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An Frau Emilie,
Berlin, 26. August 1874
Ungestört. Keine Ereignisse, wenn ich nicht Birnen und Klöße dahin rechnen will. Ich habe also die ganze 8. Seite dieses langen Briefes noch für die Hauptsache, die ich mir bis zuletzt aufgespart habe. Am 28. oder 29. September will ich meine Reise nach Italien, d. h. nach Rom, antreten und bin fest entschlossen, coûte que coûte, Dich mitzunehmen. Ich rechne auf Deine Zustimmung und während der Reise selbst auf Deine Entschlossenheit und gute Laune. Es tut nicht gut, philiströser zu sein als nötig. Exaktheit und Entsagen-Können sind vorzügliche Dinge, aber es ist ein Fehler und ein Unrecht (wenn man sich nicht kirchlich die Askese zur Lebensaufgabe macht), davon mehr zu leisten, als dringend nötig ist. Von dem Gelde, das mir die 3. Aufl. meiner »Wanderungen« und die 2. meiner »Gedichte« eingebracht haben, werden wir im wesentlichen die Reise machen können [...]. Ich rechne also auf Dein Ja-Wort, wie am Altar.
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An Frau Emilie,
Berlin, 28. August 1874
Nicht nur Deine Zusage allein, sondern ganz besonders, wie sie gemacht wurde, hat mich von Herzen erfreut. So Du den rechten Willen hast, werden es schöne Tage werden, so nicht Gott eigens beschlossen hat, unser Gerstenfeld zu verhageln. Von Leichtsinn ist bei der ganzen Sache keine Spur; in 24jähriger, fast bis zur Peinlichkeit getriebener Exaktheit haben wir uns einen ehrlichen Anspruch darauf erworben, auch mal fünfe gerade sein zu lassen. Übrigens bin ich wie von meinem Leben überzeugt, daß uns die Sache gar nicht besonders kostspielig werden wird. Sommerfeldts erzählten mir beispielsweise, sie hätten, von Interlaken aus, eine Partie auf die »schienige Platte« gemacht, die mit Pferd und drei Trägern für Jenny 30 Tlr. gekostet hätte. Solche Partie und ähnliches werden wir nie machen, weil uns die »schienige Platte« allenfalls 3, aber nicht 30 Tlr. wert ist. Das Gefühl, »dies mußt du sehn«, hab ich nie, wenn nicht die Dinge entweder billig und bequem zu haben sind oder aber meinen ganz speziellen Zwecken dienen. Wenn ich nach Metz reise, so muß ich natürlich die Schlachtfelder besuchen und darf mich durch den etwaigen hohen Preis des Wagens nicht abhalten lassen. Das Wichtigste hat man, beinah ausnahmelos, immer ganz billig, denn das Wichtigste ist doch immer das, was sozusagen auf der Straße liegt. Über die Piazza del Popolo oder den Corso fahren, den Vatican und die Peterskirche sehn, durch das Colosseum schreiten und auf dem Forum romanum unter Trümmern Umschau halten, kostet zunächst gar nichts. Die Tiber fließt kostenlos an mir vorbei, und die sieben Hügel präsentieren sich mir, ohne Entree zu verlangen. Hat man das, was ich eben aufgezählt, so hat man schon ein gut Teil.
Ich muß hier abbrechen, einmal weil es Poststunde ist, zweitens weil Heyden eben einspringt, um mit mir zu plaudern, also weitres über diese Dinge morgen. Vorläufig bin ich glücklich, daß die Partie so steht, wie sie steht. Bleibe nur bei guter Laune, Frische und Courage, das ist die Hauptsache und wichtiger wie hundert Taler mehr oder weniger. Denn es kommt nicht auf die Masse des zu Sehenden und kaum auf die Bedeutung des einen oder andern an, sondern lediglich darauf, mit welchem Auge man sieht. Es darf nicht trübe sein.
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An Karl und Emilie Zöllner,
Venedig, 7. Oktober 1874
Die Tage verlaufen so, daß selbst ich nicht briefschreiben kann; die alte Leidenschaft geht an neuen Genüssen unter, die uns doch (siehe Faust) wieder »nach Begierde« verschmachten lassen. Unser Erlebtes ist in Kürze das folgende. Am 3. [Oktober] von München aus über Innsbruck (Nest) und dem Brenner nach Verona. Das Inntal hinauf, das Etschtal hinunter. Passaier, Sterzing, Iselberg – die ganze Hofer-Speckbacherei zog noch einmal an uns vorüber; im ganzen viel prosaischer als auf dem Defreggerschen Bilde. Frierend fuhren wir in das schöne Land Italia hinein. Es goß mit Mollen. Der erste Eindruck war: » das leisten wir auch.« In Verona Nachtquartier in Colomba d'oro. Verona, wie Dir nicht unbekannt sein wird, hat eine Geschichte; es soll Lieblingsaufenthalt König Pipins gewesen sein. Nach den Maienlüften, die in Colomba d'oro wehten, ist dies höchstwahrscheinlich. Wir besichtigten am andern Tage die Stadt, bei welcher Gelegenheit wir den Architekten Zittel oder so ähnlich (der in Lucaes Atelier arbeitete und jetzt den Schinkelpreis gewonnen hat) sowie den dicken, blonden kakerlakigen Dr. Ascherson trafen. Die Gesichter, die jedesmal geschnitten werden, wenn 2 Berliner sich auf einsamem Reisepfad begegnen, sind klassisch. Jeder einzelne sagt etwa »i, macht den Schwindel auch mit«. Früher sollen sich Landsleute bei ähnlichen Begegnungen weinend in die Arme gestürzt sein. An der tomba di Giulietta (längre Zeit Wassertrog) trafen wir Adolphe Thiers nebst Frau und Schwägerin. Die beiden bedeutendsten Kriegsschriftsteller der Neuzeit standen nebeneinander und grüßten sich. Meine Lage war die günstigere: ich wußte, wen ich neben mir hatte; er ist hingegangen ohne Ahnung des Glücks, das ihm die Stunde bot. Mit Kunstgeschichte unterhalte ich Dich nicht. Siehe Burckhardt, Förster, Lübke, Baedeker.
Am Sonntagabend hier: Hôtel Bauer in Nähe des Marcusplatzes. Zimmer No. 37, Stubenmädchen Elise; sehr nett. Netter allerdings noch ist Venezia selbst. Wir wollen 2 Tage hier bleiben; es werden aber wohl 6 werden. Meine kühnsten Erwartungen wurden übertroffen. Das einzelne, auf
allen Gebieten, ist vielfach beanstandenswert; das Ganze ist unsagbar schön, anheimelnd, beglückend. Auch Milachen ist weich wie Butter. Wir trafen gleich am ersten Tage Frau v. Noville nebst Tochter, die mit uns in demselben Hôtel wohnen, eine für uns sehr angenehme und lehrreiche Begegnung, da die Damen schon fünf, sechs Tage vor uns hier waren. Eben haben wir mit ihnen zusammen gegessen; die Stunde von 9 bis 10 werden wir wieder in ihrer Gesellschaft verbringen, denn es ist Abendkonzert auf dem Marcusplatz. Im übrigen, auch geschieden von terra firma, zu Wasser wie zu Lande Dein gondeltrunkener
Noel.
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An Karl und Emilie Zöllner,
Florenz, 10. Oktober 1874
Charakteristisch für den Trouble und die Hetzjagd, in der wir leben, ist es, daß ich nicht einmal Zeit fand, den am 7. geschriebenen Brief noch in Venedig selbst zur Post zu geben. So erhaltet Ihr denn unsre zwei ersten Reiseberichte a tempo hier von Florenz aus, das wir gestern abend 11 Uhr erreichten und dessen Casa Nardini (eine Art Bartickows Hôtel garni) uns gastlich aufgenommen hat. Die bessere Hälfte, die sonst namentlich auch die unruhigere Hälfte ist, schläft heute ausnahmsweise bis in den hellen Tag hinein, und ich benutze die dadurch frei werdende Zeit zu diesen Zeilen.
Die Tage in Venedig waren sehr schön, und es wird uns eine Sehnsucht im Herzen bleiben, sie erneuern zu können. Die Möglichkeit dazu ist, soweit die Geldfrage in Betracht kommt, gegeben. Unser ganzer 4½ tägiger Aufenthalt in Venedig kostet höchstens 40 Tlr., wovon 20 Tlr. auf das Hôtel, 10 Tlr. auf ein vorzügliches, dem Hôtel attachiertes Restaurant und die letzten 10 auf Eis, Kaffe, Gondelfahrten, Trinkgelder und Bettler-Dreier kommen. Für diese ganz geringe Summe, die man in Berlin, bei Hiller, an einem einzigen kleinen Souper-Abend loswerden kann, hat man Venedig gesehn und genossen, das nun nicht länger mehr bloß als eine Insel in der Adria, sondern auch als eine Insel in dem Meer gleichgültiger, zwischen Potsdamer Bahnhof und Alsen-Brücke abgelaufener Tage schwimmt. Tatsächlich sei noch bemerkt, daß am 7. abends auch Baumeister Schwechten, mit seinem jungen Freunde Bankier Königs, in Venedig eintraf und dadurch unsren Kreis auf die Höhe von 6 Personen hob. Wir frühstückten gemeinschaftlich am Marcusplatz, fuhren zusammen nach dem Lido hinüber und trafen uns dann wieder abends beim Biere, das in Restaurant Bauer (Wiener Fabrikat) in allervorzüglichster Qualität verzapft wurde. Schwechten, als alter Italiener, hat mir allerhand Adressen und Ratschläge gegeben, und auf seine Empfehlung hin sitze ich hier jetzt in Casa Nardini, in einem großen, mit tiefen Nischen ausgestatteten, von einem mächtigen Deckenbalken durchzogenen Zimmer, das mich aufs lebhafteste an das alte Turmzimmer in Moulins erinnert, in dem ich vor 4 Jahren gefangen saß. Im übrigen ist die Situation heute angenehmer.
Nun noch ein Wort über Venedig. Es ist interessant von Schritt zu Schritt, landschaftlich zauberhaft, poetisch durch und durch, aber es repräsentiert doch nicht die Form der Schönheit, die ich dauernd vor Augen haben möchte. Dazu ist mir, rundheraus gesagt, die ganze Geschichte doch zu schmutzig. Sie bedarf des Mondlichts, bei dem man nur halb sieht, sie bedarf der Verschleierungen, um immer wieder zu entzücken; bei hellem Tageslicht genießt man den Canal grande, den Rialto und nun gar das Gewirr der Gassen und kleinen Kanäle mit sehr gemischten Empfindungen. Es ist eine Touristen-Stadt, eine Stadt zum Sehen, auch zum Bewundern, aber nicht zum Wohnen. Junge Künstler und Dichter werden sich über diese Äußrungen vielleicht entsetzen, aber es ist doch so, wie ich sage. Die ganze Welt der Erscheinungen ist nicht dazu da, um Malern und Poeten wünschenswerte und bequem liegende Stoffe zu bieten, sondern um überhaupt zu befriedigen und zu erfreun. Das Leben stellt vielfach andre Forderungen als die Kunst, und Individuen wie Staaten gehen zugrunde, die dies übersehn. Wem diese Wahrheit zu Fleisch und Blut geworden ist, der wird auf Venedig blicken, wie ich noch in der letzten Stunde auf ein wunderschönes Frauenzimmer blickte, die aus dem 2. Stock eines halbverfallenen Hauses träumerisch-faul mit tief und dumm schmachtendem Auge uns nachsah, als unsre Gondel an den Wasserstiegen des schmalen Kanals vorüberfuhr. Sie war so schön, wie ich selten Weiber gesehn habe, und das halbgekräuselte schwarze Haar lag wie eine Mähne um sie her, mit den Spitzen nach vorn hin über die halb entblößte Brust fallend; ich werde den Anblick nie vergessen. Aber sie war ungewaschen und ungekämmt und nach meinem Gefühl, sowenig sie persönlich innerhalb der idealen Liebe zu stehen schien, doch nur für eine solche geeignet. Ein Wesen, nur mit dem Auge zu genießen; mit ihr zu leben – ein Gedanke, nicht ausgedacht zu werden! So auch die Stadt selbst. Diese schöne, schwarzhaarige Schwester Struwwelpeters, die seifenintakt auf einen gondelbefahrenen Rinnstein niedersah, war mir wie das Bild Venezias selbst erschienen.
Eine glänzende Ausnahme macht der Marcusplatz und die an ihn grenzende Piazetta. Hier ist nicht nur alles interessant, malerisch, poetisch, hier ist auch alles in jedem Sinne schön, und es bedarf keiner romantischen Prise Schnupftabaks, um uns die Augen übergehn zu machen. Es verlohnt sich, 1000 Meilen zu reisen, um dies eine Stunde zu sehn. Es ist ganz einzig, ebenso im einzelnen wie im ganzen. Ich finde nichts lächerlicher als ein Herumkritisieren an Bauwerken wie die Marcuskirche und der Dogenpalast. Sint ut sunt, aut non sint. [Sie mögen bleiben, wie sie sind, oder überhaupt nicht sein.] In mehreren Reisebüchern fand ich die Marcuskirche als einen »schwülstigen Bau« charakterisiert. Man muß ein unendlicher Lederschneider sein, um so was Dummes und Kleines sagen zu können. Leider reicht auch Schulfuchserei und Doktrinarismus zu solcher Dummheit gerade aus. Die Marcuskirche wirkt beinah elementar, und sie kritisieren wollen ist nicht viel anders, wie wenn man die Blaue Grotte oder die Fingalshöhle einer künstlerischen Beurteilung unterziehen wollte. So kolossale Sachen, die in einem Jahrtausend geworden, gewachsen, gemodelt sind, liegen über alle Kritik hinaus. Man hat sich lediglich vor ihnen zu verneigen. Wir sind wohl zehnmal, länger oder kürzer, in diese Kirche eingetreten, und immer war der Eindruck derselbe. – Der Dogenpalast, zunächst von einer viel bestrickenderen Schönheit, wirkt doch nicht so mächtig, trotzdem historische Erinnerungen und eine uns näher stehende dekorative Kunst, letztre in Hunderten von berühmten Bildern, seine Wirkung unterstützen. Über diese Bilder, die fast ausnahmslos von Tintoretto und seiner Schule, nur verhältnismäßig wenige von Paul Veronese und seinen »Erben« (so schreiben die Kataloge) herrühren, noch ein paar kurze Worte. Wenn sie teppichartig, durch Farbentöne wirken und im übrigen in klaren, äußerlich meisterhaften Kompositionen historische Momente der Republik festhalten sollen, so finde ich sie großartig; wollen sie mehr sein, so finde ich sie erbärmlich. Diesen Massenleistungen gegenüber habe ich wieder recht empfunden, daß es ohne Seele nicht geht. Au fond ist alles tief langweilig, und als ich schließlich in der kleinen Dogen-Kapelle einem Albrecht Dürerschen Christuskopfe begegnete, atmete ich auf; dieser eine Kopf repräsentiert in meinen Augen mehr wahre Kunst als alle Tintorettos zusammengenommen. Was dieser letztre geleistet, sind Schildereien, in denen die immer wieder auftauchende gelbe Dogenmütze eigentlich das interessanteste ist. Auch diejenigen seiner Bilder, die ihren Stoff der heiligen Geschichte entnehmen, sind nicht besser. Das Kolossal-Bild im Saal des Großen Rats, das den Namen die »Glorie des Paradieses« führt, ist ein Salat von Engelbeinen, und seine berühmteste Leistung, »Die Kreuzigung«, die sich in der Scuola San Rocco befindet, läßt mich ebenfalls kalt. Das Kompositionstalent, die Gabe, zu gruppieren, Klarheit in die Massen zu bringen, ist außerordentlich, aber der Mangel an aller Innerlichkeit ist geradezu erschreckend. Der Christus, auf dem letztgenannten Bilde, scheint, soweit man ihn bei der starken Nachdunklung erkennen kann, gut, will sagen, nicht ganz unbedeutend, die Frauen und Jünger unterm Kreuz aber sind konventionell und noch weniger als das. Ich habe für diese Art von Kunst wohl ein Verständnis, aber kein Herz; Farbentöne würden dasselbe tun. Unter allem, was ich bis jetzt gesehn habe, haben mich, von zwei großen Tizians abgesehn, über die ich weiterhin noch ein paar Worte sagen will, folgende drei Bilder am meisten interessiert: 1. der oben schon erwähnte Dürersche Christus mit der Dornenkrone (Pilatus links neben ihm); 2. ein in derselben Dogenkapelle befindlicher Giorgione: »Christus im Hades«, ein Bild voll Kraft, Schwung und tiefster Innerlichkeit; 3. ein »Toter Christus« aus der Bologneser Schule; Name des Meisters unbekannt. Ich mache diese Aufzählungen resp. Bemerkungen namentlich Heydens wegen, der sie auf ihre Richtigkeit prüfen mag. Wobei ich aber gleich im voraus bemerke, für mich persönlich bleiben sie auch richtig.
Das Bedeutendste, was ich bisher sah, sind die beiden Bilder Tizians, die »Himmelfahrt Mariä« darstellend, von denen sich das eine im Dom zu Verona, das andre in der Academia delle belle arti zu Venedig befindet. Sie sind grundverschieden, aber beinahe gleich schön, wenn auch nicht gleich an Bedeutung. Ihr Unterschied besteht darin, daß die erstre freundlich-beseligend, frauenhaft-gütig zu den staunenden Jüngern hernieder, die andre überirdisch verklärt, von der erhabenen Wonne des Schauens durchdrungen, zu Gottvater aufwärts blickt. Im ersten Moment schien mir das letztgenannte Bild hinter dem in Verona zurückzustehn, das aus den verschiedensten äußren und innren Gründen, die ich hier nicht alle aufzählen mag, rascher Auge und Herz erobert. Aber von dem Augenblick an, wo man sich in der Erhabenheit der venezianischen »Assunta« zurechtgefunden hat, versinkt das Veroneser Bild neben der letztren. Das Bild in Verona, soweit die Maria in Betracht kommt, wirkt wie ein Vorläufer der Murillo-Manier; die »Assunta« in Venedig erinnert an die Sixtinische Madonna, ja mein Herz ist fast geneigt, ihr noch den Vorrang vor dieser anzuweisen.
Hier, verehrtes Paar, hast Du oder haben Sie oder habt Ihr meine Weisheit. Weitres hoffentlich mündlich, wenn Eure Geduld so weit reicht wie meine Redseligkeit. Ergeh es Ihnen gut. Ich bitte die Briefe, nach Mitteilung des einen oder andern an Theo, zirkulieren zu lassen, erst an George, dann an Martha, derart, daß George den Brief direkt nach Neuhof schickt.
1. Unsrem lieben kleinen Friedel einen Kuß, und er soll nicht »aufmucken«, wenn Theo oder Tilla ihre Autorität geltend machen. – An Tilla beste Grüße.
2. Unser alter Theo soll nicht zu streng regieren und sobald wie möglich nach Rom hin an uns schreiben, poste restante.
3. Die Einlage, couvertiert und adressiert, bitte ich an Hertz gelangen zu lassen. Wenn Du, geliebter Chevalier, ihm die Einlage auf einem Gange zum oder vom Gericht selbst brächtest und ihm bei dieser Gelegenheit einiges erzähltest, würde ich Dir sehr dankbar sein. Von 10 bis 2 und von 5½ bis 7½ ist er immer in seinem Geschäft. Die Plaudereien in seinem Comptoir sind meist sehr amüsant.
4. Unser alter Fournier, wie wir eben erfahren, ist gestorben. Für uns ein wirklicher Verlust. Er hat, durch die zweifelhaftesten Zeiten hin, in Treue und Liebe bei uns ausgehalten. Milachen läßt Euch sagen: seine nun wahrscheinlich oder richtiger gewiß frei werdende Wohnung sei ganz vorzüglich für Euch geeignet, sehr hübsch und sehr preiswürdig, im Schmiedenschen Hause. –
5. Auch von Euch Geliebten dürfen wir wohl in Rom poste restante Briefe erwarten? Schreib auch ja über die Arnim-Bismarck-Frage.
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An Wilhelm Hertz,
Florenz, 10. Oktober 1874
Seit gestern abend sind wir hier. Müd und matt von einem beinah 6tägigen Aufenthalt in Verona und Venedig, haben wir den heutigen Vormittag zum Schreiben der nötigsten, zugleich unsrer ersten Briefe bestimmt. Darunter sind auch diese Zeilen. Sie sollen mich lediglich entschuldigen, daß die 12 oder 18 Begleitschreiben, die den »Gedichten« resp. der 3. Aufl. »Ruppin« beigelegt werden sollen, noch nicht in Ihren Händen sind, auch während der nächsten 4 oder 5 Tage noch nicht eintreffen werden. Dann aber ganz gewiß. In derselben Weise wie dieser l. Florenz-Tag der Familien-Korrespondenz gewidmet wurde, soll der l. Rom-Tag die Erledigung alles Geschäftlichen bringen. [...] Entschuldigen Sie den halben Bogen; aber es ist Einlage in einem dicken Brief.
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An Emilie Zöllner,
Rom, 22. Oktober 1874
Zunächst beneide ich L[epel], den ich sonst nicht so beneide, daß er mit Rücksicht auf die Situation Sie stürmisch umarmen durfte; dann schicke ich Ihnen etwas Grünes aus den Thermen des Caracalla, und drittens bitte ich Sie, Ihren teuren Gatten als von jeder Schreibverpflichtung entbunden ansehn zu wollen. Diese Art der Entbindung kann er sich schon gefallen lassen. – Milachen hält sich merkwürdig tapfer und ist viel besser im Stande wie ich. Ich bin so fiebrig, daß ich keine Weste zuknöpfen kann; die Knöpfe zittern mir immer wieder aus den Fingern heraus. Bei der Weste schließlich ertragbar, aber welche Perspektiven!
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An Karl Zöllner,
Rom, 23. Oktober 1874
Warum bist Du nicht Pescatory L? In diesem Falle hätten wir vielleicht Chancen, Dich auf juristisch-politischen Entdeckungsreisen hier zu sehn. Vielleicht verschafft mir Deine Empfehlung noch ein Commissorium, und ich kriege die Reise wieder heraus.
Diese Zeilen sind lediglich geschäftlicher Natur und sollen etwas in dem gestrigen Briefe meiner Frau Versäumtes nachholen. Bitte, sage Theo, daß er sofort schreiben möge, und zwar wie das erste Mal: Rom, poste restante. Empfiehl ihm auch – was ich nur vorsichtshalber bemerke –, daß er nichts Unangenehmes melden möge. Es verstimmt hier nur, ohne daß man auf 200 Meilen Entfernung die Dinge ändern kann.
Einliegenden Zettel hat die teure und verehrte Gattin wohl die Freundlichkeit, in ein Couvert zu stecken und unter Adresse: »Frau Johanna Treutier, Neuhof bei Liegnitz« an Mete gelangen zu lassen.
Wir hatten gestern einen wunderschönen Tag (ich befand mich wieder wohler) in den Kaiserpalästen und später in den Thermen des Diocletian, wo mich die in die Trümmer hineingebaute Kirche und in ihr ein wundervoller Domenichino entzückte. Dies Bild (der heilige Sebastian am Kreuz; gewöhnlich nur am »Pfahl«) zählt zu den großen Nummern, deren es – ich möchte sagen, Gott sei Dank viel weniger gibt, als man in einer Art Besorgnis, es nicht bezwingen zu können, vorher annimmt.
Das Trümmer-Rom interessiert mich l00mal mehr als das, was steht und prunkt. Oh, wie begreif ich die Kaiserzeit, die von dem Mann aus Bethlehem nichts wissen wollte. Gewiß hatte sie unrecht; aber für die Sinne ging von da ab eine große Welt unter, und eine kleine kam herauf. Die in die alten Wölbungen und Kolonnaden verhältnismäßig kümmerlich hineingestellten Kirchen wirken wie ein Predigtamtskandidat mit angegrauter weißer Halsbinde, der sich in eine vornehme Gesellschaft eindrängt und alles mit seinem prätentiösen Kleinzeug langweilt. Heyden wird mir gewiß recht geben, war es auch nur um des Predigtamtskandidaten willen.
Heute wollen wir noch mal nach der Kirche S. Mar. dei Angeli, dann nach San Clemente, dann in die Galerie des Palazzo Borghese. Die Elloramutter ist unberufen wohl und munter. Sie meint, es reise sich mit mir wie mit einem »Vater«; eine etwas bedenkliche Ehrenerklärung.
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An Wilhelm Hertz,
Rom, 24. Oktober 1874
Anbei nun endlich die Briefe. Sie sind mir blutsauer geworden. Ich hatte mir es leichter vorgestellt; zu der bek. Reise-Abspannung kamen Krankheitstage, auch an Ärger hat es nicht gefehlt. Bitte, beurteilen Sie die Verzögerung nachsichtig.
Im ganzen ist es uns bisher gut ergangen. Sieben Wochen ohne Störungen und Fatalitäten gibt es nicht, und am wenigsten auf Reisen. Über einzelne Vorkommnisse habe ich in den Briefen an Stadtg[erichtsrat] R. Lessing, Pietsch, Direktor Foß kleine Andeutungen gemacht.
In den Briefen an Frenzel und Dr. Braun habe ich das »Rom« absichtlich fortgelassen.
Todmüde – es ist bereits Mitternacht und morgen früh um 8 wollen wir bereits nach Frascaty und dem Nemi-See – habe ich nur noch Kraft genug, Ihnen und dem ganzen Hertzschen Hause ein sehr herzliches Lebewohl zuzurufen. Meine Frau empfiehlt sich.
An Karl Zöllner, Rom und Neapel,
31. Oktober bis 3. November 1874
Rom, 31. Oktober 1874
Habe Dank für Deinen langen und liebenswürdigen Brief, den ich ohne weitres zu den Taten Deines Lebens rechne. Auch die Beilage hat uns sehr amüsiert; ich vermute, daß Ihr ein heitres Beisammensein bei Heydens zu Abfassung dieser glücklichsten aller Denunziationen benutzt habt. Sehr aus der Seele gesprochen waren mir auch Deine Bemerkungen über den Arnim-Fall. Ich finde es namentlich töricht, daß die Familie, wie ich aus verschiedenen Telegrammen ersehe, schließlich den Gekränkten spielt und in verschiedenen Mitgliedern aus dem Staatsdienst ausscheidet. Es wird übrigens auch so gehen.
Übermorgen früh werden wir Rom, nach fast dreiwöchentlicher Anwesenheit hierselbst, verlassen. Wir tuen es mit dem Gefühl, nur einen Zacken vom Baumkuchen, allerdings wohl die vorstehendste, braunste und schmackhafteste Stelle, genossen zu haben. An Fleiß und Eifer haben wir es nicht fehlen lassen, aber der Stoff ist endlos. »Unüberwindliche Mächte.« [Titel eines Romans von Herman Grimm.] Wenn hierin einerseits etwas Niederdrückendes liegt, so doch auch andrerseits etwas Trostreiches, für mich wie für alle diejenigen, die sich mit einem kurzen Aufenthalt begnügen müssen. Es würde mich geradezu verstimmen, mir sagen zu müssen: »hättest du noch drei weitre Wochen gehabt, so hättest du Rom im großen und ganzen bezwingen können«; aber ich empfinde umgekehrt ganz deutlich, daß die Zeitfrage an dieser Erdenstelle eine ziemlich gleichgültige ist und daß ich nach drei Monaten von Rom mit demselben Gefühle scheiden würde wie in diesem Augenblick. Was zu leisten war, ist geleistet worden. Ich habe die Lage der Stadt, der Straßen und Plätze, der Paläste und Kirchen, das Genrehafte und das Landschaftliche, wie ich mir einbilde, zur Genüge weg; damit muß man sich zufrieden geben und wegen unerledigter Details sich nicht zu Tode grämen. Diese Detail-Schätze, wie ich nur wiederholen kann, sind eben unbezwingbar. Ein Menschenleben reicht dafür nicht aus. Ich war heute, nachdem ich gleich am ersten Tage das Äußre der Kirche besichtigt, in Santa Maria Maggiore, in der, beiläufig, in bereits fertiger, kostbarer Marmorgruft Pio non begraben werden wird. Außer zwei besonders berühmten Kapellen (Kapelle Borghese und Kapelle Sixtus V.) enthält diese Kirche in ihrem Langschiff 26 biblische Gemälde und ebenso viele Mosaik-Doppelbilder, die sich, als alter eiserner Bestand, unter den Gemälden hinziehn. Alles in allem also 78 Darstellungen bloß in dem Mittelschiff einer einzigen Kirche! Man kann mit 10 multiplizieren, wenn man die Zahl der Gesamtschätze dieser Basilika, die keineswegs zu den reichsten und interessantesten zählt, angeben will. Was ist da anzufangen? Über den Inhalt der beiden Kapellen, wie über die 78 Mittelschiff-Bilder, bin ich mit dem Glase hingelaufen, um eine ohngefähre Vorstellung von der Beschaffenheit und dem Wert dieser Dinge zu gewinnen. Dies ist sehr wenig; aber ein mehrfach wiederholter Besuch würde daran nichts Erhebliches geändert haben. Die Dinge sind nicht nur in einer schwer zu bewältigenden Fülle da, sie sind auch durch äußre und, was noch schlimmer ist, durch innre, den Kern der Sache treffende Dunkelheit so mühsam unterzukriegen, daß jede Kirche ein wochen-, vielleicht monatelanges Studium erheischt. Da es Hunderte von Kirchen gibt, so liegt es auf der Hand, daß ihre Gesamt-Bewältigung niemand zu leisten vermag und daß auch der Tapferste und Beharrlichste mit der Überzeugung von Rom scheiden wird, den Dingen nicht annähernd gerecht geworden zu sein. Auch hier, wie überall im Leben, heißt es sich bescheiden. Wer alles zwingen will, wird nur konfus. Das denkbar Unangebrachteste an dieser Stelle ist das »Austitschen-Wollen«, zu dem ich vielleicht von Natur, jedenfalls durch Gewohnheit einen Hang habe. Hier heißt es, sich vorzugsweise mit Eindrücken begnügen und die schwere Kunst des Ausscheidens üben, des Trennens alles Nebensächlichen vom Hauptsächlichen. Es muß dahingestellt bleiben, ob mir dies geglückt ist. Die letzten 4 Tage haben ausschließlich dem Vatican und seinen Schätzen gegolten, und in sieben mehrstündigen Besuchen glaub ich mir das meiste derartig zu eigen gemacht zu haben, wie es das Maß meiner Erkenntnis überhaupt zuläßt. Ich darf aussprechen: ich kenne die Laurentius-Kapelle nun, und wenn ich sie noch 50 Male sähe, würde ich in meiner Stellung zu ihr nicht um ein Haar weiterkommen. Nicht in gleichem, aber doch in ähnlichem Grade kann ich es von allem übrigen sagen. Die Messe von Bolsena oder die Erscheinung des Engels in Petri Gefängnis kann mir nicht tiefer und lebendiger in die Seele geschrieben werden, als es in diesem Augenblicke der Fall ist. Die großen Sachen sind mit Liebe und Gewissenhaftigkeit absolviert; die tausend andren, für Kunst- und Kulturgeschichte lehrreichen Nummern, die noch bleiben, erheischen nicht das Auge eines Reisenden, sondern das eines Studierenden, die Arbeit eines Lebens. In dieser Erkenntnis schnüre ich frohen Mutes mein Bündel. Das Mögliche ist geleistet worden, und wie ich kühnlich hinzusetze: für meine Verhältnisse gerade genug.
31. Oktober abends
All diese Betrachtungen, wenn ich sie überfliege, sehen mich etwas pappstofflich an; es ist nicht der Ton, in dem ich sonst wohl Briefe zu schreiben pflege; aber es will nicht anders gehn. Alles, was man sieht, gleichviel ob es einem gefällt oder überhaupt nur verständlich wird, flößt einem einen solchen kolossalen Respekt ein, daß sich der Bummelwitz ängstlich verkriecht. Man scheidet aus der Gesellschaft anständiger Menschen aus, wenn man, aus dem Vatican oder St. Peter kommend, sich in Scherzen – selbst in guten – ergehen will. Hier ist ein Fall gegeben, daß selbst die humoristische Behandlung der Dinge, die ich sonst so hoch stelle, zum Fehler werden kann. All Ding hat seine Weise.
An Karl Zöllner, Rom und Neapel,
31. Oktober bis 3. November 1874
Neapel, 3. November 1874
Soweit war ich vor drei Tagen gekommen. Mit derselben schlechten Tinte, aber einer noch schlechteren Feder fahre ich heute fort. Den Brief in Rom noch zu schließen verbot sich, da gerade der letzte Tag noch allerhand brachte. Es traf sich so glücklich, daß gerade am 1. November die während der 6 Sommermonate geschlossene Villa Farnese (Farnesina) zum ersten Male wieder geöffnet wurde, so daß wir noch imstande waren, die zwei berühmten Säle dieser Villa mit der Galatea und der Darstellung des Amor- und Psyche-Märchens in Augenschein zu nehmen. In Kunstschwatz kann ich mich hier nicht ergehen; der schon so lange Brief würde sonst endlos werden. Nur soviel ganz allgemein, daß ich, bei der aufrichtigsten Bewunderung vieler der sogenannten »großen Nummern«, einer kaum geringeren Zahl gegenüber ziemlich ketzerische Ansichten unterhalte. Die Lügerei der Menschen, auch derer, die etwas von den Dingen zu verstehn vermeinen oder auch meinetwegen wirklich verstehn, ekelt mich an. Nichts ist rarer als innerliche Freiheit den Erscheinungen des Lebens und der Kunst gegenüber und der Mut, eine selbständig gehabte Empfindung auch auszusprechen. Und doch wäre selbst das Dümmste immer noch besser als das Unwahre, aus Furcht oder Eitelkeit Nachgepapelte. Die in die Reisebücher aufgenommenen Kunsturteile, oft von sehr berühmten Leuten, wirken meistens unsagbar abgeschmackt. Man fühlt, daß die betreffenden Herrn wenig gefühlt und wenig gewußt und in dieser Verlegenheit sich mit öden Redensarten aus der Affäre gezogen haben. Onkel Unger hatte ganz recht, wenn er die fragwürdigsten alten Pinseleien kaufte und nicht eher ruhte, bis er einen Gian Bellin oder Giorgione herauskonstruiert hatte. Viele Renommees sind gewiß in ganz ähnlicher Weise durch die Ungers der Kunstgeschichte nach und nach gemacht worden. Wenn von tapfrem Verleumden immer etwas hängenbleibt, so auch von tapfrem Loben. Ich glaube ganz bestimmt, daß drei geistreiche Kerle einen vierten, wenn sie es nur eisern wollen, berühmt machen können, namentlich wenn der zu Feiernde dunkel und unverständlich ist. Nur an der biedren Platitüde scheitert alle Verherrlichungskunst.
In die Heimat zurückgekehrt, werde ich meine Zunge sehr hüten müssen, auch schon deshalb, weil ich selber sehr wohl empfinde, daß es mir nach einer ganz bestimmten Seite hin an etwas sehr Wesentlichem gebricht, was nun mein Urteil einseitig und ungerecht macht. Lägen die Dinge günstiger, so würde ich mich mit einem wahren Feuereifer in diese Fragen stürzen und in einem Tone losgehn wie etwa über die Iphigenie der Frau Erhartt. Denn an diese Iphigenie erinnert sehr vieles. Schöne Erscheinung und schöne Bewegungen hatte Frau Erhartt auch. In meinem Gemüte steht es aber felsenfest, daß es in aller Kunst – wenn sie mehr sein will als Dekoration – doch schließlich auf etwas Seelisches, zu Herzen Gehendes ankommt und daß alles, was mich nicht erhebt oder erschüttert oder erheitert oder gedanklich beschäftigt (wie beispielsweise die großen und doch so einfachen Sachen Michelangelos), keinen Schuß Pulver wert ist. Hiermit hängt es zusammen, daß mir die der raffaelischen Zeit unmittelbar vorauf gehenden Jahrzehnte lieber sind als die »Blütezeit« selbst. Ich beziehe dies auf die Epoche, nicht auf die einzelnen Leistungen, unter denen aber nur die mit Recht als die großen und größten gelten, die neben der vollen äußren Schönheit auch jene innerliche haben, die das Auszeichnende und Herrliche des 15. Jahrhunderts war. Mögen andre anders darüber denken, ich denke so und habe mein gutes Recht dazu. Ich lasse mich von niemandem mehr von dieser mir tief ins Herz geschriebenen Überzeugung abbringen, auch von den Berühmtesten nicht. Es ist unglaublich, wieviel Schwindel umgeht. So viel, daß alle Welt mit Fingern auf jeden zeigt, der es wagt, dies auszusprechen. Denn auch die Besten sind mehr oder weniger Groß-Schwindelbewahrer und fühlen sich verletzt oder bedroht, wenn jemand laut oder leise zu lachen wagt.
Nur eines ist nicht Schwindel: der Golf von Neapel, der eben sonnen-beschienen und boote-befahren in herrlichsten Farben vor mir liegt, und die aufrichtig freundschaftliche Gesinnung des Gefertigten für den Kreis seiner Freunde, insonderheit für seine teuren Chevaliers. Wie immer Dein alter
Noel.
Palast Lovati am Popolo-Platz ist jetzt Hôtel. Die Gräber von Lepels Onkel und Wichmanns Bruder (Fourniers fanden wir) waren nicht zu entdecken. Die »italienische Buchführung«, soweit Kirchhöfe in Betracht kommen, kann sich selber begraben lassen. Keine Zahl stimmte. Grenzenlose Konfusion. Ein völliges Bummelvolk. Ich komme preußischer zurück denn je. Freiheit und weiter nichts ist etwas ziemlich Elendes. Der Mensch bedarf der Trainierung. Die Zehn Gebote waren doch nichts andres als Disziplin.
Am 3. November nachmittags. Der lange Brief, wie Du leicht erkennen wirst, ist diesmal lediglich für Haus Zöllner bestimmt, nicht für die Kinder (ich meine die meinigen). Natürlich bitt ich Dich, Theon draus vorzulesen, was Du für gut hältst und Georgen später die volle Einsicht zu gestatten. Was die Freunde angeht, so könnte ich beinah sagen, daß der Brief noch mehr an den Geschichtsmaler August v. Heyden als an den Rat Zöllner gerichtet ist; ich komme ja aus der Kunstbetrachtung gar nicht heraus, wenn ich auch die Details geflissentlich vermieden habe. Also jedenfalls für Heyden mit. Den andern Freunden gegenüber empfiehlt sich vielleicht Vorsicht, weil ich nicht gern das Gefühl wecken möchte: »Gott, der präpariert sich wieder seinen besondren Standpunkt.« Milachen wird wohl noch ein paar Worte hinzufügen.
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An Karl Zöllner,
Neapel, 10. November 1874
Außer einigen Worten, worin wir, von Florenz oder Verona aus, den Tag unsrer Rückkehr angeben werden, werden dies wohl die letzten italienischen Zeilen sein. Ich schreibe sie am 10. November bei weitgeöffnetem Fenster und bin nach links hin in den Schatten gerückt, um nicht nur der Sonne, sondern auch der Wärme zu entfliehn. – Leider bin ich immer krank; indessen das Stück Erde, das hier ausgebreitet vor uns liegt, ist von einer solchen alle Mißstimmung und allen Nörgelhang siegreich überwindenden Schönheit, daß man seine Choleratropfen freudig ergeben weiternimmt und die Table d'hôte-Diners, die man als bloßer Zuschauer mitmacht, in verklärtem Schmerze bezahlt.
Vorgestern, nachdem wir schon vorher Pompeji besucht hatten, sind wir von einer 3tägigen Fahrt ins Land zurückgekehrt, deren Programm lautete: Capri, Sorrent, Salerno, Paestum. In Capri sah ich die Lepelsche »Witwe von Capri«
nicht, dafür aber die Kopischsche Blaue Grotte und die Platenschen »Fischer von Capri«, wie man denn überhaupt aus Jugenderinnerungen und ganz speziell aus dem Rauschen des deutschen Dichterwaldes an dieser gesegneten Erdenstelle gar nicht herauskommt. In Sorrent erging es mir minder gut als unsrem Freunde Paul Heyse, so daß ich statt der Idyllen nur etwa Elegien hätte verfassen können. Leider keine Goetheschen, denn nichts lag mir ferner, als auf irgendeinem Nacken auch nur den fraglichsten Hexameter zu skandieren; der ganze Vesuv saß mir im Leibe, und das unheimliche Rollen und Grollen nahm kein Ende. Endlich mit Hilfe höllischer Tinkturen (Satan durch Beelzebub) aus dem Gröbsten heraus, beschloß ich, den ersten Schritt zu weitrer Rekonvaleszenz von Bewegung in frischer Luft zu erwarten, und stieg kühnlich in den Wagen, den wir zu vier genommen hatten. Die Gesellschaft, darunter zwei Damen, ertrug mich in Geduld, denn ich saß zwischen ihnen, nicht wie die Zeder auf dem Libanon, sondern wie der Baldrian auf der Rudower Wiese. Zwölf Stunden lang hatte ich von Tinctura Valerianae gelebt. Die köstliche Fahrt tat mir wirklich wohl, und wir trafen am Abend des zweiten Tages in Salerno ein. Am Morgen des dritten nach Paestum, dessen Räubern und Schlangen wir gleichmäßig glücklich entgangen sind. Die Elloramutter als Heroine. Mit Todesangst im Herzen
doch ausgehalten; der einzig wahre Mut. Um 9 Uhr abends waren wir, mit Hilfe der Eisenbahn, wieder in Neapel, das wir mit einer Art Heimatsgefühl begrüßten. Morgen oder übermorgen wollen wir auf den Vesuv, ich immer, links und rechts gestützt, als »sterbender Mansfeld«; dann noch wenige Tage in Neapel selbst und dann in drei großen Etappen: Florenz, Verona, München, wieder nach Haus. Alles, was auf dem Rückwege abgemacht werden sollte, ist, wie immer, aufgegeben worden. Milachen ist müde, ich bin krank; dazu ist das Geld ausgegeben, nachdem sich zu den 150 in Rom schändlich eingebüßten Francs noch ein weitrer kleiner Verlust gesellt hat: mein Portefeuille wurde mir auf dem Toledo von einem geschickten Langfinger aus der Brusttasche gezogen. Sei so freundlich und schicke mir nach München 50 Taler unter der Adresse: An den Herrn Eigentümer des »Hôtel Marienbad« (Herrn Th. Fontane bei seiner Ankunft einzuhändigen). Ich werde die Summe kaum brauchen; aber besser ist besser. Herzlichste Grüße an alle Freunde, besonders an die Italianissimi: Lepel, Wichmann, Heyden. In der Hoffnung auf ein glückliches Wiedersehn, unter Vorweg-Dank für so viele bewiesene Freundlichkeit, wie immer Dein alter
Noel.
PS Verzeih, daß ich so ungeniert um die 50 Tlr. bitte; ich weiß, man hat sie nicht immer im Portemonnaie. Laß mich hoffen, daß ich keine Unbequemlichkeiten dadurch schaffe. – Heut, von 9 bis 5, haben wir eine große Fahrt nach der Solfatara, dem Golf von Bajä und seinen nächsten Umgebungen gemacht; auf dem Rückwege durch den Posilipp, an dessen Ausgang wir das Grab des Virgil besuchten.
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An Mathilde von Rohr,
Berlin, 24. November 1874
Seit 4 Tagen wieder hier, eile ich, um Ihnen ein Lebenszeichen von uns zu geben. Sieben schöne Wochen, die wir in Venedig, Florenz, Rom u. Neapel zubrachten, liegen hinter uns; unsre Erwartungen sind fast noch übertroffen worden, dennoch sind wir froh, nun wieder in der Heimat zu sein und unsrer Arbeit, unsren Kindern und Freunden leben zu können. In der Jugend, wo man noch flügger, noch weniger verwachsen mit dem Boden ist, auf dem man geboren wurde, kann einem in der Fremde und ganz besonders in einer so schönen Fremde der Wunsch kommen, sich auf lange niederlassen und das Herrliche ganz genießen, das Lernenswerte ganz lernen zu wollen. Man hat dann noch eine freie Wahl und kann sein Leben, sein Studium, seine Interessen an irgendein Schönes setzen, das einem irgendwo entgegentritt. In spätren Lebensjahren ist das nicht mehr möglich; man ist dann nicht bloß mit einer Frau (wenigstens in der Regel), sondern auch mit einer bestimmten Lebensaufgabe verheiratet, die einem nun nicht mehr erlaubt, willkürlich dies und das zu tun, sondern einen mit wohltuender Gewalt in das vorgeschriebene Geleise pflichtschuldiger Tätigkeit zurückzwingt. Vor 30 Jahren hätten mich nicht zehn Pferde von Neapel weggekriegt, und ich würde Kopf und Kragen daran gesetzt haben, mein Leben, oder doch ein bestes Stück davon, dem Studium Pompejis und seiner ausgegrabenen, wunderbaren Schätze zu widmen. Jetzt konnte mir dieser Wunsch nicht mehr kommen, kaum der Gedanke. All dieser Herrlichkeit gegenüber empfand ich deutlich, und nicht einmal schmerzlich, daß meine bescheidene Lebensaufgabe nicht am Golf von Neapel, sondern an Spree und Havel, nicht am Vesuv, sondern an den Müggelsbergen liegt, und inmitten aller Herrlichkeit, die nur eben bildartig gesehn und dann in den Kasten der »Anschauungen« hineingetan sein wollte, zog es mich an die schlichte Stelle zurück, wo meine Arbeit und in ihr meine Befriedigung liegt. Wenn es Zweck des Reisens ist, sich zu enthusiasmieren und innerhalb des Enthusiasmus sich glücklich zu fühlen, so kann man nicht früh genug auf Reisen gehn, handelt es sich umgekehrt um jene gerechte Würdigung, die verständig gewissenhaft abwägt zwischen Daheim und Fremde, zwischen Altem und Neuem, so kann man seinen Wanderstab nicht spät genug in die Hand nehmen. So schön und herrlich Italien ist, so ist es mir doch ganz unzweifelhaft, daß es durch jugendliche Menschen, namentlich durch die unglückselige Klasse der Maler, noch zu etwas Herrlicherem hinaufgeschraubt worden ist, als nötig war.
Bei unsrer Rückkehr fanden wir alle vier Kinder vor: Theo hatte mittlerweile Haus gehütet und Friedeln überwacht, George war am 8. auf Urlaub hier eingetroffen, Martha am 18. von Schlesien angelangt. Die Freude war groß. Seitdem fallen wir aus einer Gesellschaft in die andre, und man muß sich, wenn Sie den Berolinismus gütigst verzeihen wollen, den Mund geradezu fußlig reden. Rudi, 2mal bei Heydens, gestern bei Wichmanns, morgen bei Lucaes, übermorgen bei Zöllners, am Sonntag bei Wangenheims, und ich fürchte, daß der Kreis hiermit keineswegs geschlossen ist. Eh ich es vergesse: an der Table d'hôte in Neapel trafen wir Frau v. Hagen auf Langen nebst Gemahl, und nach drei Minuten schon kannten wir alle Ruppiner Stadtneuigkeiten. Glücklicherweise war ich nicht dabei; ich war, wegen Unwohlseins, auf meinem Zimmer geblieben, aber meine Frau hatte die ganze Salve auszuhalten. Ich wollte mich beim Tee auch noch vorstellen, hütete mich aber wohl. Es war der letzte Abend, sonst würden diese Vorsichtsmaßregeln nichts geholfen haben.