mühe wert, sich meiner zu erinnern. Und nun will ich Sie nicht länger an diesen Wagenschlag fesseln.«

Tersling küßte der Prinzessin die Hand und eilte, die versäumte Zeit wieder einzubringen; die Prinzessin aber, während sie sich zu Holk wandte, fuhr fort: »Dieser Tersling, schöner Mann: er war einmal Prinzessinnentänzer und Kavalier comme il faut, die spitzeste Zunge, der spitzeste Degen, und Sie werden sich vielleicht noch des Duells erinnern, das er schon vor 48 mit Kapitän Dahlberg hatte? Dahlberg kam damals mit einem Streifschuß am Hals davon, aber nun liegt er lange schon vor Friderizia. Pardon, liebe Schimmelmann, daß ich dies alles in Ihrer Gegenwart berühre; mir fällt eben ein, Sie waren selbst die Veranlassung zu dem Duell. Offen gestanden, ich wüßte gern mehr davon. Aber nicht heute, das ist Frauensache.«

Holk wollte seine Diskretion versichern, und daß er Dinge, die nicht direkt für ihn gesprochen würden, überhaupt gar nicht höre; die Prinzessin blieb aber bei ihrem Satz und sagte: »Nein, nichts heute davon, verschieben wir's! Und dann Diskretion, lieber Holk, das ist ein langes und schweres Kapitel. Ich beobachte diese Dinge nun seit fünfundfünfzig Jahren, denn mit fünfzehn wurd ich schon eingeführt.«

»Aber Königliche Hoheit werden sich doch der Diskretion Ihrer Umgebung versichert halten.«

»Gott sei Dank, nein«, erwiderte die Prinzessin. »Und Sie können sich gar nicht vorstellen, mit wieviel Ernst ich das sage. Diskretion à tout prix kommt freilich vor, aber gerade wenn sie so bedingungslos vorkommt, ist sie furchtbar; sie darf eben nicht bedingungslos auftreten. Die Menschen, und vor allem die Menschen bei Hofe, müssen durchaus ein Unterscheidungsvermögen ausbilden, was gesagt werden darf und was nicht; wer aber dies Unterscheidungsvermögen nicht hat und immer nur schweigt, der ist nicht bloß langweilig, der ist auch gefährlich. Es liegt etwas Unmenschliches darin, denn das Menschlichste, was wir haben, ist doch die Sprache, und wir haben sie, um zu sprechen . . . Ich weiß, daß ich meinerseits einen ausgiebigen Gebrauch davon mache, aber ich schäme mich dessen nicht, im Gegenteil, ich freue mich darüber.«

*

In dem zweiten Wagen hatte man ähnliche Begegnungen und Begrüßungen gehabt; aber das Hauptgespräch drehte sich doch um Holk, bei welcher Gelegenheit Pentz von dem Fräulein von Rosenberg erfahren wollte, wie der Graf ihr bei der Vormittagsaudienz eigentlich gefallen habe. Erichsen mischte sich in diese Fragen und Antworten nicht mit ein, hörte aber doch aufmerksam zu, weil er solche Schraubereien sehr liebte, vielleicht um so mehr, je mehr er seine persönliche Unfähigkeit dazu empfand.

»Er ist ein Schleswig-Holsteiner«, sagte Ebba. »Die Deutschen sind keine Hofleute . . .«

Pentz lachte. »Da merkt man nun aber wirklich, meine Gnädigste, daß Dänemark nicht den Vorzug genießt, Sie geboren zu haben. Die Schleswig-Holsteiner keine Hofleute! Die Randzaus, die Bernstorffs, die Moltkes . . .«

»Waren Minister, aber keine Hofleute.«

»Das ist aber doch nahezu dasselbe.«

»Mit nichten, mein lieber Baron. Ich lese viel Geschichte, wenn auch nur aus französischen Romanen, aber für eine Hofdame muß das ausreichen, und ich wage die Behauptung, daß ein Gegensatz existiert zwischen einem Minister und einem Hofmann. Wenigstens dann, wenn jeder seinen Namen ehrlich verdienen soll. Die Deutschen haben ein gewisses brutales Talent zum Regieren – gönnen Sie mir das harte Beiwort, denn ich kann die Deutschen nicht leiden –, aber gerade weil sie zu regieren verstehen, sind sie schlechte Hofleute. Das Regieren ist ein grobes Geschäft. Fragen Sie Erichsen, ob ich recht habe . . .«

Dieser nickte gravitätisch, und das Fräulein, das lachend darauf hinwies, fuhr fort: »Und das alles paßt mehr oder weniger auch auf den Grafen. Es ließe sich vielleicht ein Minister aus ihm machen . . .«

»Um Gottes willen . . .«

». . . Aber der Kavalier einer Prinzessin zu sein, dazu fehlt ihm nicht mehr als alles. Er steht da mit der Feierlichkeit eines Oberpriesters und weiß nie, wann er lachen soll. Und dies ist etwas sehr Wichtiges. Unsere gnädigste Prinzessin, ich denke, daß wir einig darüber sind, hat einige kleine Schwächen, darunter auch die, sich auf die geistreiche Frau des vorigen Jahrhunderts hinauszuspielen. Sie hat infolge davon eine Vorliebe für ältere Anekdoten und Zitate und verlangt, daß man beide nicht bloß versteht, sondern sie auch zustimmend belächelt. Aber von diesem ABC der Sache hat der Graf keine Vorstellung.«

»Und das haben Sie während einer Audienz von kaum zehn Minuten dem armen Grafen alles von der Stirn gelesen?«

»Ich weiß nicht, ob ich diesen Ausdruck gelten lassen darf, denn das Wesentliche lag darin, daß ihm, all die Zeit über, überhaupt nichts von der Stirn zu lesen war. Und das ist das Schlimmste. Da sprach beispielsweise die Prinzessin von König Heinrich dem Vierten und kam auf das ›Huhn im Topf‹, von dem man füglich nicht mehr sprechen sollte. Aber gerade, weil es so schwach mit diesem Huhn steht, hat ein Hofmann doppelt die Verpflichtung, zu lächeln und nicht leblos dabei zu stehen und eine sich nach Beifall umsehende Prinzessin im Stich zu lassen.«

Über Erichsens ernstes Gesicht glitt ein stilles Behagen.

»Und dann sprach die Prinzessin huldvoll von meiner Bleichsucht oder, daß ich sie beinahe haben müßte. Nun, ich bitte Sie, Baron, bei Bleichsucht muß immer gelächelt werden, das ist einmal so herkömmlich, und wenn eine Prinzessin die Gnade hat, noch etwas vom ›Eisen im Blut‹ hinzuzusetzen und dadurch anzudeuten, daß sie Darwin oder irgendeinen anderen großen Forscher gelesen hat, so muß sich zu dem Heiterkeitslächeln auch noch ein Bewunderungslächeln gesellen, und wenn das alles ausbleibt und ein Kammerherr so nüchtern dasteht, als würde bloß zehn Uhr ausgerufen, so muß ich solchem Kammerherrn allen hofmännischen Beruf absprechen.«

*

Es war gegen vier, als man in Klampenborg hielt. Holk war der Prinzessin behilflich, und nachdem man die Frage, wo der Kaffee zu nehmen sei, zugunsten der ›Eremitage‹ entschieden hatte, brach man rasch nach dem unmittelbar angrenzenden Tiergarten auf, an dessen nördlichem Ende die Eremitage gelegen war. Der Weg dahin führte zunächst an einem großen Klampenborger Hotel vorüber, in dessen Front, auf einem zwischen Weg und Strand gelegenen Wiesenstreifen, ein wohl hundert Schritt langes, nach drei Seiten hin geschlossenes Leinwandzelt errichtet war. Die offene Seite lag gerade dem Wege zu, darauf die Prinzessin jetzt herankam. Das Festmahl selbst hatte noch nicht begonnen, aber zahlreiche, den verschiedensten Truppenteilen der Kopenhagener Garnison angehörige Offiziere waren bereits beisammen; überall sah man die glänzenden Uniformen sowohl der Leibgarde zu Pferde wie der Gardehusaren, und noch bunter als das Bunt der Uniformen waren die Flaggen und Wimpel, die zu Häupten des Zeltes wehten. Als die Prinzessin bis auf hundert Schritte heran war, bog sie scharf links in einen Kiesweg ein, weil sie die sichtlich unmittelbar vor der Eröffnung stehende Feierlichkeit nicht stören wollte; sie war aber bereits erkannt worden, und de Meza, den man auf ihr Erscheinen aufmerksam gemacht hatte, säumte nicht über den Lawn heranzukommen und die Prinzessin respektvollst zu begrüßen.

»Lieber General«, sagte diese, »so war es nicht gemeint. Eben schlägt es vier, und ich sehe bereits, wie sich die Suppenkolonne vom Hotel her in Bewegung setzt. Und eine kalt gewordene Suppe, das mag ich nicht verantworten. Am wenigsten an einem Oktobertage mit frischer Brise. Das liebt General de Meza nur ausnahmsweise, nur wenn er zu Felde zieht und mit seinen Leuten im Biwak liegt.«

Sie sagte das alles mit einer gewissen prinzeßlichen Grazie, worauf sie den General, der nicht unempfindlich dagegen war, unter erneuten Huldbeweisen entließ. Vom Zelt her aber klangen allerlei Hochs, und die Musik intonierte das nationale ›König Christian stand am hohen Mast‹, bis es in den ›dappren Landsoldaten‹ überging.

*

Und nun hatte die Prinzessin samt Gefolge den Tiergarten erreicht, der gleich hinter Klampenborg mit seiner Südspitze die Chaussee berührte. Hier gab sie Erichsen ihren Arm. Dann folgte die Schimmelmann mit Pentz, weiter zurück Holk mit Ebba, Holk in sichtlicher Verlegenheit, wie das Gespräch einzuleiten sei. Denn ihm war nicht entgangen, daß er am Vormittage, während der Audienz bei der Prinzessin, von Seiten Ebbas mit einem leisen Anfluge von Spott und Überlegenheit beobachtet worden war; während der Nachmittagsfahrt aber hatte sich die Gelegenheit zu irgendwelcher Anknüpfung noch nicht finden lassen wollen.

Endlich begann er: »Wir werden einen wundervollen Sonnenuntergang haben. Und kein schönerer Platz dazu als dieser. Diese prächtige Plaine! Es sind jetzt sieben Jahre, daß ich in Klampenborg war, und in der Eremitage nie.«

»Schreckte Sie der Name?«

»Nein. Denn ich bin meiner Neigung und Lebensweise nach mehr oder weniger Eremit, und wäre nicht die Prinzessin, die mich dann und wann in die Welt ruft, ich könnte mich den Eremiten von Holkenäs nennen. Himmel und Meer und ein einsames Schloß auf der Düne.«

»Auf der Düne«, wiederholte das Fräulein. »Und ein einsames Schloß. Beneidenswert und romantisch. Es liegt so was Balladenhaftes darin, so was vom König von Thule. Freilich der König von Thule, wenn mir recht ist, war unverheiratet.«

»Ich weiß doch nicht«, sagte Holk, den der Ton des Fräuleins aus aller Verlegenheit riß. »Ich weiß doch nicht. Wirklich eine Doktorfrage. War er unverheiratet? Wenn mir recht ist, heißt es, er gönnte alles seinen Erben, was doch auf Familie zu deuten scheint. Freilich, es kann eine Nebenlinie gewesen sein. Trotzdem möchte ich vermuten, er war verheiratet und im Besitz einer klugen Frau, die dem Alten, über den sie vielleicht, oder sagen wir sehr wahrscheinlich, lächelte, seine Jugendschwärmerei mit dem Becher gönnte.«

»Das läßt sich hören«, sagte das Fräulein, während ihr der Übermut aus den Augen lachte. »Sonderbar. Bisher erschien mir die Ballade so rund und abgeschlossen wie nur möglich: der König tot, der Becher getrunken und gesunken und das Reich (vom Balladenstandpunkte aus immer das Gleichgültigste) jedem gegönnt und an alle verteilt. Aber wenn wir an das Vorhandensein einer Königin glauben, und ich stehe darin nachträglich ganz auf Ihrer Seite, so fängt die Sache mit dem Tode des Alten erst recht eigentlich an, und der ›König von Thule‹, das Geringste zu sagen, ist unfertig und fortsetzungsbedürftig. Und warum auch nicht? Ein Page wird sich am Ende doch wohl finden lassen, der sich bis dahin verzehrt hat und nun wieder Farbe kriegt oder ›Eisen im Blut‹, um mit einem Zitat unserer gnädigsten Prinzessin zu schließen.«

»Ach, meine Gnädigste«, sagte Holk, »Sie spotten über Romantik und vergessen dabei, daß Ihr eigner Name mit einem sehr romantischem Hergange, der wohl eine Ballade verdient hätte, verflochten ist.«

»Mein Name?« lachte das Fräulein. »Und mit einem romantischen Hergange verflochten? Bezieht es sich auf Ebba? Nun, das würde sich hören lassen, das ginge; denn schließlich laufen alle Balladen auf etwas Ebba hinaus. Ebba ist Eva, wie Sie wissen, und bekanntlich gibt es nichts Romantisches ohne den Apfel. Aber ich sehe, Sie schütteln den Kopf und meinen also nicht Ebba und nicht Eva, sondern Rosenberg.«

»Gewiß, mein gnädigstes Fräulein, ich meine Rosenberg. Genealogisches zählt nämlich zu meinen kleinen Liebhabereien, und die zweite Frau meines Großonkels war eine Rosenberg; so bin ich denn in Ihre Geschlechtssagen einigermaßen eingeweiht. Alle Rosenbergs, wenigstens alle die, die sich Rosenberg-Gruszczynski nennen, bei den Lipinskis steht es aber anders, stammen von einem Bruder des Erzbischofs Adalbert von Prag, der, an der sogenannten Bernsteinküste, von der Kanzel herabgerissen und von den heidnischen Preußen erschlagen wurde. Diese Kanzel, wenn auch zerstückelt und zermürbt, existiert noch und ist das Palladium der Familie . . .«

»Wovon ich leider noch nie gehört habe«, sagte das Fräulein in anscheinendem oder vielleicht auch wirklichem Ernste.

»Woraus mir nur hervorgehen würde, daß Sie, statt dem Gruszczynskischen, wahrscheinlich dem Lipinskischen Zweige der Familie zugehören.«

»Zu meinem Bedauern auch das nicht. Freilich, wenn ich Lipinski mit Lipesohn übersetzen darf, ein Unterfangen, das mir die berühmte Familie verzeihen wolle, so würde sich, von dem in dieser Form auftretenden Namen aus, vielleicht eine Brücke zu mir und meiner Familie herüber schlagen lassen. Ich bin nämlich eine Rosenberg-Meyer oder richtiger eine Meyer-Rosenberg, Enkelstochter des in der schwedischen Geschichte wohlbekannten Meyer-Rosenberg, Lieblings- und Leibjuden König Gustavs III.«

Holk schrak ein wenig zusammen; das Fräulein aber fuhr in einem affektiert ruhigen Tone fort: »Enkeltochter Meyer-Rosenbergs, den König Gustav später unter dem Namen eines Baron Rosenberg nobilitierte, Baron Rosenberg von Filehne, welchem preußisch-polnischen Ort wir entstammen. Es war der Sitz unserer Familie durch mehrere Jahrhunderte hin. Und nun lassen Sie mich, da Sie sich für genealogisch Anekdotisches interessieren, noch in Kürze hinzusetzen, daß es mit diesem Nobilitierungsakte allerdings eilte, denn drei Tage später wurde der ritterliche und für unser Haus so unvergeßliche König von Leutnant Anckarström erschossen. Ein ebenso balladenhafter Hergang wie der ermordete Bischof, aber freilich nur im allerlosesten Zusammenhang mit meiner Familie. Sie dürfen mich aber darum nicht aufgeben. Über all das ist Gras gewachsen, und mein Vater verheiratete sich bereits mit einer Wrangel, noch dazu in Paris, wo ich auch geboren bin, und zwar am Tage der Julirevolution. Einige sagen, man merke mir's an. Unter allen Umständen aber können Sie mein Alter danach berechnen.«

Holk war krasser Aristokrat, der nie zögerte, den Fortbestand seiner Familie mit dem Fortbestand der göttlichen Weltordnung in den innigsten Zusammenhang zu bringen, und der im gewöhnlichen Verkehr über diese Dinge nur schwieg, weil es ihm eine zu heilige Sache war. Er war in diesem Punkte für Wiedereinführung aller nur möglichen Mittelalterlichkeiten, und einer je strengeren Ahnenprobe man ihn und die Seinen unterworfen hätte, je lieber wäre es ihm gewesen, denn um so glänzender wäre sein Name daraus hervorgegangen. Seine leichten und angenehmen, auch die bürgerliche Welt befriedigenden Umgangsformen waren nichts als ein Resultat seines sich Sicherfühlens in dieser hochwichtigen Angelegenheit. Aber so sicher er über seinen eignen Stammbaum war, so zweifelvoll verhielt er sich gegen alle andern, die fürstlichen Häuser nicht ausgeschlossen, was denn auch Grund war, daß man über all derlei Dinge sehr frei mit ihm sprechen konnte, wenn nur die Holks außer Frage blieben. Und so geschah's denn auch heute, daß er sich von dem ersten Schreck, den ihm der schwedische Rosenberg mit seinem unheimlichen Epitheton ornans eingejagt hatte, nicht nur rasch erholte, sondern es sogar höchst pikant fand, diese doch in der Mehrzahl der Fälle nicht leicht genug zu nehmende Frage von einer augenscheinlich so klugen Person auch wirklich leicht behandelt zu sehen.

 


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