Theodor Fontane
Grete Minde
Theodor Fontane

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Fünfzehntes Kapitel

Drei Jahre später

Drei Jahre waren seitdem vergangen, und wieder färbte der Herbst die Blätter rot; allüberall in der Altmark, und nicht zum wenigsten in dem Städtchen Arendsee, dessen endlos lange Straße, zugleich seine einzige, nach links hin aus Häusern und Gärten, nach rechts hin aus Klostergebäuden und zwischenliegenden Heckenzäunen bestand. Hinter einem dieser Heckenzäune, der abwechselnd von Dorn und Liguster gebildet wurde, ließ sich ein auf Säulen ruhender Kreuzgang erkennen, in dessen quadratischer Mitte der Klosterkirchhof lag, wild und verwahrlost, aber in seiner Verwahrlosung nur um so schöner. Einige hoch aufgemauerte Grabsteine schimmerten aus allerlei Herbstesblumen und dichtem Grase hervor, die meisten aber versteckten sich im Schatten alter Birnbäume, deren ungestützte Zweige mit ihrer Last bis tief zu Boden hingen. Vorüberziehende Fremde würden sich des Bildes gefreut haben, das eben jetzt, bei niedergehender Sonne, von absonderer Schönheit war; ein paar Arendseesche Bürger aber, Handwerker und Ackersleute zugleich, die mit ihrem Gespann vom Felde hereinkamen, achteten des wohlbekannten Anblicks nicht und hielten erst, als sie schon dreißig Schritt über den Heckenzaun hinaus waren und an der andern Seite der Straße dreier hochbepackter Wagen ansichtig wurden, die hier, vor einer alten Ausspannung mit tiefer Einfahrt, den ohnehin schmalen Weg beinah versperrten.

»Süh, Kersten, doa sinn se all. Awers hüt wahrd et nix mihr.«

»Nei, hüt nich. Un weet'st all, Hanne, se speelen joa nicht blot mihr mit Zocken un Puppen. Se kümmen joa nu sülwer 'rut.«

»Joa; so hebb ick't ook hürt. Richt'ge Minschen... Jott, wat man nich allens erlewen deiht!«

Und damit gingen sie vorüber, weiter in die Stadt hinein.

Und es war so, wie die beiden Ackerbürger gesagt hatten. Puppenspieler, die, wie's dazumalen aufkam, ihre Puppen zeitweilig im Kasten ließen und an Stelle derselben in eigener Person auftraten, waren an eben jenem Nachmittag in das Städtchen gekommen und hatten sich's in der Ausspannung, vor der ihre Wagen hielten, bequem gemacht. Da saßen sie jetzt zu vier um den Tisch der großen Schenkstube herum, ihrem Aufputz und ihrer Redeweise nach oberdeutsches Volk, und vertaten das Geld, das ihnen der Salzwedelsche Michaelismarkt eingebracht hatte. Denn von daher kamen sie. Zwei derselben alte Bekannte von uns. Der Schwarzhaarige, mit einer Narbe quer über der Stirn, war derselbe, den wir an jenem hellen Julivormittag, an dem unsere Geschichte begann, an der Emrentz Fenster vorüber seinen Umritt hatten machen sehn, und der neben ihm, ja, das mußte, wenn nicht alles täuschte, der Hagre, Schlackerbeinige mit dem weißen Hemd und der hohen Filzmütze sein, der bei Tage die Pauke gerührt und am Abend, in seinem hölzernen Abbild wenigstens, den Polizeischergen des »Jüngsten Gerichtes« gemacht hatte. Ja, sie waren es wirklich, dieselben fahrenden Leute, denn eben erschien auch die große stattliche Frau, die damals, in halb spanisch, halb türkischem Aufzug, als dritte zwischen ihnen zu Pferde gesessen. Auch heute war sie verwunderlich genug gekleidet, trug aber, statt des langen schwarzen Schleiers mit den Goldsternchen, ein scharlachrotes Manteltuch, das sie, voll Majestät und nach Art eines Krönungsmantels, um ihre Schultern gelegt hatte. »Ach, Zenobia«, riefen alle und rückten zusammen, um ihr am Tische Platz zu machen. Mit ihr zugleich war der Wirt eingetreten, ein paar Kannen im Arm, und überbot sich alsbald in Raschheit und Dienstbeflissenheit gegen seine Gäste. Wußt er doch, daß sie mit vollem Beutel kamen und außerdem Freibrief und gutes Zeugnis von aller Welt Obrigkeit aufzuweisen hatten. Und was wollt er mehr?

»Wirt«, rief der Schwarzhaarige, der auch heute wieder die Herrenrolle spielte, »die Salzwedelschen haben mir gefallen. Die drehen den Schilling nicht erst ängstlich um. Zweimal gespielt jeden Tag, erst die Puppen und dann wir selber. Und immer voll, und kein Apfel zur Erde. Ein lustiges Volk; nicht wahr, Wirt? Und wie heißt doch der Spruch von den Salzwedelschen? Ihr kennt ihn?«

»Ei, freilich; welcher Altmärksche wird den nicht kennen. Ein guter Spruch, und er geht so:

De Stendalschen drinken gerne Wien,
De Gardeleger wülln Junker sien,
De Tangermündschen hebben Mot,
De Soltwedler awers, de hebben dat Got.«

»Ja, das haben sie, das haben sie«, schrien alle durcheinander, und der Wirt wiederholte seinerseits: »Ein guter Spruch, ihr Herren. Bloß daß die Arendseeschen drin vergessen sind.«

»Ei, warum vergessen! Solch Sprüchel ist ja nicht wie 's Vaterunser, wo nichts zukann und nichts weg. Was ihm fehlt, das machen wir dazu. Könnt Ihr einen Reim machen, Wirt? Ein Wirt muß alles können, reimen und rechnen.«

»Ja, rechnen!« fiel der Chorus ein.

»Ärgert ihn nicht, sonst bringt er's nicht zustand. Und ich seh's ihm an, daß er dran haspelt. Habt ihr's?«

»Ja... De Stendalschen drinken gerne Wien...«

»Nein, nein, das nicht. Das ist ja die alte Leier. Wir wollen den neuen Reim hören, den Arendseeschen.«

Und so ging es unter Lärmen und Schreien weiter, bis der Wirt eine Pause wahrnahm und in schelmischem Ernst über den Tisch hin deklamierte:

»Un di Arendseeschen, di hebben dat Stroh,
Awers hebben fifteig'n Nonnen dato.«

»Funfzehn Nonnen! Habt ihr gehört? Aber woher denn Nonnen? Es gibt ja keine Nonnen mehr. Ich meine hierzuland. Unten im Reich, da hat's ihrer noch genug. Nicht wahr, Zenobia? Aber hier! Alles aufgehoben, was sie ›säkularisieren‹ nennen. Habe mir's wohl gemerkt. Und das hat Euer vorvoriger Herr Kurfürst getan, der Herr Joachim, den ich noch habe begraben sehn. War das erste Mal, daß mein Vater selig bis hier hinauf ins Wittenbergsche kam. Anno 71, und ich war noch ein Kind.«

»Ja, sie sind aufgehoben. Aber 's gibt ihrer doch noch, hier und überall im Land. Und obwohlen unser alter Roggenstroh alle Sonntage gegen sie predigt, es hilft ihm nichts, sie bleiben doch. Und warum bleiben sie? Weil sie den adligen Anhang haben. Und oben in Cölln an der Spree, na, das weiß man, da sitzen auch die Junkerchen zu Rat und drücken ein Auge zu.«

»Gut, gut. Meinetwegen. Lassen wir die Junker und die Nonnen. Es muß auch Nonnen geben. Nicht wahr, Zenobia?«

Diese zog ihre rote Drapierung nur noch fester um ihre Schultern und schwieg in königlicher Würde weiter.

»Un hebben fifteig'n Nonnen dato! Wahrhaftig. Wirt, das habt Ihr gut gemacht, sehr gut. Ihr könnt't uns die Stücke schreiben. Was meinst, Nazerl, wir haben schon schlechtre gehabt! Aber singen wir; du singst vor, Matthes.«

Und der Angeredete, der seinem starr und aufrecht stehenden roten Haare, vor allem aber seinen linsengroßen Sommersprossen nach der einzig Plattdeutsche von der Gesellschaft zu sein schien, intonierte mit heiserer Stimme: »Kaiser Karolus sien bestet Peerd.«

»Nicht doch, nicht doch«, fuhr der mit der Narbe dazwischen, »das kann Zenobia nicht hören; das singen ja die Knechte. Sing du, Hinterlachr. Aber was Feins und Zierlichs.«

Und Hinterlachr sang:

»Zu Bacharach am Rheine,
Da hat mir's wohlgetan,
Die Wirtin war so feine,
So feine,
Und als wir ganz alleine...«

»Ach, dummes Zeug. Immer Weiber und Weiber. Aber sie denken nicht dran; und am wenigsten, was eine richtige Wirtin ist. Sie lachen dich aus. Nazerl, mach du dein Sach. Aber nichts von den Weibern; hörst du. Halt dich an das!« Und dabei schob er ihm eine frische Kanne zu, die der Wirt eben hereingebracht hatte.

Und Nazerl hob an:

»Der liebste Buhle, den ich hab,
Der liegt beim Wirt im Keller,
Er hat ein hölzins Röcklein an
Und heißet Muskateller:

Hab manche Nacht mit ihm verbracht,
Er hat mich immer glücklich 'macht,
glücklich 'macht,
Und lehrt mich lustig singen.«

»Das ist recht. Der liebste Buhle, den ich hab... das gefällt mir. Der Nazi hat's getroffen. Was meinst, Zenobia?«

Und alle wiederholten den Vers und stießen mit ihren Kannen und Bechern zusammen.

»Ihr müßt nicht so lärmen«, sagte jetzt der, der mit »Bacharach am Rheine« so wenig durchgedrungen war. »Er liegt grad über uns, und ich glaub, er macht es nicht lange mehr.«

Zenobia nickte.

 

So ging's unten her. Über ihnen aber, auf einer Schütte Stroh, drüber ein Laken gebreitet war, lag ein Kranker, ein Kissen unterm Kopf und mit ein paar Kleidungsstücken zugedeckt. Neben ihm, auf einem Fußschemel, saß eine junge Frau, blaß und fremd, und hielt mit ihrer Rechten den Henkel eines als Wiege dienenden Korbes, mit ihrer Linken die Hand des Kranken. Dieser schien einen Augenblick geschlafen zu haben, und als er jetzt die Augen wieder öffnete, beugte sie sich zu ihm nieder und fragte leise: »Wie ist dir?«

»Gut.«

»Ach, sage nicht gut. Deine Stirn brennt, und ich seh, wie deine Brust fliegt. Mein einzig lieber Valtin, vergib mir, sage mir, daß du mir vergibst.«

»Was, Grete? Was soll ich dir vergeben?«

»Was? was? Alles, alles! Ich bin schuld an deinem Elend, und nun bin ich schuld an deinem Tod. Aber ich wußt es nicht anders, und ich wollt es nicht. Ich war ein Kind noch, und sieh, ich liebte dich so sehr. Aber nicht genug, nicht genug, und es war nicht die rechte Liebe. Sonst wär es anders gekommen, alles anders.«

»Laß es, Grete.«

»Nein, ich laß es nicht. Ich will mein Herz ausschütten vor dir. Ach, sonst beichten die Sterbenden, ich aber will dir beichten, dir.«

Er lächelte. »Du hast mir nichts zu beichten.«

»Doch, doch. Viel, viel mehr, als du glaubst. Denn sieh, ich habe nur an mich gedacht; das war es; da liegt meine Schuld. Es kommt alles von Gott, auch das Unrecht, das man uns antut, und wir müssen es tragen lernen. Das hat mir Gigas oft gesagt, so oft; aber ich wollt es nicht tragen und hab aufgebäumt in Haß und in Ungeduld. Und in meinem Haß und meiner Ungeduld hab ich dich mit fortgezwungen und habe dich um Glück und Leben gebracht.«

Er schüttelte den Kopf und wiederholte nur leise: »Laß es, Grete. Du hast mich nicht um das Glück gebracht. Es war nur anders als andrer Leute Glück. Weißt du noch, als wir auf dem Floß fuhren und das Schilf streiften und die Wasservögel aufflogen, ach, wie stand da der Himmel so blau und golden über uns, und wie hell schien uns die Sonne! Ja, da waren wir glücklich. Und als wir dann auf Lübeck zogen und das Holstentor vor uns hatten, das uns mit seinen grünen und roten Ziegeln ansah, und dann Musik und Fahnenschwenker auf uns zukamen, als ob man uns einen Einzug machen wolle, da lachten wir und waren froh in unserem Herzen, denn wir nahmen es als ein gutes Zeichen und wußten nun, daß wir gute Tage haben würden. Und wir hatten sie auch, und hätten sie noch, denn fleißige Tage sind gute Tage, wenn nicht der Streit gekommen wär, der Streit um viel und nichts... Er dacht eben, er dürf es dir ansinnen, weil wir arm waren und er reich und eines Ratsherrn Sohn. Und da war es denn freilich aus... Aber laß, Grete. Was wir gehabt haben, das haben wir gehabt. Und nun gib mir das Kind, daß ich mich seiner freue.«

Grete war aufgestanden, um ihm das Kind zu geben; eh sie's jedoch aufnehmen konnte, befiel ihn ein Stickhusten, wohl von der Anstrengung des Sprechens, und als der Anfall endlich vorüber war, lag er schweißgebadet da, matt und halbgeschlossenen Auges, wie ein Sterbender.

So vergingen Minuten, bis er sich wieder erholt hatte und trinken zu wollen schien. Wenigstens sah er sich um, als such er etwas. Und wirklich, neben seinem Lager stand ein Hafenglas, drin ihm aus Brotrinden und dünnem Essig ein Getränk gemacht worden war. Aber der Geschmack widerstand ihm, und er wies es zurück und sagte: »Wasser.« Und Grete holte den Wasserkrug herbei, der groß und unhandlich und viel zu schwer war, um draus zu trinken, und als sie noch unschlüssig dastand und überlegte, wie sie den Trunk ihm reichen solle, hob er sich mühsam auf und sagte lächelnd: »Aus deiner Hand, Gret; ein paar Tropfen bloß. Ich brauche nicht viel.« Und sie tat's und gab ihm. Als er aber getrunken, hielt sie sich nicht länger mehr und rief, während sie halb im Gebet und halb in Verzweiflung ihre Hände gen Himmel streckte: »Ach, daß ich leben muß! Valtin, mein einzig Geliebter, nimm mich mit dir, mich und unser Kind. Was hier noch war, warst du. Nun gehst du. Und wir sind unnütz auf dieser Welt.«

»Nein, Grete, nicht unnütz. Und du mußt leben, leben um des Kindes willen. Auch wenn es dir schwer wird. Und du wirst es, denn du hattest immer einen tapfern und guten Mut. Ich weiß davon. Und nun hör mich und tu, wie ich dir sage. Aber bücke dich; bitt, denn es wird mir schwer.«

Und sie rückte näher an sein Kissen.

»Es muß etwas geschehen«, fuhr er fort, »und du kannst nicht mehr bleiben mit den fahrenden Leuten unten. Ich mag sie nicht schelten, denn sie waren gut mit uns, aber sie sind doch anders als wir. Und du mußt wieder eine Heimstätt haben und Herd und Haus und Sitt und Glauben. Und so versprich mir denn, mache dich los hier, in Frieden und guten Worten, und zieh wieder heim und sage... und sage... daß ich schuld gewesen.«

Grete schüttelte heftig den Kopf. Ihm die Schuld zuzuschieben, das erschien ihr schwerer als alles. Er aber legte still seine Hand auf ihren Mund und wiederholte nur: »... daß ich schuld gewesen. Und wenn du das gesagt hast, Grete, dann sag auch, du kämest, um wiedergutzumachen, was du getan, und sie sollten dich halten als ihre Magd. Und du wolltest kein Glück mehr, nein, nur Ruh und Rast. Und dann mußt du niederknien, nicht vor ihr, aber vor deinem Bruder Gerdt. Und er wird dich aufrichten...«

»Ach, daß es käme, wie du sagst! Aber ich kenn ihn besser. Er wird mir drohn und mich von seiner Schwelle weisen, mich und das Kind, und wird uns böse Namen geben.«

»Ich fürcht es nicht. Aber wenn er härter ist, als ich ihn schätze, dann geh ihn an um dein Erbe, das wird er dir nicht weigern können. Und dann suche dir einen stillen Platz und gründe dir ein neues Heim und einen eigenen Herd. Tu's, Gret. Ich weiß, du hast ein trotzig Gemüt; aber bezwinge dich um des Kindes willen. Versprich mir's. Willst du?«

»Ich will.«

Es schien, daß sie noch weitersprechen wollt, aber in diesem Augenblicke trat Zenobia ein und sagte: »Denk, Gret, 's gibt noch a Spiel heut. Den ›Sündfall‹ wollen s'. Das Leutvolk laßt uns ka Ruh nit. Aber a ›Sündfall‹ ohn a Engel? Das geht halt nit. Und drum komm i. Was meinst, Gret?«

Diese starrte vor sich hin.

»Geh«, sagte Valtin. »Rücke den Korb dicht her zu mir und spiele den Engel. Und wenn die Stelle kommt, wo du die Palme hebst, dann denk an mich.«

Und sie rückte den Korb näher an sein Lager und beugte sich über ihn. Er aber nahm noch einmal ihre Hand und sagte: »Und nun leb wohl, Gret, und vergiß es nicht. Ich höre jedes Wort. Geh. Ich wart auf dich.«

Und Grete ging und barg ihr Gesicht in beide Hände.


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