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Einleitung

Ein »Sommer in London« nannte Theodor Fontane ein Bändchen Eindrücke, Beobachtungen und Erlebnisse, die ins Jahr 1852 zurückreichen, aber erst zwei Jahre später in Buchform veröffentlicht wurden (Dessau, bei Gebr. Katz), kurz bevor er sich zu neuem, gründlicherem Verweilen auf den britischen Inseln entschloß.

Wozu wir eine Auswahl dieser Skizzen, die sich doch sofort als poetische Intimitäten verraten, heute abdrucken lassen? gerade heute, wo unsere Büchertische unter der Last der Literatur über England und Englisches zusammenbrechen, wo aus tausend Zeitungsspalten und von unzähligen Kanzeln herab die Belehrungen jedermann zufließen, und mitten im Kampfe um das Dasein unseres Staates und Volkstums die Poetisierungen des Gegners vom Willen zu Sieg und Ehre abziehen, ihn vielleicht gar schwächen könnten? Der Titel, den wir unserer Auswahl geben, macht eine Antwort fast überflüssig.

Politisch und kulturell hat sich in England und seinem Imperium seit Fontanes Aufenthalten ungeheuer viel geändert. Wenn unser Dichter vormittags durch St. James nach Westminster schritt, der zentralen Herrschaftszelle des Riesenreiches, an unerhörten Schaustellungen von Glanz und Macht vorbei, an unverlöschbaren Bildern menschlicher Würde und menschlicher Verkommenheit, da mochte er Lord Russell und Richard Cobden begegnen, dem hochmütigen Palmerston, dem korrekten Peel, dem jugendlich dandyhaften Disraeli, dem Quäker Bright, dem Evangelisten Gladstone, und er mußte das Gefühl haben, das Parlament sei eine Art Klub für die alten Erben und die neuen Emporkömmlinge, für die Grundbesitzer und die Kapitalisten, für die Feudalität und die City, sei eine von der Straße und der wahren Demokratie noch nicht belagerte Festung. Die »untere« Menschheit, die in den Gewerkschaften sich gliederte, war politisch direkt noch nicht wirksam. Der Radikalismus, scheinbar eine fremdbürtige Ideologie ohne Aussicht auf keimfähige Verwurzelung, und die Volkstribunen, die sich in der Presse und auf Baumstümpfen sehr tüchtig tummelten, waren trotz allen Charters und Freiheiten unter dem Zepter des Sprechers noch unsichtbar. Fontane sah das ungeheure Räderwerk der Neuzeit in England arbeiten, die Maschinen, die Industrien, den hemmungslos heckenden Handel mit dem Ziel nach großen Zahlen, nach Massengütern, nach unbedingter Besitzhäufung. Er war auch nicht so kurzsichtig, den Herrschaftsgeist im Händlergeist zu übersehen, wie es mit vorwitziger Verallgemeinerung heute allzu oft geschieht. Aber er vermißte das Seelenhafte. Für die krause Mischung von Mittelalter und Neuzeit im selben Rahmen, mit Zopf und Perücke, mit Hochkirche und Sektentum, mit blasser Philanthropie und brutalstem Faustkampftum, mit Sport und Sonntagsheiligung, hatte er die empfänglichsten Augen, aber ihn empörte die nirgends so strenge Abschließung der Oberschicht gegen Unbemittelte und Unbetitelte. Den Modernismus Englands hat er sofort als etwas Totgläubiges begriffen, und er mochte darauf den Stillstand, die Unbewegtheit, die Ungeistigkeit in den Sitten und Gewohnheiten des Volkes zurückgeführt haben; trotz aller Nähe erkannte er die Ferne; oft verzichtet er auf den Versuch zur Einfühlung: er wird so enthaltsam, als wollte er eine Art europäischen Chinesentums zeichnen, eine von der Unrast, dem Expansivbedürfnis, dem naiven Mensch- und Daseinsgefühl der Kontinentalen grundverschiedene Gattung. Das Bild hat sich innerlich und äußerlich verschoben, und der Leser weiß, worin und wodurch: hier treten die Fachbelehrungen in ihre Rechte. Zwischen dem Parlamentsrecht von 1852, das Fontane von dem Freiherrn von Vincke im Vereinigten Landtag rühmen und von Bismarck für Preußen ablehnen hörte, und dem Parlamentsrecht von heute: – welche Kluft. Ich erinnere an das die Lords köpfende Parlamentsgesetz vom August 1911, an die Verkürzung der Legislaturperioden, an die Diäten für die Mitglieder des Unterhauses: das sind Riesenfortschritte zur Demokratisierung des Adels- und Kapitalistenklubs in Westminster. Auch an die Alterspensionen und Zwangsversicherungen: das bedeutet die Bresche in der individuellen englischen Staats- und Wirtschaftsauffassung. Der englische Herrschaftsbesitz hat sich um Millionen Quadratkilometer vermehrt, die Kolonien Kanada, Australien, Südafrika sind selbständige Republiken innerhalb des Imperiums geworden; Dinge, die unser Zeitgenosse Cobdens nicht ahnen konnte. Und trotzdem: der englische Charakter liegt unberührt unter diesem Wechsel. Operari sequitur esse. Das unbestechliche Dichterauge, das im Vielfältigen, im Einmaligen, im Einzelnen schwelgt, führt die Oberflächenwelt mit erstaunlicher Sicherheit doch wieder zurück auf die Einheit des seelischen Grundrisses und Grundwesens. Man wird mit offenen Augen lesen, was Fontane darüber zu sagen hat. Die Kapitelchen über das »goldene Kalb« und »Very« erinnern an die schwärzesten Prophezeiungen Carlyles über die Folgen der midasöhrigen Philosophie und an Ruskins erschütternde Abrechnung in Unto this Last. Die »Parallelen« zwischen englischem und deutschem Wesen könnten gestern geschrieben sein, – oder doch nicht: auch wir waren stark im Begriff, uns im üblen Sinne (es gibt auch einen guten) zu anglisieren, nämlich zu materialisieren, zu entgeistigen, zu entidealisieren; und der von warmem und liebenswürdigem Formsinn beseelte Dichter, der Fontane war, hätte, heute schreibend, nicht verfehlt zu erinnern, daß in dem wundersamen Aufstieg zu staatlicher und wirtschaftlicher Größe nicht der ganze Sinn der deutschen Geschichte und der deutschen Humanität beschlossen sei.

Samuel Saenger


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