Joseph Smith Fletcher
Der Amaranthklub
Joseph Smith Fletcher

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Neuntes Kapitel.

Das Nachbarhaus.

Schweigend und mit leisem Lächeln sahen die beiden einander einen Augenblick an. Garnier zündete sich umständlich eine Zigarre an. Als sie zu seiner Zufriedenheit brannte, wandte er sich an Hilda.

»Nun?« begann er. »Es ist also alles glücklich verlaufen. Der junge Mann hat das Rennen gemacht.«

Hilda lachte.

»Aber nur um eine knappe Nasenlänge.«

»Tut nichts. Für unseren Zweck genügt es.«

»Darüber möchte ich endlich Genaueres wissen«, sagte sie, indem sie etwas näherrückte. »Was ist unser Zweck? Es handelt sich doch wohl nur um Ihren Zweck?«

»Im Gegenteil, Sie sind im höchsten Grade daran interessiert. Doch davon später. Erzählen Sie erst mehr von Ihrer Wahlschlacht. Sie haben viele von diesen Leuten kennengelernt?«

»Eine Menge, mehr als genug«, erwiderte Hilda.

»Schön, teilen Sie mir alles mit, was für uns wichtig ist. Geben Sie regelrechte Charakteristiken.«

Hilda sah sich um. Sie machte sich noch immer Gedanken darüber, was Richard Avory im Amaranthklub zu suchen hatte, und sie mochte nicht, daß jemand hörte, wenn sie von Ashminster oder den Ellingtons sprach. Aber andererseits wußte sie aus Erfahrung, daß die Nische, in der sie mit Garnier saß, in jeder Hinsicht sicher war. So begann sie leise:

»Schön, also zuerst zu dem Mann. Ich glaube, er gehört zu der Art, mit der ich fertig werden kann. Vorausgesetzt, daß ich Zeit und Gelegenheit habe. Ihre Sache hat keine übergroße Eile?«

»Nein, Sie sollen Zeit haben. Die Gelegenheiten müssen Sie sich freilich selbst schaffen, und das werden Sie wohl können.«

Hilda legte den Finger auf eine der Zeitungen.

»Aber vielleicht wissen Sie noch nicht? Man sagt, die Regierung habe keinen langen Bestand mehr, sie werde vor Ende des Jahres zurücktreten.«

Garnier lächelte überlegen.

»Es ist das Vorrecht der Zeitungen, Wissen vorzutäuschen. Die Regierung wird nicht gestürzt werden, sie bleibt noch anderthalb Jahre am Ruder. Mehr Zeit, als wir brauchen. Aber erzählen Sie weiter!«

»Gut. Die Frau ist wert, daß man sich um sie kümmert. Ich sehe beachtenswerte Möglichkeiten, durch sie an ihn heranzukommen. Sie hat schon jetzt großes Zutrauen zu mir gewonnen.«

»Ausgezeichnet, ausgezeichnet! Pflegen Sie nach Kräften diesen Verkehr. Man kann einen Mann nicht besser in seine Gewalt bekommen als auf dem Wege über die Ehefrau. Aber wie steht es um die Verwandten des jungen Mannes? Auch sein Vater war einmal Parlamentsmitglied. Haben Sie ihn kennengelernt?«

»Natürlich. Er ist das Urbild eines altmodischen Plutokraten, herrschsüchtig, eigensinnig, stolz auf seinen Geldsack, radikal in allen seinen Ansichten. Seine Schwester ist eine Närrin, ein modernes Überweib. Man muß die jungen Leute dem Einfluß des Alten entziehen.«

»Gut. Aber wie?«

»Ich habe schon den Anfang dazu gemacht. Ich habe ihnen meines Bruders Haus in der Curzonstraße vermietet. Zuerst hatte ich mit Schwierigkeiten gerechnet. Aber es ging sehr leicht. Auf diese Weise habe ich sie in den Fingern.«

»Sehr schön. Sie haben ausgezeichnete Arbeit geleistet.«

Hilda warf ihre Zigarette fort und sah Garnier scharf an.

»Nun möchte ich aber auch den Zweck der Übung wissen«, sagte sie. »Ich beteilige mich nicht an einem Spiel, dessen Einsatz ich nicht kenne.«

Garnier stand langsam auf und beugte sich über den Tisch.

»Verlassen Sie in zehn Minuten das Zimmer und kommen Sie in das kleine Kabinett«, flüsterte er. »Dort sollen Sie alles hören.«

Er wandte sich ab und schlenderte sorglos durch die Räume. Hilda hörte, wie er sich lachend mit einem Herrn unterhielt. Mehrere Minuten blieb sie noch sitzen. Dann verließ auch sie das Rauchzimmer. Sie ging einen Korridor entlang und stieg eine Treppe hinauf, deren Zugang durch einen Vorhang verdeckt war. Oben befand sich ein schmaler, halbdunkler Gang. Am Ende desselben stieß sie wiederum auf einen Vorhang. Nach kurzem Zögern schob sie ihn beiseite. Mit sicherer Hand fand sie eine Feder in der Wand, die keines Menschen Auge entdeckt hätte. Eine Öffnung entstand, durch die sie schnell hindurchschlüpfte. Sie befand sich nicht mehr im Amaranthklub, sondern im Nachbarhaus.

Einen Augenblick verweilte sie, nachdem sie sorgfältig die geheime Tür geschlossen hatte, die so kunstvoll gearbeitet war, daß sie sich ohne jedes Geräusch bewegte. Sie lauschte. Tiefe Stille herrschte, obwohl sie sich im Herzen Londons befand. Ebenso tief war die Dunkelheit, aber Hilda kümmerte sich weder um das Schweigen noch um die Finsternis.

Sie bewegte sich schließlich vorwärts mit einem so sicheren Schritt, als wäre die Umgebung festlich erleuchtet. Ihre tastende Hand fand ein Treppengeländer, und sie stieg rasch abwärts. Nach einem Dutzend Stufen ergriff sie eine Türklinke. Sie trat ein, schloß die Tür hinter sich und drehte an einem Schalter. Das elektrische Licht zeigte einen kleinen Raum, in dessen Mitte ein mit zahlreichen Papieren bedeckter Tisch stand. An der Wand hing eine Übersichtskarte von London. Auf einem Seitentischchen lagen verschiedene Nachschlagewerke. Sonst enthielt das Zimmer außer drei oder vier Armsesseln nichts.

Hilda setzte sich und wartete. Auch in diesem Raum herrschte Grabesstille. Kein Laut verriet die Ankunft Garniers, der plötzlich im Türrahmen stand. Hinter ihm bemerkte Hilda Mr. Barthelemys süßlich lächelndes Gesicht.

Die beiden Männer setzten sich zu ihr an den Tisch. Garnier kam sofort zur Sache.

»Nun können wir frei reden«, begann er mit einem Blick auf Hilda. »Aus Mr. Barthelemys Anwesenheit können Sie schließen, daß er an unserm Geschäft beteiligt ist. Er und ich sind sozusagen Kompagnons, Sie sollen nun gleichfalls in die Firma aufgenommen werden. Mr. Barthelemy weiß, was Sie nach meinen Vorschlägen in Ashminster geleistet haben, und er ist mit allem einverstanden.«

Mr. Barthelemy nickte.

»Glänzend, ausgezeichnet!« sagte er begeistert. »Ein famoser Anfang, es hätte gar nicht besser kommen können. Meinen herzlichsten Glückwunsch, Frau Tressingham.«

Hilda dankte durch ein Kopfnicken. Dann wandte sie sich an Garnier.

»Zur Sache! Worum handelt es sich?«

Garnier lächelte und schob seinen Stuhl näher an den Tisch heran.

»Es handelt sich um eine ganz einfache Sache, hören Sie zu. Dieser junge Mr. Ellington ist zum Unterstaatssekretär im Marineministerium ernannt worden. Infolgedessen erhält er Kenntnis von allen geheimen Plänen seines Ministeriums. Darum muß man seine Bekanntschaft suchen. Sie aber kennen ihn nun, stimmt's?«

»Und«, sagte Barthelemy, indem er Hilda fest ansah, »Frau Tressingham wird sich Mühe geben, diese Bekanntschaft noch intimer, noch viel intimer zu gestalten.«

Hilda blickte Barthelemy an und wandte sich dann an Garnier.

»Was soll ich tun?« fragte sie in geschäftsmäßigem Ton.

»Folgendes«, erwiderte Garnier. »Demnächst wird ein sehr vertrauliches Schreiben unter den daran interessierten Mitgliedern der Regierung zirkulieren, das außerordentlich wichtige Enthüllungen über die zukünftige Organisation der britischen Flotte enthält. Das Schreiben ist so wichtig, daß die Leute, für die Mr. Barthelemy und ich arbeiten, eine große Summe zu zahlen bereit sind, wenn sie den Inhalt kennenlernen. Natürlich wird das Schreiben auch in die Hände des jungen Mannes kommen. Und« – er brach einen Augenblick ab und sah scharf auf Hilda – »wir müssen es mit sämtlichen Anlagen haben. Wir müssen es haben, und wäre es auch nur für eine Stunde. Sie sind im Bilde?«

Hilda antwortete nicht sofort. Sie nahm aus dem Etui, das Barthelemy vor sie auf den Tisch gelegt hatte, eine Zigarette. Der Besitzer des Amaranthklub beeilte sich, ihr ein Streichholz zu geben.

Hilda rauchte die Zigarette halb auf, während die beiden Männer sie schweigend beobachteten. Dann fragte sie:

»Wann werden die Papiere vermutlich in Ellingtons Hand sein?«

»Höchstwahrscheinlich gegen Mitte November«, antwortete Garnier ohne Besinnen.

»Sie können das auf die Woche genau voraussagen?«

»Auf die Woche – gewiß.«

»Aber wie soll ich den Tag wissen, an dem er die Papiere besitzt? So etwas wird doch schließlich nicht in der Zeitung bekanntgemacht«, bemerkte Hilda.

Garnier lächelte.

»Wir werden imstande sein, Ihnen sogar den Augenblick zu sagen, in dem er alles hat«, antwortete er. »Wir schöpfen unsere Kenntnisse aus vielen Quellen. Aber in den Besitz des Schreibens können wir nur durch Sie kommen.«

»Sie sind sich hoffentlich darüber klar, daß das keine leichte Aufgabe ist«, bemerkte Hilda.

»Wir sind uns völlig darüber klar.«

»Dann haben Sie vielleicht auch Vorschläge zu machen, wie ich dabei verfahren soll?«

Aber Garnier schüttelte lächelnd den Kopf, und Barthelemy streckte seine plumpen Finger aus.

»Nein!« antwortete Garnier. »Über die Wege, die einzuschlagen sind, müssen Sie allein entscheiden. Als Frau werden Sie schon Ihre eigenen Pläne schmieden. So ist es besser.«

»Viel besser«, stimmte Barthelemy zu.

»Gut«, sagte Hilda nach kurzer Pause, »ich will tun, was ich kann. Aber was bekomme ich dafür?«

Die Frage war aufrichtig. Ebenso klar war Garniers Antwort.

»Besorgen Sie uns die Papiere für eine Stunde, und Sie bekommen fünftausend Pfund.«

»In bar«, ergänzte Barthelemy.

Hilda nickte und stand auf. Auch die beiden Männer erhoben sich.

»Damit wäre alles erledigt«, sagte Barthelemy, indem er Garnier anblickte.

»Alles«, erwiderte Garnier, »wenigstens für den Augenblick.«

Sie gingen auf die Tür zu, aber plötzlich blieb Hilda stehen.

»Einen Augenblick. Mr. Barthelemy, ich bemerkte vorhin ein neues Klubmitglied, einen Herrn Mr. Richard Avory. Ich möchte wissen, wer das ist. Kennen Sie ihn?«

Barthelemy sah Hilda erstaunt an.

»Mr. Richard Avory? Natürlich kenne ich ihn. Ich kenne jeden, der im Amaranthklub verkehrt. Haben Sie ihn denn schon früher gesehen?«

»Ich habe ihn unter derartigen Verhältnissen getroffen, daß ich erstaunt bin, ihn auch hier zu treffen.«

Barthelemy sah bald Garnier, bald Hilda verwundert an. Sie fuhr fort:

»Ich begegnete diesem Mr. Avory beim Lunch in Ellingtons Haus. Er schien sich um Marcia Ellington zu bewerben. Nun sind diese Leute solch frömmelnde Puritaner, daß –«

Barthelemy winkte lachend ab.

»Meine Gnädigste, dieser Herr bewirbt sich um das Vermögen der jungen Dame. Ich kenne alle Einzelheiten dieses kleinen Romans. Seien Sie ganz beruhigt, Mr. Avory gehört seit längerer Zeit zu meinen Freunden. Es ist alles in bester Ordnung.«

Hilda ließ ihre Bedenken fahren.

»Ich dachte nur, es könnte peinlich für mich sein, Fräulein Ellingtons Bewerber im Amaranthklub zu treffen. Sie werden das verstehen.«

Barthelemy winkte abermals ab.

»Es ist alles in Ordnung, haben Sie keine Furcht. Ich kenne alle Besucher unseres Klubs. Und nun, ein kleines Spielchen gefällig? Vielleicht für eine Stunde?«

 


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