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Es schlug Mitternacht, als Schach in Wuthenow eintraf, an dessen entgegengesetzter Seite das auf einem Hügel erbaute, den Ruppiner See nach rechts und links hin überblickende Schloß Wuthenow lag. In den Häusern und Hütten war alles längst in tiefem Schlaf, und nur aus den Ställen her hörte man noch das Stampfen eines Pferdes oder das halblaute Brüllen einer Kuh.
Schach passierte das Dorf und bog am Ausgang in einen schmalen Feldweg ein, der, allmählich ansteigend, auf den Schloßhügel hinaufführte. Rechts lagen die Bäume des Außenparks, links eine gemähte Wiese, deren Heugeruch die Luft erfüllte. Das Schloß selbst aber war nichts als ein alter, weißgetünchter und von einer schwarzgeteerten Balkenlage durchzogener Fachwerkbau, dem erst Schachs Mutter, die ›verstorbene Gnädige‹, durch ein Doppeldach, einen Blitzableiter und eine prächtige, nach dem Muster von Sanssouci hergerichtete Terrasse das Ansehen allernüchternster Tagtäglichkeit genommen hatte. Jetzt freilich, unter dem Sternenschein, lag alles da wie das Schloß im Märchen, und Schach hielt öfters an und sah hinauf, augenscheinlich betroffen von der Schönheit des Bildes.
Endlich war er oben und ritt auf das Einfahrtstor zu, das sich in einem flachen Bogen zwischen dem Giebel des Schlosses und einem danebenstehenden Gesindehause wölbte. Vom Hof her vernahm er im selben Augenblick ein Bellen und Knurren und hörte, wie der Hund wütend aus seiner Hütte fuhr und mit seiner Kette nach rechts und links hin an der Holzwandung umherschrammte.
»Kusch dich, Hektor.« Und das Tier, die Stimme seines Herrn erkennend, begann jetzt vor Freude zu heulen und zu winseln und abwechselnd auf die Hütte hinauf- und wieder hinunterzuspringen.
Vor dem Gesindehause stand ein Walnußbaum mit weitem Gezweige. Schach stieg ab, schlang den Zügel um den Ast und klopfte halblaut an einen der Fensterladen. Aber erst als er das zweitemal gepocht hatte, wurde es lebendig drinnen, und er hörte von dem Alkoven her eine halb verschlafene Stimme:
»Wat is?«
»Ich, Krist.«
»Jott, Mutter, dat's joa de junge Herr.«
»Joa, dat is hei. Steih man upp un mach flink.«
Schach hörte jedes Wort und rief gutmütig in die Stube hinein, während er den nur angelegten Laden halb öffnete: »Laß dir Zeit, Alter.«
Aber der Alte war schon aus dem Bette heraus und sagte nur immer, während er hin und her suchte: »Glieks, junger Herr, glieks. Man noch en beten.«
Und wirklich nicht lange, so sah Schach einen Schwefelfaden brennen und hörte, daß eine Laternentür auf- und wieder zugeknipst wurde. Richtig, ein erster Lichtschein blitzte jetzt durch die Scheiben, und ein paar Holzpantinen klappten über den Lehmflur hin. Und nun wurde der Riegel zurückgeschoben, und Krist, der in aller Eile nichts als ein leinenes Beinkleid übergezogen hatte, stand vor seinem jungen Herrn. Er hatte vor manchem Jahr und Tag, als der alte ›Gnädige Herr‹ gestorben war, den durch diesen Todesfall erledigten Ehren- und Respektstitel auf seinen jungen Herrn übertragen wollen, aber dieser, der mit Krist das erste Wasserhuhn geschossen und die erste Bootfahrt über den See gemacht hatte, hatte von dem neuen Titel nichts wissen wollen.
»Jott, junge Herr, sunst schrewens doch ümmer ihrst, o'r schicken uns Baarschen o'r den kleenen inglischen Kierl. Un nu keen Wort nich. Awers ick wüßt et joa, as de Poggen hüt Oabend mit ehr Gequoak nich to Enn' koam' künn'n. ›Jei, jei, Mutter‹, seggt ick, ›dat bedüt' wat.‹ Awers as de Fruenslüd' sinn! Wat seggt se? ›Wat sall et bedüden?‹ seggt se, ›Regen bedüt et. Und dat's man gaud. Denn uns' Tüffeln brukent't.‹« »Ja, ja«, sagte Schach, der nur mit halbem Ohr hingehört hatte, während der Alte die kleine Tür aufschloß, die von der Giebelseite her ins Schloß führte. »Ja, ja. Regen ist gut. Aber geh nur vorauf.«
Krist tat, wie sein junger Herr ihm geheißen, und beide gingen nun einen mit Fliesen gedeckten, schmalen Korridor entlang. Erst in der Mitte verbreiterte sich dieser und bildete nach links hin eine geräumige Treppenhalle, während nach rechts hin eine mit Goldleisten und Rokokoverzierungen reich ausgelegte Doppeltür in einen Gartensalon führte, der als Wohn- und Empfangszimmer der verstorbenen Frau Generalin von Schach, einer sehr vornehmen und sehr stolzen alten Dame, gedient hatte. Hierher richteten sich denn auch die Schritte beider, und als Krist die halb verquollene Tür nicht ohne Müh und Anstrengung geöffnet hatte, trat man ein.
Unter dem vielen, was an Kunst- und Erinnerungsgegenständen in diesem Gartensalon umherstand, war auch ein bronzener Doppelleuchter, den Schach selber, vor drei Jahren erst, von seiner italienischen Reise mit nach Hause gebracht und seiner Mutter verehrt hatte. Diesen Leuchter nahm jetzt Krist vom Kamin und zündete die beiden Wachslichter an, die seit langem schon in den Leuchtertellern steckten und ihrerzeit der verstorbenen Gnädigen zum Siegeln ihrer Briefe gedient hatten. Die Gnädige selbst aber war erst seit einem Jahre tot, und da Schach von jener Zeit an nicht wieder hier gewesen war, so hatte noch alles den alten Platz. Ein paar kleine Sofas standen wie früher an den Schmalseiten einander gegenüber, während zwei größere die Mitte der Längswand einnahmen und nichts als die vergoldete Rokokodoppeltür zwischen sich hatten. Auch der runde Rosenholztisch (ein Stolz der Generalin) und die große Marmorschale, darin alabasterne Weintrauben und Orangen und ein Pinienapfel lagen, standen unverändert an ihrem Platz. In dem ganzen Zimmer aber, das seit langem nicht gelüftet war, war eine stickige Schwüle.
»Mach ein Fenster auf«, sagte Schach. »Und dann gib mir eine Decke. Die da.«
»Wullen's sich denn hier hen leggen, junge Herr?«
»Ja, Krist. Ich habe schon schlechter gelegen.«
»Ick weet. Jott, wenn de oll jnädge Herr uns doa vunn vertellen deih! Ümmer so platsch in'n Kalkmodder rin. Nei, nei, dat wihr nix för mi. ›Jott, jnädge Herr‹, seggt ick denn ümmer, ›ick gloob, de Huut geit em runner.‹ Awers denn lachte joa de oll jnädge Herr ümmer un seggte: ›Nei, Krist, uns' Huut sitt fast.‹«
Während der Alte noch so sprach und vergangener Zeiten gedachte, griff er zugleich doch nach einem breiten, aus Rohr geflochtenen Ausklopfer, der in einer Kaminecke stand, und versuchte damit das eine Sofa, das sich Schach als Lagerstätte ausgewählt hatte, wenigstens aus dem Gröbsten herauszubringen. Aber der dichte Staub, der aufstieg, zeigte nur das Vergebliche solcher Bemühungen, und Schach sagte mit einem Anfluge von guter Laune: »Störe den Staub nicht in seinem Frieden.« Und erst als er's gesprochen hatte, fiel ihm der Doppelsinn darin auf, und er gedachte der Eltern, die drunten in der Dorfkirche in großen Kupfersärgen und mit einem aufgelöteten Kruzifix darauf in der alten Gruft der Familie standen.
Aber er hing dem Bilde nicht weiter nach und warf sich aufs Sofa. »Meinem Schimmel gib ein Stück Brot und einen Eimer Wasser; dann hält er aus bis morgen. Und nun stelle das Licht ans Fenster, und laß es brennen . . . Nein, nicht da, nicht ans offene; an das daneben. Und nun gute Nacht, Krist. Und schließ von außen zu, daß sie mich nicht wegtragen.«
»Ih, se wihren doch nich . . .«
Und Schach hörte bald danach die Pantinen, wie sie den Korridor hinunterklapperten. Ehe Krist aber die Giebeltür noch erreicht und von außen her zugeschlossen haben konnte, legte sich's schwer und bleiern auf seines Herrn überreiztes Gehirn.
Freilich nicht auf lang. Aller auf ihm lastenden Schwere zum Trotz, empfand er deutlich, daß etwas über ihn hinsumme, ihn streife und kitzle, und als ein Sichdrehen und Wenden und selbst ein unwillkürliches und halbverschlafenes Umherschlagen mit der Hand nichts helfen wollte, riß er sich endlich auf und zwang sich ins Wachen zurück. Und nun sah er, was es war. Die beiden eben verschwelenden Lichter, die mit ihrem Qualme die schon stickige Luft noch stickiger gemacht hatten, hatten allerlei Getier vom Garten her in das Zimmer gelockt, und nur über Art und Beschaffenheit desselben war noch ein Zweifel. Einen Augenblick dachte er an Fledermäuse; sehr bald aber mußte er sich überzeugen, daß es einfach riesige Motten und Nachtschmetterlinge waren, die zu ganzen Dutzenden in dem Saale hin und her flogen, an die Scheiben stießen und vergeblich das offene Fenster wiederzufinden suchten.
Er raffte nun die Decke zusammen und schlug mehrmals durch die Luft, um die Störenfriede wieder hinauszujagen. Aber das unter diesem Jagen und Schlagen immer nur ängstlicher werdende Geziefer schien sich zu verdoppeln und summte nur dichter und lauter als vorher um ihn herum. An Schlaf war nicht mehr zu denken, und so trat er denn ans offene Fenster und sprang hinaus, um, draußen umhergehend, den Morgen abzuwarten.
Er sah nach der Uhr. Halb zwei. Die dicht vor dem Salon gelegene Gartenanlage bestand aus einem Rundell mit Sonnenuhr, um das herum, in meist dreieckigen und von Buchsbaum eingefaßten Beeten, allerlei Sommerblumen blühten: Reseda und Rittersporn und Lilien und Levkoien. Man sah leicht, daß eine ordnende Hand hier neuerdings gefehlt hatte, trotzdem Krist zu seinen vielfachen Ämtern auch das eines Gärtners zählte; die Zeit indes, die seit dem Tode der Gnädigen vergangen war, war andrerseits eine viel zu kurze noch, um schon zu vollständiger Verwilderung geführt zu haben. Alles hatte nur erst den Charakter eines wuchernden Blühens angenommen, und ein schwerer und doch zugleich auch erquicklicher Levkoienduft lag über den Beeten, den Schach in immer volleren Zügen einsog.
Er umschritt das Rundell, einmal, zehnmal, und balancierte, während er einen Fuß vor den andern setzte, zwischen den handbreiten Stegen hin. Er wollte dabei seine Geschicklichkeit proben und die Zeit mit guter Manier hinter sich bringen. Aber diese Zeit wollte nicht schwinden, und als er wieder nach der Uhr sah, war erst eine Viertelstunde vergangen.
Er gab nun die Blumen auf und schritt auf einen der beiden Laubengänge zu, die den großen Parkgarten flankierten und von der Höhe bis fast an den Fuß des Schloßhügels herniederstiegen. An mancher Stelle waren die Gänge noch obenhin überwachsen, an andern aber offen, und es unterhielt ihn eine Weile, den abwechselnd zwischen Dunkel und Licht liegenden Raum in Schritten auszumessen. Ein paarmal erweiterte sich der Gang zu Nischen und Tempelrundungen, in denen allerhand Sandsteinfiguren standen: Götter und Göttinnen, an denen er früher viele hundert Male vorübergegangen war, ohne sich auch nur im geringsten um sie zu kümmern oder ihrer Bedeutung nachzuforschen; heut aber blieb er stehen und freute sich besonders aller derer, denen die Köpfe fehlten, weil sie die dunkelsten und unverständlichsten waren und sich am schwersten erraten ließen. Endlich war er den Laubengang hinunter, stieg ihn wieder hinauf und wieder hinunter und stand nun am Dorfausgang und hörte, daß es zwei schlug. Oder bedeuteten die beiden Schläge halb, war es halb drei? Nein, es war erst zwei.
Er gab es auf, das Auf und Nieder seiner Promenade noch weiter fortzusetzen und beschrieb lieber einen Halbkreis um den Fuß des Schloßhügels herum, bis er in Front des Schlosses selber war. Und nun sah er hinauf und sah die große Terrasse, die, von Orangeriekübeln und Zypressenpyramiden eingefaßt, bis dicht an den See hinunterführte. Nur ein schmal Stück Wiese lag noch dazwischen, und auf eben dieser Wiese stand eine uralte Eiche, deren Schatten Schach jetzt umschritt, einmal, vielemal, als würd er in ihrem Bann gehalten. Es war ersichtlich, daß ihn der Kreis, in dem er ging, an einen andern Kreis gemahnte, denn er murmelte vor sich hin: könnt ich heraus!
Das Wasser, das hier so verhältnismäßig nah an die Schloßterrasse herantrat, war ein bloßer toter Arm des Sees, nicht der See selbst. Auf diesen See hinauszufahren aber war in seinen Knabenjahren immer seine höchste Wonne gewesen.
›Ist ein Boot da, so fahr ich.‹ Und er schritt auf den Schilfgürtel zu, der die tief einmündende Bucht von drei Seiten her einfaßte. Nirgends schien ein Zugang. Schließlich indes fand er einen überwachsenen Steg, an dessen Ende das große Sommerboot lag, das seine Mama viele Jahre lang benutzt hatte, wenn sie nach Karwe hinüberfuhr, um den Knesebecks einen Besuch zu machen. Auch Ruder und Stangen fanden sich, während der flache Boden des Boots, um einen trockenen Fuß zu haben, mit hochaufgeschüttetem Binsenstroh überdeckt war. Schach sprang hinein, löste die Kette vom Pflock und stieß ab. Irgendwelche Ruderkünste zu zeigen war ihm vorderhand noch unmöglich, denn das Wasser war so seicht und schmal, daß er bei jedem Schlage das Schilf getroffen haben würde. Bald aber verbreiterte sich's, und er konnte nun die Ruder einlegen. Eine tiefe Stille herrschte; der Tag war noch nicht wach, und Schach hörte nichts als ein leises Wehen und Rauschen und den Ton des Wassers, das sich glucksend an dem Schilfgürtel brach. Endlich aber war er in dem großen und eigentlichen See, durch den der Rhin fließt, und die Stelle, wo der Strom ging, ließ sich an einem Gekräusel der sonst spiegelglatten Fläche deutlich erkennen. In diese Strömung bog er jetzt ein, gab dem Boote die rechte Richtung, legte sich und die Ruder ins Binsenstroh und fühlte sofort, wie das Treiben und ein leises Schaukeln begann.
Immer blasser wurden die Sterne, der Himmel rötete sich im Osten, und er schlief ein.
Als er erwachte, war das mit dem Strom gehende Boot schon weit über die Stelle hinaus, wo der tote Arm des Sees nach Wuthenow hin abbog. Er nahm also die Ruder wieder in die Hand und legte sich mit aller Kraft ein, um aus der Strömung heraus und an die verpaßte Stelle zurückzukommen, und freute sich der Anstrengung, die 's ihn kostete.
Der Tag war inzwischen angebrochen. Über dem First des Wuthenower Herrenhauses hing die Sonne, während drüben am andern Ufer die Wolken im Widerschein glühten und die Waldstreifen ihren Schatten in den See warfen. Auf dem See selbst aber begann es sich zu regen, und ein die Morgenbrise benutzender Torfkahn glitt mit ausgespanntem Segel an Schach vorüber. Ein Frösteln überlief diesen. Aber dies Frösteln tat ihm wohl, denn er fühlte deutlich, wie der Druck, der auf ihm lastete, sich dabei minderte. ›Nahm er es nicht zu schwer? Was war es denn am Ende? Bosheit und Übelwollen. Und wer kann sich dem entziehen! Es kommt und geht. Eine Woche noch, und die Bosheit hat sich ausgelebt.‹ Aber während er so sich tröstete, zogen auch wieder andere Bilder herauf, und er sah sich in einem Kutschwagen bei den prinzlichen Herrschaften vorfahren, um ihnen Victoire von Carayon als seine Braut vorzustellen. Und er hörte deutlich, wie die alte Prinzeß Ferdinand ihrer Tochter, der schönen Radziwill, zuflüsterte: ›Est elle riche?‹ ›Sans doute.‹ ›Ah, je comprends.‹
Unter so wechselnden Bildern und Betrachtungen bog er wieder in die kurz vorher so stille Bucht ein, in deren Schilf jetzt ein buntes und bewegtes Leben herrschte. Die darin nistenden Vögel kreischten oder gurrten, ein paar Kibitze flogen auf, und eine Wildente, die sich neugierig umsah, tauchte nieder, als das Boot plötzlich in Sicht kam. Eine Minute später und Schach hielt wieder am Steg, schlang die Kette fest um den Pflock und stieg unter Vermeidung jedes Umwegs die Terrasse hinauf, auf deren oberstem Absatz er Krists Frau, der alten Mutter Kreepschen, begegnete, die schon auf war, um ihrer Ziege das erste Grünfutter zu bringen.
»Tag, Mutter Kreepschen.«
Die Alte schrak zusammen, ihren drinnen im Gartensalon vermuteten jungen Herrn (um dessentwillen sie die Hühner nicht aus dem Stall gelassen hatte, bloß damit ihr Gackern ihn nicht im Schlafe stören sollte) jetzt von der Frontseite des Schlosses her auf sie zukommen zu sehen.
»Jott, junge Herr. Wo kümmen's denn her?«
»Ich konnte nicht schlafen, Mutter Kreepschen.«
»Wat wihr denn los? Hätt et wedder spökt?«
»Beinah. Mücken und Motten waren's. Ich hatte das Licht brennen lassen. Und der eine Fensterflügel war auf.«
»Awers worümm hebbens denn dat Licht nich utpuust? Dat weet doch jed-een, wo Licht is, doa sinn ook ümmer Gnitzen un Motten. Ick weet nich! Un mien oll Kreepsch, he woahrd ook ümmer dümmscher. Jei, jei. Un nich en Oog to.«
»Doch, Mutter Kreepschen. Ich habe geschlafen, im Boot, und ganz gut und ganz fest. Aber jetzt frier ich. Und wenn's Feuer brennt, dann bringt Ihr mir wohl was Warmes. Nicht wahr? Ne Suppe oder nen Kaffee?«
»Jott, et brennt joa all lang, junge Herr; Füer is ümmer dat ihrst. Versteiht sich, versteiht sich, wat Warm's. Un ick bring et ook glieks; man blot de oll Zick, de geiht för. Se jloben joar nich, junge Herr, wie schabernacksch so'n oll Zick is. De weet, as ob se ne Uhr in'n Kopp hätt, ob et feif is o' söss'. Un wenn't söss is, denn wohrd se falsch. Und kumm ick denn un will ehr melken, joa, wat jloben se woll, wat se denn deiht? Denn stött se mi. Un ümmer hier in't Krüz, dicht bi de Hüft. Und worümm? Wiel se weet, dat ick doa miene Wehdag hebben deih. Awers nu kummen's man ihrst in uns' Stuw, un setten sich en beten dahl. Wien oll Kreepsch is joa nu groad bie't Pierd und schütt't em wat in. Awers keen Viertelstunn mihr, junge Herr, denn hebben's Ehren Koffe. Un ook wat dato. De oll Semmelfru von Herzberg wihr joa all hier.«
Unter diesen Worten war Schach in Kreepschens gute Stube getreten. Alles darin war sauber und rein, nur die Luft nicht. Ein eigentümlicher Geruch herrschte vor, der von einem Pfeffer- und Koriandermixtum herrührte, das die Kreepschen als Mottenvertreibungsmittel in die Sofaecken gesteckt hatte. Schach öffnete deshalb das Fenster, kettelte den Haken ein und war nun erst imstande, sich all der Kleinigkeiten zu freuen, die die ›gute Stube‹ schmückten. Über dem Sofa hingen zwei kleine Kalenderbildchen, Anekdoten aus dem Leben des Großen Königs darstellend. ›Du, du‹, stand unter dem einen, und ›Bon soir, Messieurs‹ unter dem andern. Um die Bilderchen und ihre Goldborte herum hingen zwei dicke Immortellenkränze mit schwarzen und weißen Schleifen daran, während auf dem kleinen, niedrigen Ofen eine Vase mit Zittergras stand. Das Hauptschmuckstück aber war ein Schilderhäuschen mit rotem Dach, in dem früher, aller Wahrscheinlichkeit nach, ein Eichkätzchen gehaust und seinen Futterwagen an der Kette herangezogen hatte. Jetzt war es leer, und der Wagen hatte stille Tage.
Schach war eben mit seiner Musterung fertig, als ihm auch schon gemeldet wurde: ›daß drüben alles klar sei.‹
Und wirklich, als er in den Gartensalon eintrat, der ihm ein Nachtlager so beharrlich verweigert hatte, war er überrascht, was Ordnungssinn und ein paar freundliche Hände mittlerweile daraus gemacht hatten. Tür und Fenster standen auf, die Morgensonne füllte den Raum mit Licht, und aller Staub war von Tisch und Sofa verschwunden. Einen Augenblick später erschien auch schon Krists Frau mit dem Kaffee, die Semmeln in einen Korb gelegt, und als Schach eben den Deckel von der kleinen Meißner Kanne heben wollte, klangen vom Dorfe her die Kirchenglocken herauf.
»Was ist denn das?« fragte Schach. »Es kann ja kaum sieben sein.«
»Justement sieben, junge Herr.«
»Aber sonst war es doch erst um elf. Und um zwölfe dann Predigt.«
»Joa, so wihr et. Awers nu nich mihr. Un ümmer den dritt'n Sünndag ist et anners. Twee Sünndag', wenn de Radenslebensche kümmt, denn is't um twölwen, wiel he joa ihrst in Radensleben preestern deiht, awers den dritten Sünndag, wenn de oll Ruppinsche röwer kümmt, denn is et all um achten. Un ümmer, wenn uns' oll Kriwitz von sine Turmluk' ut unsen Ollschen von dröwen abstötten seiht, denn treckt he joa sien Klock. Und dat's ümmer um seb'n.«
»Wie heißt denn jetzt der Ruppinsche?«
»Na, wie sall he heten? He heet ümmer noch so. Is joa ümmer noch de oll Bienengräber.«
»Bei dem bin ich ja eingesegnet. War immer ein sehr guter Mann.«
»Joa, dat is he. Man blot, he hett keene Teihn mihr, ook nich een', un nu brummelt un mummelt he ümmerto, un keen Minsch versteiht em.«
»Das ist gewiß nicht so schlimm, Mutter Kreepschen. Aber die Leute haben immer was auszusetzen. Und nun gar erst die Bauern! Ich will hingehen und mal wieder nachsehen, was mir der alte Bienengräber zu sagen hat, mir und den andern. Hat er denn noch in seiner Stube das große Hufeisen, dran ein Zehnpfundgewicht hing? Das hab ich mir immer angesehen, wenn ich nicht aufpaßte.«
»Dat woahrd he woll noch hebben. De Jungens passen joa all' nich upp.«
Und nun ging sie, um ihren jungen Herrn nicht länger zu stören, und versprach, ihm ein Gesangbuch zu bringen.
Schach hatte guten Appetit und ließ sich die Herzberger Semmeln schmecken. Denn seit er Berlin verlassen, war noch kein Bissen über seine Lippen gekommen. Endlich aber stand er auf, um in die Gartentür zu treten, und sah von hier aus über das Rundell und die Buchsbaumrabatten und weiter dahinter über die Baumwipfel des Parkes fort, bis sein Auge schließlich auf einem sonnenbeschienenen Storchenpaar ausruhte, das unten, am Fuße des Hügels, über eine mit Ampfer und Ranunkeln rot und gelb gemusterte Wiese hinschritt.
Er verfiel im Anblicke dieses Bildes in allerlei Betrachtungen; aber es läutete gerade zum dritten Male, und so ging er denn ins Dorf hinunter, um von dem herrschaftlichen Chorstuhl aus zu hören, ›was ihm der alte Bienengräber zu sagen habe.‹
Bienengräber sprach gut genug, so recht aus dem Herzen und der Erfahrung heraus, und als der letzte Vers gesungen und die Kirche wieder leer war, wollte Schach auch wirklich in die Sakristei gehen, dem Alten danken für manches gute Wort aus längst vergangener Zeit her und ihn in seinem Boot über den See hin zurückbegleiten. Unterwegs aber wollt er ihm alles sagen, ihm beichten und seinen Rat erbitten. Er würde schon Antwort wissen. Das Alter sei allemal weise, und wenn nicht von Weisheit, so doch bloß schon von Alters wegen. »Aber«, unterbrach er sich mitten in diesem Vorsatze, »was soll mir schließlich seine Antwort? Hab ich diese Antwort nicht schon vorweg? Hab ich sie nicht in mir selbst? Kenn ich nicht die Gebote? Was mir fehlt, ist bloß die Lust, ihnen zu gehorchen.«
Und während er so vor sich hinredete, ließ er den Plan eines Zwiegesprächs fallen und stieg den Schloßberg wieder hinauf. Er hatte von dem Gottesdienst in der Kirche nichts abgehandelt, und doch schlug es erst zehn, als er wieder oben anlangte.
Hier ging er jetzt durch alle Zimmer, einmal, zweimal, und sah sich die Bilder aller der Schachs an, die zerstreut und in Gruppen an den Wänden umherhingen. Alle waren in hohen Stellungen in der Armee gewesen, alle trugen sie den Schwarzen Adler oder den pour le mérite. Das hier war der General, der bei Malplaquet die große Redoute nahm, und das hier war das Bild seines eigenen Großvaters, des Obersten im Regiment Itzenplitz, der den Hochkirchner Kirchhof mit vierhundert Mann eine Stunde lang gehalten hatte. Schließlich fiel er, zerhauen und zerschossen, wie alle die, die mit ihm waren. Und dazwischen hingen die Frauen, einige schön, am schönsten aber seine Mutter.
Als er wieder in dem Gartensalon war, schlug es zwölf. Er warf sich in die Sofaecke, legte die Hand über Aug und Stirn und zählte die Schläge. »Zwölf. Jetzt bin ich zwölf Stunden hier, und mir ist, als wären es zwölf Jahre . . . Wie wird es sein? Alltags die Kreepschen und Sonntags Bienengräber oder der Radenslebensche, was keinen Unterschied macht. Einer wie der andre. Gute Leute, versteht sich, alle gut . . . Und dann gehe ich mit Victoire durch den Garten, und aus dem Park auf die Wiese, dieselbe Wiese, die wir vom Schloß aus immer und ewig und ewig und immer sehen und auf der der Ampfer und die Ranunkeln blühen. Und dazwischen spazieren die Störche. Vielleicht sind wir allein; aber vielleicht läuft auch ein kleiner Dreijähriger neben uns her und singt in einem fort: ›Adebar, du Bester, bring mir eine Schwester‹. Und meine Schloßherrin errötet und wünscht sich das Schwesterchen auch. Und endlich sind elf Jahre herum, und wir halten an der ›ersten Station‹, an der ersten Station, die die ›stroherne Hochzeit‹ heißt. Ein sonderbares Wort. Und dann ist auch allmählich die Zeit da, sich malen zu lassen, malen zu lassen für die Galerie. Denn wir dürfen doch am Ende nicht fehlen! Und zwischen die Generäle rück ich dann als Rittmeister ein, und zwischen die schönen Frauen kommt Victoire. Vorher aber hab ich eine Konferenz mit dem Maler und sag ihm: ›Ich rechne darauf, daß Sie den Ausdruck zu treffen wissen. Die Seele macht ähnlich.‹ Oder soll ich ihm geradezu sagen: ›Machen Sie's gnädig‹ . . . Nein, nein!«