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Ohne die geringste Schwierigkeit wurde die völlig von Menschen entblößte Grenze überschritten, und man gelangte in mühseligen Märschen über ausgedehnte und von Moskitos und Alligatoren wimmelnde Sümpfe hinweg in das Gebiet der riesigen Provinz Matto Grosso. Um Helmuts Sicherheit nicht unnütz aufs Spiel zu setzen, vermied man alle größeren Ansiedlungen, nächtigte stets im Freien und erwarb den Lebensunterhalt lediglich durch die Jagd, wenn nicht ein zufälliges Zusammentreffen mit einsam herumschweifenden Gauchos Gelegenheit bot, ein Stück getrocknetes Ochsenfleisch gegen Tabak oder ein buntes Tuch einzutauschen, das diese urwüchsigen Menschen fast ebenso lieben wie die Indianer. Allmählich stellte sich aber doch ein immer fühlbarer werdender Mangel an den dringendsten Bedürfnissen ein. Die Munition begann schon knapp zu werden, die Anzüge der beiden Europäer drohten nach dem langen und beschwerlichen Leben in der Wildnis zu Lumpen zu zerfallen, und auch der Tabakvorrat ging bedenklich zur Neige, während man doch gerade dieses kostbare Tauschmittel unumgänglich nötig haben würde, wenn man mit den wilden und menschenscheuen Indianerstämmen Südamerikas gut Freund werden wollte. So blieb schließlich doch nichts anderes übrig, als einen größeren Handelsplatz aufzusuchen, wo man die Vorräte ergänzen und sich nach Möglichkeit neu ausrüsten konnte. Nach längerem Zögern und Zaudern wählte man dazu die am Aufstieg zum Hochplateau von Matto Grosso gelegene Stadt Cuyaba. Es war ja kaum anzunehmen, daß auch in diese weltentlegenen Nester die Kunde von Helmuts Achterklärung gedrungen sein sollte, zumal gewiß niemand den Gesuchten hier vermutete. Vorsichtshalber sollte sich aber doch Helmut für krank ausgeben und sich gleich nach der Ankunft in der Herberge zu Bett legen, während Doktor Mangold mit Unterstützung Zampas alle notwendigen Besorgungen erledigen wollte und Tumayaua derweil in der Stadt herumhorchen sollte, ob irgend welche Gefahr drohe.
Kurz vor Erreichung des Zieles hatte man aber noch ein unverhofftes Jagdabenteuer zu bestehen. Am späten Nachmittag kam man an einen kleinen See, auf dem zahlreiche Enten schwammen, und da deren Fleisch zum Abendbrot recht willkommen gewesen wäre, stieg Doktor Mangold ab und kroch, in seinen bereits ganz bodenfarbig gewordenen und so eine vorzügliche Schutzfärbung darstellenden Poncho gehüllt, auf dem Bauche Zoll für Zoll näher. Schon war er fast in Schrotschußweite der Vögel angelangt, als ihn plötzlich jemand leise an der Schulter berührte. Er glaubte natürlich, es sei Helmut, der ihm aus irgendwelchem Grunde nachgeschlichen sei, und drehte sich halb unwillig über die Störung langsam um. Wer beschreibt aber sein Entsetzen, als er statt in das Antlitz des Freundes in das eines behaglich schnurrenden Silberlöwen (Puma) blickte. Weiß der Teufel, wofür das Tier ihn in seinem Poncho gehalten hatte; jedenfalls hatte es ihn nicht mit ausgestreckten Krallen, sondern nur mit weicher Pfote berührt, vielleicht in der Absicht, mit dem rätselhaften Gegenstande zu spielen. Übrigens erschien der Puma genau ebenso überrascht und erschrocken wie der Berliner, dem in diesem Augenblicke selbst die sonst so geläufige Zunge den Dienst versagte. Das behagliche Schnurren der Bestie verwandelte sich im Nu in ein drohendes Zähnefletschen, aber feig, wie diese Großkatzen sind, wartete sie die weitere Entwicklung der Dinge nicht ab, sondern drehte schleunigst um und sprang in mächtigen Sätzen davon, ehe sich der Doktor von seiner Überraschung so weit erholt hatte, daß er ihr einen Schuß hätte nachsenden können. Inzwischen hatte aber auch das scharfe Auge Tumayauas die springende Großkatze im hohen Grase wahrgenommen. Durch einen raschen Zuruf verständigte er Helmut, und dann spornten beide ihre Pferde an, um dem Puma den Weg nach dem Walde abzuschneiden. Indessen war das geschmeidige Raubtier schneller als die von der Mühe des Tages und von der weiten Reise überhaupt ausgepumpten und dabei schwer beladenen Pferde. Konnte doch Helmut nachher zu seinem nicht geringen Erstaunen mit dem Metermaß in der Hand feststellen, daß der flüchtende Puma Sprünge von nicht weniger als sechs Meter Länge vollführt hatte. So erreichte das Raubtier noch knapp vor seinen Verfolgern den Wald, sprang hier mit gewaltigem Satz auf einen Baum und nun mit unglaublicher Behendigkeit durch Schlingpflanzen und Astgewirr hindurch von Baum zu Baum, verfolgt vom kläglichen Geheul einer dadurch in ihrer Siesta aufgeschreckten Affenherde. Nur undeutlich konnte Helmut im Blättermeer noch die Umrisse des Puma erkennen, im nächsten Augenblicke mußte er ganz verschwunden sein; da hieß es rasch handeln. Blitzschnell legte Helmut noch im Reiten an, parierte sein schäumendes Roß, zielte so gut als möglich und drückte dann so ziemlich aufs Geratewohl ab. Ein fürchterliches Schmerzgebrüll antwortete dem Donner des Schusses, und gleich darauf plumpste der schwere Körper des Silberlöwen durch niederprasselnde Äste hindurch zu Boden.
Aber die Bestie war nur an der Schulter gestreift und für einen Augenblick betäubt worden und raffte sich sofort wieder auf. Schon lockerte der herbeisprengende Chiriguano seinen Tomahawk, und in seinen dunklen Augen blitzte es grimmig auf in der Hoffnung auf das bevorstehende Duell mit dem Raubtier, aber dieses verspürte dazu offenbar keine Lust, sondern flüchtete jetzt wieder aus dem Walde heraus über die freie Grasfläche. Trotz seiner Verwundung war es noch immer so schnell, daß es die beiden auf ihren ermatteten Pferden wohl kaum eingeholt haben würden, wenn jetzt nicht auf der andern Seite einige gut berittene Gauchos aufgetaucht wären, die durch den Schuß herbeigelockt worden waren. Die hatten mit ihren vorzüglichen und frischen Pferden dem angeschossenen Puma gegenüber nun allerdings ein verhältnismäßig leichtes Spiel. Bald hatten sie das Raubtier eingekreist, während Helmut sein erschöpftes Roß anhielt, um das prächtige und aufregende Schauspiel in aller Ruhe und Bequemlichkeit beobachten zu können. Da sauste auch schon, von der nervigen Faust des vorderen Gaucho geschwungen, der verderbenbringende Lasso durch die Luft, und seine unzerreißbare Lederschlinge legte sich mit tödlicher Sicherheit um den Hals des Raubtieres. Im gleichen Augenblicke parierte der Gaucho sein Pferd, daß es fast kerzengerade in die Luft stieg, warf es dann mit fabelhafter Geschwindigkeit auf den Hinterhufen herum und schleppte im Galopp den überwundenen und wehrlos gefesselten Silberlöwen hinter sich her. Immer enger zogen sich dabei die Schlingen um dessen Kehle zusammen, bis er endlich röchelnd mit krampfhaften Zuckungen sich im Staube wälzte. Alles eilte herbei, um das erlegte Untier anzustaunen, und auch Doktor Mangold war bald zur Stelle, da ihm über alledem seine Enten natürlich längst davongeflogen waren.
Man begrüßte sich mit den Gauchos, recht wild und verwegen aussehenden Kerlen, denen man nicht gern allein bei Nacht hätte begegnen mögen, aber dann fing auch gleich der Streit über die erlegte Beute an. Der Doktor hätte den Puma gar zu gern für seine Sammlung gehabt und bot deshalb den Gauchos eine verhältnismäßig beträchtliche Summe, wenn sie auf ihr Anrecht verzichten wollten. Dazu waren diese Leute aber nicht zu bewegen; das Fell zwar wollten sie ihm gegen angemessene Entschädigung überlassen, aber den Kopf müßten sie unbedingt behalten. Für den Deutschen hatte aber natürlich das bloße Fell ohne Kopf auch keinen Wert, sondern auch ihm war gerade dieser die Hauptsache. So gab es ein erbittertes Gerede hin und her, immer erregtere Worte flogen herüber und hinüber, und die Mienen der Gauchos wurden immer finsterer und drohender. Fast schien es, als ob es zu Tätlichkeiten kommen sollte, als endlich der Älteste und Vernünftigste der Gauchos vorschlug, sie wollten die Sache ihrem »Padrone« in der nahen Fazenda vortragen; der solle entscheiden. Willig fügten sich alle diesem Vorschlage, und in der rasch hereinbrechenden Dämmerung ritt man in beschleunigter Gangart dem Gutshofe zu.
Das bald vor den Blicken der Reiter auftauchende Gutshaus erwies sich als ein sehr langgestrecktes, aber ebenerdiges Gebäude mit weiß gestrichenen Mauern, flachem Dach und ringsum sich ziehenden, luftigen und ausgedehnten Veranden. Daneben ließen sich noch große, mit Stacheldraht eingefriedigte Grasflächen erkennen, auf denen Hunderte stattlicher Rinder weideten und Dutzende übermütiger Pferde sich tummelten. Der Besitzer all dieser Herrlichkeiten räkelte sich, Zigaretten rauchend, faul in seinem Schaukelstuhl, erhob sich aber sofort mit natürlicher Ritterlichkeit und schritt dem Zuge entgegen, als er der fremden Ankömmlinge ansichtig wurde. Den Streitfall hatte er rasch erledigt und sprach den Puma unsern Freunden zu, während er gleichzeitig den Gauchos beschwichtigend eine Anzahl Silberlinge in die arbeitsharten Hände drückte. Freudestrahlend übernahm der Doktor den schönen Puma, dessen unvermutetes Erscheinen ihm einen so heillosen Schrecken eingejagt hatte, und übergab ihn gleich dem grinsenden Zampa zum Abbalgen.
»Sie dürfen meinen Hirten ihre etwas rauhen Umgangsformen nicht übel nehmen,« erklärte der Hausherr, der sich als Dom Castro vorgestellt hatte, lächelnd. »Die Leute sind eben nur den Verkehr mit ihresgleichen gewöhnt, und unter diesen derben Männern muß man schon ein kräftiges Deutsch sprechen, wie man ja wohl drüben in Europa sagt, wenn man sich Gehör verschaffen will. Die Leute sind übrigens nicht halb so grimmig, wie sie aussehen, sondern eigentlich ganz gemütliche Burschen, solange nicht ihre allerdings sehr leicht erregbaren Leidenschaften aufgewühlt werden.«
»Aber warum waren sie denn eigentlich gerade auf den Kopf des Puma so übermäßig versessen?« erkundigte sich Helmut.
»Ganz einfach, weil ein Aberglaube dahinter steckt,« lautete die Antwort. »Die Gauchos pflanzen nämlich die Köpfe aller erlegten Pumas auf Pfählen an den Viehumzäunungen auf, wie man es wohl im Mittelalter mit den hingerichteten Verbrechern tat. Sie schwören Stein und Bein darauf, daß an einen derart geschmückten Viehkorral kein Puma sich herangetraue, daß dagegen alle nicht auf diese Weise geschützten Korrals ganz sicher von den Raubtieren heimgesucht werden. Da die Gauchos keinen festen Lohn erhalten, sondern einen Anteil am Reinertrage der Viehzucht, sind sie natürlich stark am Gedeihen der Herden interessiert und wachen mit Argusaugen über ihr Wohlergehen. Wo immer ein Puma, der mit Vorliebe Kälber und Fohlen räubert, sich blicken läßt, wird er daher unerbittlich gehetzt und mit dem Lasso zu Tode geschleift.«
Dann lud Dom Castro mit echt brasilianischer Liebenswürdigkeit und Gastfreundschaft seinen unerwarteten Besuch ein, in das Innere des Hauses einzutreten und mit dem vorlieb zu nehmen, was es bieten könne. »Das ganze Haus steht von diesem Augenblicke an unter Ihrem Befehl!« sagte er mit einer landläufigen, aber natürlich nicht so wörtlich gemeinten Redensart. Helmut und Doktor Mangold sahen sich unschlüssig und zögernd an. So gern sie auch der liebenswürdigen Einladung gefolgt wären und nach dem langen Leben in der Wildnis wieder einmal die volle Behaglichkeit eines zivilisierten Heims gekostet hätten, so ließ doch ein Blick auf ihre zerfetzte Kleidung es sehr gewagt erscheinen, etwa gar vor den Damen des Hauses sich zeigen zu müssen. Dom Castro schien ihre Verlegenheit zu bemerken.
»Wenn Sie wegen Ihres salonmäßigen Aussehens im Zweifel sind und vielleicht keine Reservegarderobe mehr zur Hand haben, so brauchen Sie sich dieserhalb keine grauen Haare wachsen zu lassen. Solche kleine Verlegenheiten zählen wir hier nicht. Wir haben sie alle selbst durchgemacht und sind daher für andere wohlweislich darauf eingerichtet. Ich habe Anzüge in allen Größen genug im Hause, um damit eine ganze Kompagnie bekleiden zu können. Wenn die Herren sich also zuerst auf ihre Zimmer bemühen wollen, so finden Sie da alles Nötige und können sich gleich umkleiden und ein Bad nehmen.«
Es war doch ein eigentümliches Wohlgefühl für unsere beiden Freunde, als sie eine Stunde später, befreit vom Reisestaub und in neuen Kleidern, den Salon betraten, als sie wieder mal auf richtigen Stühlen sitzen durften, als sie von Porzellantellern aßen statt aus schmutzigen Kürbiskalebassen, als sie sich dabei eines europäischen Bestecks bedienen durften statt der »fünfzinkigen Gabel« oder gar der widerlichen Eßpinsel. Statt gebratener Eidechsen oder Frösche gab es hier vorzügliches Roastbeef und zartes Mastgeflügel mit den wunderbarsten Gemüsen, und statt Algarrobobräu wurde hier echtes Löwenbräu aus der eine halbe Erdenweite entfernten Bierstadt München gereicht, das allerdings hier einen fabelhaften Preis haben mußte. Dazu eine anregende Unterhaltung mit gebildeten Menschen. Mit Staunen vernahm Helmut, der Landwirtssohn, daß sein Gastfreund nicht weniger als fünfzehntausend Rinder sein eigen nannte. Trotzdem hielt er sich keineswegs für einen reichen Mann, klagte vielmehr bitter über die schlechten Verbindungen und die dadurch ungemein erschwerten und verteuerten Absatzmöglichkeiten. Also wieder das alte Lied, das Helmut von den deutschen Ansiedlern in Rio Grande do Sul her so gut kannte. Welche Reichtümer mußten doch noch aus diesem Brasilien herauszuholen sein, wenn erst einmal das ganze Land von guten und jederzeit gebrauchsfähigen Verkehrsadern durchzogen war!
Einigermaßen dürftig im Verhältnis zu der sonstigen Vornehmheit des Besitzes war das Mobiliar. Es war überall nur das Notwendigste vorhanden, die Betten meist durch Hängematten ersetzt, während Bilder völlig fehlten. Dom Castro konnte das unschwer mit den außerordentlich kostspieligen Transportverhältnissen erklären. »Was glauben Sie wohl,« meinte er, »was mich z. B. das aus Deutschland bezogene Klavier kostet? Welch ungeheuren Weg hat es bis hierher zurücklegen müssen, und wieviel Fährlichkeiten war es dabei ausgesetzt! Für die dafür aufgelaufenen Spesen könnten Sie sich in Deutschland ein halbes Dutzend neuer Klaviere kaufen. Das bißchen Hausmusik, das wir hier in unserer Einsamkeit natürlich unter keinen Umständen entbehren möchten, kommt uns so wahrlich teuer genug zu stehen.«
So verfloß dieser Abend in der angenehmsten Weise, und unsere beiden Freunde waren im stillen dem armen Puma dankbar, der durch den Streit um sein Fell höchst unfreiwilliger Weise diese liebenswürdige Bekanntschaft vermittelt und eine so entzückende Unterbrechung des rauhen Reiselebens herbeigeführt hatte.
Man war dadurch so erquickt und gestärkt, daß man den Rest des Weges nach Cuyaba gewissermaßen spielend zurücklegte. Viel trug dazu auch der Umstand bei, daß die Landschaft immer reizvoller wurde: schönes Mittelgebirge mit malerisch geschwungenen Formen und ausgedehnten, üppig grünen Wäldern. Doktor Mangold verglich die Gegend mit dem Thüringer Wald, den er als Student durchwandert hatte, und unwillkürlich brummte er die alten, lieben Scheffelschen und Baumbachschen Studenten- und Wanderlieder vor sich hin, während Helmut die Fruchtbarkeit des Bodens bewunderte und den in den Waldungen aufgespeicherten Reichtum an kostbaren, aber hier ungenützt vermodernden Farb- und Nutzhölzern anstaunte.
Gar anmutig lag Cuyaba zwischen grünen Bergen eingebettet, und die Reisenden lernten hier den Typus einer Provinzialstadt Innenbrasiliens in seiner nettesten Form kennen. Es war so still und ruhig, so gemütlich und traulich, so philisterhaft und tratschsüchtig hier wie in einer Kleinstadt Mitteldeutschlands. Fast nichts erinnerte an das unruhvolle Treiben der Tropen. Einst freilich hatte Cuyaba glänzendere und bewegtere Zeiten gesehen. Gleich beim Bau der ersten Häuser waren im Erdboden gediegene Goldkörner gefunden worden, und dann hatte das Goldfieber mit aller Macht seinen Einzug gehalten. Abenteurer aller Art und aus aller Herren Ländern waren hier zusammengeströmt, viel verdächtiges Gesindel darunter, und beim Streit um die besten Schurfplätze hatte es oft blutige Händel gegeben, wobei Revolver und Dolchmesser eine verhängnisvolle Rolle gespielt hatten. So mancher, der in der Hoffnung auf rasch und mühelos zu erlangenden Reichtum nach diesem neuen Kalifornien ausgezogen war, war nicht wiedergekehrt und die meisten andern als bettelarme Landstreicher. Denn es hatte sich bald herausgestellt, daß der Goldgehalt des Bodens doch zu gering war, als daß er einen planmäßigen Abbau gelohnt hätte, und so hatte sich der Schwarm der Goldsucher bald wieder nach allen Richtungen der Windrose hin zerstreut. Die in der Hoffnung auf ein rasches Aufblühen der Stadt breit und großartig angelegten Straßen waren verödet, und viele Häuser standen leer. Die jetzigen Bewohner waren durchgängig patriarchalische Ackerbürger, denen ihre Ruhe über alles ging, und die sich um die Ereignisse in der großen Welt draußen herzlich wenig kümmerten. Standen sie doch nur einmal monatlich durch eine ziemlich unregelmäßig einlaufende Post mit ihr in Verbindung. Hervorragende öffentliche Gebäude gab es nicht, aber die niedrigen, ziegelbedeckten Häuser sahen in ihrem frischen und sauberen Anstrich doch recht freundlich aus, zumal Türen und Fensterläden häufig nicht ohne Geschmack und Eigenart bunt bemalt waren. Viel Platz war in ihnen nicht vorhanden, aber auch nicht nötig, denn die überall statt der Betten in Gebrauch befindlichen Hängematten waren ja am Abend rasch aufgehängt und machten so besondere Schlafzimmer überflüssig.
Gras und Unkraut wuchsen zwischen dem holprigen Pflaster der schönen, breiten Straßen, und im allgemeinen schienen diese mehr dem lieben Vieh als den wenigen Menschen zur Benutzung zu dienen, überall lungerten Hunde der unglaublichsten Mischrassen herum, wälzten sich grunzende Schweine oder tummelten sich muntere Ziegen, und wenn man abends beim undeutlichen Schein der wenigen, trübe brennenden Öllaternen heimkehrte, stolperte man nicht selten über große, den Weg versperrende Tierkörper, die sich dann durch unwilliges Brummen als schlafende Kühe zu erkennen gaben. Von Menschen sah man hauptsächlich in schreiende Farben gekleidete Weiber, die Früchte oder getrocknete Fische oder erfrischende Getränke oder Bonbons von Ziegelsteingröße feilboten, ihre Last stets auf dem Kopfe tragend und dabei unablässig mit den Armen hin und her pendelnd. Oder ein paar Negerjungen lutschten in einem stillen Winkel Zuckerrohr, oder eine häßliche, triefäugige Alte trug einen in ihr schmutziges Schnupftuch gehüllten Heiligen mit sich herum und erlaubte gegen Zahlung eines Kupferstückes den Vorübergehenden, ihn zu küssen. Seltener ertönte das quietschende Singen eines hochbeladenen, mit riesigen Holzrädern versehenen und von acht Ochsen gezogenen Karrens, und noch seltener sprengte einmal ein Reiter vorüber im Bratenrock, Zylinder und mit dem unvermeidlichen Regenschirm statt der Reitgerte in der Hand. Abends aber bewiesen die hell erleuchteten Fenster und das aus fast jedem besseren Hause ertönende, freilich nicht sehr künstlerisch anmutende Klavierspiel, daß die guten Leute von Cuyaba recht wohl zu leben wußten. Tagsüber dagegen lag über der ganzen Stadt der Geist bleierner Langeweile. Zu tun gab es ja auch nicht viel, denn das Vieh vermehrte sich von selbst, und die Äcker trugen auch ohne mühsame Arbeit so viel, daß man genug zum Leben hatte. Wozu sich also unnützer Weise abquälen?
Von diesen braven Spießbürgern war für Helmut kaum irgend eine Gefahr zu fürchten. Zwar lag auch eine Abteilung Soldaten im Orte, aber diese Krieger sahen durchaus nicht sehr unternehmungslustig aus, standen gewöhnlich schwatzend, rauchend und gähnend herum, schienen sich ebenso zu langweilen wie die Bürger und beteiligten sich deshalb aus reiner Langeweile auch an den Feldarbeiten oder betrieben nebenher ein Handwerk, um sich das nötige Taschengeld für Bier und Zigaretten zu verdienen. Überdies hatte Tumayaua mit der ihm eigenen Schlauheit herausbekommen, daß hier von Helmuts Achtung noch nichts bekannt war, und da die nächste Post frühestens in drei Wochen eintreffen konnte, schien vorläufig nichts zu fürchten, und Helmut durfte es deshalb wagen, schon nach wenigen Tagen sein freiwilliges Krankenlager zu verlassen und sich an den Gängen und Besorgungen in der Stadt zu beteiligen. Die Einwohner waren selbst froh über die ihnen durch die Fremdlinge gebotene Abwechslung, und es regnete nur so Einladungen. Helmut war an solchen Abenden immer bestrebt, nützliche Winke für die Weiterreise einzuholen, aber er merkte bald, daß die Kenntnis der Cuyatabaner sich nur auf wenige Meilen im Umkreise erstreckte. Was darüber hinausging, lag außerhalb des Horizonts dieser Leute, und die wilden Indianerstämme schilderten sie in so grauslicher Weise, daß Helmut, der ja jetzt doch schon einige Eigenerfahrung besaß, die völlige Unkenntnis und Übertreibung sofort herausfühlte.
Fast wurde der Abschied von Cuyaba schwer, denn alle hatten das liebe, gemütliche Nest in kurzer Zeit ins Herz geschlossen. Aber es mußte sein, denn auf das Eintreffen der nächsten Post durfte man es doch keineswegs ankommen lassen. Alles war bestens besorgt, und zum Tragen der Tauschwaren auch noch ein Ochse zugekauft worden. In scharfen Märschen ging es nun wieder über die wellige Hochebene, wobei man einmal auf die Trümmer einer von den Indianern vor Jahren zerstörten Niederlassung stieß. Die Gebäude waren zwar verfallen und wie kleine Dornröschenschlösser ganz von blühenden Schlingpflanzen eingesponnen, aber die Gärten trugen noch reichlich bei aller Verwilderung, und so konnte man sich unvermutet an Zitronen, Bananen, Feigen und dergleichen erquicken und die Pfeffersträucher leeren, um das wertvolle Gewürz mitzunehmen. Nordwärts und nordöstlich führte der Weg dem Rio Xingu zu, einem Nebenflusse des Amazonenstromes.
Schon nach wenigen Tagen stieß man auf ein Indianerdorf; aber es waren noch keine wilden, sondern ansässig gemachte und kultivierte, sogenannte zahme Indianer, die sich hatten taufen lassen und vollständig europäische Kleidung trugen, etwa nach Art der Landbevölkerung im südlichen Italien. Doch gehörten sie schon zum großen Stamme der Bakairi, dessen nördliche Sippen noch vollständig in der Wildnis und ohne jeden Verkehr mit den Weißen leben. Helmut beschloß deshalb, hier einige Tage zu bleiben, um rasch die notwendigsten Worte der Bakairisprache zu erlernen, zumal auch Tumayaua von dieser fast nichts verstand.
Trotz der ihnen aufgedrungenen Zivilisation waren aber auch die zahmen Bakairi im Innern ihres Herzens doch noch echte Wilde. Zwar sangen sie unter Leitung der sie besuchenden Missionare Kirchenlieder vor einem inmitten des Dorfes errichteten Altare, aber wenn die Missionare wieder den Rücken gedreht hatten, holten sie schleunigst ihre im Walde versteckten alten Musikinstrumente, verschiedene Arten selbstgeschnitzter Flöten und primitiver Gitarren, hervor und veranstalteten damit ungemein wehmütig anzuhörende Wimmerkonzerte, die ganz schauerlich über die windgepeitschte Hochebene hinaustönten und die richtige Stimmung erzeugten zum Erzählen von allerhand gruseligen und unheimlichen Gespenster- und Geistergeschichten, voll so krassen Aberglaubens, daß den Zuhörern ein kalter Schauer nach dem andern den Rücken herabkroch. Im übrigen führten diese Leutchen ein recht idyllisches und sorgenloses Dasein, pflanzten Bohnen, Mais, Mandioka, Tabak und Zuckerrohr, gingen auf Jagd und Fischfang und kümmerten sich sonst wenig um die Welt. Bald schlachteten sie ein Schweinchen, bald brachten sie einen erlegten Tapir angeschleppt, dessen Fleisch ein köstliches Ragout lieferte, und ihre Frauen buken aus Maismehl ein flaches, knuspriges Gebäck, das nach Form und Geschmack stark an die jüdischen Matzes erinnerte und »Beijus« genannt wurde. Alle hatten die Ohrlappen durchbohrt und mit bunten Papageienfedern geziert, viele auch die Nasenscheidewände.
Ein großes Ereignis war es, als das Erscheinen der Arrau-Schildkröten im Flusse gemeldet wurde, denn nicht nur das Fleisch dieser großen Tiere ist sehr geschätzt, sondern auch ihre Eier liefern ein zu Beleuchtungszwecken dienendes Öl. In überraschender Menge erschienen die weiblichen Schildkröten an den Ufern oder krochen auf die zahlreichen Sandinseln, um daselbst ihre Eier abzulegen. An besonders günstigen Stellen waren die Schildkröten so massenhaft zusammengedrängt, daß ihre Panzer klappernd aneinanderstießen und man sich kaum mit den leichten Booten einen Weg zwischen ihnen hindurchbahnen konnte. Die ans Land gestiegenen Schildkröten scharrten sich hier Gruben von einem halben Meter Tiefe aus, legten je achtzig bis zweihundert Eier hinein und deckten sie dann sorgfältig wieder zu. Dabei wurden sie von den lauernden Indianern überrascht und schonungslos niedergeschlagen. Das ganze Dorf, Männer, Frauen und Kinder, war zu dieser Metzelei an den Fluß gezogen, und auch aus den andern indianischen Niederlassungen der weiteren Umgegend war die gesamte Bevölkerung herbeigeströmt; auch so mancher weiße Abenteurer hatte sich in Gesellschaft der Rothäute eingefunden. So entwickelte sich das reine Volksfest und ein richtiges Jahrmarktsgetriebe. In großen Kesseln brodelte überall an den Lagerfeuern das Schildkrötenfleisch, das für schmackhafter und gesunder gilt als Schweinefleisch und auch ein recht gutes Küchenfett liefert. Die Eier dienen in frischem Zustande als Ersatz für Hühnereier, die meisten aber wurden in umfangreichen Gefäßen mit den Füßen zerstampft und der entstandene Brei unter Beifügung von etwas Wasser fleißig umgerührt. Dann schwimmt nach kurzer Zeit das Öl obenauf und kann abgeschöpft werden. Aber um zwölf Kilo Öl zu erhalten, brauchte man dreitausend Eier. Doktor Mangold sah diese Raubwirtschaft und Verwüstung mit Entsetzen und prophezeite den Indianern ein baldiges Aussterben der wertvollen Schildkröten, erregte aber damit natürlich nur ihr Gelächter. Was wußten diese Leute von Wildhege und Schonung! Ihren Vätern und Großvätern hatten die Schildkröten Öl und Fleisch geliefert, also würden wohl auch ihre Söhne und Enkel keinen Mangel daran leiden. So gierig ging man bei dieser Schlächterei, wo immer einer dem andern zuvorzukommen suchte, zu Werke, daß man den armen Tieren nicht einmal die nötige Zeit zur Ablage ihrer Eier ließ, sondern sie oft schon vorher mordete.
Auch Helmut hatte sich durch diese große Massenschlächterei angewidert gefühlt und war daher froh, als man zwei Tage später die Reise wieder fortsetzen konnte. Der Weg führte noch immer über die rauhe Hochfläche, wo die Nächte so empfindlich kalt waren, daß man oft selbst beim lodernden Lagerfeuer vor Frost klapperte. Aber schön war der Ritt bei Tage, namentlich in der Morgenfrühe, wenn die Sonne noch niedrig stand und der wolkenlose Himmel sich gleich einer bläulichen Milchglasglocke über den Reisenden wölbte. Soweit das Auge reicht, nur Gras, teils prangend in frischem Grün, teils schon braunrötlich verfärbt, auf jeder langsam sich erwärmenden Halmspitze mit einem demantenen, zitternden Tautropfen geschmückt, und dazwischen niedrige, in den abenteuerlichsten Formen verkrüppelte, windzerzauste Bäume, manche nackt und kahl wie die verzauberten Besenstiele des Hexenspuks, manche im vollen Blattschmuck, dieser aber vielfach zernagt, durchlöchert, von mißfarbigen Pilzen zerfressen. Dazwischen stalaktitenartig emporragende Termitenbaue, selten einmal ein paar blaue Glockenblumen. Es lag eine unendliche Monotonie in dieser ermüdenden Landschaft, die unwillkürlich schläfrig stimmte, so daß man wie im Traume seinen Weg mechanisch fortsetzte. Erst wenn die stolzen Gestalten im Winde sich wiegender Palmen auftauchten und dahinter am fernen Horizonte die undurchdringliche Mauer des endlosen Urwaldes, fühlte man sich wieder frischer und freier. Ein etwa in schwerfälligem Humpeltrott den Weg kreuzender Ameisenbär, dies sonderbare Geschöpf mit dem prächtigen Wedelschwanz, der langen Rüsselschnauze und der schlangenähnlichen Spechtzunge, brachte dann neues Leben in die Gesellschaft. Mit lautem Hallo galoppierte man ihm nach, holte ihn bald ein und warf ihm den Lasso über, um dem zählebigen Tier dann noch einen Gnadenschuß zu geben; denn Fleisch konnte man immer brauchen, obschon gerade das des Ameisenbären eigentlich keineswegs sonderlich mundete, vielmehr einen widerlichen Ölgeschmack hatte.
Je weiter man gen Nordosten vordrang, umso häufiger, höher und weniger verkrüppelt wurden die Bäume, umso zahlreicher traten die schönen Palmen auf, bis schließlich die Landschaft mehr parkartigen Charakter annahm und ein liebliches Durcheinander von Wiesenflächen und kleinen Gehölzen darstellte. Flußläufe und Bäche kreuzten jetzt mit ihren tief eingeschnittenen Betten häufig den Weg und mußten mit den schwer beladenen Tieren oft recht mühselig überschritten werden. Die Waldstreifen wurden breiter und zahlreicher, grüne Berge verschönerten das Bild, und schließlich kam man wieder in richtigen Urwald mit all seinem Zauber und seiner bunten Schönheit, aber auch mit all seinen Gefahren und Beschwerlichkeiten. An vielen Stellen konnte man sich nur mühsam mit dem Machete durch das dichte Pflanzengewirr Bahn brechen, und Mensch wie Tier hatten entsetzlich unter dem zahllosen Ungeziefer zu leiden. Ganze Wolken blutgieriger Moskitos umschwärmten die kleine Karawane; die erschöpften Reit- und Tragtiere vermochten sich kaum noch weiter zu schleppen; die unter den Riesenbäumen herrschende feuchtwarme Luft ließ Ströme von Schweiß über die Körper von Mensch und Tier rinnen, und bei Doktor Mangold, der am wenigsten gegen solche Strapazen abgehärtet war, machten sich zum großen Kummer Helmuts die ersten bedenklichen Anzeichen des gefürchteten Wechselfiebers geltend. Die klaren und sternenhellen Nächte waren zwar wunderschön, aber die Moskitos sorgten schon dafür, daß man wenig zum Schlafen kam und sehnsüchtig den Anbruch des Morgens herbeiwünschte. Kratzte man im Schlafe die von den Moskitos zerstochenen Hautstellen, so entstanden stark eiternde und schwer heilende Wunden. Fast unangenehmer noch waren aber die Sandflöhe, kleine, am Boden lebende Insekten, die ihre Gier in die Haut des Menschen legen, mit Vorliebe in die der Fersen und Zehen. Während man anfangs gar nichts davon merkt, entwickelt sich bald eine erbsengroße Kugel, die mit Eiern gefüllt ist und beim Platzen schwere Eiterungen verursacht, die zum Verlust der ganzen Zehe führen können. Die Eierkugel muß deshalb rechtzeitig und ohne Verletzung ihrer Hülle mit dem Messer herausgearbeitet werden. Verfährt man mit der nötigen Geschicklichkeit dabei, so geht es ohne größeren Blutverlust ab, obwohl die kleine Operation namentlich dann sehr schmerzhaft ist, wenn die Eierkugeln sich unter den Zehennägeln festgesetzt haben. Zampa war Sandflohspezialist und entfaltete im Ausschneiden der Eierkugeln eine bewundernswerte Geschicklichkeit, bekam aber auch in dieser Beziehung reichlich zu tun. An manchen Abenden wurde seine Hilfe wohl ein dutzendmal in Anspruch genommen. »Das sind auch so kleine Freuden des Urwaldlebens,« seufzte der Doktor, nachdem ihn Zampa soeben wieder von mehreren Eierkugeln befreit hatte, »von denen man sich daheim im Sorgenstuhl nichts träumen läßt, wenn man von der berühmten Urwaldherrlichkeit schwärmt. Gerade diese kleinen Feinde des Menschen sind die allerärgsten und können einem das Reisen in wilden Ländern mehr verleiden als alle Löwen, Tiger und Jaguare, die man doch wenigstens bekämpfen und mit der Flinte unschädlich machen kann, während man diesen winzigen Schmarotzern gegenüber nahezu wehrlos ist.«
So war der Marsch durch den Urwald äußerst anstrengend, und im Zustande völliger Erschöpfung erreichte man endlich die unmittelbar an einem größeren Fluß gelegene letzte Ansiedlung »zahmer« Bakairis. Jenseits des brausend und tobend zwischen riesigen Felsblöcken sich durchdrängenden Gewässers, das die Eingeborenen als Batovy bezeichneten, breitete die unerforschte Wildnis ihre geheimnisvollen Schleier über das Land. Nach kurzer Beratung mit dem Doktor und Tumayaua entschloß sich Helmut, von hier aus die Reise in Booten fortzusetzen, da ja der etwa fünfzig Meter breite Fluß eine sichere Fahrstraße zu bieten schien, während es allen klar war, daß bei dem geschwächten Zustand der Tragtiere diese eine weitere Fortsetzung der Urwaldreise unmöglich noch lange würden aushalten können. So wurde denn der Tragochse geschlachtet, die beiden Pferde und die beiden Maultiere an die Bakairis gegen allerlei notwendige Lebensbedürfnisse und gegen die Stellung von Arbeitskräften zum Kanubau vertauscht.
Bei dieser wichtigen Tätigkeit, von deren Ergebnis das zukünftige Schicksal der kleinen Reisegesellschaft mehr oder weniger abhing, fühlte der mit solchen Dingen wohlvertraute Tumayaua die Oberaufsicht. Die Arbeit war an sich einfach genug, mußte aber doch mit großer Sorgfalt und Umsicht gemacht werden. Um hohe, ulmenartige Bäume herum wurden Gerüste errichtet, auf denen die Arbeiter festen Fuß fassen konnten, während sie mit Beilhieben den halben Rindenzylinder des Baumes in einem Stück vom Stamme loslösten. Das auf diese Weise erhaltene riesige Rindenstück wurde dann durch ein darunter erhaltenes mäßiges Feuer so weit geschmeidig gemacht, daß sich das Ganze mit Hilfe einfacher Hebel falten und zur Kanuform zurechtbiegen ließ. Eingetriebene Querhölzer sorgten dafür, daß der Rand sich nicht zu stark nach innen umlegte, und die feste Basthaut machte das Fahrzeug wasserdicht. Nicht immer gelang der Bau zur Zufriedenheit, denn jetzt während der Trockenzeit war die Baumrinde spröde und zersprang nur zu leicht bei der Bearbeitung. Schließlich wurden aber doch zwei Kanus von reichlich sechs Meter Länge fertig. Freilich waren es recht gebrechliche und elende Fahrzeuge, denen sich der nicht daran Gewöhnte anfangs nicht ohne ein gewisses Zögern anvertraute, aber sie erfüllten doch so leidlich ihren Zweck, und gerade ihre große Leichtigkeit machte es möglich, daß man sie an schwer zu befahrenden Stellen ans Ufer ziehen und ein mehr oder minder großes Stück über Land tragen konnte. Mit Beilen und Messern hackte man sich dann noch eine Reihe primitiver Ruder zurecht, so gut es eben gehen wollte.
Die beiden Europäer, die bei dieser Arbeit wenig nützen konnten, durchstreiften derweil jagend, beobachtend und sammelnd den Wald. Hierbei erlebten sie ein Abenteuer, das beinahe übel für sie ausgefallen wäre. Unter den Riesenbäumen und in dem undurchdringlichen Pflanzenwust hatten sie in der ihnen unbekannten Gegend die Orientierung verloren, in ihrem Sammeleifer auch gar nicht darauf geachtet, daß schon seit geraumer Zeit ein eigentümlich brenzlicher Geruch die Luft erfüllte. Um einen Überblick zu gewinnen und sich über die einzuschlagende Richtung zu vergewissern, erstiegen sie einen steil emporragenden Hügel. Von dessen Spitze aus sahen sie allerdings in der Ferne den Fluß blinken, an dessen Ufer das Indianerdorf liegen mußte, waren also über die Richtung nicht länger im Unklaren, aber sie sahen auch noch etwas anderes, das sie mit Schrecken und Grauen erfüllte. Dicke Rauchwolken, die sie vorher wegen des dichten Blätterdaches gar nicht hatten bemerken können, wälzten sich über den Urwald dahin, und in größerer Entfernung lohten lange Schlangenlinien leuchtender und blutrot zum Himmel emporleckender Flammen. Kein Zweifel mehr: der Urwald brannte! Feuer auf den Baumwipfeln, Feuer auf den Bergen, Feuer im Tale, Feuer überall, so weit das Auge reichte. Wahrscheinlich hatten umherschweifende Kautschuksammler die Gewissenlosigkeit begangen, ihr Lagerfeuer nicht auszulöschen, der nächste Baum hatte dann Feuer gefangen, und nun verbreite sich dasselbe bei der herrschenden Trockenheit mit Riesenschnelle über das ganze weite Waldmeer. Aber jetzt war keine Zeit mehr, über die Entstehungsursache des Brandes nachzugrübeln, sondern jetzt hieß es, eiligst auf seine Rettung bedacht sein. Klar übersah Helmut von seinem hohen Standpunkte aus die Lage. Von der einen Seite rückte die Feuerwand mit rasender Schnelligkeit gegen sie heran, auf der andern befand sich, leider noch weit entfernt, der sichere Rettung verheißende Fluß. Leider hatte aber die Feuerwand an ihren beiden Seiten, wo sie offenbar bessere Nährbedingungen vorfand, lange Zungen vorgeschoben, die nach dem Flusse zu verliefen und sich dort offenbar vereinigen wollten. Gelang es nicht, vor dieser Vereinigung den Fluß zu erreichen, so war man in einem großen Flammenring eingeschlossen und wohl sicher verloren.
Es begann nun ein Wettlauf auf Tod und Leben zwischen den beiden bedrängten Männern und den hinter ihnen und zu ihrer Seite gierig züngelnden Flammensäulen. Leider wurde der Wind stärker und wehte in der ungünstigsten Richtung, sodaß er die Flammen mit einer immer unheimlicher werdenden Schnelligkeit vor sich hertrieb. Die beiden Freunde liefen, was ihre Beine sie tragen wollten, nicht achtend darauf, daß ihnen die Dornen des Gestrüpps Gesicht und Hände zerrissen und ihre in Cuyaba gekauften neuen Kleider ihnen schon in Fetzen vom Leibe hingen. Die hinderliche Jagdbeute, die so mühselig gemachten Sammlungen hatten sie schon längst von sich geworfen, um in ihren Bewegungen freier zu sein. Schwer und keuchend ging ihr Atem, der Schweiß troff in Strömen von der glühenden Stirn, die Glieder bebten in Fieberhast. Aber der Kampf war zu ungleich. Das Feuermeer hatte freien Lauf droben in den von der Sonne ausgedörrten Baumwipfeln und obendrein noch den Wind zum Bundesgenossen, während die beiden in diesen wütenden Kampf der Naturkräfte eingeklemmten Menschen in dem wild verrankten, jeden Schritt hemmenden Pflanzengewirr trotz den ungeheuersten Anstrengungen nur langsam vorwärts kommen konnten. Immer näher rückten ihnen die Vorboten der Flammenwand auf den Leib. Es war ein schauerlich schönes Schauspiel. Hinter den verschlungenen Zweigvorhängen knatterte und prasselte und leuchtete es, als wären dort Heere von Gnomen bei der Schmiedearbeit, oder als hätten die Waldgeister die Tanzplätze der Feen und Elfen festlich illuminiert. Wie Raketen flogen allenthalben die glühenden Spitzenbüschel der vom Feuer ergriffenen Riesenbambusse in die Luft. Mit entsetztem Gekreisch flüchteten Affenscharen, schier wahnsinnig vor Angst, von Baum zu Baum. Schreiend flogen die prachtvoll gefiederten, langschwänzigen Araras und die bunten Tukane hin und her, versuchten die Flammenlinie zu überfliegen und fielen mit versengtem Gefieder wieder herab, rettungslos einem qualvollen Tode preisgegeben. Man hörte den Todesschrei eines von den Flammen umzingelten Jaguars. Schlangen und allerhand anderes unheimliches Gezücht schoß aufgescheucht aus seinen Schlupfwinkeln hervor und versuchte vergeblich, dem gefräßigen Element zu entrinnen. Hirsche und Rehe flüchteten mit Pumas und Tigerkatzen in mächtigen Sätzen durchs Gebüsch. Jetzt tat keiner dem andern etwas zuleide, keiner kümmerte sich um die beiden Menschen, sondern in aller Blick malte sich nur die eine furchtbare, entsetzliche Angst vor dem grausamen Flammentode.
Auch die beiden Freunde merkten mit Schaudern, wie das unentrinnbare Verderben näher und näher rückte. Schon war die Luft so glühend heiß, daß sie im Verein mit dem stickigen Qualm das Atmen erschwerte; schon fielen glimmende Zweige auf sie nieder. Die alten Urwaldbäume glichen lodernden Riesenfackeln, der Boden schien sich unter den Füßen der Flüchtenden zu entzünden. Feuerfunken tanzten ihnen wie Irrlichter vor den Augen. Ihre Kräfte schwanden. Sie taumelten nur noch mechanisch vorwärts. Es schien unmöglich, Fluß und Waldrand rechtzeitig zu erreichen. Das grausige Wettrennen war verloren.
Einen Augenblick blieben sie atemschöpfend stehen, während ringsum das entfesselte Element tobte und so mancher Urwaldriese, des haltenden Lianengewirrs beraubt, krachend niederstürzte. Dann wandten sie sich instinktiv nach der Seite, wo das Flammenmeer noch am weitesten zurück war, mußten wieder nach einer andern Richtung entweichen, und so ging es wie eine wilde Hetzjagd hin und her, fast im Kreise herum. Längst wußten sie nicht mehr, wo sie waren, aber verzweifelt kämpften sie bis zum letzten Atemzuge um ihr Leben. Helmut, der nichts mehr vor Augen sah als erstickenden Qualm, fühlte plötzlich, wie er den Boden unter den Füßen verlor und tief herabstürzte – irgendwohin ins Weite, Raumlose. Und gleich darauf lag der ächzende Körper seines wohlbeleibten Freundes schwer auf ihm. Die Sinne drohten ihm zu schwinden – doch was war das? Klang es nicht wie murmelndes Wasser, roch es hier nicht erfrischend nach dem erquickenden Naß? Mühsam richtete er sich auf und versuchte Umschau zu halten, um festzustellen, wo sie sich eigentlich befänden. Gleich darauf stieß er einen aus innerster Seele kommenden Freudenschrei aus. Das war wahrlich Hilfe gewesen in der äußersten Not! Sie waren bei ihrem blinden Umherirren über das steile Ufer eines Wildbaches herabgestürzt und lagen zwischen moosigem Gestein halb im Wasser. Auch mancherlei dem Feuer entgangenes Getier hatte sich an diese Stätte geflüchtet und äugte nun angstvoll zu den beiden Menschenkindern herüber, die so unvermutet zwischen die bunte Gesellschaft gefallen waren. Aber auch denen war alle Lust zum Jagen gänzlich vergangen. Gleich jedem andern Lebewesen waren auch die Menschen jetzt nur noch auf die eigene Rettung bedacht.
Der Bach stellte freilich nur ein schmales, infolge der herrschenden Hitze schon arg zusammengeschrumpftes Rinnsal dar, aber die Vegetation an seinen Steilufern war doch saftiger und üppiger und konnte daher nicht so leicht vom Feuer ergriffen werden, das sich ergiebigere Nahrung suchte oder unter dem beflügelnden Hauche des Windes über sie zum andern Ufer hinwegsprang. Glücklicherweise fand Helmut nach kurzem Suchen in dem stark überhängenden und vom Wasser unterwaschenen Steilufer auch eine Art Höhle, die doch einigen Schutz gegen die aus der Luft zu Tausenden herabfallenden Feuerfunken gewährte. Hier konnte er, unter tausend Ängsten zwar, aber doch einigermaßen geborgen, mit dem inzwischen ebenfalls etwas erholten Freunde abwarten, bis das Feuer einigermaßen ausgewütet hatte, und dann mußte ja wohl das Bachbett abwärts irgendwo zum Flusse führen. Nach diesem Plane wurde auch gehandelt. Es war freilich sehr mühsam, in dem größtenteils mit wild durcheinander gewürfelten Felsblöcken ausgefüllten Bachbett vorwärts zu kraxeln, aber es mußte gehen, und es ging auch. Einmal erschraken sie nicht wenig, als ein zwischen den Felsblöcken kauernder Jaguar den Weg versperrte. Aber die Bestie schien durch das großartige Naturereignis noch mehr erschreckt als die Menschen. Als Helmut seine durch alle Fährnisse gerettete Flinte hob, stieß der Jaguar nur ein klägliches Winseln aus und sprang dann das Ufer hinauf und auf Nimmerwiedersehen davon, offenbar sehr traurig darüber, daß man ihn aus seinem sicheren Zufluchtsorte so rücksichtslos verdrängte. Bald darauf konnten auch unsere Freunde das unbequeme Bachbett verlassen, da das Feuer hier endlich ausgewütet zu haben schien.
Sie konnten nun oben rascher einherschreiten, dabei immer noch dem Bachlaufe ungefähr folgend, denn all das sonst so hinderliche Dorngestrüpp und Lianengewirr war ja verschwunden. Ein unsäglich trauriger Anblick war es, der sich ringsum bot. Wo noch wenige Stunden vorher die üppige Tropennatur in schier unerschöpflicher Kraft die herrlichsten Wunder der Pflanzenwelt zur Schau gestellt hatte, da starrten jetzt nur noch halb verkohlte Stämme traurig gen Himmel, und der vorher grüne und buntbestickte Boden hatte sich in einen fußtiefen Aschenteppich verwandelt, aus dem es hier und da noch unheimlich glomm und rauchte, und der mit gebratenen Tierkadavern an manchen Stellen förmlich übersät war. Freilich konnten sich die beiden als Naturkundige zu ihrem Troste sagen, daß diesem Leichentuche in Bälde tausendfältiges neues Leben entsprießen würde. Noch immer wußten sie nicht genau, wo sie waren, als plötzlich zwei Schüsse durch diese schauerliche Kirchhofsstille hallten und sie erfreut aufhorchen ließen. Sofort schoß auch Helmut seine Flinte ab, wiederum erfolgte Antwort, und eine Weile später konnte man dem wackeren Tumayaua und dem braven Zampa die Hand drücken, die in höchster Besorgnis um das Schicksal der beiden Weißen sich mit einer Anzahl Bakairis aufgemacht hatten, um nach ihnen zu suchen, und fast daran verzweifelten, sie noch lebend aufzufinden. Das Feuer selbst hatte am Flusse Halt gemacht und war hier in sich zusammengebrochen. Daß die herumfliegenden Funken noch ein paar Hütten der Bakairis in Brand gesetzt und verzehrt hatten, wollte nicht viel besagen. Dafür war ja bald Ersatz zu schaffen, und die Reisevorräte sowie die halb fertigen Kanus unserer Freunde waren glücklicherweise unversehrt geblieben, da der umsichtige Tumayaua deren Hüllen fleißig mit Wasser hatte begießen lassen.