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Die Sachen kamen, ein Koffer und eine große Kiste, und als Mutter und Tochter die Kiste bis dicht ans Fenster geschoben, den Koffer aber auf einen Kofferständer gestellt hatten, zogen sie sich in ihr an der linken Seite des Entrees gelegenes Wohnzimmer zurück. Es sah sehr ordentlich darin aus und auch nicht ärmlich. Vor dem hochlehnigen Kissensofa lag ein Teppich, Rosenmuster, und neben dem Stehspiegel mit dem Riß in der Mitte standen zwei Ständer, in die Blumentöpfe, ein roter und ein weißer Geranium, gesetzt waren. Auf einem Mahagonischrank stand ein Makart-BouquetMakart-Bouquet: ein Strauß von getrockneten Blumen, Gräsern, Schilf und Palmenzweigen, der ein beliebter Ziergegenstand in der ›guten Stube‹ der Gründerzeit war. Benannt nach dem österreichischen Maler Hans Makart (1840-1884); dessen schwülstig-pathetische Bilder dem Geschmack der Gründerjahre entsprachen., neben dem Schrank eine Hänge-Etagere mit einer geschweiften Perlenstickerei. Der weiße Ofen war blank, die Messingtür noch blanker, und zwischen Ofen und Tür an einer Längswand, dem invaliden Sofa gegenüber, stand eine Chaiselongue, die vor kurzem erst auf der Auktion eines kleinen Gesandten erstanden war und nun das Schmuckstück der Wohnung bildete. Daneben ein ganz kleiner Tisch mit einer Pendeluhr darauf, die einen merkwürdig lauten Schlag hatte.
Mathilde stellte sich vor den Spiegel, um sich den Scheitel etwas glattzustreichen, denn ihr Haar war sehr dünn und hatte eine Neigung, sich in Streifen zu teilen, Mutter Möhring aber setzte sich auf das Sofa, grad aufrecht, und sah nach der Wand gegenüber, wo ein PifferaroPifferaro: Die Pifferari, italienische Hirten aus den Abruzzen, zogen zur Weihnachtszeit in malerischem Aufzug nach Rom und musizierten mit Dudelsack und Schalmei (Piffera) vor den Madonnenbildern. Auch Bezeichnung für einen Straßensänger. auf einem Felsen saß und, seinen Dudelsack blasend, einfältig und glücklich in die Welt sah. Mathilde sah im Spiegel, wie die Mutter so steif und aufrecht dasaß, und sagte, ohne sich umzudrehn: »Warum sitzt du nu wieder auf dem harten Sofa und kannst dich nicht anlehnen. Wozu haben wir denn die Chaiselongue?«
»Na, doch nicht dazu.«
»Freilich dazu. Freilich, und war noch dazu gar kein Geld. Und nu denkst du gleich, du ruinierst es und sitzt ein Loch hinein. Ich hab es mir gespart und habe mich gefreut, als ich dir's aufbaun konnte.«
»Ja, ja, Thilde, du meinst es gut.«
»Und Rückenschmerzen hast du immer und klagst in einem fort. Und doch willst du nicht drauf liegen. Und wenn du noch recht hättest. Aber es ruiniert nicht, und wovon sollt es auch, du wiegst ja keine hundert Pfund.«
»Doch, Thilde, doch.«
»Und wenn auch; je eher das Ding eine kleine Sitzkute hat, desto besser; so steht es bloß da wie geliehn und als graulten wir uns, uns draufzusetzen. Und so schlimm ist es doch nicht, wir haben ja doch unser Auskommen und bezahlen unsre Miete mit'm Glockenschlag. Also warum machst du dir's nicht bequem. Und dann sieht es auch besser aus, wenn man so sieht, es ist in Dienst. Der Spiegel ist alt, und das Sofa ist alt, und da darf die Chaiselongue nicht so neu sein. Das paßt nicht, das stört, das ist gegen's Ensemble.«
»Gott, Thilde, sage nur nicht so was Franzö'sches; ich weiß dann immer nicht recht. Zu meiner Zeit, da war das alles noch nicht so, und mein Vater wollte von Schule nichts wissen. Na, du weißt ja. Wohin man kuckt, immer hapert es. Sieh mal hier seine Karte. Hugo Großmann. Na, das versteh ich, aber nu kommt sein Titel oder was er ist, und da weiß ich nicht, was soll das heißen Cand. jur.?«
»Das heißt, daß er Kandidat ist.«
»Soso, na, das ist gut, dann ist es ein Prediger oder wird einer.«
»Nein, dieser nicht. Dieser is bloß ein Rechtskandidat. Das heißt soviel als wie, er hat ausstudiert und muß nun sein Examen machen, und wenn er das gemacht hat, dann ist er ein Referendarius. Er ticktackt jetzt so hin und her zwischen Student und Referendarius.«
»Na, wenn er nur bleibt. Glaubst du, daß er bleibt?«
»Natürlich bleibt er.«
»Ja, du bist immer so sicher, Thilde. Woraus willst du wissen, daß er bleibt?«
»Ach, Mutter, du siehst auch gar nichts. Wo der mal sitzt, da sitzt er. Der ist bequem. Und eh der wieder auszieht, da muß es schon schlimm kommen. Und schlimm kommt es bei uns nicht. Wir sind artig und manierlich und immer gefällig und laufen alle Gänge und sehen bloß, was wir sehen wollen.«
»Glaubst du, daß er...«
»I, Gott bewahre. Der is wie Gold. Mit dem kann man drei Tage und drei Nächte fahren. Einen so Anständigen haben wir noch gar nicht gehabt. Und dann mußt du bedenken, er is vorm Examen, und wir haben kein Klavierspiel. Auf dem Hof das bißchen Leierkasten, das hört er nicht. Und ich will dir noch mehr sagen, Mutter; der bleibt nicht bloß, der bleibt auch lange. Denn sehr anstrengen wird er sich nicht. Er sieht so recht aus wie ›Kommst du heute nicht, so kommst du morgen.‹ Und vielleicht morgen auch noch nicht.«
Hugo Großmann, der noch keine Schlüssel hatte, war drei Minuten vor zehn nach Hause gekommen und [hatte] für alles, was ihm noch angeboten wurde, gedankt; er sei sehr müde, vorige Nacht unterwegs, und sei auch noch soviel andres. Mutter Möhring, die sich noch einen Augenblick im Entree zu schaffen machte, hörte noch, daß er das Streichhölzchen strich, und sah den Lichtschimmer, der gleich danach unter der Tür weg bis in das Entree fiel. Dann hörte sie, daß er sich die Stiefel mit einem raschen Ruck auszog, wie einer, der schnell ins Bett will, und keine Minute mehr, so war es wieder dunkel.
Der nächste Tag war so schön wie der vorige. Möhrings waren Frühaufs, und heute waren sie schon um sechs auf, weil sie doch nicht wissen konnten, ob ihr Mieter nicht ein Frühauf sei.
»Ich glaube nicht, daß er ein Frühauf ist«, sagte Mathilde, »aber man kann doch nicht wissen. Und in der ersten Nacht schlafen viele so unruhig.«
Es war wohl schon acht, als Mathilde das aussprach und hinzusetzte: »Du sollst sehn, Mutter, der hat einen Bärenschlaf. Um den brauchst du dir die Nacht nicht um die Ohren zu schlagen, und von Weckeraufziehn is nu schon gar keine Rede mehr. Na, mir recht. Wenn erst Winter ist, schlaf ich auch gern aus und warte lieber mit meinem Kaffee. Bloß, daß man um acht die ausgesuchten Semmeln kriegt.«
Unter diesen Worten stand sie auf und sah nach der kleinen Pendeluhr. Es war schon ein paar Minuten über halb neun.
»Mutter, ich werde doch wohl klopfen müssen. Ich hatte ihn so auf neun Stunden taxiert, aber nun ist es schon zehn und eine halbe. Was meinst du?«
»Versteht sich; es kann ihm ja auch was passiert sein.«
»Gewiß, kann. Aber es wird wohl nicht.«
Um ein Uhr trat der neue Mieter bei Möhrings ein und sagte, daß er nun zu Tisch wolle; sie brauchten sich in seinem Zimmer nicht zu übereilen, er werde vor sieben nicht wieder dasein. Und wenn wer käme, möchten sie sagen, »um acht«.
Damit empfahl er sich sehr artig, und als er aus dem Hause trat, sahen ihm Mutter und Tochter vom Entreefenster aus nach.
Als sie das Fenster wieder geschlossen hatten, sagte die Mutter: »Es ist eigentlich ein sehr hübscher Mensch. Ich wundre mich nur, daß er noch so ein halber Student ist. Am Ende irrst du dich doch, Thilde. Er muß doch nah an dreißig sein.«
»Ja, du hast recht, Mutter, er sieht so aus. Das macht der schwarze Vollbart, und weil er so breit ist. Aber glaube mir, er ist nicht älter als sechsundzwanzig. Und der Vollbart ist es auch nicht mal. Er ist bloß faul und hat kein Feuer im Leibe. Das sieht denn so aus, als ob einer alt wäre, bloß weil er schläfrig ist Und sentimental ist er auch.«
»Ja, das wird er wohl«, sagte die alte Möhring, aber doch so, daß man hören konnte, sie dachte sich nichts bei »sentimental« und wollte bloß nicht widersprechen.
Eine Stunde später hatte Mathilde das Zimmer zurechtgemacht, während die Mutter sich in der Küche beschäftigte. Man war übereingekommen, sich jeder ein Setzei zu spendieren, dazu Bratkartoffeln. Als der Tisch gedeckt und zu den Bratkartoffeln ein Extra von zwei Setzeiern aufgetragen war, war auch die Tochter mit dem Zurechtmachen des Zimmers fertig, und Mutter und Tochter setzten sich.
»Bist du zufrieden, Thilde?« sagte die Alte und wies auf zwei Setzeier, die sie zu Ehren des Tages spendiert hatte.
»Ja«, sagte Thilde, »ich bin zufrieden, wenn du sie beide ißt und wenn ich sehe, daß sie dir schmecken. Denn du gönnst dir nie was, und davon magerst du auch so ab. Kartoffeln ist was ganz Gutes, aber viel Kraft gibt es nicht. So ängstlich is es ja auch gar nicht mit uns, wir haben ja das Sparkassenbuch. Ich werde dich nun wieder besser verpflegen, und wenn wir gegessen haben, gieße ich dir eine Tasse Tee auf. Er hat nicht mal seinen Zucker verbraucht und auch nicht weggepackt. Man sieht an allem, daß er ein anständiger Mensch ist. Aber nun nimm, Mutter.« Und sie legte der Alten vor und patschelte ihr die Hand.
»Ja, du bist gut, Thilde. Wenn du nur einen guten Mann kriegtest.«
»Ach, laß doch.«
»Ich denke immer daran. Und warum auch nicht? Wie du da vorhin vor dem Spiegel standst: von der Seite bist du ganz hübsch.«
»Ach laß doch, Mutter. Das mit dem Gemmengesicht mag ja wahr sein, und ich glaube selbst, daß es wahr ist Aber ich kann doch nicht immer von der Seite stehn.«
»Brauchst du auch nicht. Und dann am Ende, du hast die gute Schule gehabt und die guten Zeugnisse, un wenn dein Vater länger gelebt hätte, wärst du jetzt Lehrerin, wie du's wolltest. Manche sind so sehr fürs Gebildete. Wie hast du's denn drüben bei ihm gefunden? Alles in Ordnung? alles anständig? Ein ganz Armer kann es nicht sein. Ein ganzlederner Koffer beinah ohne Holz und Pappe; das haben immer bloß solche, die guter Leute Kind sind.«
»Ganz recht, Mutter, das stimmt. Da sind wir mal einig. Und so ist es auch mit ihm. Guter Leute Kind. Auf der Kommode lagen noch die Schnupftücher und die wollenen Strümpfe. Nun, du mußt es dir nachher ansehn, alle ganz gleich gezeichnet und auch die Strümpfe und nicht mit Wolle gezeichnet, alle mit rotem Zeichengarn. Er muß eine sehr ordentliche Mutter haben oder Schwester, denn ein andrer macht es nicht so genau. Und die Stiefel auch in Ordnung. Er muß aus einer guten Ledergegend sein, das sieht man an allem, und hat auch eine Juchtenbriefmappe, schön gepreßt, ich rieche Juchten so gern. Und die Bücher alle sehr gut eingebunden, fast zu gut, und sehen auch alle so sonntäglich aus, als ob sie nicht viel gebraucht wären, nur sein Schiller steckt voller Leseeichen und Eselsohren. Du glaubst gar nicht, was er da alles hineingelegt hat, Briefmarkenränder und Zwirnsfaden und abgerissene Kalenderblätter. Und dann hat er englische Bücher dastehn, das heißt übersetzte, die muß er noch mehr gelesen haben, da sind so viele Ausrufungszeichen und Kaffeeflecke, und an mancher Stelle steht »famos« oder »großartig« oder irgend so was. Aber nu werde ich dir den Tee aufbrühen. Du hast doch noch kochend Wasser?«
»Versteht sich, kochend Wasser is immer...«
Und damit ging Thilde und kam nach einer Minute mit einem Tablett zurück. Es war dasselbe Tablett und dieselbe Teekanne, daraus der Mieter seinen Morgentee genossen hatte.
»Das ist ein rechtes Glück, daß er Tee trinkt«, sagte Thilde und goß der Mutter und dann sich selbst eine Tasse von dem Neuaufguß ein. »Kaffee, das schmeckt dann immer nach Trichter. Aber von Tee schmeckt das zweite eigentlich am besten.« Und während sie das sagte, zerbrach sie zwei Zuckerstückchen in viele kleine Teile und schob das Schälchen der Mutter hin.
»Nimm doch auch, Thilde.«
»Nein, Mutter. Ich mag nicht Zucker. Aber du bist für süß. Und nimm nur immer ein bißchen in den Mund. Ich freue mich, wenn es dir schmeckt und wenn du wieder dick und fett wirst.«
»Ja«, lachte die Alte. »Du meinst es gut. Aber dick und fett. Gott, Thilde, wo soll das herkommen?«