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Aus den Tagebüchern der Italienreise Oktober/November 1874

Sonnabend d. 3. Oktober
Von München nach Verona

Der Zug ging nicht abends am 2. Oktober. So denn Abfahrt am 3. um 9 Uhr 10 Minuten. Anfänglich höchstens Gegend à la Luckenwalde; erst bei Rosenheim wird es schön, plötzlich hat man die Bayrischen Alpen vor sich, und im nächsten Moment ist man drin und fährt, Berge links und rechts, das Inntal hinauf. Die Bergpartien bleiben an Grandiosität hinter den Schweizer-Bergen weit zurück, doch treten sie, der Zahl nach, massenhafter an einen heran. Das einzelne wirkt nicht bewältigend, aber das Ganze macht einen bedeutenden Eindruck. Kufstein, Grenzfestung, liegt ähnlich imposant wie Bellegarde, das den Jurapaß zwischen Schweiz und Frankreich schließt. Nach Kufstein kommen die Städte Schwaz und Hall, hübsch gelegen; dann Innsbruck, das einen eminent langweiligen Eindruck macht. Einen desto beßren machte die Bouillon mit Leberknödel seines Bahnhofs. Hinter Innsbruck beginnen die Tunnel, und die Bahn klettert, über den Iselberg hinweg, bis zum Brenner-Paß hinauf. Hier scheiden sich Deutschland und Italien, wenigstens geographisch, wenn auch nicht politisch; Südtirol beginnt. Man kommt nach Sterzing, dem Geburtsort Speckbachers (auch Passeier in der Nähe), und fährt nun im Etsch-Tal hinab, wie man vorher das Inn-Tal hinauffuhr. Erst Brixen, weiß mit Schindel oder Schieferdächern, dann Franzensfeste, wo eine Bahn nach Triest abzweigt, dann Bozen. Franzensfeste ist ein ziemlich bedeutender Bau, modern, gasometerartige Rundtürme mit Geschützöffnungen. Bozen lag da, wie ich Dover zu sehen pflegte: ein paar Schattenstreifen am Berge hin und die Schattenstreifen durch hundert Lichter belebt. Das Bozener Obst wurde am Bahnhof durch eine harte Birne repräsentiert, die ich für 6 Kreuzer akquirierte. Dann Trient, dann Roveredo. Um etwa 11 Uhr Ankunft in Verona. Unterkunft gefunden in Colomba d'oro. Zimmer 36 machte anfangs einen so bedenklichen Eindruck, daß ich es mit dem Licht in der Hand absuchte und einiges Kleinzeug (Spinnen, Spinnweb, Ohrwürmer, Gnitzen) verbrannte. Die gefürchtete Störerin meiner Nächte, das kastanienbraune Plattier, blieb aber aus. Ich gebrauchte die Vorsicht, in die Klinse der wenig geöffneten Tür ein brennendes Licht zu stellen. Dies rettete uns vor Gnitzen und gab mir die Befriedigung, ein Licht verschwinden zu sehen, das ich doch bezahlen mußte.

*

Sonntag den 4. Oktober.
In Verona.

Frühstück im Hôtel; auf die Piazza Brà mit dem römischen Amphitheater. Großartig und vollendet. Triumph geschmackvoller Technik; von Kunst, die vom Himmel stammt, keine Rede. Porta Borsari; auch altrömisch. Dann auf die Piazza Erbe oder d'Erbe. Gemüsemarkt. Höchst interessantes, italienisches Treiben, heiter, lachend, laut, bunt, polcinellhaft. – Dicht dabei die Piazza dei Signori, der Hauptplatz der Stadt. Hier sind einzelne Gebäude von Bedeutung, dazu die neuerdings restaurierte »Veronesische Ruhmeshalle«, Statuen von Dante in Mitte des Platzes und dahinter, höher angebracht, eine zweite, von einer andren italienischen oder veronesischen Zelebrität, ein Arrangement, was höchst glücklich wirkt. Etwa so [folgt eine Skizze Fontanes]. a und b sind zwei Hälften ein und derselben Straße, die durch den Platz sozusagen unterbrochen wird, c ist die Dante-Statue inmitten des Platzes; bei a ist in Höhe von 30 Fuß oder mehr die Straße durch einen Bogen überspannt, und auf diesem Bogen steht nun die zweite Statue, die über den Kopf Dantes hinwegblickt.

Dicht an diesem Platz eine kleine Straße mit Kirche und Kirchhof; letztre beiden umgittert. Auf diesem kleinen umgitterten Kirchhof stehen die beiden Grabdenkmäler zweier Scaliger. Höchst interessant.

Ebenfalls in unmittelbarer Nähe der Piazza dei Signori ist ein andrer Kirchplatz, mit einer großen alten Kirche, in der »Indulgenza plenaria« auf einer Eintrittstafel angekündigt war. Die Kirche drückend voll. Ein Geistlicher predigte. Das Ganze wie eine Parade-Cour; man kam und ging.

Flaniert in der Stadt. Dies und das gesehn. Alte Brücken, Kirchen, Plätze, römische Überreste. An der Piazza Brà erbärmlich gegessen. Dann in einem Wagen nach Giardino Giusti; dreihundert sehr alte Zypressen; 120 Fuß hoch, kostbare Trauerweide. Anblick von der Höhe des Gartens. A. Thiers u. Böcklin im Fremdenbuch. Dann an dem Palazzo Capulet (jetzt eine Art Ausspannung) vorbei nach einem Vorstadt-Garten, in dem sich Tomba di Giulia befindet. Sackgasse, Torweg, langer Festungsgang., langer Gartengang, dann rechtswinklig abbiegen, dann eine Art Gartenhaus mit gelbrotem Zimmeranstrich, Verkaufstisch von Kinkerlitzchen und auf einer oder zwei Treppenstufen die tomba selbst in halber Höhe. Unten etwas ausgehöhlt. An der Wand ein kostbarer Immortellenkranz mit englischer Visitenkarte. Im Zurückgehen A. Thiers, Frau und Schwägerin.

Gegen 6 Uhr nach Venedig. Fahrt über Vicenza, Padua, Mestre und die kolossale Lagunen-Brücke. Ankunft gegen 10. In einer Gondel den Canal grande hinunter, unterm Rialto fort, bis zum Hôtel Bauer.

*

Montag den 5. Oktob.
In Venedig (l. Tag)

Hôtel Bauer ist ein großes Etablissement: Hôtel, Pension, Chambre garnie, Restaurant, alles zusammen, aber in drei, vier Häusern verteilt, die alle an einem Seitenkanal des Canal grande in unmittelbarer Nähe der Kirche San Moisé und in ziemlicher Nähe (300 Schritt) des Marcusplatzes liegen. Besonders ausgezeichnet ist das Restaurant. Hier herrscht von früh 9 Uhr an das regste Leben in einem etwas rustrigen, aber geräumigen Lokal, so recht ein gutes deutsches Kneipenlokal. Bedienung prompt und freundlich, alles, was man genießt, sehr gut, das Bier ausgezeichnet. Wir haben sehr angenehme Stunden an dieser Stelle zugebracht. Gleich am Sonntagabend, unmittelbar nach unserer Ankunft, nahmen wir hier eine gute Abendmahlzeit. Alle Deutsche finden sich hier zusammen.

Am Montag früh, nach einem Frühstück im Hôtel selbst, an San Moisé vorbei auf den Marcusplatz und die Piazetta. Der Anblick beider ist bewältigend. Welcher der schönere von beiden, ist schwer zu sagen. Man sollte, soweit Landschaft und Architektur in Betracht kommen, geneigt sein, der Piazetta den Vorzug zu geben. Sie hat den überaus malerischen Dogenpalast, hat eine Flanke der Marcuskirche, nimmt an dem Campanile (der an der Ecke beider Plätze steht) teil und hat zu dem allem die wundervolle Aussicht auf die Lagunen und die Inseln San Giorgio maggiore und La Giudecca. Dennoch ist der Marcusplatz, der außer der Front der Marcuskirche nur mächtige, aber unförmige Kolonnaden zu beiden Seiten hat, der bevorzugtere Aufenthalt und, wie mir scheinen will, mit Recht. Ob das, was ihn anziehender macht, die Schönheit und Größe seiner Verhältnisse oder eine günstigere Beleuchtung oder die Marcus-Fassade oder die lachende Heiterkeit seiner Läden und seines Lebens und Treibens ist, stehe dahin; aber es ist eine Tatsache, er gefällt mehr und absorbiert alles Fremden-Leben.

Die Piazetta mündet auf einen Quai, an dessen kleinen Landungsbrücken zahllose Gondeln liegen; nach links hin läuft dieser Quai erst an der einen Flanke des Dogenpalastes hin, überbrückt dann einen Kanal (Ponte di Paglia) und nimmt nun weiterhin den Namen Riva delli Schiavoni an. Nach rechts hin läuft der Quai nur noch eine kurze Strecke an Garten und Gitter des Palazzo reale hin; hier hat der Quai ebenfalls einen eigenen Namen, den ich jedoch vergessen habe. – An der Riva liegen die Dampf-Schiffe, die nach Triest, Chioggia und dem Lido fahren. Hier singen abends die Schiffer volkstümliche Weisen, hier ist noch echtes venezianisches Leben, während auf dem Marcusplatze meist nur Fremde aller Nationen getroffen werden. – Links von der Ponte della Paglia, den schmalen Kanal zwischen Dogenpalast und dem Gefängnisgebäude überbrückend, ist die Seufzerbrücke, Ponte dei Sospiri. – Der Rialto ist mitten in der Stadt und überbrückt mit einem mächtigen Bogen den Canalgrande, gerade halben Wegs zwischen dem Bahnhof und der Piazetta.

Die Post, die sich früher in einem alten Palast am Canal grande befand, ist jetzt in verhältnismäßig geringer Entfernung vom Marcusplatz. Man biegt in die Gasse neben dem Uhrturm ein und gelangt dann sehr bald an den ersehnten Platz der Poste restante-Briefe. Ich fand daselbst die Korrekturfahnen vor, die mir Goldiner getreulich nachgeschickt hatte.

Flaniert. Abwechselnd Eis, Absinth, Kaffe. Um 6 ins Hôtel zum Diner. Frau v. Noville und Tochter an der Table d'hôte getroffen. – Um 9 mit Novilles auf den Marcusplatz. Um 10 mit Emilie zu Biere im Restaurant Bauer.

*

Dienstag d. 6. Oktober.
Zweiter Tag in Venedig

Emilie mit Novilles ausgeflogen. Ich im Hôtel geblieben, um die Fahnen zu korrigieren. – Um 2 aus. Erst Frühstück im Restaurant. Dann in die Kirche Santa Maria dei Frari. Sie enthält die Grabdenkmäler einer Anzahl von Dogen und andren Größen der Republik, namentlich auch die Grabdenkmäler Tizians und Canovas, beide einander gegenüber. Ich finde beide nicht besonders; sie verschwinden neben den großartigen Leistungen der Peter Vischerschen Kunst und Schule in Nürnberg, München, Innsbruck. Das dem Tizian errichtete Grabdenkmal ist kümmerlich; in der Rundbogenhalle einer Renaissance-Architektur sitzt der alte Meister, zwei symbolische Figuren neben sich, während hinter und neben ihm drei seiner berühmtesten Bilder in Basrelief wiedergegeben sind. Darunter das Hauptbild, die Assunta. Dies ist die billigste Manier, sich loszukaufen. So kann man 12 Denkmäler in einer Stunde komponieren; immer eine Büste oder Statue und die Werke des zu feiernden Meisters in Kopie drum herum. – Das Denkmal Canovas ist nicht viel besser, wenn ihm auch Geist und Eigentümlichkeit nicht abzusprechen ist. Man sieht eine Grab-Pyramide (die Fassade derselben reliefartig vorspringend), und drei trauernde Frauen-Gestalten, unter ihnen als 4. Figur ein Fackelträger, schreiten auf die halbgeöffnete Tür des Grabes zu. Von der andern Seite ein geflügelter Löwe, wie es scheint, in stillem Schmerz entschlummert, und neben ihm ein trauernder Genius. Dies alles klingt ganz gut und könnte bedeutend wirken, wenn nicht die Gestalten selbst alle tief in süße Weinerlichkeit getaucht wären. Es ist modern-sentimental und wirkt beinah unangenehm. Nur im ersten Moment wirkt die Eigentümlichkeit der Komposition sehr günstig.

Von Santa Maria dei Frari zur Academia delle belle Arti am Canal grande. Ich hatte nur noch Zeit zu einer flüchtigen Besichtigung der hier aufgehäuften Schätze, die bei diesem ersten Besuch einen geringeren Eindruck auf mich machten, als ich erwartet hatte. Die beiden berühmten Tizians: Marias erster Gang in den Tempel (als etwa l0jähriges Kind) und selbst die »Assunta« nahmen mein Herz nicht gefangen. Erstres wirkte ein klein wenig komisch, letztres schien mir hinter der »Himmelfahrt Marias« desselben Meisters in Verona zurückzubleiben. (Ich wurde aber später total bekehrt.)

Von der Akademie auf den Marcusplatz. Den Campanile bestiegen; Sonnenuntergang. Kostbares Landschaftsbild, das, wie Wichmann in seinen Notizen sehr richtig bemerkt, nicht wieder vergessen werden kann. Im Nordwesten sank die Sonne hinter den Tiroler Alpen unter und vergoldete diese. – Vom Campanile an die Riva delli Schiavoni. Platz genommen im Café Orientale. Eis, Absinth, Musik aller Art. Echt venezianisches Volkstreiben: Kaufleute, Juden, liederliche Frauenzimmer, Matrosen, Soldaten, Tassengeklapper und Gitarren-Geklimper; dazwischen wundervoller, gutgeschulter Gesang von zehn, zwölf Schiffern, die, Kreis schließend, in Nähe des Cafes sich aufstellten. – Um 8 Uhr nach Haus. Mit Emilie im Restaurant Bauer gegessen.

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Mittwoch den 7. Oktober.
Dritter Tag in Venedig.

Mit Novilles im Hôtel gefrühstückt. – Um 10 zu Antonio Salviati am Canal grande, dem Wiederhersteller der alt-venezianischen Glas- und Mosaik-Kunst. A. v. Werners Bild gesehen, an dessen Ausführung in Mosaik ein halbes Dutzend Künstler beschäftigt waren. Drei Stunden dort geblieben. Das Ganze sehr lehrreich und sehr interessant. Von Salviati in die Academia delle belle Arti. Nur 10 Minuten vor der »Assunta« geblieben, diesmal mit einem guten Glas bewaffnet. Die erhabene Schönheit dieses Bildes ging plötzlich vor mir auf. Es ist ganz und gar No. 1; ein Triumph der Kunst; die alte Phrase von der »Göttlichkeit der Kurist«, die jeder braucht, der drei Leberwürste malen kann, hier hört sie auf, Phrase zu sein; dies ist ein Göttliches und faßt das Menschenherz ganz anders als 7 Bände Predigten. Ich kann mich nicht entsinnen, durch irgendeine Gestalt je so berührt worden zu sein, selbst die Sixtinische Madonna kaum ausgenommen. In letztrer ist etwas Fremdes, über das Menschliche schon Hinausgehende; hierin mag ihre besondere Größe liegen, aber was unser Herz am tiefsten bewegt, muß immer wieder ein Menschliches sein, und das haben wir in dieser Tizianischen Maria. Bei allem Seligsein im Schauen Gottes verbleibt der Gestalt doch etwas Schön-Menschliches. Es ist immer noch ein Weib, keine Himmelskönigin. Darin steckt der Reiz. Der Unterschied zwischen dieser Tizianischen Assunta und der in Verona (die auch außerordentlich schön ist) liegt äußerlich darin, daß die letztre zu den Jüngern hinunter, jene zu Gott hinaufsieht. Daraus entwickelt sich alles Weitere. Freilich mußte es ein Tizian sein, um die Aufgaben so zu lösen. In dem einen Bilde gibt sie, in dem andern empfängt sie; in jenem lächelt und beseligt sie, in diesem wird sie beseligt in demütigem Aufschauen zu Gott.

Am Nachmittage mit den Damen zusammen nach San Giovanni e Paolo, eine Kirche, die mit der Schule San Marco einen rechten Winkel bildet. Auf dem kleinen Platz in Front und Flanke der Kirche steht die berühmte Reiterstatue des Generals Colleoni, ein Meisterwerk ersten Ranges. Schön, eigentümlich, lebensvoll. Die Kirche San Giovanni e Paolo selbst enthält sehr viele Dogen-Grabmäler; einzelne sitzen zu Roß, andre liegen auf dem Sarkophag, doch ist mir keines dieser Steinbilder als etwas ganz Besondres im Gedächtnis geblieben. Man muß in der Geschichte Venedigs fester, mit den einzelnen Trägern berühmter Namen vertrauter sein, um diesen Denkmälern ein größres Interesse abzugewinnen.

Um 6 mit Novilles ins Hôtel zum Diner. Bei Tisch trifft die Nachricht von Graf Arnims Verhaftung ein. Partielle Aufregung. – Um 9 auf den Marcusplatz. Gelato bei Florian. Militär-Musik.

*

Donnerstag d. 8. Oktob.
Vierter Tag in Venedig.

Um 10 Uhr in den Dogen-Palast. Ein wunderbarer Bau. Die kurzen Säulen des Erdgeschosses, die phantastisch ornamentierten des I. Stockes, dann endlich der nur von sechs breiten gotischen Fenstern unterbrochene, in längliche Vierecke abgeteilte Riesen-Marmorwürfel, der von den Säulengängen des Erdgeschosses und I. Stockes getragen wird, wirken zauberhaft. Es erinnert an Bilder, auf denen Luftgestalten irgend etwas Schweres und Massiges, einen prächtigen Sarkophag, einen Reliquienschrein oder einen Tempel tragen. Der Eingang ist von der Piazetta aus. Man steigt die Scala dei Giganti hinan und ist nun auf der Galerie, deren Säulen den ersten Stock umziehn. Zwei dieser Säulen sind rot. Von dieser Stelle aus wurden die Todesurteile verkündet oder vielleicht auch nur angekündigt, daß sie vollzogen seien. Geht man bis an das Ende der Galerie, so hat man einen prächtigen Blick auf das Wasser und San Giorgio Maggiore.

Von dieser Galerie des ersten Stockes aus führen zwei Treppen in das Innere des Palastes hinein. Die erste dieser beiden Treppen ist die Scala d'oro. An ihr vorbei, weil sie geschlossen ist, steigt man weiterhin eine zweite, mit der Scala d'oro parallel laufende Treppe hinan, deren Namen ich vergessen habe.

Ist man diese Treppe halb hinauf, so hat man, nach der einen Seite hin, das Archäologische Museum, nach der andern Seite hin den Saal des Großen Rates, an den der Saal der Wahlstimmen anschließt, neben sich.

[...]

Desto interessanter [als die Ausstellungsstücke in einem höher gelegenen Stockwerk] sind die Räume selbst. Hier im Saal der Drei und der Zehn wurde die Geschichte Venedigs gemacht. Im Saal der Büchse (della Bussola) sieht man noch eine der Öffnungen, jetzt durch eine kleine Klapptür geschlossen, durch welche die geheimen Briefe geworfen, die Denunziationen gemacht wurden. Zugleich war es Vorzimmer, in das, auf diese oder jene heimliche Anzeige hin, die Bürger der Republik zitiert wurden, um vor dem Rat der Drei oder der Zehn Rede und Antwort zu stehn. Gelegentlich ließ man sie, ohne sie vorzulassen, drei-, viermal erscheinen und steigerte dadurch die bange Erwartung bis zur äußersten Todesfurcht. Sehr eigentümlich ist einer der Ausgänge aus diesem Salle della Bussola. Er gleicht einem schrägstehenden Eckschrank, der durch eine Scheidewand halbiert ist und dessen beide Türen offen stehn. Also etwa so [folgt eine Skizze Fontanes].

In unmittelbarer Nähe dieser drei unheimlichen Räume (die aber keineswegs den Eindruck des Unheimlichen machen), also des Saales der Bussola, der Drei und der Zehn, liegt auch ein schmaler kleiner Korridor und an demselben eine zugeriegelte kleine Tür, die die zu den Gefängnissen hinabführende Treppe schließt. Mit Hilfe dieser Treppe wurden die in den »Pozzis« gefangen Sitzenden von aller Welt unbemerkt vor den Rat der Drei oder Zehn geführt und empfingen ihr Urteil. Später befanden sich die Gefangenen seltener in den »Pozzis«, auch nicht in den »Bleikammern«, die nach oben zu, unterm Dach, dieselben Schrecknisse boten wie die Pozzis nach unten zu, in den Kellergewölben, sondern sie waren in dem verhältnismäßig neuen Gefängnisbau untergebracht, der sich, Newgate-artig, an der andern Seite jenes schmalen Kanals erhebt, der die Rückseite des Dogenpalastes begrenzt. Wurden die Gefangenen von diesem neuen Gefängnis aus vor ihre Richter geführt, so mußten sie nun die Seufzerbrücke, Ponte dei Sospiri, passieren, die den schmalen Kanal etwa in Höhe des zweiten Stockes überbrückt. Schaut man aus dem Fenster des Saales der »vier Türen« hinaus, so hat man die Seufzerbrücke, ein wenig nach rechts hin, dicht unter sich. Die ganze Lokalität: Bussola, Saal der Drei, der Korridor mit der verschlossenen Tür und die Seufzerbrücke, ruft sehr ähnliche Empfindungen wach wie Traitors Gate im Tower. Doch sind die Eindrücke im Tower stärker. Diesem Venezianischen haftet doch, bei hundert Vorzügen, die meist nach der Seite des Phantastischen und Schönheitlichen hin liegen, etwas relativ Kleines an. Man fühlt die Stadt statt des Staates heraus.

Aus dem Dogenpalast, nach 4stündigem Durchstöbern, in das Café Orientale an der Riva. – Um 4 Uhr mit Novilles und Schwechten (der am Abend vorher mit seinem Freunde, dem Bankier Königs, angelangt war) nach dem Lido. Hübsche Fahrt, hübscher Blick aufs Adriatische Meer; sonst eigentlich langweilig. Um 6 zurück. Von 6-7 Gondelfahrt auf dem Canal grande. Um 7½ ins Restaurant Bauer. Um 9 mit Novilles auf den Marcusplatz. Um 10 mit Schwechten »zu Biere«.

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Freitag d. 9. Oktober.
Fünfter und letzter Tag in Venedig.

Mit Novilles, Schwächten und Königs auf dem Marcusplatz bei Quadri gefrühstückt. – Dann mit Emilie Kanalfahrt nach der Scuoia San Rocco, die in einer unteren und oberen Halle, ebenso an den Treppenwänden hin mit Tableaux venezianischer Meister, namentlich wieder Tintorettos, gepflastert ist. Letztrer dominiert hier durchaus; noch viel mehr als im Dogenpalast. Auch hier ließ er mich kalt. Im obren Stockwerk, neben der großen Halle, befindet sich sein berühmtestes Bild, die »Kreuzigung«. Es ist groß, figurenreich, voll Bewegung, Leben, Handlung, einige Gruppen sind nicht ohne Interesse; dem Christuskopf ist eine Liebe und ein Fleiß zugewendet, der sich in den wenigsten seiner Arbeiten findet. Dennoch ist dieser Christuskopf nur relativ anzuerkennen, während die Frauengestalten unterm Kreuz vollends wieder in Trivialität und Zerrbildlichkeit versinken. – Von Scuoia San Rocco zum dritten und letzten Mal in die Akademie. Alle Hauptstücke nochmals ernsthaft gemustert. Außer der »Assunta«, die mich auch diesmal wieder ergriff, finden sich in Saal XV und XVI eine Menge sehr ausgezeichneter Sachen vor. Man kann hier die venezianische Schule studieren und lernt außer den bekannten drei Nummern: Tizian, P. Veronese und Tintoretto ein ganzes Dutzend andrer Größen kennen, unter denen viele sind, die sich neben P. Veronese behaupten und den Tintoretto übertreffen.

[...]

Aus der »Akademie« ins Hôtel zurück. Rechnung bezahlt. Billig; nur 80 Francs. Frühstück im Restaurant; dann, in entzückender Gondelfahrt, bis zum Bahnhof. Abfahrt 2 Uhr 35. Über Padua, Rovigno, Ferrara (lag da wie Weimar), Bologna, Pistoja nach Florenz. Ankunft in Florenz 11 Uhr abends.

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Sonnabend d. 10. Oktober.
Erster Tag in Florenz.

Am Freitagabend in Casa Nardini, Borgo Santi Apostoli, abgestiegen. Großes Zimmer nebst Cabinet, für 4 Francs täglich. Alles gut und geräumig; die Leute prompt und freundlich. – Poste restante Briefe von George und Mete empfangen; in diesen Briefen leider auch die Nachricht von dem plötzlichen Tode unsres guten Fournier. – Den Vormittag über Briefe geschrieben und ein dickes Konvolut (zwei Briefe an den Chevalier, l an Hertz, l an die Kinder) zur Post gegeben. – Erster Gang auf die Piazza della Signoria; den Palazzo vecchio und die Loggia dei Lanzi aufrichtig bewundert. Als Bauwerk namentlich den erstren. Er rührt von (Arnolfo di Cambio) her, der auch den Dom zu bauen begann. Er muß ein Genie ersten Ranges gewesen sein.

Dann in die Trattoria delle antiche Carozze, Ecke der (Via Por S. Maria) und von Borgo SS Apostoli. Gut und billig gegessen.

Nach Tisch flaniert. Erst durch die (Via Calzatoli) bis zum Dom und dem Baptisterium. In den Dom hinein. Dann durch die (Via de servi) bis zur Chiesa Santa Annunziata; von dieser zur Kirche San Marco; ausgeruht auf einer Bank des vorgelegenen hübschen Platzes; dann durch die Via Cavour, in der sich der kostbare Palazzo Riccardi befindet, nach dem Platz am Dom und endlich nach der Piazza della Signoria zurück. Kaffe genommen; einen Guide gekauft; noch ein wenig flaniert. Blick in die Uffizien; dann nach Haus. Tee. Geplaudert, geschrieben, gelesen.

*

Sonntag d. 11. Oktober.
Zweiter Tag in Florenz.

Um 10 auf die Piazza della Signoria; den Palazzo vecchio abermals bewundert; die Loggia dei Lanzi und ihre Skulpturen ernsthaft durchgenommen. Es sind:

Zwei Löwen am Eingang;
sechs Vestalinnen im Hintergrund (alt-griechisch);
der sterbende Ajax (griechisch);
der Raub der Sabinerinnen;
Herkules besiegt den Zentaur;
der Perseus (von Benvenuto Cellini) und
der Raub der Polixena (von Feddi; modern).

Alle diese Sachen sind sehr bedeutend. Der sterbende Ajax läßt mich ziemlich kalt; dagegen haben der »Raub der Sabinerinnen« und der »Perseus« einen starken Eindruck auf mich gemacht.

Von der Loggia dei Lanzi, durch das Gewirr alter Straßen hindurch, auf die entzückende Ponte vecchio zu, die in mancher Beziehung den Rialto in Schatten stellt, und dann über die Brücke fort bis zum Palazzo Pitti. Zunächst nur seine Fassade und den großen Hof in Augenschein genommen. Die Boboli-Gärten waren noch geschlossen. – Zurück nach Palazzo vecchio. Von dort aus, nach Anhören der sonntäglichen Wachparaden-Musik in den Uffizien, in die Galerie der Uffizien und daselbst gute zwei Stunden verweilt. Die Galerie ist im obersten Stockwerk, zu dem von den ersten Pfeilern des linken Flügels aus (vom Palazzo vecchio aus gerechnet) eine Treppe hinaufführt.

Die Hauptschätze dieser großen »Galerie der Uffizien« befinden sich in einem ziemlich kleinen Raum, einem überkuppelten Oktogon, das den Namen »die Tribuna« führt. Hier stehen zunächst fünf antike Skulpturenwerke ersten Ranges:

  1. die mediceische Venus;
  2. ein junger Apoll;
  3. der tanzende Faun (Kopf und Arm durch Buonarotti ersetzt);
  4. die Ringer;
  5. der Schleifer.

Die letztgenannten beiden Skulpturen interessierten mich mehr als die ersten drei; besonders schön find ich den »Schleifer«, der übrigens sicher einen andren Namen verdient. Auch die »Ringer« sind wundervoll.

[...]

Das bedeutendste Stück, was sich hier [in der Uffizien-Galerie] noch vorfindet, ist ein abgeschlagenes Medusenhaupt von Leonardo da Vinci. Außerordentlich schön.

Was ich im übrigen sah, darunter eine Galerie von Maler-Porträts, war ziemlich intereßlos. Overbecks Porträt fiel mir durch eine unangenehme Häßlichkeit auf, in der noch mehr Beschränktheit als Askese sich aussprach. Wie ledern alle diese Köpfe, neben dem, was Tizian, Raffael, Velasquez, Van Dyck speziell auch auf diesem Gebiet geleistet haben.

Dann und wann traten wir aus den Zimmern auf die Korridore hinaus, die den Innenraum der Uffizien von drei Seiten her einfassen; die Fenster standen auf, und man sah nun teils auf den Palazzo vecchio in Front, teils auf den Uffizien-Hof unten, auf dem eine Militärkapelle nach wie vor musizierte und eine bunte Menschenmasse auf und ab wogte.

Um 2 zu Tisch. Um 3 nach Haus. Geschrieben. Früh zu Bett.

*

Montag den 12. Oktober.
Dritter Tag in Florenz.

Um 12 ausgeflogen, um Santa Croce aufzusuchen, das ich mit der Chiesa del Carmine verwechselte und deshalb an ganz falscher Stelle suchte.

Am Südufer des Arno hin von Ponte alla Carraia, an Ponte Santa Trimtà und Ponte vecchio vorbei, bis zur Ponte alle Grazie, die, wegen Neubaus, unpassierbar war, weshalb wir in einem Boot (Fährgeld 5 Centesimi) übersetzten. – Nun wiederum in den alten Stadtteilen flaniert, Paläste gemustert, die alle entweder im Kastellstil des Palazzo vecchio oder in dem eigentümlichen florentinischen Riesenwürfel-Stile gebaut sind, jene vielleicht dem 14. und 15. Jahrhundert, diese dem 16. Jahrhundert angehörig, die einen noch halb gotisch, die andren – volle Renaissance. Welcher von den Renaissance-Palästen der älteste ist und nun als Muster diente, stehe dahin; ich möchte vermuten der Palazzo Strozzi in der Via Tornabuoni, dessen Bau schon 1489 begann. Diese Paläste sehen sich untereinander sehr ähnlich. Es sind in braunem oder grauem Kalkstein (so vermute ich) aufgeführte Kubusbauten, meist an der Ecke einer Straße oder ein ganzes Stadtviertel bildend bis zum ersten, immer sehr hoch gelegenen Stock hin eine mächtige Rustica, die vergitterte Parterrefenster und ein Entresol enthält; dann folgen erster und zweiter Stock meist mit großen Rundbogenfenstern. Das Dach weit vorspringend. Die Wirkung ist außerordentlich. Solidität, Vornehmheit, Schönheit der Verhältnisse; vor allem fehlt alles Kleine. Noble Einfachheit, die den Putz verschmäht. Diese Wirkung bleibt auch; aber man gibt seine Bewunderung den vielen Nachahmungen gegenüber doch insoweit auf, daß einen das Gefühl beschleicht: Die Imitierung, um die es sich schließlich doch bloß handelte, konnte nicht allzuschwer sein. In der Tat wird auch jetzt vielfach noch in demselben Stile weitergebaut.

Etwa um 3 Uhr zu Doney & Nepoti, einem feinen englischen Restaurant in der Via Tornabuoni. Bouillon, gebackene Soles, Beefsteaks und eine Flasche St. Julien; alles sehr gut; etwa 4 Tlr. bezahlt, was mit Rücksicht auf die Feinheit des Platzes nicht zu viel war. Doch beschlossen wir, andren Tags wieder mit unsrer »antica carozza« zu fahren, wo man für den vierten Teil nicht eben schlechter ißt.

Von Doney aus Santa Croce gesucht. Wieder nicht recht gefunden und zuerst bei San Lorenzo gelandet; von dort aus dann, auf Umwegen und mit Hilfe von immer wiederholten Anfragen nach dem »florentinischen Pantheon«, wie Santa Croce genannt wird.

Auf der Piazza Santa Croce steht natürlich ein Dante. Er ist viel schlechter als der in Verona. Dieser florentinische hat die Attitüde eines Generals, der, den linken Fuß energisch vorsetzend und die Rechte an den Degen legend, sich anschickt, ein Bataillon persönlich vorzuführen. So undantehaft wie möglich. Wäre nicht der Lorbeerkranz und die große Nase, so würde man ihn, infolge dieser falschen Charakterisierung, kaum erkennen.

Santa Croce, im gotisch-florentinischen Stil gebaut, worunter man sich denken kann, was man will, hat eine mit Marmormosaik überkleidete, überhaupt außerordentlich reich geschmückte Fassade. Besonders schönheitliche Eindrücke empfing ich nicht. Im Innern sind die Grabmonumente wie folgt verteilt:

  1. im linken Seitenschiff, hart am Eingang, Galileo Galilei;
  2. im rechten Seitenschiff, dem Galilei gegenüber, Michelangelo.
  3. Ebenfalls im rechten Seitenschiff (wie auch die beiden folgenden) Dante.
  4. Alfieri.
  5. Macchiavell.

All diese fünf Denkmäler, wiewohl von den verschiedensten Künstlern herrührend, sind gedanklich sehr übereinstimmend; von Geist oder gar Genius [?] keine Spur. Ein Sarkophag, auf dem die Figur des zu Feiernden sitzt oder seine Büste steht; – daneben dann einige symbolische Gestalten: die Astronomie, die Geometrie, die Muse, die Kunst, die Geschichte, die Stadt Firenze mit der Mauerkrone. Es verlohnt sich nicht, in Details zu gehn. Wie tief steht dies alles, nicht bloß unter den Peter Vischerschen und Adam Kraftschen Arbeiten, nein, auch unter dem, wovon die Kirchen in St. Denis, Rouen, Roeskilde etc. gefüllt sind. Alfieris Grabmahl rührt von Canova her; diese Arbeit ist unter den fünfen die weitaus beste; die Gestalt der trauernden Firenze ist sogar gut zu nennen. Schön und würdig in Haltung und – ohne Sentimentalität. Von den Inschriften habe ich zwei notiert. Dante muß sich mit drei Worten begnügen: »Onorate l'altissimo poeta«. Bei Macchiavell heißt es: »Tanto Nomini Nullum par Elogium«.

[...]

Alles andre Gesehene – die wundervollen Porträts und Statuen, einerseits in der »Tribuna«, andrerseits in der Loggia dei Lanzi außer Betracht gelassen –war nicht derart, daß de Bestand sonderlich in den Schatten gestellt würde. Die berühmten Galerien im Louvre, in Dresden, in München, die »National-Gallery« in London und die Galerien der Herzöge und Marquis' von Devonshire, Westminster, Northumberland und Hertford bestehen, in ungeschwächtem Glanze, daneben fort.

Aus der »Pitti-Galerie« in die Trattoria delle antiche Carozze an der Ecke der Santi Apostoli-Straße; gut und billig gegessen. – Flaniert. Ins Baptisterium; einer Taufe beigewohnt. Die Ghibertischen Türen genau durchstudiert. In einen Liquorista-Laden; 2 Kuchen und 3 Maraschinos für 4 Silbergroschen. – Mit dem Omnibus, an Santa Maria Novella und seinen zwei Obelisken vorbei, bis zur Porta Prato gefahren. Spaziergang bis zu »Le Cascine«, die halb Rotten Row im Hyde Park, halb unsre Hofjäger-Allee sind. Nur ist unser Tiergarten unendlich viel hübscher. Dann am Lung' Arno hin bis zur Brücke San Trinità; durch Via Tornabuoni, an der Säule mit der Statue der Gerechtigkeit vorbei, nach Haus. Tee; Uva. Geschrieben.

*

Mittwoch d. 14. Oktober.
Fünfter und letzter Tag in Florenz.

Um 10 ausgeflogen. Flaniert. Das Innere des Palazzo vecchio gesehn, ebenso den Hofraum des Palastes, in dem sich jetzt das Museum nationale befindet. Nach Tornabuoni, um den Palazzo Strozzi, der mich besonders interessierte, nochmals in Augenschein zu nehmen. Der Palazzo vecchio, wie ich später – bei unsrer Rückkehr von Fiesole – wahrnahm, scheint, wenn ich recht gesehn habe, aus drei, wenigstens aus zwei verschiedenen Teilen zu bestehen: aus dem alten kastellartigen Bau an der Piazza delle Signoria, aus einem spätren »florentinischen Palaste« im Stile des Palazzo Strozzi und aus einem kapellenartigen Bau, der zwischen den beiden Palästen, die Vorder- und Rückenfront bilden, steht. Hab ich hierin recht, so kann man alle Studien, die sich auf den gotischen und Renaissancestil der florentinischen Paläste bezieht, sehr gut allein schon am Palazzo vecchio machen.

Umhergesucht, um eine Diligence-Gelegenheit nach Fiesole zu finden. Endlich entdeckt, und zwar m einer Sackgasse an der Piazza del Duomo. Diese Fahrgelegenheit aber doch aufgegeben, weil sie erst von 4 Uhr nachmittags an (wohl des Sonnenuntergangs halber) ins Leben tritt. Bei Wital bei der von Ponte vecchio nach der Piazza della Signoria führenden Straße dejeuniert, am Domplatz eine Beschreibung Fiesoles gekauft, dabei einen wehmütigen Blick auf die eben erschienenen »Viole; Poesie de Tomaso Tomasino« geworfen, dann in einem angenehmen Gefährt nach Fiesole hinauf. Preis: 10 Francs, was ich nach der bei uns geltenden Taxe für billig ansehen muß, denn wir fuhren über ¾ Stunden hinauf, dann l Stunde warten, dann wieder zurück. Die Hinauffahrt ist sehr schwierig. Fiesole ist jetzt ein ziemlich verkommener Flecken (Näheres siehe das italienische Büchelchen), was ihm aber auch jetzt noch ein Interesse sichert, das ist seine uralte, ich glaube aus dem 11. Jahrhundert herrührende Kathedrale und der wundervolle Blick, den es auf den weiten Bergkessel gewährt, in dem der Arno fließt und in welchem Florenz gelegen ist. Wir waren eine Stunde zu früh oben, aber nichtsdestoweniger waren wir entzückt. Nach einzelnen Seiten hin sieht man vierfachen, hier und dort mit Kastells besetzten Bergkranz den Kessel einschließen. Der Überblick über die Stadt ist von den Fenstern des Palastes Pitti aus klarer und orientierender, wenn auch weniger umfassend.

[...]

Um 4 Uhr zurück, an Villen und Klostergebäuden vorbei, von denen eines (Dominikaner) ein ausgezeichnetes Bild von Beato Angela (da Fiesole mutmaßlich) enthalten soll. Auch sei noch bemerkt, daß der höchste Punkt des Berges, auf dem Fiesole gelegen ist, ein mächtiges Klostergebäude trägt.

Im Zurückfahren einen etwas andren Weg eingeschlagen, der uns, statt nach der Porta San Gallo zur Porta Pinti führte, vor der der protestantische Kirchhof gelegen ist. Wir ließen halten und besuchten Herm[ann] Christian Greves Grab. Er ruht zwischen einem Polen und einem Engländer, von denen jener eine Woche vor, der andre eine Woche nach ihm starb. Wir nahmen einige Buchsbaum- und Kleeblätter mit, das einzige, was ich von Grün auf seinem Grabe fand.

Um 5 wieder am Dom-Platz. Noch einmal in den Dom, der auch diesmal bedrückend auf uns wirkte. Zu Gilli & Letta; dann nach Haus. Geschrieben; gepackt. Um 9 noch einmal auf den Ponte vecchio und von da aus durch die Uffizien auf die Piazza della Signoria, um uns alles einzuprägen und – Abschied zu nehmen. Ziemlich spät zu Bett.

*

Donnerstag den 15. Oktober.
Reise von Florenz nach Rom.

Um 8½ Abreise von Florenz. Während der ersten Viertelstunde hat man immer noch das von seinem alten Klosterbau gekrönte Fiesole zur Seite.

Diesem Bilde entsprechend bleibt nun 8 Stunden lang die Fahrt. Die Unterschiede sind nicht sehr erheblich. Der Apennin läuft in hoher, kahler Kette zur Linken und stellt zwei, drei Reihen von Vorbergen in seine Front. Die vordersten Berge die niedrigsten. Auf diesen liegen die Kastelle, die Flecken, die Städte. Ein Kastell, ein Kloster, eine Kirche krönt meistens die Spitze, während die Ortschaften selbst mal höher, mal tiefer am Abhang liegen und entweder in einer einfachen Schräglinie in der Flanke des Berges oder in Terrassen in der Front desselben aufsteigen. Die Linien sind von außerordentlicher Schönheit, mitunter (namentlich gegen Abend) auch die Farben; im ganzen hat man aber doch, ganz abgesehen von dem Verfallenen und Heruntergekommenen, auch den Eindruck des Kahlen, Verbrannten, Ungemütlichen. Es heimelt nicht an. Keinen Augenblick hab ich die Empfindung gehabt: »hier möchtest du auch nur 24 Stunden sein«. Es ist gerade gut genug zum Vorbeifahren, zum Mit-Nachhausenehmen von einem Dutzend Oswald Achenbachs. Je mehr der Reisende weiß, je besser er die römische und italienische Geschichte kennt, desto entzückter und bewegter wird er auf eine Landschaft blicken, die von 100 Schritt zu 100 Schritt ihm wenigstens einen berühmten Toten herausgibt. Hier focht Hannibal, hier fiel Flaminius, hier dichtete Properz, hier malte Perugino, hier wurde Tacitus, hier Lucretia Borgia geboren. So geht es endlos weiter. Ich bin der Letzte, der die Zauber verkennt, die dadurch einer Gegend erwachsen. Aber, bei genaurer Prüfung, empfindet man doch immer wieder, daß es vorzugsweise ein poetisch-geheimnisvoll über der Landschaft schwebendes Etwas, die historische oder historisch-romantische Reminiszenz ist, die alle die Bilder, die sich vor uns entrollen, so schön, so einzig in ihrer Art erscheinen läßt. Die Bilder selbst bewirken dies nur zur kleineren Hälfte. Natur, Geschichte, Kunst unterstützen sich einander; wer aber einfach auf das angewiesen ist, was die Landschaftsbilder – von denen ich sagen möchte, daß sie einen Architektur-Charakter haben – ihm bieten, der wird, wenn er einigermaßen die Welt kennt und nicht direkt aus Treuenbrietzen nach Perugia versetzt wurde, einräumen müssen, daß es schönere, namentlich aber wohltuendere, herzerquickendere Gegenden gibt. Die Fahrt von Bonn bis Mainz, von Bern bis Interlaken, von Genf bis Lausanne, von St. Germain bis St. Denis, von London bis Richmond, von Kopenhagen bis Helsingör – ist schöner, erhebender. Das Herz geht einem mehr auf.

Die Ortschaften, die wir zu passieren hatten und von denen wir um so klarere Bilder gewinnen konnten, als die Bahn immer in einiger Entfernung an den hochgelegenen Städten und Flecken vorübergeht, waren, mit Umgehung geringerer Namen, die folgenden: Arezzo, Cortona, Perugia, Assisi, Spello, Foligno, Trevi, Spoleto, Terni, Narni, Orte und Passo di Corese. Dann Rom. Assisi und Spoleto machen den bedeutendsten Eindruck; doch liegen einige der kleineren Ortschaften malerischer. Orte ist, wenn man von Rom nach dem Norden fährt, Gabelpunkt, von wo aus links (westlich) eine zweite Bahn abzweigt, die über Orvieto und Siena ebenfalls nach Florenz führt. – Der Trasimenische See, der 10 Stunden Umfang hat, liegt zwischen Cortona und Perugia. Er ist sehr schön, ganz besonders durch die 3 Inseln, die in ihm liegen. Eine, wenn ich nicht irre, trägt ein Kastell, eine andre ein Kloster, die dritte (kleinste) ist bewaldet. An einer Stelle ist die Schiebung so, daß die beiden kleineren Inseln wie ein breites mächtiges Tor wirken, durch das hindurch man die dritte, bereits ziemlich weit zurückliegende kastellgekrönte Insel wie ein in Grau gemaltes Bild erblickt. Kennt man das Terrain, so ergibt sich der Verlauf der Schlacht, der den Römern 15000 Tote gekostet haben soll, sehr leicht. [Folgt Skizze Fontanes.] Hannibal kam von Oberitalien und überschritt den Apennin. Konsul Flaminius stand bei Arezzo. Hannibal bewerkstelligte einen Flankenmarsch, marschierte an Arezzo vorbei und nahm Stellung auf den Hügeln und Bergen zwischen a und b, will sagen zwischen Borghetto und Passignano. Beide Punkte treten dicht an den See heran und bilden ein Defilee. Flaminius, als er wahrnahm, daß Hannibal auf Rom zu ging, drängte nach. Als er (Flaminius) auf dem Terrain zwischen Borghetto und Passignano angekommen war, machte Hannibal die Mausefalle zu; von den Bergen in zwei mächtigen Kolonnen niedersteigend, schloß er das Defilee in Nord und Süd, zugleich von Norden her gegen Süden vordringend. Ein Teil der Römer schlug sich bei Passignano durch und entkam. Flaminius fiel.

Diese Partie am Trasimenischen See interessierte mich landschaftlich und historisch am meisten. Napoleon I. hat diesen See, der an den meisten Stellen ziemlich flach ist, austrocknen lassen wollen. Ein brutaler Plan. Ein Stück Geschichte und ein Stück Schönheit würde dem Lande dadurch verlorengegangen sein.

Großartig wirkt Assisi durch seine kolossalen Kloster- und Kirchenbauten, namentlich durch das Franziskanerkloster (Franz von Assisi) ziemlich am Fuße der hochansteigenden Stadt. – Spoleto ist Sitz eines Erzbischofs. – Terni und Narni sehr hübsch. – Der Soracte wirkt bedeutend. Es ist eine sechskuppige, einzeln dastehende, aber mehrere Meilen lange Bergpartie, etwa wie der Zobten, der Kyffhäuser, der Hörselberg, der Harz. Viel bedeutender als die erstgenannten drei, ist er dennoch kleiner als der letztre (der Harz). Seine Konturen sind sehr schön. Er wirkt gut, wenn man an ihm vorüberfährt, aber fast noch mehr an einer Stelle, vielleicht vier, fünf Meilen von Rom, wo man nur seine Kuppe ein vorgelegenes Plateau überragen sieht.

Unsere Hoffnungen, die Peterskuppel am Abendhimmel auftauchen zu sehn, wurden getäuscht. Es war bereits zu dunkel, und die ganz kleine Mondsichel reichte nicht aus, das Defizit an Tageslicht zu decken. Entzückend waren die großen Feuer, die über die weiten, schließlich völlig flach gewordenen Felder hin brannten; einige dicht neben der Eisenbahn. Gestalten hockten drum umher, deren Tun und Treiben wir nicht erkennen konnten.

Um 6½ fuhren wir in den Bahnhof ein; um 7 waren wir im Hôtel du Sud.

*

Ein letzter Tag in Italien

Es ging wieder heim. Der »ewig blaue Himmel Italiens« lag unverändert über der Landschaft, aber diese Landschaft selber lag im Schnee. Eine tiefe Sehnsucht nach Teppich und Doppelfenster fröstelte mir durchs Herz, und die Aussicht auf einen Ruhetag in Florenz, der die Rückkehr in geordnete, namentlich aber in angenehm temperierte Zustände auf abermals vierundzwanzig Stunden hinausrückte, erfüllte mich mit so wenig Freude wie möglich. Und doch war an diesem Programm nichts zu ändern, schon deshalb nicht, weil auf dem Hinwege zwei große Florentiner Sehenswürdigkeiten leichtsinnig versäumt worden waren: die Mediceer-Kapelle in San Lorenzo und die Kirche Santa Maria Novella. Man braucht nicht alles zu sehen, aber gewisse Nummern sind unerläßlich. Im übrigen sei hier die alte Weisheits- und Reiseregel wiederholt: »Schiebe nichts auf.« Man muß sehr jung oder sehr gewissenhaft sein, um auf der Rückreise noch sehlustige Augen zu haben.

Der Zug hatte, trotz Glatteis, seine Zeit gehalten, und um 6 Uhr fuhren wir in den halb dunklen und beinah menschenleeren Bahnhof ein. Casa Nardini, die uns sechs Wochen vorher einfach, aber gut beherbergt hatte, war besetzt, und die Pension Suisse nahm uns statt ihrer auf, ein in allerbester Gegend gelegenes Hôtel garni, das neben den Vorzügen dieser seiner Lage (in Via Tornabuoni, dem Palazzo Strozzi fast gegenüber) nur einen kleinen struwwelpeterhaften Oberkellner aus Altenburg und einen beständig unter Absinth stehenden Portier aufzuweisen hatte. Wir absolvierten rasch die übliche Gasthausunterhaltung, schoben uns todmüde unter die kümmerlichen, kaum für Sommerverhältnisse ausreichenden Decken und standen am anderen Morgen, mehr durch eine frisch gehende Brise als durch unsern sehr unkompletten »the complet« erquickt, in der Haustür des Hotels, um unsere Wanderschaft anzutreten. Zunächst nach der Mediceer- Kapelle.

La Cappella Medicea, die einen Anbau der San-Lorenzo-Kirche bildet, gehört zu jenen Sehenswürdigkeiten, die selbst in guten Reisehandbüchern nicht immer mit wünschenswerter Klarheit behandelt werden. Einzelne dieser Beschreibungen unterlassen es, als allerwichtigsten Punkt in den Vordergrund zu stellen, daß es zwei, übrigens verhältnismäßig nahe beieinander gelegene, Kapellen gibt und daß man aus ebendiesem Grunde zwischen einer großen und einer kleinen Cappella Medicea zu unterscheiden hat. Jene, die »Große Kapelle«, ist ein sechs- oder achteckiger, mit dem kostbarsten Gestein, mit Jaspis, Achat und dunklen Marmorplatten bekleideter Kuppelbau, der immerhin an das römische Pantheon erinnern darf; diese, die »Kleine Kapelle«, entbehrt dieses unmittelbar Imponierenden durchaus und ist vorzugsweise durch eine Anzahl Skulpturen Michelangelos berühmt geworden. Ebendieser ist auch der Erbauer der Kapelle selbst. Der Menschen Liebe und Bewunderung ist von jeher dieser letzteren zugefallen – neben ihren Bildwerken auch ihrer Architektur –, und während der große Kuppelbau sich Mal auf Mal mit dem Zugeständnis einer »plumpen Pracht« hat begnügen müssen, richtete selbst ein so ruhiger Beurteiler wie Jakob Burckhardt Worte unbedingter Anerkennung an die »Kleine Kapelle«. »Sie ist«, so etwa schrieb er, »ein leichtes, herrliches Gebäude, welches das Prinzip der Brunelleschischen Sakristeien auf das geistvollste erweitert und erhöht. Es ist nicht bloß die reinere und vollständigere Handhabung einer untern und obern Pilasterordnung, was hier den ganzen Fortschritt des 16. Jahrhunderts im Verhältnis zum 15. klarmacht, sondern vor allem ein höheres Gefühl der Verhältnisse.« Soweit Burckhardt. Dies zu bestreiten kann mir nicht in den Sinn kommen; nur einer entgegenstehenden Empfindung – entgegenstehend insoweit, als sie für die »plumpe Pracht« des rivalisierenden Kuppelbaues unwillkürlich eintritt – möchte ich an dieser Stelle Ausdruck geben. Die »Große Kapelle« nämlich ruft neben dem Eindruck des Ernst-Feierlichen, den sie in erster Reihe macht, doch zugleich auch ein gewisses Behagen hervor, das seine Ursache in den satten Farben, in wohliger Wärme und in einem Gefühl des Geborgenseins hat, während man in der durchweg, also in Wänden, Pfeilern und Skulpturen gleichmäßig marmorweiß und marmorkalt gehaltenen »Kleinen Kapelle« nur jenes fröstelnde Unbehagen empfindet, mit dem man an Novembertagen in unseren norddeutschen kahlen Leichenhallen zu stehen und die Worte, die sich an den Toten richten, bang zu zählen, auch wohl dem Gedanken: » Ihm ist wohl, er friert nicht« flüchtig Raum zu geben pflegt. Wenn es nun auch freilich zweifellos ist, daß Architekturfragen nicht von den jeweiligen Temperaturgraden abhängig gemacht werden sollen, so möchte ich doch vermuten, daß die »Kleine Kapelle« mich auch bei Junihitze kalt gelassen haben würde. In ihrer Farblosigkeit mehr oder minder nüchtern, in ihren Verhältnissen, schön wie dieselben sein mögen, doch immerhin nicht überwältigend, tritt sie in allem, was unmittelbaren Eindruck auf unsere Sinne oder sage ich lieber auf die Sinne eines Laien angeht, hinter die große Kuppel-Kapelle zurück. Erst eine eingehendere, ernst-liebevolle Beschäftigung mit ihrem wunderbaren Detail, das im übrigen unfähig bleibt, die voraufgegangene erkältende Wirkung völlig wieder auszulöschen, führt uns zu der Erkenntnis ihrer Schönheit und Bedeutung und auf dem Wege der Erkenntnis auch schließlich zu dem Gefühl davon. Zu diesem Gefühl aber soll man großen Erscheinungen der Kunst gegenüber, wenn immer möglich, unmittelbar kommen. – In Beschreibungen tret ich nicht ein. Die bereits mehrerwähnten Skulpturen: die Gestalten von Tag und Nacht, von Morgen- und Abenddämmerung, die sich zu Füßen zweier Mediceer-Figuren, der Herzöge von Nemours und Urbino, gruppieren, sind zu oft in Prosa und auch in Versen verherrlicht worden, als daß ich es nicht vorziehen sollte, den Leser ohne Aufenthalt von San Lorenzo nach Santa Maria Novella, einer durch zierliche Schönheit ausgezeichneten Kirche, zu führen. Michelangelo nannte sie »seine Braut«, ein Wort, das ähnlich bekannt geworden ist wie das noch schmeichelhaftere und berühmtere über die Ghibertischen Türen: »sie seien würdig, die Pforten des Paradieses zu sein«.

Santa Maria Novella war bald erreicht; die Entfernungen in Florenz sind nur kurz. Hunderte strömten über den Vorplatz der Kirche zu, in welcher irgendeine Feier begangen wurde. Auch die Bettler am Eingang hatten einen Festtag heut, denn die Italiener (beispielsweise im Gegensatz zu den Engländern) geben noch gern an die Blinden und Lahmen, ohne lange theoretische Erwägung: »ob die kritiklose Unterstützung armer Leute nicht vielleicht eine Sünde sei«. Sie haben auch noch keine Eisenschilder an ihren Türen: »Mitglied des Vereins gegen Bettelei«.

Ein Alter mit einem Bein (wenn das zweite nicht geschickt untergebunden war) saß innerhalb der Kirche und hielt den Eintretenden seinen Hut entgegen. Auch mir. Ich bückte mich ein wenig und warf einen Sous hinein. Als ich mich wieder aufrichtete, fiel schräg, von links her, ein heller Lichtstreifen auf den Pfeiler, zu dessen Füßen der Bettler hockte, und ein Wandbild, das bei gewöhnlicher Beleuchtung meiner Aufmerksamkeit entgangen wäre, blickte auf mich nieder. Es war ein »Christus am Kreuz«. Der Maler hatte für seine Darstellung den Augenblick gewählt, in dem das Menschentum in dem Gottessohn erseufzt; ein unendlicher Schmerz legt sich um Augen und Mund. In diesem bittersten Leidensmoment erscheint Gottvater selbst und legt seine rechte Hand unter den Arm des Kreuzes, zugleich auch des Gekreuzigten, um ihm hilfreich nahe zu sein in dieser seiner schwersten Stunde. Ein Bild voll tiefer, unendlicher Schönheit. Ich war erschüttert und konnte minutenlang kein Auge davon lassen. Dann sah ich das Mittelschiff hinauf, in dem, zumal um die Kanzel her, die Andächtigen dicht gedrängt standen und einem Geistlichen lauschten, von dem ich, neben schwachen Umrissen, nur die auf- und absteigenden Bewegungen von Arm und Hand erkennen konnte.

Meine Aufmerksamkeit wandte sich bald wieder dem Bilde zu, das ich jetzt unter Benutzung eines guten Glases, auch in seinen dunkleren Partien, examinierte. Als ich damit zu Ende war, stand ein hageres Männlein in dürftigem schwarzen Rocke, unverkennbar ein Kirchendiener, neben mir und sagte, auf das Bild deutend: »Masaccio!« Es folgten dann mit südlicher Redefertigkeit allerhand weitere Auseinandersetzungen, von denen ich kaum die Hälfte verstand und nur etwa entnehmen konnte, daß das Wandbild an dem nebenstehenden Pfeiler ebenfalls dem Masaccio zugeschrieben werde, vor allem aber, daß er selber bereit sei, mir die Kapellen und Sakristeien seiner Kirche zu zeigen. Dies schien mir ausnahmsweise in hohem Grade annehmbar, da der ungewöhnliche Zudrang es mehr als zweifelhaft machte, ob ich ohne Führerhand imstande sein würde, alle Sehenswürdigkeiten, über die ich mich vorher einigermaßen informiert hatte, mußevoll in Augenschein zu nehmen.

Unter diesen Sehenswürdigkeiten stehen zwei Kapellen, die Rucellai- und die Strozzi-Kapelle obenan. Ich nannte beide Namen dem Führer, der verständnisvoll nickte und in geschickten Schlängellinien, mitten durch die Menge hindurch, mich von der einen zur andern führte.

Die Rucellai-Kapelle ist berühmt durch eine große Madonna Cimabues, von der es heißt, daß sie, nach ihrer Vollendung, in großer Prozession in die Kirche getragen worden sei; in der Strozzi-Kapelle hingegen sind es drei große Wandbilder Orcagnas, das Weltgericht, das Paradies und die Hölle darstellend, die gesehen werden müssen. Die Hölle machte einen geringen Eindruck auf mich, desto mächtiger wirkten das Weltgericht und das Paradies, von denen mit Recht gesagt werden durfte, »daß sie die höchste Grenze des Holdseligen bezeichnen, welche die Giotto-Schule überhaupt erreicht habe«. Selten habe ich mich dem Anblick von Kunstwerken so ungestört und in so harmonischer Umgebung hingeben können wie hier diesen drei Orcagnas gegenüber. Der Kirchendiener, anderweitig beschäftigt, verabschiedete sich bald und versprach nur, wiederzukommen. So saß ich allein in der zehn, zwölf Stufen hoch gelegenen Kapelle und sah, wie von einem Balkon aus, durch das Gitterwerk der geschlossenen Tür auf den ganzen Mittelteil der Kirche nieder, drin die Andächtigen und die Neugierigen, die Stabilen und die Beweglichen und, was die Frauenwelt angeht, die Beterinnen und solche, die nur angebetet sein wollten, unschwer zu erkennen waren. Welche unter den beiden letztgenannten Gruppen vorherrschte, wird der Leser ebenso leicht erraten. Einige der Jüngeren und Jüngsten waren schön, so schön, daß die Platenschen Verse:

Und hat das florentinische Mädchen nicht
Von frühester Jugend liebend emporgestaunt
Zur Venus Tizians, und tausend
Reize der Reizenden weggelauschet,

wohl von ihnen gelten durften; die Mehrzahl aber schaute aus wie andre mehr und konnte mich nicht dauernd abziehen von den Gestalten Orcagnas, die vor allem eine Erhabenheit ausdrückten, von der die Welt da unten auch keine Spur aufzuweisen hatte.

Nach einer Viertelstunde oder länger öffnete sich wieder die Gittertür, und ohne daß ein Wort gewechselt worden wäre, folgte ich meinem Führer, erst treppab, dann das Seitenschiff hinunter, bis wir durch ein schmales gotisches Portal auf einen Klosterhof traten. Die Mittagssonne glitzerte über den Rasen hin und drang mit ihrer Wärme auch bis in den mit Reliefs und Bildern reich geschmückten Kreuzgang vor. Als wir eine bestimmte Stelle erreicht hatten, bog der Führer rechts, öffnete ein prächtig gegliedertes Tor und sagte nur: »Cappella degli Spagnoli.« Dann empfahl er sich abermals, um seinem Kirchendienste nachzugehen. Diese kurze Vorstellung genügte vollkommen. Ich hatte jetzt den Namen der Sache, wußte also auch, mit Hilfe von Förster und Baedeker, die grün und rot aus meinen Seitentaschen emporwuchsen, wo ich nach Weiterem zu suchen hatte. Der Leser wolle übrigens keine Zitate befürchten. Es wird sich großenteils um Eindrücke handeln, die ich empfangen.

Die Cappella degli Spagnoli ist eine Berühmtheit innerhalb der Kunstgeschichte insoweit, als sie eine vorzügliche Gelegenheit bietet, eine Anzahl hervorragender Werke der Giottoschen Schule, und zwar alle wohlerhalten, kennenzulernen. Über die Namen derer, die hier, künstlerisch schaffend, etwa ein Vierteljahrhundert lang tätig waren, gehen die Meinungen auseinander; in der Regel werden Taddeo Gaddi und Simon von Siena genannt. Gleichviel! Auf den Gesamtinhalt des von ihnen Dargestellten eingehen zu wollen hieße ein Buch schreiben. Nur der beiden Hauptbilder möge hinsichtlich ihres Gegenstandes wie ihrer Komposition eine kurze Erwähnung geschehen. Zur Linken, die ganze Wandfläche füllend, sehen wir eine Art Apotheose des Thomas von Aquin, der, von Engeln und Propheten, von Evangelisten und Heiligen umgeben, die Mitte des Bildes einnimmt. Zu seinen Füßen überwundene Ketzer: Arius, Sabellius und Averrhoes. Hinter ihm, wie ein mächtiger Schirm, der ihn schützend umgibt, vierzehn weibliche und männliche Gestalten, von denen jene ebenso viele Tugenden und Wissenschaften, diese die Porträts solcher Berühmtheiten darstellen, die sich in ebendiesen Tugenden und Wissenschaften ausgezeichnet haben. – Bedeutender noch oder seinem Inhalte nach interessanter ist das gleich große Wandbild zur Rechten: »Die streitende und die triumphierende Kirche«. Papst und Kaiser, als oberste Schirmherren, sitzen auf einem Thron; Bischöfe und Kardinale um sie her. Hunde in Dominikanerfarben (italienisch: Domini cani) verjagen ketzerische Wölfe. Dominikus selbst zeigt, über der Kirche hin, den Weg zum Heil; Petrus aber empfängt die Begnadigten und öffnet die Pforte des Himmels, in welchem Christus in der Glorie von Engeln thront. Im Vordergrund des Bildes, nur in loser Beziehung zu demselben, Florentiner Gestalten aus Anfang und Mitte des 14. Jahrhunderts: Petrarca, Laura, Boccaccio, Fiametta, Cimabue, Taddeo Gaddi und der Maler selbst: Simon von Siena. Ein in vier Schichten oder Stufen aufgebautes Kolossalbild: die Wirkung überwältigend. Der unmittelbare Eindruck, den die Sinne in dieser Kapelle überhaupt empfangen, ist etwa der, als träte man in ein mächtiges, aus lauter Teppichen bestehendes Zelt. Nirgends ein leerer Fleck, und in dieser Beziehung vielleicht einzig dastehend unter den vielen verwandten Bauten, die das kirchen- und klosterreiche Italien bietet. Selbst in der Sixtina bleiben breite Wandstreifen, an denen sich die Paneelierungen hinziehen, frei. Hier aber ist alles Farbe, Bild.

Sagen zu wollen, daß dieser unendliche Erscheinungsreichtum, dem man es abfühlt, daß er sich unschwer hätte verdoppeln können, eine volle künstlerische Erhebung schüfe (die ich nun mal für mein Teil von einer poetischen nicht trennen kann), wäre Unwahrheit. Vielleicht hindert schon die bloße Fülle nebeneinandergestellter und gleichberechtigter Gestalten daran. Es fehlt die Innigkeit, und so werden denn vor diesen mächtigen Wandbildern keine Empfindungen geweckt, wie etwa vor dem Weltgericht Orcagnas oder vor der Assunta Tizians oder vor dem an den Marterpfahl gebundenen Sankt Sebastian Domenichinos. Wir stehen vielmehr wie vor modern-historischen Bildern. Trotz alles künstlerisch allegorischen Apparats, der in Szene gesetzt wird, ist es doch das Zeitgeschichtliche, der Tageshergang, der vornehmlich das Interesse weckt. Diesen Tageshergang bildeten damals die Kämpfe und der Sieg des Dominikanertums. Bilder wie diese waren also, bis zu einem gewissen Grade, die Huldigungs- und Krönungsbilder von damals; neben dem Zeitgeschichtlichen und Staatsaktionsartigen trat bereits auch das Porträt-Interesse erheblich mit in den Vordergrund. Wie immer aber auch dem sein möge, unter allen Umständen sind Schöpfungen wie diese nur dazu angetan, uns mit einem tiefen und nicht ganz neidlosen Respekt vor einer Zeit zu erfüllen, die statt der Kritik nur die Freudigkeit am Schaffen kannte und unbeirrt von Zeitungsstimmen und Zulässigkeitsfragen die ganze Ästhetik in Herz und Hand hatte. Uneingeschüchtert durch die gespenstische Schattenwelt der »Erwägungen«, stellte sie Allegorisches und Historisches, Kirchliches und Weltliches, Erhabenes und Satirisches scharf nebeneinander, stieg in den Himmel auf und aus ihm nieder (die wahre Freizügigkeit) und spannte nach allen Seiten hin die Brücken zwischen Gott und seiner Schöpfung. Aller Reflexionsmisere fremd, war die Kunst innerlich frei und feiert ihren allergrößten Triumph vielleicht darin, daß sie auch uns Nachgeborene noch an dem süßen Gefühl dieser Freiheit teilnehmen und uns all unsere Fragen und Bedenken in dem Fait accompli solcher Schöpfungen begraben läßt. Man folgt diesen Betätigungen künstlerischer Freiheit mit derselben wohligen Empfindung etwa, mit der man, in Gesellschaft, den Bewegungen und Worten eines vornehmen und reich beanlagten Menschen folgt, der, in völliger Zwangslosigkeit sich gebend, zugleich in jedem Augenblicke sich selber Gesetz ist. Die Frage nach dem Erlaubten existiert für ihn nicht; er handelt in Gemäßheit seiner Natur, und indem er dieser gehorcht, erobert er die Herzen fast ohne Wissen und Wollen. Unsere moderne Kunst entbehrt dieser Freiheit. Sie kommt aus der Tanzstunde, hat eben den Knicks gelernt und wirkt nur allzu häufig ernüchternd, weil sie beständig von der Frage beherrscht wird: »Werd ich auch nicht anstoßen?«

Eine halbe Stunde mocht ich, unter Betrachtungen wie diese, in der Cappella degli Spagnoli verweilt haben; dann öffnete sich abermals das Gitter, und durch allerhand Kreuz- und Klostergänge hin trat ich wieder ins Freie. Straßen und Plätze waren belebter noch als zuvor, und die vornehme Welt von Florenz, darunter auch die Offiziere der Garnison, entfaltete ihre winterliche Kleiderpracht. Viele trugen Pelze.

Unter Hin- und Herschlendern verging der Nachmittag, und schon zog es mich zu kurzer Rast in die Stille meiner Schweizer-Pension zurück, als ich mich plötzlich wieder auf dem Kirchplatze vor Santa Maria Novella sah und aller Abgespanntheit zum Trotz den Wunsch in mir aufsteigen fühlte, noch einmal einen Blick auf den Masaccio zu werfen, der am Vormittage einen so tiefen Eindruck auf mich gemacht hatte. »Nur einen Augenblick«, so beschwichtigte ich meine eigne Müdigkeit und trat ein.

Der Moment des Eintretens war auch der einer Enttäuschung. Die ganze erste Hälfte des Langschiffes lag im Dunkel, zumeist der Eingangspfeiler, der das Bild trug. Ein Bedauern darüber konnte indes nicht aufkommen, denn eine glänzende Abendfeier, die den Vormittagsgottesdienst weit in Schatten stellte, war eben auf ihrer Höhe. Dicht gedrängt stand wieder die Menge, und hinter dem Altar, der zu Füßen des hohen Chors errichtet war, blitzte ein goldenes Riesentuch, das, scheinbar von der Decke herabhängend, wie eine Zauberwand die Kirche nach hinten zu abschloß. In Front dieser Wand, wie eine Reihe von Weihnachtsbäumen, stand Kandelaber neben Kandelaber, viele hundert Lichter brannten, und immer neue Weihrauchwolken stiegen auf. Dazwischen spielte die Orgel unter Zugrundelegung moderner Opernweisen; Bellini, Donizetti, aber Verdi herrschte vor. Dann plötzlich trat eine Stille ein; alles kniete; und wie ein Rätselvolles zog es uns zu Häupten hin. Als sich's mählich wieder zu regen begann, fiel auch die Orgel mit neuen, immer schmeichlerischen Klängen ein, und im selben Augenblick erschienen Chorknaben auf kleinen Leitern und Estraden, mit Lichthütchen in Händen, um die Kerzen vor der goldenen Altarwand zu löschen. Alle Türen öffneten sich, und in dichten Kolonnen drängten Hunderte den Ausgängen zu. Zugleich mit ihnen kam eine Prozession weißgekleideter Mönche das Mittelschiff herunter, jeder einzelne eine Wachsfackel in Händen, und schritt auf das Portal zu. Glück über Glück! Der Wunsch, um dessentwillen ich in die Kirche eingetreten war, im letzten Moment noch sollte er sich mir erfüllen. Als der Zug bis in die Nähe des Ausgangs gekommen, fiel ein Lichtstreifen auf den Pfeiler, an dem Masaccios Gekreuzigter hing, und Gottvater selbst stützte ihn wieder lieb- und hilfreich mit seiner Rechten. In dem Christuskopfe derselbe Leidenszug, der am Vormittage so ergreifend zu mir gesprochen hatte, aber in sein Leid hinein mischte es sich wie Wehmut, und in der Wehmut blitzte es wie ein schmerzliches Lächeln. Dann schwand das Bild wie eine Vision, und alles war wieder Nacht.

Zwölf Stunden später, oder wenig mehr, keuchte die Lokomotive die Brennerbahn hinan, und – das »schöne Land Italien« lag hinter mir.


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