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Warum schreibe ich diese Zeilen? – Wozu sollen sie dienen? – Was weiß ich selbst davon? Das ist ziemlich dumm, meine ich, von den Menschen den Grund für ihre Handlungen und ihre Schreibereien zu verlangen. – Wißt ihr denn selbst, warum ihr die elenden Blätter aufschlagt, die die Hand eines Narren bekritzelt hat.
Eines Narren! Das erregt Schauder. Was seid aber ihr, Leser? In welche Kategorie gehörst du? In die der Dummköpfe oder in die der Narren? – Wenn man dir die Wahl ließe, deine Eitelkeit zöge sogar den letzteren Rang vor. Ja, nochmals, wozu soll, ich frag es wahrhaftig, ein Buch dienen, das weder belehrend, noch unterhaltend ist, weder chemisch, noch philosophisch, noch ackerbaukundlich, noch elegisch, ein Buch, in dem keinerlei Rezepte stehn, weder für die Hammel, noch für die Flöhe, das weder von den Eisenbahnen redet, noch von der Börse, nicht von den innersten Falten des menschlichen Herzens und nicht von den Trachten des Mittelalters, nicht von Gott und nicht vom Teufel, sondern das von einem Narren redet, das heißt von der Welt, dieser großen Idiotin, die seit so viel Jahrhunderten sich im Raume dreht, ohne einen Schritt zu tun, die heult und geifert und sich selber zerreißt?
Ich weiß so wenig wie ihr, was ihr zu lesen bekommt – denn dies ist durchaus kein Roman und auch kein Drama mit einem festen Plan, oder einer einzigen vorgefaßten Idee, mit Richtpunkten, damit man den Gedanken in Alleen schlängeln läßt, die mit der Leine abgesteckt sind.
Einzig will ich diesem Papier alles anvertrauen, was mir in den Kopf kommen wird, meine Gedanken, meine Erinnerungen, meine Eindrücke, meine Träume, meine Launen, alles was sich im Denken und in der Seele ereignet, – Gelächter und Tränen, Schwarz und Weiß, aus dem tiefsten Herzen gekommenes Schluchzen, das man wie einen Brei hinstreicht in wohlklingenden Perioden, und Tränen, die man in romantischen Metaphern sich verdunsten und zergehen läßt. Es bedrückt mich jedoch, zu denken, daß ich einer Schachtel Federn den Schnabel zerkratzen werde, daß ich eine Flasche Tinte leeren, daß ich den Leser langweilen und mich selbst langweilen werde; so sehr habe ich mich an das Lachen gewöhnt und an den Skeptizismus, den man vom Anfang bis zum Ende darin finden wird, an ein unaufhörliches Scherzen, und die Leute, die gern lachen, werden am Ende über den Autor und über sich selber lachen können.
Man wird drin sehn, wieso man an den Plan des Weltalls zu glauben hat, an die sittlichen Pflichten des Menschen, an die Tugend und an die Philanthropie, ein Wort, das ich Lust hätte, auf meine Stiefel schreiben zu lassen, wann ich welche habe, damit alle Welt es liest und auswendig lernt, auch noch die niedrigsten Augen, die kleinsten Wesen, die kriechendsten, die der Gosse am nächsten. Man hätte unrecht, sähe man in diesem etwas andres als die Belustigungen eines armen Narren. Eines Narren!
Und ihr, Leser, ihr habt euch vielleicht soeben verheiratet oder eure Schulden bezahlt?
Ich will also die Geschichte meines Lebens niederschreiben. – Welches Leben? Habe ich denn gelebt? Ich bin jung, auf meinem Antlitz sind keine Falten und im Herzen keine Leidenschaft. – Oh! Wie war es still, wie schien es sanft und glücklich, ruhevoll und rein. Oh! ja, friedlich und schweigend wie ein Grab, dessen Seele der Leichnam wäre.
Kaum habe ich gelebt: ich hab die Welt gar nicht gekannt, das heißt, ich hatte keine Mätressen, keine Schmeichler, keine Diener, keinen Wagen, – ich bin nicht (wie man sagt) in die Gesellschaft eingetreten, denn sie ist mir stets falsch und schellenlaut erschienen, mit Flittern staffiert, langweilig und geschraubt.
Nun, mein Leben, es besteht nicht aus Taten; mein Leben, es ist in meinen Gedanken beschlossen.
Welches ist nun dieser Gedanke, der mich jetzt, in dem Alter, in dem jedermann lächelt, sich glücklich fühlt, in dem man sich verheiratet, in dem man liebt; in dem Alter, in dem so viel andre sich mit aller Liebe und mit allem Ruhme berauschen, da so viel Lichter glänzen und die Gläser gefüllt stehn beim Feste, welches ist der Gedanke, der mich jetzt dahin bringt, daß ich mich allein und wankend fühle, kalt gegen jede Begeisterung, gegen jede Poesie, daß ich fühle wie ich sterbe und grausam lache über meine langsame Agende wie jener Epikuräer, der sich die Adern öffnen ließ, der sich in einem parfümierten Bade badete und starb, lachend wie ein Mensch, der trunken aus einer Orgie geht, die ihn ermüdet hat?
O wie lang war dieser Gedanke; wie eine Hydra verschlang er mich mit allen seinen Mäulern. Gedanke voll Trauer und Bitterkeit, Gedanke eines Spaßmachers, der weint, Gedanke eines Philosophen, der sinnt …
Oh! Ja, wieviel Stunden sind meinem Leben mit Denken und Zweifeln verstrichen, lange und eintönige Stunden! Wieviel Wintertage, geneigten Hauptes sitzend vor meinem blassen Feuer im fahlen Widerschein der untergehenden Sonne; wieviel Sommernächte auf den Feldern in der Abenddämmerung, da ich die Wolken fliehn und sich entfalten sehe, die Kornfelder sich unterm Wind beugen, das Ächzen der Bäume vernehme und die Natur höre, die in den Nächten seufzt!
O wie träumerisch meine Kindheit war. Wie war ich doch ein armer Narr ohne feste Gedanken, ohne positive Meinungen! Ich sah das Wasser unter den Baummassen fließen, die das Haar ihrer Blätter niederneigen und die Blüten niedersinken lassen; aus meiner Wiege betrachtete ich den Mond auf seinem azurnen Grund, der mein Zimmer erleuchtete und seltsame Gestalten auf die Wände zeichnete. Ich hatte Verzückungen vor einem schönen Sonnenaufgang oder einem Frühlingsmorgen mit seinem weißen Nebel, seinen blühenden Bäumen und seinen Margueritenblumen.
Desgleichen liebte ich, und das ist eine meiner zartesten und köstlichsten Erinnerungen, aufs Meer zu sehn, wie die Wellen übereinander schäumen und die Woge in Gischt zerbricht, mich auf dem Sande hinzustrecken und mit Geschrei über die Kiesel und Muscheln zurückzuflüchten.
Ich rannte auf die Felsen, ich hob Meersand auf und ließ ihn zwischen meinen Fingern in dem Wind verrinnen, ich feuchtete Seegräser und atmete mit voller Brust die salzige und frische Luft des Meeres, die einem die Seele mit soviel Energie, mit soviel dichterischen und großen Gedanken durchdringt; ich sah die Unermeßlichkeit, den Raum, das Unendliche, und meine Seele versank vor diesem grenzenlosen Horizont.
Oh! aber hier ist er nicht einmal der grenzenlose Horizont, der ungeheure Schlund. Oh! nein, ein größerer und tieferer Abgrund öffnet sich vor mir. In diesem Schlund gibt es keinen Sturm: gab es einen, er wäre voll – und er ist leer!
Ich war lustig und lachte, ich liebte das Leben und meine Mutter, meine arme Mutter!
Ich erinnere mich noch an meine kleinen Freuden, die ich empfand, wenn ich die Pferde auf der Straße laufen, ihren Atem dampfen, und den Schweiß über ihr Geschirr herunterrinnen sah, ich liebte den immergleichen und taktmäßigen Trab, der die Riemen pendeln macht – und dann, beim Anhalten ist alles auf den Feldern still. Man sah den Rauch aus ihren Nüstern steigen, der erschütterte Wagen setzte sich wieder fest auf seine Federn, der Wind pfiff an die Scheiben, und das war alles …
Oh! was machte ich auch für große Augen, sah ich die Menge in festlichen Kleidern, die fröhliche, lärmende, schreiende; ein Meer von Menschen, ein stürmisches, und zorniger als der Sturm und dümmer als seine Wut.
Ich liebte die Wagen, die Pferde, die Soldaten, Waffen und Rüstung, Trommeln und Pfeifen, kriegerischen Lärm, Pulverrauch und das Rasseln von Kanonen über dem Pflaster der Städte.
Als Kind liebte ich, was vor den Augen liegt; als Jüngling, was man fühlt; und als Mann liebe ich nichts mehr. Und dennoch, wieviel Dinge hab ich in der Seele, wieviel innere Kräfte und wieviel Meere Zorns und Meere der Liebe stoßen und brechen sich in diesem so schwachen, so kleinmütigen, so matten, so erschöpften Herzen!
Man sagte mir, ich solle nur Lust am Leben haben, solle mich unter die Menge mischen! … Wie kann ein abgebrochner Zweig Früchte tragen? Wie kann ein von den Winden entführtes und in den Staub geschleiftes Blatt wieder grün werden? Und warum in dieser Jugend soviel Bitterkeit? Was weiß ich! Es war vielleicht mein Schicksal, so zu leben, müde, bevor ich noch die Last getragen, keuchend, bevor ich gerannt …
Ich habe gelesen, ich habe gearbeitet in der Glut der Begeisterung … ich habe geschrieben … O wie glücklich ich damals war! – Da mein Gedanke in seinem Wahnsinn hoch in jene von Menschen ungekannten Gefilde flog, wo es keine Welt, keine Planeten, keine Sonnen gibt; ich besaß eine größere Unendlichkeit womöglich, als die Unendlichkeit Gottes, in der die Poesie sich wiegte und ihre Flügel in einer Sphäre von Liebe und Verzückung spreitete; und dann galt es, aus diesen erhabenen Regionen wieder zu den Worten herunterzusteigen, und die Frage war, wie durchs Wort jene Harmonie wiedergeben, die sich im Herzen des Dichters erhebt, und die Riesengedanken, die die Sätze zersprengen, wie eine starke und geschwollene Hand den Handschuh darüber zum Platzen bringt?
Täuschung auch hier; denn wir kleben an der Erde, an dieser eisigen Erde, wo jedes Feuer stirbt, jede Kraft erlischt. Wo sind die Sprossen, auf denen das Unendliche zum Festen niedersteigt? Wo die Leiter, auf der der Gedanke herabkommt, ohne daß er bricht? Wie kann man diesen Riesen, der die Unendlichkeit umarmt, klein kriegen?
Da erfaßten mich Augenblicke der Trauer und der Verzweiflung, ich spürte wie meine Kraft mich zerbrach, ich spürte jene Schwäche, deren ich mich schämte – denn das Wort ist nur ein fernes und abgeschwächtes Echo des Gedankens; ich verfluchte meine teuersten Träume und meine schweigsamsten Stunden, verbracht auf der Grenzscheide der Schöpfung. Ich fühlte etwas Leeres und Unersättliches, das mich verschlang.
Müde der Poesie stürzte ich mich auf das Feld der Betrachtung.
Ich wurde zuerst von jenem ehrfurchtgebietenden Studium gepackt, das sich den Menschen zum Ziele setzt und ihn sich erklären will, das so weit geht, Hypothesen zu zergliedern, über die abstraktesten Annahmen zu diskutieren und die leersten Worte mathematisch abzuwägen.
Der Mensch, ein Sandkorn, von einer unbekannten Hand in die Unendlichkeit geworfen, ein armes Insekt auf schwachen Füßen, das sich an allen Zweigen vom Rand des Schlundes zurückhalten will, das sich an die Moral, an die Liebe, an den Ehrgeiz heftet und aus alledem Tugenden macht, um sich besser daran zu halten, das sich an Gott klammert und immer schwächer wird, die Hände losläßt und fällt …
Mensch, der begreifen will, was nicht ist, und eine Wissenschaft machen aus dem Nichts; Mensch, Seele, geschaffen nach dem Bilde Gottes, und dein erhabenes Genie hält vor einem Grashalm an und kann über das Problem eines Stäubchens nicht hinwegkommen! Und Müdigkeit faßte mich an; ich kam dazu, an allem zu zweifeln. Jung, war ich alt; mein Herz trug Runzeln, und wenn ich Greise sah, noch lebhafte, von Begeisterung und Glauben erfüllte Greise, lachte ich bitter über mich selbst, der so jung, abgenutzt vom Leben, von der Liebe, vom Ruhm und von Gott, von allem was ist und von allem, was sein wird. Ich fühlte dennoch einen natürlichen Schauder, bevor ich diesen Glauben ans Nichts umfaßte; am Rand des Abgrunds schloß ich die Augen – ich fiel hinab.
Ich war zufrieden: so stand mir kein Sturz mehr bevor, ich war kalt und ruhig wie der Stein auf einem Grab. – Ich glaubte das Glück im Zweifel zu finden, Unsinniger, der ich war! Man rollt darin in eine unermeßliche Leere.
Diese Leere ist ungeheuer und läßt einem das Haar sich sträuben, wenn man dem Rand nahekommt.
Vom Zweifel an Gott kam ich zum Zweifel an der Tugend, diesem gebrechlichen Gedanken, den jedes Jahrhundert sich so aufgerichtet hat, wie es das auf dem Gerüst der Gesetze konnte, dem noch schwankenderen.
Später werde ich euch alle Phasen dieses düstern und nachdenklichen Lebens erzählen, dieses Lebens im engsten Kreise, mit gekreuzten Armen, unter einem ewigen Gähnen der Langeweile – allein für den ganzen Tag –, bei dem ich zuweilen die Blicke auf den Schnee der benachbarten Dächer lenkte, auf die untergehende Sonne mit ihren blassen Strahlen, auf den Boden meines Zimmers oder auf einen gelben Totenkopf, der zahnlos und unaufhörlich grinsend auf meinem Kamin stand, – ein Symbol des Lebens, gleich ihm kalt und hohnvoll.
Später sollt ihr vielleicht alle Ängste dieses so geschlagenen, so mit Bitterkeit getränkten Herzens lesen. Ihr werdet die Abenteuer dieses so friedsamen und alltäglichen, so mit Gefühlen erfüllten und an Taten leeren Lebens erfahren.
Und dann sollt ihr mir sagen, ob nicht alles ein Spott ist und ein Hohn, wenn alles, was man in den Schulen singt, alles, was man in den Büchern breitet, alles was man sieht, fühlt, spricht, wenn alles was besteht …
Ich vollende nicht, so bitter ist mir, es zu sagen. Nun wohl! Wenn alles das am Ende Jammer, Rauch und Nichts ist!
Ich kam im Alter von zehn Jahren ins Collège und faßte dort gleichzeitig eine tiefe Abneigung gegen die Menschen, – diese Gesellschaft von Kindern ist ebenso grausam gegen ihre Opfer, wie die andre kleine Gesellschaft, die der Menschen.
Dieselbe Ungerechtigkeit der Menge, dieselbe Tyrannei der Vorurteile und der Gewalt, derselbe Egoismus, was man auch über die Uneigennützigkeit und die Treue der Jugend sagen mag. Jugend: Alter der Tollheit und der Träume, der Poesie und der Torheit – oberflächliche Worte im Mund der Leute, die die Welt für gesund halten. Ich wurde dort in meinem ganzen Streben verletzt: in der Klasse meiner Ideen halber; in der Freizeit wegen meines Hangs zur einsamen Wildheit. Von da ab war ich ein Narr.
Da lebte ich also, allein und gelangweilt, geplackt von meinen Lehrern und verhöhnt von meinen Kameraden. Ich hatte einen spottlustigen und unabhängigen Sinn, und meine beißende und zynische Ironie verschonte weder die Laune von einzelnen, noch den Despotismus von allen.
Ich sehe mich noch auf den Bänken der Klasse sitzen, in meine Zukunftsträume versunken, in meinen Gedanken, wie sie die Einbildungskraft eines Kindes erhaben träumen kann, während der Schulmeister über meine lateinischen Verse spottete und meine Kameraden mich kichernd ansahen. Die Dummköpfe! Sie, über mich lachen! Sie, so schwach, so gemein, mit so engen Hirnen; über mich, dessen Geist auf den Grenzen der Schöpfung badete, der ich verloren war in alle Welten der Poesie, der ich mich größer fühlte als sie alle, der ich unendliche Freuden empfing und vor all den innersten Offenbarungen meiner Seele himmlische Verzückungen empfand!
Ich, der sich groß fühlte wie die Welt, und den ein einziger meiner Gedanken, wäre er feurig gewesen wie der Blitz, zu Staub hätte zermalmen können! Armer Narr!
Ich sah mich jung, zwanzig Jahre alt, von Ruhm umgeben; ich träumte von fernen Reisen in die Länder des Südens; ich sah den Orient und seine ungeheuern Sandflächen, seine Paläste, von Kamelen bevölkert, mit silbernen Glöckchen; ich sah die Stuten am Horizont hüpfen, den die Sonne rot färbte; ich sah blaue Wogen, einen reinen Himmel, eine silberne Sandflut; ich atmete den Geruch des lauen Südmeers; und dann, nah bei mir, unterm Zelt im Schatten einer Aloe mit breiten Blättern ein Weib mit brauner Haut, mit glühendem Blick, das seine beiden Arme um mich schlang und zu mir in der Sprache der Huris redete.
Die Sonne sank im Sand, die Kamele und die Stuten schliefen, Insekten summten um ihre Euter, und der Abendwind strich an uns vorbei.
Und war die Nacht hereingebrochen, wenn der silberne Mond sein bleiches Licht über die Wüste warf, wenn die Sterne auf dem azurnen Himmel glänzten, da träumte ich im Schweigen dieser warmen und balsamischen Nacht von unendlichen Freuden, von Wollüsten, die vom Himmel sind.
Und dann wars wieder der Ruhm mit seinem brausenden Händeklatschen, mit seinen gen Himmel schießenden Fanfaren, seinen Lorbeeren, seinem Goldstaub, den man in die Lüfte streut; – es war ein glänzendes Theater mit geschmückten Frauen, lichtstrahlende Diamanten, eine schwere Miene, keuchende Brüste, – dann ein religiöser Gottesdienst, verzehrende Worte gleich Feuerbränden, Tränen, Gelächter, Schluchzen, die Berauschung des Ruhms, – Schreie der Begeisterung, Stampfen der Masse, ach! – Eitelkeit, Lärm, Nichts.
Als Kind träumte ich von der Liebe; als Jüngling vom Ruhm, – als Mann vom Grab, dieser letzten Liebe jener, die keine mehr haben.
Ich durchdrang auch die alten Zeiten der Jahrhunderte, die nicht mehr sind und der Rassen, die unter der Erde liegen; ich sah die Scharen der Pilger und Krieger zum Kalvarienberge ziehn, in der Wüste halten, Hungers sterben und jenen Gott anflehn, den sie suchten, und müde ihrer Lästerungen immer jenem grenzenlosen Horizont entgegenwandern, – dann, müde, keuchend, endlich zum Ziel ihrer Reise gelangen, verzweifelt und alt, um ein paar dürre Steine zu küssen, die angebeteten Götzen der ganzen Welt. – Ich sah die Ritter reiten auf den gleich ihnen eisenbedeckten Pferden; und die Lanzenstöße in den Turnieren; und die Zugbrücke niederfallen, um den erhabenen Herrn zu empfangen der mit gerötetem Schwert und Gefangnen am Schweif seiner Pferde heimkehrt; dann wieder nachts in der düstern Kathedrale, deren ganzes Schiff erfüllt ist mit einem Reigen von Völkern, und wo die Gesänge in den Galerien zur Wölbung emporsteigen; Lichter, die an den Fenstern widerstrahlen; und in der Weihnacht die ganze alte Stadt mit ihren spitzen, schneebedeckten Dächern illuminiert und von Liedern erfüllt.
Rom aber war meine Liebe – das kaiserliche Rom, die schöne Königin, die sich in der Orgie wälzt, ihre edlen Kleider mit dem Wein der Ausschweifungen befleckt, stolzer noch auf ihre Laster als auf ihre Tugenden – Nero! – Nero, mit seinen in der Arena fliegenden, diamantenen Rennern, seinen tausend Wagen, seiner Tigerliebe und seinen Riesenfesten. – Fern von den klassischen Lektionen versetzte ich mich in deine ungeheuern Wollüste, in deine blutigen Feuerwerke, in deine Ergötzungen, die Rom einäschern.
Und gewiegt in diesen endlosen Träumereien, diesem Sinnen über die Zukunft, fortgerissen durch diesen abenteuerlichen Gedanken, der durchgegangen wie eine zaumlose Stute, die über die Ströme bricht, die Berge stürmt und in den Raum fliegt, – verharrte ich ganze Stunden, den Kopf in den Händen, indem ich den Boden eines Arbeitsraums betrachtete, wo eine Spinne ihr Gewebe um den Stuhl unseres Lehrers legte. – Und wenn ich mit großen weit aufgerissenen Augen erwachte, lachte man über mich, den faulsten von allen, – der niemals einen festen Gedanken haben würde, der keinerlei Neigung für irgendeinen Beruf zeigte, der auf dieser Welt, wo ein jeder seinen Teil vom Kuchen nehmen muß, unnütz sein würde, schließlich niemals zu was gut, höchstens zu einem Hanswurst, zu einem Bärenführer oder zu einem Büchermacher.
(Obgleich ich eine ausgezeichnete Gesundheit besaß, hatte die Artung meines Geistes, von dem Leben, das ich fühlte, und von der Berührung mit den andern ewig verletzt, in mir eine nervöse Gereiztheit erzeugt, die mich heftig und wild machte wie einen von Insektenstichen gequälten Stier. – Ich hatte Träume, schreckliche Alpdrücken peinigten mich.)
O diese traurige und häßliche Zeit! Ich sehe mich noch allein in den langen, weißlichen Korridoren in meinem Collège herumirren, um die Eulen und die Krähen um die Giebel der Kapelle fliegen zu sehn. Oder in jenen düstern Schlafsälen, die eine Lampe erhellte, deren Öl fror, hörte ich nachts in den weiten leeren Räumen lange den Wind klagend wehn, der in die Schlösser fauchte und die Fenster in ihren Rahmen klirren ließ; ich hörte die Schritte des Wächters, der die Runde machte und langsam mit seiner Laterne wandelte; wenn er in meine Nähe kam, tat ich, als schliefe ich, und wirklich schlief ich ein, halb in Träumen, halb in Tränen.
Es waren entsetzliche Visionen, die vor Schrecken närrisch machen mußten.
Ich lag schlafend im Haus meines Vaters; alle Möbel waren erhalten, doch hatte alles, was mich umgab, eine schwarze Farbe. – Es war eine Winternacht, und der Schnee warf eine weiße Klarheit in mein Zimmer; plötzlich schmolz der Schnee, das Gras und die Bäume bekamen eine rote und verbrannte Farbe, als ob eine Feuersbrunst meine Fenster erhellte; ich hörte Lärm von Schritten – man kam die Treppe herauf – ein warmer Wind, ein stinkender Dampf stieg her zu mir – meine Tür tat sich von selbst auf. Sie kamen herein, es waren viele – vielleicht sieben bis acht, ich hatte keine Zeit, sie zu zählen. Sie waren klein oder groß, mit schwarzen und rauhen Bärten, – ohne Waffen, aber alle hatten ein stählernes Blech zwischen den Zähnen, und als sie sich rings noch um meine Wiege stellten, klirrten ihre Zähne aufeinander, und das war schrecklich. – Sie zogen meine weißen Vorhänge weg, und jeder Finger hinterließ eine blutige Spur; sie sahn mich an mit großen, starren, wimperlosen Augen; ich sah sie gleichfalls an; ich konnte keine Bewegung machen – ich wollte schreien.
Da schien es mir, als ob sich das Haus in seinen Fundamenten höbe, als sei ein Hebebaum darunter gestemmt.
So sahn sie mich lange an, dann gingen sie fort, und ich sah, daß bei allen eine Seite ihres Gesichtes hautlos war und langsam blutete. – Sie hoben alle meine Kleider auf und machten alle voll Blut. – Sie machten sich ans Essen, und aus dem Brot, das sie brachen, rann Blut, das Tropfen um Tropfen fiel, und wenn sie lachten, wars das Röcheln eines Sterbenden.
Dann, als sie fort waren, war alles, was sie berührt hatten, das Getäfel, die Treppe, der Boden, alles von ihnen rot.
Ich hatte einen bittern Geschmack in der Seele, mir schien, als hätte ich Fleisch gegessen, und ich hörte einen lang ausgehaltenen, heisern, scharfen Schrei, die Fenster und die Türen taten sich langsam auf, und der Wind ließ sie schlagen und kreischen, als ein seltsames Lied und jedes Zischen davon zerriß mir die Brust mit einem Dolch.
Dann wieder wars in einer grünen und blumenbesäten Landschaft, an einem Fluß: – ich begleitete meine Mutter, die am Ufer hin wandelte; – da fiel sie hin. – Ich sah das Wasser schäumen, große Kreise entstehn und plötzlich wieder verschwinden. – Das Wasser nahm wieder seinen Lauf und ich hörte nur mehr das Rauschen der Flut, die zwischen den Binsen hinglitt und die Büsche wässerte.
Plötzlich rief mich meine Mutter: Zu Hilfe! zu Hilfe! O mein armes Kind, zu Hilfe! zu mir!
Ich warf mich platt nieder ins Gras und schaute: ich sah nichts; die Schreie hielten an.
Eine unbesiegbare Gewalt hielt mich am Boden fest – ich hörte die Schreie: Ich ertrinke! Ich ertrinke! Zu Hilfe!
Das Wasser floß weiter, floß hell und klar, und diese Stimme, die ich vom Grund des Flusses herauf hörte, stürzte mich in Verzweiflung und Wut …
So also war ich: – ein unbekümmerter Träumer! Mit eigenwilliger und höhnischer Laune erbaute ich mir ein Schicksal, erträumte mir die ganze Poesie eines liebeerfüllten Daseins und pflegte meine Erinnerungen, soviel man mit sechzehn Jahren haben kann.
Das Collège war mir widerwärtig. Es gäbe eine merkwürdige Untersuchung, wenn man die tiefe Abneigung der adligen und höhern Seelen erforschen wollte, die aus der kränkenden und verletzenden Berührung mit Menschen hervorgeht. Ein geregeltes Leben, bestimmte Stunden, ein Leben nach der Uhr, bei dem der Gedanke mit dem Glockenschlag stillstehn muß, bei dem alles für Jahrhunderte und Generationen vorher aufgezogen wird, war nie mein Geschmack. Diese Regelmäßigkeit kann ohne Zweifel für die große Menge recht sein, aber für das arme Kind, das sich von Poesie, von Träumen und Chimären nährt, das an die Liebe denkt und an alle kindischen Dinge, bedeutet es, daß es unaufhörlich aus diesem erhabenen Traum geweckt wird, daß ihm kein Augenblick Ruhe gelassen wird, daß es ersticken muß, indem man es in unsere Sphäre des Materialismus und des gesunden Menschenverstandes herabzieht, vor denen ihm schaudert.
Ich hielt mich abseits mit Versen, mit einem Roman, mit einer Dichtung, mit irgendwas, das dies Herz eines Jünglings erbeben machte, der von Empfindungen rein geblieben und sich so sehnte, welche zu haben.
Ich erinnere mich, mit welcher Wollust ich damals die Seiten Byrons und Werthers verschlang; mit welchem Entzücken ich Hamlet, Romeo und die glühendsten Werke unserer Zeit las, alle jene Werke, die die Seele zur Wonne zerschmelzen oder zur Begeisterung entflammen.
Ich nährte mich also von dieser herben Poesie des Nordens, die so schön tönte wie die Wogen des Meeres in den Werken Byrons. – Oft behielt ich bei der ersten Lektüre ganze Bruchstücke daraus, und ich wiederholte sie mir selbst, wie ein Lied, das einen entzückt hat und dessen Melodie einem immer folgt. Wie viele Male habe ich nicht den Anfang des Giaur hergesagt: Kein einziges Lüftchen …, oder aus Childe Harold: Vormals im alten Albion …, und: O Meer, dich hab ich stets geliebt. Die Plattheit der französischen Übersetzung verschwand schon vor den Gedanken, als ob sie ihren eignen Stil gehabt hätten sogar ohne die Worte.
Dieser Charakter glühender Leidenschaft, verbunden mit einer so abgründlichen Ironie, mußte stark auf eine heftige und reine Natur wirken. Alle diese der prachtvollen Würde klassischer Literatur unbekannten Töne besaßen für mich einen Zauber der Neuheit, einen Reiz, der mich unaufhörlich zu dieser ungeheuern Poesie zog, die einen schwindeln macht und in den bodenlosen Schlund des Unendlichen sinken läßt.
Ich hatte mir also Sinn und Seele verfälscht, wie meine Professoren sagten, und unter so viel Wesen mit gemeinen Neigungen hatte mir meine geistige Unabhängigkeit den Ruf des verderbtesten von allen eingetragen; gerade meine Überlegenheit fand sich auf den niedersten Rang hinabgestoßen. Kaum sprach man mir noch Phantasie zu, das heißt, nach ihnen eine der Narrheit benachbarte Gehirnüberreizung.
Dies war mein Eintritt in die Gesellschaft und die Achtung, die ich mir darin erwarb.
Wenn man meinen Geist und meine Grundsätze verleumdete, so griff man doch nicht mein Herz an, denn ich war damals gut, und das Elend von andern entlockte mir Tränen.
Ich erinnere mich, daß ich als ganz kleines Kind meine Taschen gern für die Armen leerte; mit welchem Lächeln warteten sie, wenn ich vorüberkam, und welche Freude empfand ich, ihnen Gutes zu tun. Es ist eine Wollust, die mir seit langem unbekannt geworden, – denn jetzt ist mein Herz trocken, und die Tränen sind verdorrt. Aber wehe den Menschen, die mich, der rein und gut war, verderbt und böse gemacht haben! Wehe dieser Unfruchtbarkeit der Zivilisation, die alles austrocknen und verkümmern läßt, was sich in die Sonne der Poesie und des Herzens erhebt! Diese alte zerfressene Gesellschaft, die alles verführt und alles vernützt hat. Dieser alte gierige Jude wird an Marasmus und Erschöpfung auf den Misthaufen sterben, die er seine Schätze nennt, ohne einen Dichter, der seinen Tod sänge, ohne einen Priester, der ihm die Augen schlösse, ohne Geld für seine Gruft, denn er wird alles für seine Laster verbraucht haben.
Wann wird es endlich mit dieser durch alle Ausschweifungen, Ausschweifungen des Geistes, des Körpers und der Seele, entarteten Gesellschaft aus sein?
Dann wird ohne Zweifel Freude auf Erden sein, wenn dieser lügnerische und heuchlerische Vampyr, Zivilisation genannt, zum Sterben kommt. Man wird den königlichen Mantel, das Szepter, die Diamanten, den stürzenden Palast, die zusammenfallende Stadt verlassen und sich wieder der Stute und der Wölfin gesellen. Nachdem der Mensch in den Palästen hingelebt und seine Füße auf dem Pflaster der großen Städte verbraucht hat, wird er sich bereiten, in den Wäldern zu sterben.
Die Erde wird von den Feuersbrünsten ausgetrocknet, die sie verbrannten, und ganz bedeckt vom Staub der Schlachten; der Atem der Verwüstung, der über die Menschen ging, wird sich über sie legen, und sie wird nur noch bittre Früchte und stachlige Rosen bringen, und die Rassen werden sich in der Wiege ersticken wie die Pflanzen von den Winden zerschlagen und sterben, bevor sie noch blühten.
Denn es wird alles unbedingt zu Ende gehn müssen und die Erde sich verbrauchen, daß sie so zerstampft wird. Denn das unermeßliche All muß endlich dieses Staubkörnchens müde werden, das so viel Lärm macht und die Majestät des Nichts verstört. Unweigerlich muß sich das Gold erschöpfen, daß es soviel durch die Hände gleitet und ins Verderben stürzt. Unbedingt muß diesem Dampfen des Bluts Einhalt geschehn, die Paläste müssen unter dem Gewicht der Reichtümer, die sie bergen, zusammenstürzen, die Orgie muß ein Ende haben, und man muß erwachen.
Dann wird es ein ungeheures Gelächter der Verzweiflung geben, wenn die Menschen diese Leere sehn, wenn man das Leben für den Tod verlassen muß – für den Tod, der frißt, der Heißhunger hat. Und alles wird krachen, um sich ins Nichts zu stürzen – und der Tugendhafte wird seine Tugend verfluchen und der Lasterhafte seine Hände zerschlagen.
Ein paar Menschen, die noch auf einer wüsten Erde umherirren, werden einander rufen; einander entgegengehn und schaudernd zurückprallen, vor sich selbst entsetzt, und sterben. Was wird dann der Mensch sein, er, der schon wilder ist als die gelben Tiere und feiger als die Schlangen? Lebt wohl auf immer, ihr glänzenden Wagen, ihr Fanfaren und Ruhmestöne, leb wohl, Welt, lebt wohl, ihr Paläste, ihr Grüfte, ihr Wollüste des Verbrechens und ihr Freuden der Verrottung. – Der Stein wird plötzlich niederfallen und von selber zerschmettern, und das Gras wird drüber sprießen! – Und die Paläste, die Tempel, die Pyramiden, die Säulen, die Grüfte der Könige, die Särge der Armen, das Aas des Hunds, alles wird unterm Rasen der Erde gleich hoch stehn.
Dann wird das uneingedämmte Meer in Ruhe an die Küsten schlagen und seine Fluten um die noch rauchende Asche der Städte spülen lassen; die Bäume werden sprießen und grünen, ohne daß sie von einer menschlichen Hand gebrochen und geknickt werden können; die Flüsse werden strömen in blumenbesäten Wiesen; die Natur wird frei sein, ohne daß der Mensch seinen Zwang auf sie legt, und diese Rasse wird auslöschen, denn sie war verflucht von ihrer Kindheit an … …
Welch traurige und wunderliche Zeit ist die unsre! Welchem Ozean fließt dieser Sündenstrom entgegen? Wohin schreiten wir in so tiefer Nacht? Wer diese kranke Welt anrühren will, zieht sich eilig zurück, erschrocken vor der Verderbnis, die in ihren Eingeweiden wühlt.
Als Rom sich im Todeskampf spürte, besaß es wenigstens eine Hoffnung: es sah hinter dem Leichentuch das strahlende, über der Ewigkeit glänzende Kreuz. Dieser Glauben dauerte zweitausend Jahre und nun erschöpft er sich, er genügt nicht mehr und man lacht darüber, – seine Kirchen stürzen ein, in seinen Friedhöfen liegen die Toten zu Hauf und geballt bis über den Rand.
Und wir, welchen Glauben werden wir haben?
So alt zu sein wie wir es sind, und immer noch in der Wüste wandern, wie die Hebräer, die aus Ägypten flohn!
Wo wird das verheißene Land sein?
Wir haben alles erprobt und schwören allem ab ohne Hoffnung – und dann hat uns eine sonderbare Gier gepackt in der Seele und Menschlichkeit; eine ungeheure Unruhe zerfrißt uns; es ist ein Leere mitten in unserer Fülle. – Wir fühlen um uns eine Grabeskälte.
Die Menschheit stürzte sich darauf, Maschinen zu wälzen, und als sie das Gold sah, das daraus strömte, schrie sie: das ist Gott. Und diesen Gott, den verzehrt sie. Vor dem Tod – es ist ja alles zu Ende: Fahr hin! Fahr hin! – gibt es Wein zu trinken! Jeder stürzt sich, wohin ihn sein Instinkt treibt; die Welt wimmelt wie ein Insektenschwarm über einem Kadaver; die Dichter vergehn, ohne Zeit zu haben, ihre Gedanken zu meißeln, kaum werfen sie sie auf Blätter und die Blätter fliegen; alles glänzt und alles schallt in dieser Maskerade, unter diesen Eintagskönigreichen und diesen papiernen Szeptern; das Gold rollt, der Wein strömt, die kalte Ausschweifung schürzt ihr Kleid und spreizt sich … Schauder! Schauder! Und dann liegt über alledem ein Schleier, von dem jeder seinen Teil nimmt und sich sogut er kann damit verbirgt.
Es gibt Tage, an denen mich eine unermeßliche Müdigkeit fesselt, und eine dunkle Langeweile einhüllt, wie ein Leichentuch, wo immer ich gehe: seine Falten verstören und verwirren mich, das Leben lastet auf mir gleich Gewissensbissen. So jung und so ermüdet von allem – wenn es andre gibt, die alt sind und noch erfüllt von Begeisterung! Und ich bin so gesunken, so entzaubert. – Was tun? Nachts seh ich, wie der Mond über meine Wände seine zitternde Klarheit wirft wie üppiges Laubwerk, und tags, wie die Sonne die Nachbardächer goldet. – Heißt das leben? Nein, das ist der Tod, nur ohne die Ruhe des Grabes.
Und ich habe meine kleinen Freuden für mich, Kindheitserinnerungen, die mich in meiner Einsamkeit wieder wärmen kommen, Abendsonnenstrahlen durch die Gitter eines Gefängnisses: ein Nichts, leiseste Züge, ein regnerischer Tag, ein stolzer Sonnenaufgang, eine Blume, ein altes Möbel, sie rufen mir eine Reihe von Erinnerungen zurück, die alle vorübergleiten, wirr, verwischt gleich Schatten. – Kindheitsspiele im Gras unter Gänseblümchen auf den Wiesen, hinter der blühenden Hecke, am Weinberg mit den goldnen Trauben, auf dem braunen und grünen Moos, unter den breiten Blättern, den frischen Schatten. Ihr ruhigen und lächelnden Erinnerungen, ihr Aufleuchten der frühsten Kindheit, ihr zieht an mir vorbei wie welke Rosen.
Die Jugend, ihre siedenden Entzückungen, ihre verworrenen Instinkte von der Welt und vom Herzen, ihr Liebeserzittern, ihre Tränen, ihre Schreie. – O Jünglingsliebe, o Traum des reifen Alters! O ihr kommt oft zu mir mit euern dunkeln matten Farben, flüchtig, voneinander vorwärtsgetrieben, wie in den Winternächten die Schatten, die beim Gehen über die Mauern wandern. Und ich gerate oft in Verzückung vor der Erinnerung an irgendeinen guten Tag, den ich vor so langer Zeit verbracht, an einen tollen und fröhlichen Tag mit Ausbrüchen und Gelächtern, die wieder in meinen Ohren klingen und wieder vor Lust erzittern, und mir nun ein Lächeln voll Bitterkeit entlocken. – Oder ein Ritt auf einem springenden und schaumbedeckten Pferd, ein träumerischer Spaziergang unter einer breiten, schattigen Allee, wobei ich das Wasser über die Kiesel hüpfen sehe; oder die Betrachtung eines schönen Sonnenaufgangs, der mit seinen Feuergarben und seinen roten Aureolen erglüht. Und ich höre wieder den Galopp des Pferds, ich seh seine Nüstern rauchen; ich höre das Wasser hüpfen, das Blatt erzittern und seh den Wind das Kornfeld furchen wie eine Meeresfläche.
Andre sind düster und kalt wie Regentage; bittre und grausame Erinnerungen, die gleichfalls wiederkommen – Stunden der Marter verbracht in hoffnungslosem Weinen, und dann in gewaltsamem Lachen, um die Tränen zu vertreiben, die über den Augen liegen, und das Schluchzen, das die Stimme bedeckt.
Viele Tage und viele Jahre blieb ich so und saß und dachte an nichts, oder an alles, versunken ins Unendliche, das ich umfassen wollte, und das mich verschlang.
Ich hörte den Regen in die Traufen tropfen, und die Glocken klagend klingen; ich sah die Sonne untergehn und die Nacht hereinbrechen, die Nacht des Schlafs, der einen beruhigt, und dann kam wieder der Tag herauf, immer der gleiche mit seiner Langenweile, mit derselben Zahl von Lebensstunden, die ich mit Freuden sterben sah.
Ich träumte vom Meer, von fernen Reisen, von der Liebe, von Triumphen, von allen in meinem Dasein gescheiterten Dingen, ein Leichnam, bevor er gelebt hat.
Ach! Dies alles war also nicht für mich geschaffen. Ich beneide die andern nicht, denn jeder klagt über die Last, mit der ihn das Verhängnis bedrückt; – die einen werfen sie weg vor dem Abschluß des Daseins, die andern tragen sie bis ans Ende. Und ich, soll ich sie tragen?
Kaum sah ich das Leben, als ein ungeheurer Widerwille in meiner Seele aufstieg; alle Früchte bracht' ich an meinen Mund: – sie schienen mir bitter; ich stieß sie zurück und nun sterb ich Hungers. So jung zu sterben, ohne Hoffnung im Grab, ohne sicher zu sein, dort zu schlafen, ohne zu wissen, ob sein Frieden unverletzlich ist! Sich in die Arme des Nichts werfen und zweifeln, ob es einen aufnimmt!
Ja, ich sterbe, denn heißt das leben, wenn man seine Vergangenheit sieht wie ins Meer geronnenes Wasser, die Gegenwart als einen Käfig und die Zukunft als ein Leichentuch?
Es sind unbedeutende Dinge, die mich stark betroffen haben und die ich immer behalten werde wie den Eindruck eines glühenden Eisens, obgleich sie alltäglich und nichtig sind.
Ich werde mich stets an eine Art Schloß erinnern, nicht weit von meiner Stadt, das wir stets besuchten. – Eine jener alten Damen aus dem achtzehnten Jahrhundert bewohnte es. Alles bewahrte bei ihr die Erinnerung an die Schäferzeit; – ich sehe noch die Porträts und die himmelblauen Kleider der Männer, und die übers Getäfel gestreuten Rosen und Nelken mit den Schäferinnen und Herden. – Alles hatte ein altes und dunkles Aussehen: die Möbel, fast alle mit gestickter Seide, waren geräumig und freundlich; – das Haus war alt; frühere Wallgräben, jetzt mit Obstbäumen bepflanzt, zogen sich herum, und die Steine, die sich von Zeit zu Zeit von den Zinnen lösten, rollten bis in die Tiefe.
Unfern war der mit Brombeerbäumen bepflanzte Park mit dunkeln Alleen, moosbedeckten und halbzerbrochnen Steinbänken zwischen Laubwerk und Brombeerstauden. – Eine Ziege kam vorbei, und wenn man das eiserne Gitter öffnete, rettete sie sich ins Dickicht.
An den schönen Tagen hüpften Sonnenstrahlen durch die Blätter und vergoldeten da und dort das Moos.
An den traurigen verfing sich der Wind in den großen Backsteinkaminen und jagte mir Furcht ein, – am Abend waren es die Eulen, die in den Ungeheuern Dachböden ihre Schreie ausstießen.
Wir verlängerten oft unsern Besuch bis ziemlich spät in den Abend, saßen um die alte Herrin vereinigt in einem großen, mit weißen Fliesen bedeckten Saal, vor einem kolossalen marmornen Kamin. Ich sehe noch ihre goldene, mit dem besten spanischen Tabak gefüllte Tabatiere, ihren Mops mit den langen weißen Haaren, und ihren kleinen niedlichen Fuß in dem hübschen, mit einer schwarzen Rose gezierten Schuh auf hohem Stöckel.
Wie lange ist das alles her! Die Schloßfrau ist tot, ihre Möpse desgleichen, ihre Tabatiere steckt in der Tasche des Notars; – das Schloß wird als Fabrik benutzt, und den armen Schuh hat man in den Fluß geworfen. …
Nach einer Unterbrechung von drei Wochen:
... Ich bin so müde, daß ich einen tiefen Abscheu empfinde, fortzufahren, nachdem ich das Vorstehende wieder gelesen.
Kann das Werk eines gelangweilten Menschen dem Publikum ein Vergnügen bereiten?
Ich will mich indessen bemühen, den einen oder andern um so mehr zu erfreuen.
Hier ist der wirkliche Anfang der Memoiren. …
Hier sind meine zärtlichsten und zugleich qualvollsten Erinnerungen, und ich berühre sie mit einer gradezu andächtigen Bewegung. Sie sind noch lebendig in meinem Gedächtnis, und bewahren fast noch die ganze Wärme für meine Seele, so sehr hat die Leidenschaft sie bluten lassen. Es ist eine große Wunde im Herzen, die immer dauern wird; im Augenblick aber, wo ich diese Seite meines Lebens aufschlage, pocht mein Herz, als wollte ich geliebte Ruinen berühren.
Sie sind schon alt, diese Ruinen; wie ich ins Leben schritt, ist der Horizont rückwärts weggesunken, und wieviel Dinge seitdem mit! Denn die Tage scheinen lang, in ihrer Dauer vom Morgen bis zum Abend. Aber in der Vergangenheit sieht alles schnell aus, so sehr verengt das Vergessen den Rahmen, der sie umfängt. Für mich lebt alles noch: ich höre und sehe das Zittern der Blätter, ich sehe die kleinste Falte ihres Kleides. Ich höre den Klang ihrer Stimme, als ob ein Engel neben mir sänge.
Du süße, reine Stimme – die du trunken machst und vor Liebe sterben, du körperhafte Stimme, so schön bist du, die verführt, als ob deine Worte einen Zauber besäßen ….
Das genaue Jahr zu sagen wäre mir unmöglich; aber damals war ich sehr jung, – ich zählte, glaube ich, fünfzehn Jahre; wir gingen jenes Jahr in die Seebäder von …, einem Dorf in der Pikardie, einem reizenden Dorf mit seinen übereinander gehäuften schwarzen, grauen, roten, weißen, krummen und windschiefen, regellosen und formlosen Häusern, gleich einem Haufen Muscheln und Kiesel, die die Wogen an die Küste spülten.
Bis vor wenigen Jahren kam niemand hin, trotz seinem eine halbe Meile langen Strande und seiner entzückenden Lage; seit kurzem jedoch hat sich der Schwarm darauf gestürzt. Das letzte Mal, als ich dort war, sah ich eine Menge gelber Handschuhe und Livreen; man schlug sogar den Bau eines Theatersaals vor.
Damals war alles einfach und urwüchsig: es gab kaum andre Leute als Einheimische und Künstler. Das Gestade war einsam, und bei Ebbe sah man einen ungeheuern Strand mit grauem und silbernem Sand, der in der Sonne glitzerte und von den Fluten noch ganz feucht war. Zur Linken lagen Felsen, an die in seinen schläfrigen Stunden träge das Meer schlug, die Wände waren vom Tang geschwärzt, und weiter draußen unter einer heißen Sonne der blaue Ozean mit dumpfen Gebrüll, gleich dem Weinen eines Riesen.
Und wenn man ins Dorf zurückging, genoß man das malerischste und erwärmendste Schauspiel. Schwarze und vom Wasser zerfressene Netze hingen an den Türen, überall gingen halbnackte Kinder auf dem grauen Geröll, dem einzigen Pflaster des Orts; Seeleute mit ihren roten und blauen Monturen; und all das schlicht in seiner Anmut, naiv und robust, – all das mit einem Charakter der Stärke und Energie ausgezeichnet.
Ich ging oft allein über den Strand spazieren; eines Tages brachte mich der Zufall zu dem Ort, wo man badete. Es war ein Platz nicht weit von den letzten Häusern des Dorfes, der eigens diesem Gebrauch diente. – Männer und Frauen schwammen miteinander; man entkleidete sich am Ufer oder in seinem Haus und ließ seinen Mantel auf dem Sand.
An diesem Tag lag ein reizender roter, pelzbesetzter Überwurf mit schwarzen Streifen am Ufer. Die Flut stieg, die Küste war mit Schaum umsäumt, bereits hatte eine stärkere Woge die seidnen Fransen dieses Mantels bespült. Ich nahm ihn und legte ihn weiter weg; der Stoff war weich und leicht: es war ein Frauenmantel.
Wahrscheinlich hatte man mich gesehen, denn noch am selben Tag, beim Mittagessen, als alles im Gasthaus, in dem wir wohnten, in einem gemeinsamen Saale speiste, hörte ich jemand zu mir sagen:
– Mein Herr, ich danke Ihnen sehr für Ihre Liebenswürdigkeit.
Ich drehte mich um.
Es war eine junge Frau, die mit ihrem Gatten am nächsten Tisch saß.
Wofür? fragte ich sie, zerstreut.
Daß Sie meinen Mantel aufgehoben haben: das waren doch Sie?
Ja, gnädige Frau, erwiderte ich, in Verlegenheit gebracht.
Sie sah mich an.
Ich senkte die Augen und errötete. Was für ein Blick, in der Tat! Wie schön sie war, diese Frau! Ich sehe noch ihre leuchtenden Augensterne unter den schwarzen Wimpern sich auf mich heften wie Sonnen.
Sie war groß und braun und hatte prächtige schwarze Haare, die ihr über die Schultern herabfielen; ihre Nase hatte griechischen Schnitt, ihre Augen glühten, ihre Brauen waren hoch und wunderbar gebogen, – ihre Haut war heiß und wie mit Gold in Samt gewirkt; dünn und fein war sie; man sah blaue Adern über den braunen und purpurfarbnen Hals geschlängelt. Dazu ein feiner Flaum, der ihre Oberlippe säumte und ihrem Gesicht einen männlichen und energischen Ausdruck gab, vor dem die blonden Schönheiten erbleichen mußten. Man hätte ihr etwas zu viel Fülle oder vielmehr eine künstlerisch nachlässige Kleidung vorwerfen können – auch fanden sie die Frauen im allgemeinen von schlechter Lebensart. Sie sprach langsam: sie hatte eine wie Musik melodische und sanfte Stimme. – Ihr zartes Kleid war aus weißem Musselin, das die weichen Umrisse ihrer Arme durchscheinen ließ.
Als sie aufstand, um wegzugehn, setzte sie eine weiße Kapotte mit einem einzigen rosafarbnen Knoten auf. Sie knüpfte sie mit einer zarten und vollen Hand, einer jener Hände, von denen man lange träumt und die man mit Küssen verbrennen möchte.
Jeden Morgen ging ich, um sie baden zu sehn; ich sah sie von fern unter dem Wasser, ich beneidete die weiche und friedliche Woge, die an ihre Hüften schlug und diese atmende Brust mit Schaum bedeckte, ich sah den Umriß ihrer Glieder unter den feuchten Kleidern, die sie einhüllten, ich sah ihr Herz schlagen, ihre Brust sich schwellen; ich sah mechanisch ihren Fuß auf den Sand treten; mein Blick blieb an der Spur ihrer Schritte haften, und ich hätte fast geweint, als ich sah, wie die Wellen sie langsam verwischten.
Und dann, wenn sie zurückging und bei mir vorbeikam, und ich das Wasser aus ihrem Kleide fließen sah und das Rascheln ihres Ganges hörte, schlug mein Herz mit Heftigkeit: ich senkte die Augen, das Blut stieg mir in den Kopf – ich erstickte. Ich fühlte diesen halbnackten Frauenkörper, umhüllt vom Duft der Wellen, an mir vorbeigehn. Taub und blind hätte ich ihre Gegenwart erraten, denn es war in mir etwas Innerlichstes und Süßestes, das sich in Verzückung und in holden Gedanken badete, wenn sie so vorüberschritt.
Ich glaube noch den Ort zu sehen, wo ich ans Gestade gefesselt stand; ich sehe die Wellen von allen Seiten heranrollen, sich brechen, zerfließen; ich sehe den schaumgekrönten Strand; ich höre den Lärm der verworrenen Stimmen aus der Unterhaltung der Badenden, ich höre das Geräusch ihrer Schritte und höre wie sie atmete, wenn sie bei mir vorbeikam.
Ich war erstarrt und reglos, als ob die Venus von ihrem Piedestal herabgestiegen wäre und gegangen käme. Denn damals war's zum erstenmal, daß ich mein Herz spürte, ich fühlte etwas Mystisches, Seltsames, wie einen neuen Sinn. Ich war versunken in unendliche zarte Empfindungen; war gewiegt von duftigen regen Bildern; ich war zugleich größer und stolzer.
Ich liebte.
Lieben, sich jung und voller Liebe fühlen, die Natur und ihre Harmonien in sich erzittern lassen, dieses Träumen, diese Tätigkeit des Herzens nötig haben und darüber glücklich sein! O erstes Schlagen des menschlichen Herzens, du erstes Liebeserzittern! Wie süß und fremd seid ihr! Und später, wie einfältig und töricht, lächerlich erscheinen sie da! O wunderliches Ding, in dieser Ruhelosigkeit ist beides, Qual und Lust. – Ist noch Eitelkeit dabei?
Ach! Sollte die Liebe nur Stolz sein? Soll man leugnen, was die Gottlosen achten? Sollte man lachen müssen über das Herz?
Weh! Weh!
Die Wogen haben die Schritte Marias verwischt.
Zuerst war es ein sonderbarer Zustand der Überraschung und Bewunderung, eine in jeder Hinsicht ganz mystische Empfindung, aus der jeder Gedanke an Wollust gebannt war. Erst später empfand ich jene wütende und dumpfe Glut des Fleisches und der Seele, die den und jenen verschlingt.
Ich erlebte das Erstaunen des Herzens, das seine ersten Pulse fühlt. Ich war wie der erste Mensch, als er seine ganzen Fähigkeiten erkannt hatte.
An was ich dachte, wäre mir ganz unmöglich zu sagen. Ich fühlte mich neu und mir selbst völlig fremd, eine Stimme war mir in die Seele gekommen. – Ein Nichts, eine Falte ihres Kleides, ein Lächeln, ihr Fuß, das geringste unbedeutende Wort machten einen Eindruck auf mich wie übernatürliche Dinge, und ich hatte für alles einen Tag, um davon zu träumen. Ich folgte ihrer Spur um die Ecken einer langen Mauer, und das Rascheln ihrer Gewänder ließ mich froh erbeben.
Nein, ich könnte euch nicht sagen, wieviel süße Empfindungen, wieviel Herzenstrunkenheit, wieviel Glück und Torheit es in der Liebe gibt.
Und jetzt, wo ich über alles höhne, wo ich so bitterlich überzeugt bin von dem Grotesken des Daseins, fühle ich noch Liebe, die Liebe, die ich im Collège erträumte, ohne sie zu besitzen, und die ich später empfand, die mir soviel Tränen bereitete und über die ich so sehr gelacht habe, wie sehr ich wiederum glaube, daß es zugleich die erhabenste oder die närrischste Dummheit wäre.
Zwei von einem Zufall irgendwie auf die Erde geworfene Wesen, die einander begegnen, lieben sich, weil das eine ein Weib und das andere ein Mann ist. Da sieht man sie einen um den andern keuchen, zusammen in der Nacht wandeln und sich mit dem Tau benetzen, ins Mondlicht sehn und es durchsichtig finden, die Sterne bewundern und einander in allen Tönen sagen: Ich liebe dich, du liebst mich, er liebt mich, wir lieben uns; und wiederholen das mit Seufzern und Küssen; – und dann fühlen sich alle beide von einer unvergleichlichen Glut gestoßen, denn diesen beiden Seelen sind ihre Organe heftig durchwühlt, und man sieht sie alsbald in grotesker Paarung unter Gebrüll und Seufzern, eifrig miteinander bemüht, einen Dummkopf mehr auf die Erde zu pflanzen, einen Unglücklichen, der ihnen nachahmen wird. Seht sie nur an, wie sie tierischer sind in diesem Augenblick wie die Hunde und Fliegen, wie sie in Ohnmachtskrämpfe fallen und sorgfältig vor den Augen der Menschen ihre einsame Lust verhehlen, vielleicht im Glauben, das Glück sei ein Verbrechen und die Wollust eine Schande.
Man wird mir verzeihen, denk ich, wenn ich nicht von der platonischen Liebe rede, dieser übertriebnen Liebe, gleich der einer Bildsäule oder einer Kathedrale, die jeden Gedanken an Eifersucht und Besitz abweist, und die gegenseitig unter den Menschen herrschen sollte, die ich aber selten zu bemerken Gelegenheit hatte. Eine erhabene Liebe, wenn es sie gäbe, die oft nur ein Traum ist wie alles Schöne auf dieser Erde.
Ich halte hier inne, denn der Spott des Greises soll die Jungfräulichkeit der Empfindungen des Jünglings nicht beflecken; ich wäre entrüstet, gleich wie ihr, Leser, hätte man mir damals so grausame Worte gesagt. Ich glaubte, ein Weib sei ein Engel … Oh! Wie recht hat Molière gehabt, als er sie mit einer Suppe verglich!
Maria hatte ein Kind, ein kleines Mädchen. – Man liebte es, man umarmte es, man langweilte es mit Liebkosungen und Küssen. Wie gern hätte ich einen einzigen dieser Küsse empfangen, die perlengleich verschwenderisch über das Haupt dieses Kindchens im Steckkissen verstreut wurden.
Maria stillte es selbst, und eines Tages sah ich, wie sie sich entblößte und ihm ihre Brust reichte.
Es war eine fette und runde Brust, mit einer braunen Haut und blauen Adern, die man unter diesem glühenden Fleisch sah; nie vorher hatte ich ein Weib nackt gesehn. – O sonderbare Verzückung, in die mich der Anblick dieses Busens versenkte, – wie sehr ich ihn mit den Augen verschlang, wie gern ich bloß diese Brust berührt hätte! mich dünkte, hätt' ich meine Lippen darauf gelegt, meine Zähne hätten vor Wut hineingebissen. Und mein Herz verging in Wonnen bei dem Gedanken an die Wollüste, die dieser Kuß spenden mußte.
O wie hab' ich sie lange wieder und wieder gesehn, diese zitternde Brust, diesen langen anmutigen Hals und diesen Kopf mit den schwarzen Haaren in den Papilloten, der sich über das Kind beugt, das saugte und das sie langsam auf ihren Knien wiegte unterm Trällern eines italienischen Liedchens.
Wir machten bald engere Bekanntschaft. Ich sage wir, denn was mich persönlich anlangt, hätte ich mich in die größte Gefahr gestürzt, wenn ich in dem Zustand, in den mich ihr Blick versetzt hatte, ein Wort an sie richtete.
Ihr Gatte war ein Mittelding zwischen Künstler und Handlungsreisendem: er trug einen Schnurrbart; er rauchte darauf los, war frisch, ein guter Junge, freundschaftlich; die Freuden der Tafel verachtete er durchaus nicht, und ich sah ihn einmal drei Meilen zu Fuß machen, um eine Melone in der benachbarten Stadt zu holen; gekommen war er in seiner Postkutsche mit seinem Hund, seiner Frau, seinem Kind und fünfundzwanzig Flaschen Rheinwein.
Im Seebad, auf dem Land oder auf der Reise unterhält man sich leichter und wünscht, sich kennen zu lernen. Ein Nichts genügt zum Gespräch: Der Regen und das Wetter behaupten darin viel mehr als anderwärts ihren Platz. Man jammert über die Unbequemlichkeit der Wohnungen, über die Abscheulichkeit der Gasthofsküche; dieser letztere Zug besonders ist vom bestmöglichen Ton. Und die Wäsche – wie schmutzig sie ist! Das ist zu gepfeffert, das ist zu gewürzt! Ach! Schrecklich, meine Liebste!
Geht man zusammen auf die Promenade, so kommt's darauf an, wer mehr in Verzückung gerät über die Schönheit der Landschaft; wie schön sie ist, wie schön das Meer ist!
Fügt dem ein paar poetische und aufgeblähte Worte hinzu, zwei oder drei philosophische Reflexionen, unterspickt mit Seufzern und mehr oder weniger starkem Näseln. Wenn ihr zeichnen könnt, zieht euer Maroquin-Skizzenbuch heraus – oder, und das ist das beste, zieht eure Mütze über die Augen herunter, kreuzt die Arme und schlaft, damit ihr euch den Anschein gebt, als dächtet ihr.
Da waren Frauen, die ich auf die Entfernung von einer Viertelmeile als Schöngeister witterte, bloß aus der Art, wie sie aufs Meer hinaussahen.
Man muß sich über die Menschen beklagen, wenig essen und sich leidenschaftlich für einen Felsen erhitzen, eine Wiese bewundern und vor Liebe zum Meer sterben. Oh! Dann werdet ihr entzückend sein; man wird sagen: Der reizende junge Mann! – Was für eine hübsche Bluse er anhat! Wie elegant seine Schuhe sind! Wie liebenswürdig! O diese schöne Seele! Es ist jenes Bedürfnis zu reden, jener Instinkt, sich zu Herden zusammenzugesellen, in denen die Kühnsten die Spitze einnehmen, der am Anbeginn die Gesellschaften gebildet hat, und der heute die geselligen Zirkel hervorbringt.
Es war ohne Zweifel ein ebensolches Motiv, das uns zum erstenmal miteinander plaudern ließ. Es war an einem heißen Nachmittag und trotz der Schutzwände brütete eine große Hitze im Saal. Wir waren dageblieben, einige Maler, Maria, ihr Gatte und ich, auf die Stühle zurückgelehnt, rauchend und Grog trinkend.
Maria rauchte, oder, wenn ein Rest von weiblicher Dummheit sie daran hinderte, sie liebte wenigstens den Tabakrauch (Ungeheuerlichkeit!); sie gab mir sogar Zigaretten.
Man sprach über Literatur, den unerschöpflichen Gegenstand, wenn man bei Frauen ist. – Ich verfocht dabei meine Ansicht, – ich redete lange und mit Feuer. – Maria und ich hatten in Kunstsachen vollkommen dieselbe Meinung. Es ist mir niemals jemand vorgekommen, der es mit größerer Ursprünglichkeit und weniger Prätention fühlte. Sie hatte einfache und ausdrucksvolle Worte, die die größte Bildlichkeit besaßen, und besonders soviel Nachlässigkeit und Anmut, soviel Hingebung, soviel Gleichmut, – man hätte gemeint, sie sang.
Eines Abends schlug uns ihr Gatte eine Kahnpartie vor. – Es war das beste Wetter von der Welt. Wir nahmen an.
Wie kann man durch Worte die Dinge wiedergeben, für die es keine Sprache gibt, diese Eindrücke des Herzens, diese Mysterien der Seele, die von ihr selbst nicht gekannt sind, wie soll ich euch alles sagen, was ich fühlte, alles was ich dachte, alle Dinge, deren ich an diesem Abend genoß?
Es war eine schöne Sommernacht. Gegen neun Uhr stiegen wir in die Schaluppe, die Ruder wurden eingelegt, wir fuhren ab. Das Wetter war ruhig, der Mond spiegelte sich auf der glatten Fläche des Wassers, und die Furche der Barke ließ sein Bild auf den Fluten erzittern. Die Flut begann zu steigen, und wir fühlten, wie die ersten Wellen langsam den Kahn wiegten. Man schwieg, – Maria begann zu reden. – Ich weiß nicht, was sie sagte, ich ließ mich vom Klang ihrer Worte bezaubern, gleichwie ich mich vom Meere schaukeln ließ. – Sie saß mir nahe, ich spürte den Umriß ihrer Schulter und berührte ihr Kleid; sie hob ihren Blick zu dem reinen gestirnten Himmel, der von Diamanten erglänzte und sich in der blauen Flut spiegelte.
Sie war ein Engel – wenn man sie so sah, mit erhobenem Haupt und dem himmlischen Blick.
Ich war vor Liebe tief beklommen, ich hörte die zwei Ruder sich im Takte heben, die Wellen an die Seiten der Barke schlagen, ich ließ mich von alledem berühren, ich hörte die Stimme Marias süß und bebend.
Werd ich euch je alle Melodien ihrer Stimme schildern können, die ganze Anmut ihres Lächelns, die ganze Schönheit ihres Blickes? Euch je sagen können, was es war, das vor Liebe töten konnte, wie diese vom Hauch des Meeres erfüllte Nacht, dieses Meeres mit seinen durchsichtigen Wellen, seinem vom Monde silbernen Sand, diese schönen stillen Wogen, dieser erglänzende Himmel, und dann, nah bei mir, diese Frau – alle Freuden der Erde, alle Wollüste der Erde, das Allersüßeste, das Allerberauschendste.
Es war der ganze Zauber eines Traums mit allen Wonnen der Wirklichkeit.
Ich ließ mich fortreißen durch alle diese Gefühle, mit unersättlicher Freude stürzte ich mich immer weiter, ich berauschte mich mit Lust an dieser von Wollüsten erfüllten Stille, an diesem Frauenblick, an dieser Stimme; ich tauchte unter in mein Herz und fand darin unendliche Wonnen.
Wie glücklich war ich, – vom Glück der Dämmerung, die in die Nacht sinkt, vom Glück, das vergeht wie die entschwindende Welle, wie die Ufer. . . . . . . . . .
Wir kehrten heim. – Man stieg aus, ich geleitete Maria nach Hause, – ich sagte kein Wort zu ihr, ich war furchtsam; ich folgte ihr, ich träumte von ihr, vom Klang ihrer Schritte – und als sie hineingegangen war, blickte ich lange auf die Mauer ihres Hauses, die die Mondstrahlen erhellten; ich sah ihr Licht durch die Fenster glänzen und erblickte sie von Zeit zu Zeit, als ich am Strand zurückkehrte – dann, als das Licht verschwunden war, sagte ich mir: Sie schläft. Und dann plötzlich packte mich ein Gedanke an, ein Gedanke voll Wut und Eifersucht. – O nein, sie schläft nicht, – und ich litt in der Seele alle Qualen eines Verurteilten.
Ich dachte an ihren Gatten, an diesen vulgären und heitern Menschen, und die häßlichsten Bilder stiegen vor mir auf. Ich war wie einer, den man in einem Käfig Hungers sterben läßt und mit den köstlichsten Gerichten umstellt.
Ich war allein am Strand. – Allein. – Sie dachte nicht an mich. Als ich diese ungeheure Einsamkeit vor mir sah – und jene andre, noch schrecklichere Einsamkeit, begann ich zu weinen wie ein Kind, denn nahe, wenige Schritte entfernt, war sie, hinter jenen Mauern, die ich mit den Augen verschlang – da war sie, schön und nackt, mit allen Wollüsten der Nacht, allen Reizen der Liebe, aller hochzeitlichen Reinheit. – Dieser Mensch brauchte nur die Arme zu öffnen, und sie kam mühelos, ohne zu warten, sie kam zu ihm, sie liebten sich, und sie umarmten sich. – Ihm gehörten alle ihre Freuden, alle ihre Wonnen ihm. Meine Liebe lag ihr zu Füßen; zu den seinen aber dieses ganze Weib, ihr Kopf, ihr Hals, ihre Brüste, ihr Leib, ihre Seele, – ihr Lächeln, ihre beiden Arme, die ihn umschlangen, ihre Liebesworte; alles ihm, mir nichts.
Ich begann zu lachen, denn die Eifersucht flößte mir obszöne und groteske Gedanken ein; da beschmutzte ich sie zusammen, häufte den bittersten Hohn über sie, und diese Bilder, die mir Tränen des Neides abpreßten – ich zwang mich, darüber mitleidig zu lachen.
Die Flut begann wieder zu sinken, und von einem Ort zum andern sah man große Löcher voll Wassers, das der Mond silbern färbte, – Flecken noch nassen Sandes, bedeckt mit Seegras, da und dort ein paar Riffe voll Wasserblumen, oder, waren sie höher gewachsen, schwarze und weiße; ausgespannte Netze, die das Meer zerrissen hatte, das sich grollend zurückzog.
Es wurde warm, ich erstickte. – Ich kehrte in mein Zimmer im Gasthof zurück. Ich wollte schlafen; immer hörte ich die Wellen an den Seiten des Kahns, ich hörte die Ruder fallen, hörte die Stimme Marias, die redete; – mir brannte Feuer in den Adern: – alles glitt wieder an mir vorbei. – Der Gang am Abend. – Der Gang in der Nacht am Gestade – ich sah Maria schlafend – und da hielt ich an, denn das Übrige machte mich beben. Ich hatte Lava in der Seele; ich war von alldem erschöpft; auf dem Rücken liegend sah ich mein Licht verbrennen und den Kreis, den es warf, an der Decke erzittern; voll Stumpfsinn sah ich den Talg um den kupfernen Leuchter fließen, und den schwarzen Docht in der Flamme länger werden.
Endlich begann der Tag heraufzukommen, – ich schlief ein.
Es galt die Abreise. Wir trennten uns, ohne daß ich ihr Adieu sagen konnte. Sie verließ das Bad am selben Tag wie wir, – an einem Sonntag; sie reiste am Morgen, wir am Abend.
Sie reiste und ich sah sie nicht wieder. Ein Lebewohl auf immer! Sie verschwand wie der Staub der Straße, der hinter ihren Schritten aufflog. Wie hab ich seitdem daran gedacht! Wieviel Stunden brütend verbracht über der Erinnerung an ihren Blick, oder an den Tonfall ihrer Worte!
Im Wagen versunken trug ich mein Herz weiter auf der Straße, die wir durchlaufen hatten, ich versetzte mich in die Vergangenheit, die nicht mehr wiederkehren sollte, ich dachte ans Meer, an seine Wellen, an seine Gestade, an alles, wovon ich herkam, gesprochene Worte, Gebärden, Handlungen, an das Geringste, dies alles zuckte und lebte. In meinem Herzen war ein Chaos, ein ungeheures Dröhnen, eine Tollheit.
Alles war entschwunden wie ein Traum. Lebt wohl auf immer, ihr schönen Blumen der Jugendzeit, die ihr so schnell verblichen seid und zu denen man später von Zeit zu Zeit mit Bitterkeit und Lust zugleich zurückkommt. Endlich sah ich die Häuser meiner Stadt, ich kam wieder nach Hause; alles erschien mir da öde und traurig, leer und eitel. Ich tat leben, trinken, essen, schlafen.
Der Winter kam, und ich kehrte wieder ins College zurück.
Wenn ich euch sagte, daß ich andre Frauen geliebt habe, würde ich lügen wie ein Ehrloser.
Ich habe es indessen geglaubt, ich habe mich bemüht, mein Herz an andre Leidenschaften zu heften: es ist darüber weggeglitten wie über Eis.
Als Kind hat man so viel Dinge über die Liebe gelesen, man findet das Wort so melodisch, man träumt viel davon, man wünscht so stark das Gefühl zu besitzen, das einen beim Lesen der Romane und Dramen erzittern macht, daß man sich bei jeder Frau, die man sieht, sagt: ist nicht das die Liebe? Man zwingt sich zu lieben, um Mann zu werden.
Ich war von dieser kindlichen Schwäche so wenig ausgenommen, als jeder andre, ich seufzte wie ein elegischer Dichter, und nach vielen Anstrengungen war ich ganz erstaunt, wenn ich manchmal vierzehn Tage verbracht hatte, ohne an die zu denken, die ich für meine Träume erwählt. Diese ganze kindliche Eitelkeit erlosch vor Maria.
Ich muß jedoch weiter zurückgehn: nach einem Eid, den ich geleistet, alles zu sagen; das Fragment, das folgt, war zum Teil im folgenden Dezember verfaßt worden, bevor ich den Gedanken gehabt, die Erinnerungen eines Narren zu schreiben.
Da es isoliert stehen sollte, fügte ich es im folgenden ein.
Unter allen Träumen der Vergangenheit, der frühsten Erinnerungen und meiner Kindheitsreminiszenzen habe ich eine sehr kleine Anzahl behalten, mit der ich mich in Stunden der Langeweile unterhalte. Bei der Beschwörung eines Namens kommen alle Persönlichkeiten in ihren Trachten und mit ihrer Sprache wieder herauf, um ihre Rolle zu spielen, wie sie sie in meinem Leben spielten, und ich sah ihnen zu wie ein Gott, der sich dabei ergötzt, die von ihm geschaffenen Welten zu betrachten. Eins besonders, die erste Liebe, die nie heftig oder leidenschaftlich war, die von andern Begierden ausgelöscht ward, die aber immer noch auf dem Grund meines Herzens verbleibt, wie eine alte römische Straße, auf der gemeine Eisenbahnwagen fahren. Die Erzählung dieser ersten Herzensregung, dieser Anfänge unbestimmter und vager Wollüste, all der nebelhaften Dinge, die in der Seele eines Kindes vor sich gehn, wenn er den Busen einer Frau, wenn er ihre Augen sieht, wenn er sie singen und sprechen hört, dieses Gemisch von Empfindung und Träumerei sollte ich wie einen Leichnam vor eine Schar von Freunden hinlegen, die eines Tags im Winter, im Dezember, zu mir kamen, um sich zu wärmen und gemütlich am Kamin zu plaudern, und dazu wurden Pfeifen geraucht, deren Schärfe man durch irgend welche Flüssigkeiten begoß.
Als alle gekommen waren und jeder Platz genommen hatte, als die Pfeifen gestopft und die Gläser gefüllt waren und wir im Kreis ums Feuer saßen, der eine mit den Zangen in der Hand, der andre mit dem Blasebalg, ein dritter mit dem Stock in der Asche wühlend, und jeder seine Beschäftigung hatte, fing ich an.
Meine lieben Freunde, sagte ich zu ihnen, Ihr werdet mir einiges hingehn lassen, das eine oder andre eitle Wort, das in die Erzählung hineinschlüpfen wird.
(Ein zustimmendes Neigen aller Köpfe veranlaßte mich anzufangen.)
Ich erinnere mich, es war an einem Donnerstag gegen November vor zwei Jahren. (Ich war, glaub ich, 15 Jahr alt.) Das erste Mal, daß ich sie sah, frühstückte sie bei meiner Mutter, als ich eiligen Schrittes hereintrat, wie ein Schüler, der die ganze Woche die Donnerstagsmahlzeit gewittert hat. Sie wandte sich ab; kaum grüßte ich sie; denn ich war damals so einfältig und so kindisch, daß ich keine Frau sehen konnte, wenigstens keine, die mich ein Kind nannte, wie die Damen, oder einen Freund, wie die kleinen Mädchen, ohne zu erröten oder vielmehr, ohne etwas zu tun oder zu sagen. Aber Gott sei Dank, an Eitelkeit und Frechheit habe ich seitdem alles gewonnen, was ich an Unschuld und Reinheit verloren habe.
Es waren zwei junge Mädchen, Schwestern, Kameradinnen der meinigen, arme Engländerinnen, die man aus ihrer Pension nahm, um sie an die freie Luft zu bringen, sie aufs Land zu führen, sie im Wagen spazieren zu fahren, sie im Garten herumlaufen und sich vergnügen zu lassen ohne die Überwachung einer Aufwärterin, die über die Ausbrüche der Kindheit ihre Lauheit und Zimperlichkeit gießt. Die älteste zählte fünfzehn Jahre; die andere kaum zwölf. Diese war klein und fein, ihre Augen waren lebendig, größer und schöner als die ihrer ältern Schwester; aber jene hatte ein so rundes und so anmutiges Köpfchen, ihre Haut war so frisch, so rosig, ihre kleinen Zähne so weiß unter den roten Lippen, und all das war so trefflich umrahmt von den Bändern in ihren hübschen kastanienbraunen Haaren, daß man ihr unweigerlich den Vorzug geben mußte. Sie war klein und vielleicht etwas dick: das war ihr sichtbarster Fehler: was mich aber am meisten an ihr entzückte, war eine kindliche anspruchslose Anmut, ein Hauch der Jugend, der von ihr ausströmte. Sie besaß so viel Ursprünglichkeit und Reinheit, daß auch die Frechsten sich nicht enthalten konnten, sie zu bewundern.
Es kommt mir vor, als sah ich sie noch mit andern Freundinnen durch die Fenster meines Zimmers, das auf den Garten ging. Ich seh noch ihr seidnes Kleidchen jäh und rauschend um ihre Fersen flattern, seh ihre Füße sich heben zum Lauf auf den sandbestreuten Alleen des Gartens; dann hochaufatmend stehn bleiben, sich gegenseitig um die Hüften fassen und würdig spazierengehn, wobei sie ohne Zweifel von Festen, Tänzen, Vergnügungen und Liebschaften plauderten, die armen Mädchen!
Bald herrschte zwischen uns allen Vertraulichkeit; nach vier Monaten küßte ich sie wie meine Schwester; wir duzten uns alle. Ich liebte so sehr mit ihr zu plaudern; ihr fremder Akzent hatte etwas Feines und Delikates, das ihre Stimme frisch machte wie ihre Wangen.
Übrigens herrscht in den englischen Sitten eine natürliche Nachlässigkeit und eine Freiheit von allen unseren Konventionen, die man für raffinierte Koketterie nehmen könnte, die aber nur ein verlockender Reiz ist, wie jene Irrlichter, die unaufhörlich fliehen.
Oft machten wir Spaziergänge mit der ganzen Familie, und ich erinnere mich, daß wir eines Tages im Winter eine alte Dame besuchten, die auf einem Hügel wohnte, der die Stadt beherrschte. Um zu ihr zu gelangen, mußten wir Gärten mit Obstanpflanzungen durchschreiten, in denen das Gras hoch und feucht stand; Nebel begruben die Stadt, und von der Höhe unseres Hügels sahen wir die Dächer gehäuft aneinandergerückt mit Schnee bedeckt; und dann das Schweigen der Landschaft, und in der Ferne das Geräusch der Tritte einer Kuh oder eines Pferdes, deren Fuß in die Wagenspuren versinkt.
Als wir durch eine weißbemalte Schranke gingen, verfing sich ihr Mantel in die Dornen der Hecke; ich eilte sie loszumachen, und sie sagte zu mir: Danke, mit soviel Anmut und Sichgehenlassen, daß ich den ganzen Tag davon träumte.
Dann fingen sie an zu laufen und ihre Mäntel, die der Wind hinter ihnen hob, flatterten und wogten, wie eine stürzende Welle; außer Atem hielten sie an. Ich erinnere mich noch an ihre Atemzüge, die heftig in meinen Ohren klangen und die als dunstiger Rauch zwischen ihren weißen Zähnen hervorkamen.
Armes Mädchen! Sie war so gut und umarmte mich mit soviel Naivität.
Die Osterferien kamen heran. Wir verbrachten sie auf dem Lande.
Ich erinnere mich eines Tags … – es war heiß – ihr Gürtel war herabgeglitten, ihr Kleid war taillenlos.
Wir gingen zusammen spazieren, den Tau von den Gräsern und Aprilblumen streifend, sie hatte ein Buch in der Hand … Es waren, glaube ich, Verse. Sie ließ es fallen. Danach setzten wir unsern Spaziergang fort.
Sie war gelaufen, ich küßte sie auf den Hals; meine Lippen blieben auf dieser sammetweichen und von einem duftigen Schweiße feuchten Haut haften.
Ich weiß nicht, von was wir redeten … vom ersten besten.
– Jetzt wirst du dumm, sagte einer der Zuhörer, indem er mich unterbrach.
– Vortrefflich, mein Lieber, das Herz ist dumm. Am Nachmittag war mir das Herz voll von einer milden und vagen Freude. Ich hatte einen köstlichen Traum, während ich an ihre Papillotenhaare dachte, die ihre lebendigen Augen umrahmten, und an ihren schön geformten Hals, den ich immer so tief küßte, als ein sittenstrenges Spitzentuch es mir gestattete. Ich ging auf die Felder, ich ging in die Wälder, ich setzte mich in einen Graben und dachte an sie.
Ich lag auf dem Bauch, zupfte Grashalme und Aprilgänseblümchen aus, und wenn ich den Kopf hob, bildete der weiße und farblose Himmel über mir einen Dom, der am Horizont hinter den grünenden Wiesen verschwand; zufällig hatte ich Papier und Bleistift bei mir; ich machte Verse …
(Alle begannen zu lachen.)
... Die einzigen, die ich je in meinem Leben gemacht habe; vielleicht waren es dreißig im ganzen; ich brauchte kaum eine halbe Stunde dazu, denn ich besaß stets eine wunderbare Leichtigkeit im Improvisieren von jederlei Dummheit; aber die Mehrzahl dieser Verse waren falsch wie Liebesbeteuerungen, wacklig wie ein Vermögen.
Ich erinnere mich, daß es darin lautete;
... wenn der Abend,
müd des Spielens und des Schaukelns …
Ich schlug mir in die Seiten, um eine Hitze zu malen, die ich nur aus den Büchern kannte; dann, mit einem Nichts als Anlaß, ging ich zu einer dunkeln und eines Anthony würdigen Melancholie über, obgleich ich in Wirklichkeit eine Seele hatte, die ganz durchtränkt war mit Reinheit und mit einem zarten Empfinden, gemischt aus Einfältigkeit, süßen Erinnerungen und Herzensregungen, ich sagte über Nichts:
Mein Schmerz ist bitter, meine Trauer tief,
Und ich bin drin vergraben, wie ein Mensch im Sarg.
Die Verse waren nicht einmal Verse, aber ich hätte so viel Verstand, sie zu verbrennen, eine Manie, die die meisten Dichter peinigen sollte.
Ich kehrte nach Hause zurück und fand sie wieder, auf dem Rasenrund spielend. Das Zimmer, in dem sie schliefen, lag neben dem meinen, ich hörte sie lachen und lange plaudern … während ich … viel früher als sie einschlief … trotz aller Anstrengungen, die ich machte, um so lange als möglich zu wachen. Ihr habt es zweifellos im Alter von fünfzehn Jahren ebenso gemacht wie ich, habt einmal mit dieser glühenden und wütenden Liebe zu lieben geglaubt, wie ihr sie in den Büchern last, und dabei hattet ihr auf der äußersten Haut des Herzens nur einen leichten Ritz von dieser eisernen Kralle, genannt die Leidenschaft, und bliest mit allen Kräften eurer Einbildungskraft auf dies bescheidne Feuer, das kaum brannte.
Es gibt für den Menschen so viel Liebe im Leben! Mit vier Jahren liebt man die Pferde, die Sonne, Blumen, glänzende Waffen, Uniformen; mit zehn das kleine Mädchen, das mit einem spielt; mit dreizehn eine große Frau mit vollem Hals, ich erinnere mich nämlich, was die Jünglinge bis zur Torheit anbeten, ist eine weiße und nackte Frauenbrust, wie Marot sagt:
Tetin refaict plus blanc qu'un oeuff.
Tetin de satin blanc tout neuf.
(Ein frischer Busen weißer als ein Ei,
Aus weißem Atlas eine Brust ganz neu.)
Beim ersten Mal, als ich die beiden Brüste eines Weibes ganz nackt sah, wäre ich beinahe ohnmächtig geworden. Endlich, mit vierzehn oder fünfzehn liebt man ein junges Mädchen, das einen besucht: ein wenig mehr als eine Schwester und weniger als eine Liebhaberin; dann mit sechzehn liebt man eine andre Frau bis zu fünfundzwanzig; und dann liebt man vielleicht die Frau, mit der man sich verheiraten wird.
Fünf Jahre später liebt man die Tänzerin, die ihre Gazeröckchen um ihre fleischigen Schenkel hüpfen läßt; endlich mit sechsunddreißig liebt man es, den Abgeordneten zu spielen, auf Auszeichnungen zu spekulieren; mit fünfzig liebt man die Diners beim Minister oder die beim Bürgermeister; mit sechzig liebt man das Freudenmädchen, das einen durch die Fenster zu sich ruft, der man einen ohnmächtigen Blick zuwirft, ein auf die Vergangenheit gerichtetes Bedauern.
Ist nicht dies alles wahr? Denn ich habe alle diese Liebesarten durchgemacht, nicht alle freilich, denn ich habe noch nicht alle meine Jahre gelebt, und jedes Jahr im Leben sehr vieler Menschen ist mit einer neuen Leidenschaft ausgezeichnet – der zu Frauen, zum Spiel, zu Pferden, zu feinen Schuhen, zu Stöcken, zu Brillen, zu Wagen, zu Plätzen.
Wieviel Torheit steckt doch in einem Menschen! Oh! Ohne Widerspruch, das Kleid eines Hanswursts ist nicht bunter in seinen Tönen, als der menschliche Geist in seinen Narrheiten, und alle beide kommen zum gleichen Resultat, dem, daß sich alles aneinander reibt und zeitweise zum Lächeln reizt: das Publikum für sein Geld, den Philosophen für seine Wissenschaft …
(Zur Sache! bat einer der Zuhörer, der bis dahin gleichgültig geblieben war und von seiner Pfeife nur aufsah, um auf meine Abschweifung, die in Rauch aufging, seinen Vorwurf auszuspucken.)
... Ich weiß kaum, was für die Folge zu sagen wäre, denn hier ist eine Lücke in der Geschichte, ein Vers zu wenig in der Elegie; längere Zeit verstrich so. Im Monat Mai kam die Mutter jener jungen Mädchen nach Frankreich und brachte ihren Bruder mit. Es war ein reizender Bursche, blond wie sie und übersprudelnd von Jungenhaftigkeit und britannischem Stolz.
Ihre Mutter war eine blasse, magere und nonchalante Frau. Sie war schwarz gekleidet; ihre Manieren und ihre Worte, ihr Benehmen trugen freilich ein nonchalantes, etwas weichliches Wesen, es ähnelte jedoch dem italienischen Farniente. All dies jedoch war von einem guten Geschmack getragen und glänzte von einem aristokratischen Firnis. Sie blieb einen Monat in Frankreich.
... Dann reiste sie wieder ab, und wir lebten so, als gehörten wir alle derselben Familie an, stets hatten wir alles gemeinsam, unsre Spaziergänge, unsre Ferien, unsern Urlaub.
Wir waren alle Brüder und Schwestern.
In unsern Beziehungen herrschte jeden Tag so viel Freundlichkeit und Herzenswärme, so viel Vertraulichkeit und Sichgehnlassen, daß dies vielleicht in Liebe ausartete, wenigstens von ihrer Seite, und ich bekam die offenkundigsten Beweise dafür.
Was mich anlangt, so kann ich mir die Rolle eines moralischen Menschen zuerteilen, denn ich empfand keine Leidenschaft. – Ich hätte sie gern haben wollen.
Oft kam sie zu mir, nahm mich um die Hüfte; sie sah mich an, sie plauderte – das entzückende kleine Mädchen; – sie verlangte Bücher von mir, Theaterstücke, von denen sie mir die wenigsten wiedergebracht hat. – Sie stieg in mein Zimmer herauf. Ich war ziemlich verlegen. Konnte ich eine solche Verwegenheit von einem Weibe, oder eine solche Naivität ahnen? Eines Tages legte sie sich in einer sehr zweideutigen Stellung auf mein Kanapee: ich saß neben ihr und sagte nichts.
Gewiß, der Augenblick war kritisch: ich benutzte ihn nicht.
Ich ließ sie wieder fort.
Zu andern Malen küßte sie mich weinend. Ich konnte nicht glauben, daß sie mich wirklich liebte. Ernest war davon überzeugt, er ließ es mich merken, er behandelte mich als einen Dummkopf.
Dieweil war ich wirklich zugleich furchtsam und nonchalant.
Es war etwas Süßes, Kindliches, das von keinerlei Idee von Besitzergreifung getrübt war, das aber eben deshalb der Energie ermangelte. Um Platonismus zu sein, dazu war es indessen zu einfältig.
Nach Verlauf eines Jahrs kam ihre Mutter nach Frankreich und reiste dann, nach einem Monat, wieder nach England zurück.
Ihre Töchter waren aus der Pension genommen worden und wohnten bei ihrer Mutter in einer öden Straße in der zweiten Etage.
Während der Reise der Mutter sah ich die Mädchen oft an den Fenstern. Eines Tags, als ich vorbeikam, rief mich Caroline an: ich stieg hinauf.
Sie war allein, sie warf sich in meine Arme und küßte mich leidenschaftlich. Dies war das letzte Mal, denn nachher verheiratete sie sich.
Ihr Zeichenlehrer hatte ihr häufige Besuche abgestattet. Man plante eine Heirat; sie wurde hundertmal beschlossen und hundertmal wieder aufgelöst. Ihre Mutter kam aus England ohne ihren Gatten zurück, von dem man nie hatte reden hören!
Caroline verheiratete sich im Januar. Eines Tags begegnete ich ihr mit ihrem Gatten; sie grüßte mich kaum.
Ihre Mutter wechselte die Wohnung und die Manieren. Sie empfängt jetzt elegante Herren und Studenten bei sich, sie geht auf die Maskenbälle und führt ihre jüngste Tochter hin.
Seit anderthalb Jahren haben wir sie nicht mehr gesehen.
So war das Ende dieses Verhältnisses, das vielleicht mit dem Alter eine Leidenschaft versprach, was sich jedoch von selbst löste.
Brauche ich zu sagen, daß es sich zur Liebe so verhielt, wie die Dämmerung zum hellen Tag, und daß der Blick Marias die Erinnerung an dieses blasse Kind auslöschte!
Ein kleines Feuer, das nur mehr kalte Asche ist.
Diese Seite ist kurz, ich wollte, sie war es noch mehr. Um was es sich handelt, ist dies. Die Eitelkeit trieb mich zur Liebe, nein, zur Wollust – nicht einmal dazu – zum Fleische.
Man verspottete mich wegen meiner Keuschheit – ich errötete darüber – sie machte mir Schande, sie drückte auf mir, als bedeutete sie Verderben.
Eine Frau bot sich mir an, ich nahm sie – und ich ging aus ihren Armen voll Ekel und Bitterkeit. Nun aber konnte ich den Kaffeehaus-Lovelace machen und so viel Obszönitäten sagen, wie ein anderer um eine Punschbowle – ich war nun ein Mann, hatte eine Art Pflicht erfüllt, lasterhaft zu sein – und dann hatte ich mich dessen gerühmt. – Ich zählte fünfzehn Jahre und redete von Weibern und Maitressen.
Dieses Weib – nahm ich im Haß; sie kam zu mir – ich ließ sie wieder; sie stürzte sich in Unkosten mit ihrem Lächeln, das mich anekelte wie eine häßliche Grimasse.
Ich empfand Gewissensbisse – als ob die Liebe Marias eine Religion gewesen wäre, die ich entweiht hätte.
Ich fragte mich, ob dies die Wonnen wären, von denen ich geträumt, die feurigen Entzückungen, die ich mir in der Jungfräulichkeit dieses zarten und kindlichen Herzens eingebildet – Ist das alles? Muß nicht noch etwas anderes kommen, nach dieser kalten Lust, etwas Erhabneres, Größeres, etwas Göttliches, das in Verzückung setzt? Oh nein! Alles war zu Ende; ich hatte das heilige Feuer meiner Seele im Schmutz erstickt. – O Maria, ich hatte die Liebe, die dein Blick in mir geschaffen, durch den Kot geschleift, ich hatte sie im Vergnügen mit dem erstbesten Weibe vergeudet, lieblos, begierdenlos, bloß von einer kindischen Eitelkeit getrieben – von einem berechnenden Stolz, um bei Ausschweifungen nicht mehr zu erröten, um in einer Orgie eine gute Haltung zu bewahren! Arme Maria …
Ich war müde, ein tiefer Ekel packte meine Seele.
– Und ich empfand Mitleid mit jenen Augenblicksfreuden, mit jenen Krämpfen des Fleisches.
Fast griff mir mein Elend ans Herz. – Ich, der ich über diese hohe Liebe und über diese erhabene Leidenschaft so stolz war, der ich mein Herz für größer und schöner hielt, als das von andern: ich, – gleich ihnen hinzugehn .. Oh! nein! Kein einziger vielleicht davon tat es aus demselben Grund; fast alle wurden von den Sinnen dazu getrieben; sie gehorchten dem Instinkt der Natur wie der Hund, aber es lag weit mehr Erniedrigung darin, eine Berechnung daraus zu machen, sich zur Korruption zu reizen, sich in die Arme eines Weibes zu stürzen, ihr Fleisch zu traktieren, sich in der Gosse zu wälzen, wieder aufstehn und seine Beschmutzungen zu zeigen.
Und dann schämte ich mich darüber, wie über eine gemeine Entweihung; ich hätte meinen eignen Augen die Schmach verbergen mögen, deren ich mich gerühmt.
Ich versetzte mich in die Zeit zurück, in der das Fleisch für mich nichts Unedles hatte, und in der der Blick auf die Begierden mir vage Formen und Wollüste zeigte, die mein Herz mir schuf.
Nein, niemals wird man alle Geheimnisse der jungfräulichen Liebe sagen können, alle Dinge, die sie fühlt, alle Welten, die sie erschafft. Wie köstlich ihre Träume sind! Wie nebelhaft und zart ihre Gedanken! Wie bitter und grausam ihre Täuschung!
Geliebt zu haben, vom Himmel geträumt zu haben, alles gesehn zu haben, was die Seele Reinstes und Erhabenstes hat, und sich dann an die ganze Schwere des Fleisches, an die ganze Schlaffheit des Leibes fesseln! Den Himmel geträumt zu haben und in den Schmutz fallen!
Wer wird mir nun alles wiedergeben, was ich verlor: meine Reinheit, meine Träume, meine Illusionen, alle verwelkten Dinge, arme Blumen, die der Frost getötet, noch bevor sie sich aufgetan.
Wenn ich Augenblicke der Begeisterung empfand, so verdanke ich sie der Kunst. Und dennoch welche Eitelkeit ist die Kunst! Den Menschen in einem Steinblock abbilden wollen, oder die Seele durch Worte, die Gefühle durch Töne und die Natur auf einer gefirnisten Leinwand darstellen wollen …
Ich weiß nicht, welche zauberhafte Macht die Musik besitzt; ganze Wochen hab ich verträumt im rhythmischen Takt einer Weise oder in den großen Umrissen eines majestätischen Chors; es gibt Klänge, die mir in die Seele dringen und Stimmen, die mich zu Wonnen zerschmelzen.
Ich liebte das dröhnende Orchester mit seinen Harmonienfluten, seinem klingenden Schall und der ungeheuren Kraft, die mit Muskeln ausgestattet scheint und am Ende des Violinbogens erstirbt. Meine Seele folgte der Melodie, die ihre Flügel zum Unendlichen entfaltete und in Kreisen, rein und langsam, aufwärts stieg, himmelwärts, wie der Rauch eines Opfers.
Ich liebte das Geräusch, die im Licht erglänzenden Diamanten, alle diese behandschuhten Frauenhände, die mit Blumen applaudieren; ich sah das hüpfende Ballett, die rosaroten, flutenden Röckchen, ich hörte die Schritte im Takte gehn, ich sah die Knie sich wollüstig von den gebeugten Hüften lösen.
Zu andern Malen, in gesammelter Stimmung vor dem Werk eines Genies, von den Ketten gefesselt, mit denen es einen anzieht, dann bei dem Geräusch dieser Stimmen mit dem schmeichlerischen Kreischen, bei diesem reizvollen Gemurmel gehrte ich nach dem Schicksal dieser starken Männer, die mit der Menge umgingen wie mit Blei, sie weinen und seufzen, sie vor Begeisterung erzittern lassen. Wie groß muß das Herz derer sein, die die Welt in sich gefaßt haben, und welche Mißgeburt in all meiner Natur? Überzeugt von meiner Ohnmacht und meiner Unfruchtbarkeit ward ich von einem eifersüchtigen Haß gepackt; ich sagte mir, daß das nichts wäre, der Zufall allein hätte diese Worte diktiert. Ich bewarf die höchsten Dinge, die ich beneidete, mit Schmutz.
Ich hatte über Gott gespottet; ich konnte sehr wohl auch über die Menschen lachen.
Jedoch diese düstre Laune war nur vorübergehend, und ich empfand ein wahres Vergnügen dabei, das im Feuer der Kunst erglänzende Genie als eine große Blume zu betrachten, die ihren duftenden Kelch der Sommersonne öffnet.
Die Kunst! Die Kunst! Welch schönes Ding um diese Eitelkeit!
Wenn es auf der Erde und unter allen ihren Nichtigkeiten einen Glauben gibt, den man anbetet, wenn es etwas Heiliges, etwas Reines, etwas Erhabenes gibt, etwas, das auf jene maßlose Begierde nach dem Unendlichen und Unbestimmten, das wir Seele nennen, abzielt, – so ist es die Kunst.
Und welche Kleinheit! Ein Stein, ein Wort, ein Ton, der Stand alles dessen, was wir das Erhabne nennen.
Ich wünschte etwas, das nicht ausgedrückt und nicht geformt zu werden brauchte, etwas Reines, wie ein Duft, etwas Starkes, wie den Stein, etwas Ungreifbares, wie den Gesang – alles dies sollte es zugleich sein und nichts von jedem einzelnen.
Alles kommt mir begrenzt, beschränkt und mißgeboren vor in der Natur.
Der Mensch mit seinem Genie und seiner Kunst ist bloß ein elender Affe von etwas Höherem.
Ich möchte das Schöne im Unendlichen und finde nur den Zweifel in ihm.
O Unendlichkeit, Unendlichkeit, du ungeheurer Schlund, – die Schneckenlinie, die von den Abgründen zu den höchsten Gefilden des Ungekannten hinaufsteigt, – der alte Gedanke, in dem wir uns alle herumdrehn, vom Schwindel gepackt, – ein Abgrund, den jeder im Herzen trägt, ein unermeßlicher bodenloser Abgrund!
Viele Tage lang, viele Nächte lang fragen wir uns vergebens in unsrer Angst: Was heißt dieses Wort: Gott – Ewigkeit – Unendlichkeit? Wir drehn uns darin herum, fortgerissen von einem Hauch des Todes, wie der Orkan ein Blatt herumwirbelt. Man möchte sagen, der Unendlichkeit macht es da Vergnügen, uns selbst in dieser Unermeßlichkeit des Zweifels zu wiegen.
– Wir sagen uns jedoch stets: nach vielen Jahrhunderten, nach Jahrtausenden, wann alles verbraucht sein wird, muß wohl eine Grenze da sein!
Ach! Die Ewigkeit richtet sich vor uns auf und wir haben Furcht, – Furcht vor dem, was so lange dauern soll, wir die nur so kurze Zeit dauern … So lange!
Ohne Zweifel, wenn die Welt nicht mehr sein wird (wie möcht ich dann leben, – leben ohne Natur, ohne Mensch, – welche Größe wäre diese Leere!), ohne Zweifel werden dann Finsternisse sein, mit ein wenig verbrannter Asche, der gewesenen Erde, und vielleicht ein paar Tropfen Wasser, dem Meer.
Himmel! Nichts weiter, Leere, nur das Nichts ausgebreitet in der Unermeßlichkeit wie ein Leichentuch! Ewigkeit? Ewigkeit! – Wird das immer dauern? … Immer … endlos!
Aber noch was übrig bleiben wird, das kleinste Stückchen von den Trümmern der Welt, der letzte Atemzug einer sterbenden Schöpfung, das Leere selbst, es muß müde sein, zu bestehen.
– Alles wird nach einer vollkommenen Zerstörung rufen.
Dieser Gedanke von etwas Endlosem macht uns erbleichen. – Weh! und wir werden eingeschlossen sein, wir die jetzt leben – und diese Unermeßlichkeit wird uns alle zerdrücken. Was werden wir sein? Ein Nichts, – nicht einmal ein Hauch.
Ich habe lange an die Toten in den Särgen gedacht, an die langen Jahrhunderte, die sie so unter der Erde liegen, unter der Erde mit ihrem Lärm, ihrem Gewühl und Geschrei, während sie so ruhig in ihren verfaulten Brettern sind; ihr düsteres Schweigen wird nur zuweilen von einem fallenden Haar gestört, oder von einem Wurm, der über ein Stückchen Fleisch kriecht. – Wie sie da schlafen, lautlos liegend, – unter der Erde, unter dem blühenden Gras!
Doch im Winter muß es sie frieren unterm Schnee.
O! Wenn sie nun wieder erwachten, – wenn sie wieder zu leben begännen, und alle Tränen sähen, mit denen man ihre trockenen Sterbetücher getränkt hat, alle erstickten Seufzer, alle vollendeten Grimassen. – Ihnen schauderte vor diesem Leben, um das sie weinten, als sie es verließen – und sie würden schnell in das Nichts zurückkehren, wo es so ruhig und so wahrhaftig ist.
Gewiß; man kann sogar leben und sterben, ohne sich ein einziges Mal gefragt zu haben, was Leben heißt und was Tod heißt.
Aber der, der sieht, wie die Blätter im Windhauch zittern, wie die Flüsse sich durch die Wiesen schlängeln, wie das Leben sich abquält und im Wirbel kreist, wie die Menschen leben, Gutes und Böses tun, wie das Meer seine Fluten wälzt und der Himmel seine Lichter entfaltet, der fragt sich: Warum diese Blätter? Warum fließendes Wasser? Warum ist das Leben selbst ein so schrecklicher Sturzbach und warum verliert es sich in den Ozean ohne ein Ende des Todes? Warum rennen die Menschen? Warum arbeiten sie wie Ameisen? Warum der Sturm? Warum ist der Himmel so rein und die Erde so schändlich? Diese Fragen führen in ein Dunkel, aus dem es kein Entrinnen gibt.
Und nachher kommt der Zweifel: etwas, das man nicht sagen kann, nur fühlen. – Dann ist der Mensch wie jener in den Sandwüsten verlorene Reisende, der überall nach einer Straße sucht, die ihn zur Oase leite, und der nur die Einöde sieht.
Der Zweifel ist das Leben! – Tat, Wort, Natur, Tod! In allem Zweifel.
Der Zweifel ist der Tod für die Seelen, eine Lepra, die die verbrauchten Rassen beseitigt, eine Krankheit, die von der Wissenschaft kommt und die zur Narrheit führt. Die Narrheit ist der Zweifel der Vernunft. Vielleicht ist sie die Vernunft selbst.
Es gibt Dichter, deren Seele ganz erfüllt ist von Düften und Blumen, die das Leben als die Morgenröte des Himmels ansehn; andre, die nur Düsterkeit kennen, nur Bitterkeit und Zorn; es gibt Maler, die alles blau sehen, andre alles gelb und alles schwarz. Jeder von uns hat ein Prisma, durch das er die Welt sieht; glücklich derjenige, der lachende Farben und lustige Dinge unterscheidet.
Es gibt Menschen, die in der Welt nur einen Titel, nur Frauen, nur die Bank, nur einen Namen, nur eine Bestimmung erblicken … Narrheiten. Ich kenne welche, die bloß Eisenbahnen, Märkte oder Viehherden darin sehn; den einen enthüllt sich darin ein erhabener Plan, den andern eine obszöne Gewalt.
Und diese möchten gern fragen, was das Obszöne ist? Eine schwierig zu lösende Frage. Ebensogern möchte ich die mathematische Definition eines schönen Paars Schuhe oder eines schönen Weibes geben, beides wichtige Dinge.
Die Leute, die unsern Globus für einen dicken oder einen kleinen Schmutzhaufen halten, sind merkwürdige Leute und schwer zu behandeln.
Ihr habt soeben mit einem dieser schändlichen Leute gesprochen, dieser Leute, die sich nicht Philanthropen nennen, und die, ohne zu fürchten, daß man sie Karlisten heißt, für die Zerstörung von Kathedralen stimmen. Aber bald haltet ihr stracks inne und erklärt euch für besiegt. Denn das sind Leute ohne Grundsätze, die die Tugend als ein Wort ansehn, die Welt als eine Harlekinade. Von da gehn sie aus und betrachten alles unter einem gemeinen Gesichtspunkt, lächeln über das Schönste, und wenn man ihnen von Menschenfreundlichkeit redet, so zucken sie die Achseln und sagen einem, daß Menschenfreundlichkeit in einer Subskription für die Armen besteht.
Ein schönes Ding um die Namenliste in einer Zeitung!
Wie merkwürdig ist doch diese Unterschiedlichkeit der Meinungen, der Systeme, der Glaubenssätze und der Narrheiten!
Wenn man mit gewissen Leuten redet, halten sie plötzlich erschrocken still und fragen einen: Wie! Ihr leugnet das? Ihr zweifelt an dem? Kann man den Plan des Universums und die Pflichten des Menschen abändern? Und wenn euer Blick unglücklicherweise einen Traum der Seele hat erraten lassen, versteifen sie sich plötzlich darauf und beschließen damit ihren logischen Sieg, wie jene über ein eingebildetes Gespenst erschrockenen Kinder, die die Augen zuhalten und nicht hinzusehn wagen.
Mach' sie auf, schwacher und von Stolz erfüllter Mensch, arme Ameise, die mühsam über ihr Sandkorn kriecht; du nennst dich frei und groß, du achtest dich hoch und dabei bist du so gemein in deinem Leben und grüßest deinen verfaulten Leib, wenn er vorbeigetragen wird, zweifellos aus Hohn. Und dann denkst du, daß ein so schönes Leben, das dermaßen zwischen etwas Stolz, den du Größe nennst und jenem niedrigen Interesse, dem wesentlichen Kennzeichen deiner Gesellschaft, von Unsterblichkeit gekrönt werden wird. Unsterblichkeit für dich, der geiler ist als ein Affe, böser als ein Tiger und kriechender als eine Schlange? Nun wohl! Schafft mir ein Paradies für den Affen, den Tiger und die Schlange, für die Ausschweifung, die Grausamkeit und die Niedrigkeit, ein Paradies für den Egoismus, eine Ewigkeit für diesen Staub, Unsterblichkeit für dieses Nichts. Du rühmst dich frei zu sein, tun zu können, was du das Gute und das Böse nennst, ohne Zweifel, damit man dich schneller verurteilt, denn was könntest du Gutes tun? Gibt es eine einzige deiner Gebärden, die nicht vom Stolz gestachelt oder vom Interesse berechnet ist?
Du frei! Von deiner Geburt an bist du allen ererbten Schwachheiten unterworfen, mit dem Licht empfängst du den Samen all deiner Laster, sogar deiner Dummheit, deine ganze Auffassung von der Welt, von dir selbst, von allem, was dich umgibt, nach jenem Terminus der Vergleichung, dem Maß, das du in dir selber trägst. Du bist mit einem beschränkten Geist geboren, mit fertigen Ideen oder solchen, die man dir über das Gute oder das Böse beibringen wird. Man wird dir sagen, daß man seinen Vater lieben und ihn in seinem Alter pflegen soll: du wirst beides tun, und du brauchtest es nicht zu lernen, nicht wahr? Es ist eine eingeborne Tugend, wie das Bedürfnis zu essen; während man hinter den Bergen, wo du geboren bist, deinem Bruder lehren wird, seinen Vater zu töten, wenn er alt geworden, und er wird ihn töten, denn es ist natürlich, denkt er, und es ist nicht notwendig, daß man es ihm lehrt. Man wird dich erziehn und dir sagen, daß du dich davor hüten mußt, deine Schwester oder deine Mutter fleischlich zu lieben; und dabei stammst du wie alle Völker von einem Inzest ab, denn der erste Mann und das erste Weib, sie und ihre Kinder, waren Brüder und Schwestern; und dabei sinkt die Sonne über andre Völker, die den Inzest für eine Tugend halten und den Brudermord für eine Pflicht. Bist du schon frei von den Grundsätzen, nach denen du dein Verhalten lenken sollst? Leitest du deine Erziehung? Wolltest du, daß der Charakter, mit dem du geboren wurdest, glücklich oder traurig, schwindsüchtig oder robust, mild oder böse, moralisch oder lasterhaft sei?
Du kamst zur Welt, fast leblos, weinend, schreiend, und mit geschloßnen Augen, gleichsam aus Haß gegen die Sonne, die du so oft gerufen. Man gibt dir zu essen: du wirst größer, du treibst wie ein Blatt, es ist ein großer Zufall, wenn dich der Wind nicht früh wegreißt, denn wie vielem bist du unterworfen? Der Luft, dem Feuer, dem Licht, dem Tag, der Nacht, der Kälte, der Wärme, allem, was dich umgibt, allem, was ist; dies alles beherrscht dich, zieht dich in Mitleidenschaft; du liebst das Grün, die Blumen, und du bist traurig, wenn sie verbleichen; du liebst deinen Hund, du weinst, wenn er stirbt; eine Spinne krabbelt her, du schrickst zurück; du schauderst zuweilen, wenn du deinen Schatten siehst, und wenn dein Gedanke sich in die Mysterien des Nichts vertieft, bist du erschrocken und fürchtest dich vor dem Zweifel.
Du nennst dich frei und jeden Tag handelst du von tausend Dingen getrieben, du siehst eine Frau und liebst sie; du stirbst vor Liebe zu ihr. Hast du die Freiheit, das pochende Blut zu beruhigen, den glühenden Kopf zu kühlen, das Herz zusammenzupressen, das Feuer, das dich verzehrt, zu stillen? Bist du frei von deinem Gedanken? Tausend Ketten halten dich, tausend Stacheln stoßen dich, tausend Fesseln zwingen dich. Du siehst zum erstenmal einen Mann, einer seiner Züge verletzt dich, und dein ganzes Leben hast du eine Abneigung gegen ihn, den du vielleicht geliebt hättest, wär seine Nase weniger dick. Du hast einen schlechten Magen und bist roh gegen einen, den du sonst wohlwollend empfangen hättest. Und von allen diesen Tatsachen kommen ebenso notwendigerweise andre Reihen von Tatsachen oder verketten sich mit ihnen, von denen ihrerseits wieder andre sich ableiten.
Bist du der Schöpfer deiner physischen oder moralischen Zusammensetzung? Nein, du könntest sie nur dann vollkommen lenken, wenn du sie erzeugt und nach deinem Belieben geformt hättest.
Du nennst dich frei, weil du eine Seele hast. Zunächst hast du diese Entdeckung gemacht, die du nicht definieren kannst; eine innere Stimme sagt es dir. Dann lügst du, eine Stimme sagt dir, daß du schwach bist, und du fühlst in dir eine ungeheure Leere, die du mit allen Dingen füllen möchtest, die du hineinwirfst. Und trotzdem glaubtest du es? Bist du sicher? Wer sagte es dir? Wenn zwei entgegengesetzte Empfindungen lange miteinander gekämpft haben, nach vielem Zögern, nach vielem Zweifeln neigst du dich einer Empfindung zu; du glaubst der Herr deines Entschlusses gewesen zu sein. Um jedoch Herr zu sein, durftest du keine Neigung haben. Bist du der Herr, das Gute zu tun, wenn dir die Lust am Bösen ins Herz gesenkt ist, wenn du mit schlechten Neigungen geboren bist, die von deiner Erziehung verhüllt sind; und wenn du tugendhaft bist, wenn dich vor dem Verbrechen schaudert, wirst du es tun können? Hast du die Freiheit, das Gute oder das Böse zu tun? Da du stets vom Gefühl für das Gute gelenkt bist, kannst du nicht das Böse tun.
Dieser Kampf ist der Streit zweier Neigungen, und wenn du das Böse tust, geschieht es, weil du mehr lasterhaft als tugendhaft bist, und weil das stärkere Fieber die Oberhand behalten hat.
Wenn zwei Menschen miteinander kämpfen, so wird sicherlich der schwächere, der weniger geschickte, der weniger geschmeidige, vom stärkeren, geschickteren, geschmeidigeren besiegt werden. Ebenso steht es mit der innern Natur. Auch wenn das, was du für gut empfindest den Sieg davonträgt, bedeutet der Sieg immer Gerechtigkeit? Was du für gut hältst; ist es das absolut, unerschütterlich und ewig Gute?
Es ist also alles finster um den Menschen, alles leer; und er möchte etwas Festes; er wälzt sich in dieser Unermeßlichkeit des Grenzenlosen, in dem er stehnbleiben möchte, er klammert sich an alles, und alles gleitet ihm weg: Glaube, Vaterland, Freiheit, Gott, Tugend; dies alles hat er erfaßt, und dies alles ist ihm aus den Händen geschlüpft; er ist wie ein Narr, der ein kristallenes Glas fallen läßt und über die Trümmer lacht.
Aber der Mensch hat eine Seele, die unsterblich und nach dem Bilde Gottes geschaffen ist; zwei Gedanken, für die er sein Blut vergossen hat, zwei Gedanken, die er nicht begreift – eine Seele, ein Gott –, aber von denen er überzeugt ist.
Diese Seele ist ein Wesen, um das sich unser physisches Dasein dreht, wie die Erde um die Sonne. Diese Seele ist edel, denn als ein geistiges Prinzip, als nichts Irdisches, kann sie nichts Niedriges, Gemeines an sich haben. Indessen, lenkt nicht der Gedanke unsern Körper? Ist er es nicht, der bewirkt, daß unser Arm sich hebt, wenn wir töten wollen, nicht er es, der unser Fleisch beseelt? Der Geist wäre das Prinzip des Bösen und der Körper die wirkende Kraft?
Seht nur, wie diese Seele, dieses Gewissen elastisch, biegsam ist, wie schlaff und lenkbar, wie leicht sie sich unter den Körper beugt, der auf ihr lastet, wie käuflich und gemein diese Seele ist, wie sie kriecht, wie sie schmeichelt, wie sie lügt, wie sie täuscht. Sie verkauft den Leib, die Hand, den Kopf, die Zunge; sie will Blut und verlangt nach Gold, immer unersättlich und gierig in ihrer Grenzenlosigkeit; sie ist mitten in uns wie ein Durst, eine Glut, ein Feuer, das uns verzehrt, eine Angel, die uns um sich wirbeln macht.
Du bist groß, Mensch! nicht durch den Körper, zweifellos, sondern durch jenen Geist, der dich, wie du sagst, zum König der Natur gemacht hat, du bist groß, du bist der Herr, du bist stark.
Jeden Tag stürzest du in der Tat die Erde um, gräbst Kanäle, baust Paläste, sperrst Flüsse zwischen Steinen ein, mähst das Korn, bäckst es und verzehrst es; du wühlst den Ozean auf mit dem Kiel deiner Schiffe, und du hältst das alles für gut; du hältst dich für besser als das gelbe Tier, das du verzehrst, für freier als das von den Winden entführte Blatt, für größer als den Adler, der um die Türme schwebt, für stärker als die Erde, aus der du dein Brot und deine Diamanten nimmst, und als den Ozean, auf dem du fährst. Aber, weh! Die Erde, die du aufwühlst, gebiert sich neu, deine Kanäle gehn in Trümmer, die Flüsse überschwemmen deine Länder und Städte, die Steine deiner Paläste lösen sich und zerfallen von selbst; die Ameisen laufen über deine Kronen und Throne, alle deine Flotten können auf der Fläche des Ozeans nicht mehr Spuren ihrer Fahrt hinterlassen, als ein Regentropfen und der Flügelschlag eines Vogels. Und du selbst schreitest über den Ozean der Zeiten, ohne mehr Spuren von dir zu hinterlassen, als dein Schiff auf den Fluten. Du hältst dich für groß, weil du ohne Ermatten arbeitest, aber diese Arbeit ist ein Beweis für deine Schwäche. Du bist also dazu verurteilt, alle die unnützen Dinge um den Preis deines Schweißes zu lernen, du warst Sklave, bevor du geboren wurdest, und unglücklich, bevor du lebtest! Du siehst die Gestirne mit einem Lächeln des Stolzes an, weil du ihnen Namen gegeben hast, weil du ihre Entfernung berechnet hast, als ob du dies Unendliche messen und den Raum in die Grenzen deines Verstandes einsperren wolltest. Aber du täuschest dich: Wer sagt dir, daß es hinter diesen Lichtwelten nicht noch andre unendliche gibt, und noch weiter? Vielleicht bleiben deine Berechnungen in ein paar Fuß Höhe stecken, und vielleicht beginnt hier eine neue Stufenfolge der Tatsachen … Begreifst du selbst den Wert der Worte, die du gebrauchst … Ausdehnung, Raum? Sie sind größer, als du und dein Globus.
Du bist groß und du stirbst, wie der Hund und die Ameise, mit mehr Bedauern als sie, und dann faulst du, und ich frage dich: Wenn dich die Würmer gefressen haben, wenn dein Leib in der Feuchte des Grabes zergangen ist, und wenn dein Staub nicht mehr ist, wo bist du dann, Mensch? Wo ist selbst deine Seele? Diese Seele, die der Urheber deiner Handlungen war, die dein Herz dem Haß, dem Neid und allen Leidenschaften auslieferte, diese Seele, die dich verkaufen und dich soviel Gemeinheiten tun ließ, wo ist sie? Giebt es einen Ort, der heilig genug wäre, sie aufzunehmen? Du achtest dich und ehrst dich wie einen Gott, du hast den Gedanken von der Würde des Menschen erfunden, einen Gedanken, den nichts in der Natur mit dir teilen kann; du willst, daß man dich ehrt und du ehrst dich selbst, du willst sogar, daß dieser Leib, der so gemein im Leben war, geehrt wird, wenn er nicht mehr ist. Du willst, daß man sich entblößt vor deinem menschlichen Aas, das vor Verderbnis faul, obwohl es reiner ist als du, da du lebtest. Hier ist deine Größe.
Größe des Staubs, Majestät des Nichts!
Zwei Jahre später kam ich zurück; man wird vermuten, wohin: sie war nicht da.
Ihr Gatte war allein mit einer andern Frau gekommen und war zwei Tage vor meiner Ankunft wieder abgereist.
Ich kehrte an den Strand zurück. Wie leer er war! Von hier aus konnte ich die graue Wand vom Hause Marias sehn. Welche Einsamkeit!
So kam ich auch wieder in denselben Saal, von dem ich gesprochen; er war voll, aber keins der Gesichter war mehr da, die Tische waren von Leuten besetzt, die ich nie gesehn; an dem Marias saß eine alte Frau, die sich auf denselben Fleck stützte, auf dem so oft ihr Ellbogen geruht. So blieb ich vierzehn Tage; einige Tage herrschte schlechtes Wetter und Regen, und ich verbrachte sie in meinem Zimmer, wo ich den Regen auf die Schieferdächer fallen und ferne das Meer rauschen hörte, und von Zeit zu Zeit einen Schrei von Schiffern auf dem Kai. – Ich dachte an all die alten Dinge wieder, die der Anblick derselben Orte neu belebte.
Ich sah denselben Ozean wieder mit seinen gleichen Wogen, immer ungeheuer, traurig und um seine Felsen brüllend; dasselbe Dorf mit seinen Schmutzhaufen, seinen Muscheln, auf die man tritt, und seine in Stockwerken aufgebauten Häusern – Aber alles, was ich geliebt, alles, was Maria umgab, die Sonnenstrahlen, die durch die Schirme schlüpften und ihre Haut vergoldeten, die Luft, die um sie fächelte, die Gesellschaft, die um sie schwirrte, all das war fort ohne Wiederkehr.
Was? von all dem sollte nichts wiederkehren? Ich fühle, wie leer mein Herz ist, denn all diese Menschen um mich sind eine Einöde, in der ich sterbe.
Ich erinnere mich an jene langen und heißen Sommernachmittage, an denen ich mit ihr redete, ohne daß sie ahnte, daß ich sie liebte, und an denen ihr gleichgültiger Blick wie ein Strahl der Liebe auf den Grund meines Herzens drang. Wie hätte sie auch in Wirklichkeit sehn können, daß ich sie liebte, denn damals liebte ich sie nicht, und in allem, was ich gesagt, log ich; jetzt liebte ich sie, jetzt wünschte ich sie, jetzt, da ich allein am Gestade, in den Wäldern oder auf den Feldern sie mir erschuf, wie sie mir zur Seite ging, mit mir redete, mich ansah. Wenn ich mich ins Gras legte und sah, wie die Felder sich unter dem Wind furchten und die Wellen den Sand schlugen, dacht' ich an sie, und erschuf mir in meinem Herzen alle Bilder, in denen sie gehandelt, geredet, neu. Diese Erinnerungen waren eine Leidenschaft.
Wenn ich mich erinnerte, daß ich sie an einem Orte wandern sah, ging ich hin; ich wollte den Klang ihrer Stimme wiederfinden, um mich zu bezaubern; das war unmöglich. Wie oft bin ich an ihrem Haus vorbeigegangen und habe zu ihrem Fenster hinaufgesehn!
Ich verbrachte also diese vierzehn Tage in einer verliebten Betrachtung, indem ich von ihr träumte. Ich erinnerte mich an herzzerreißende Dinge; eines Tages kam ich gegen die Abenddämmerung heim, ich ging durch die mit Rindern bedeckten Weiden, ich ging rasch aus, ich hörte nur das Geräusch meines Schrittes, der das Gras streifte, ich hielt den Kopf gesenkt und sah auf die Erde. Diese regelmäßige Bewegung schläferte mich sozusagen ein: ich glaubte Maria neben mir gehn zu hören, sie reichte mir den Arm, und drehte den Kopf, um mich zu sehn; sie war es, die auf den Feldern ging. Ich wußte wohl, daß es eine Halluzination war, die ich selbst beseelte, aber ich konnte mich nicht enthalten, darüber zu lächeln und fühlte mich glücklich. Ich sah auf: es war trübe, vor mir am Horizont ging die Sonne herrlich in den Wogen unter; man sah eine Feuergarbe netzförmig emporsteigen, unter dicken schwarzen Wolken verschwinden, die schwer über sie hinrollten, und dann tauchte ein Widerschein der untergehenden Sonne ferner hinter mir in einem Winkel des klaren blauen Himmels auf.
Als ich ans Meer kam, war sie fast verschwunden; ihre Scheibe war halb ins Wasser getaucht und eine leichte rosige Tönung verbreitete sich, schwächer werdend am Himmel hinauf.
Ein andres Mal kam ich zu Pferd den Strand entlang. Ich betrachtete mechanisch die Wellen, deren Schaum die Beine meiner Stute näßte, ich sah die Kiesel, die sie beim Trab aufsprühen ließ, sah, wie ihre Beine im Sand versanken. Die Sonne verschwand eben plötzlich und auf den Wellen lag eine dunkle Färbung, als schwebte etwas Schwaches über ihnen. Mir zur Rechten lagen Klippen, zwischen denen beim Wehen des Winds der Schaum schwankte wie ein schneeiges Meer, die Möwen flatterten mir zu Häupten, und ich sah ihre weißen Flügel dem trüben und düstern Wasser ganz nahe kommen. Es gibt keine Worte dafür, wie schön dies war, dieses Meer, dieses Gestade mit seinem muschelbestreuten Sand, seinen mit feuchtem Tang bedeckten Klippen und dem Schaum, der beim Wehn der Brise über ihnen wogte.
Ich möchte noch vieles andre sagen, viel Schöneres und Freundlicheres, wenn ich alles sagen könnte, was ich an Liebe, an Entzücken und an Bedauern empfinde. Kann man mit Worten das Schlagen des Herzens wiedergeben, kann man eine Träne schildern und ihre kristallne Feuchte malen, die das Auge in ein Liebesschmachten badet? Kann man alles sagen, was man an einem Tage fühlt? Arme menschliche Schwachheit, mit deinen Worten, deinen Zungen, deinen Klängen, redest und stammelst du, definierst Gott, den Himmel und die Erde, Chemie und Philosophie, und kannst mit deiner Sprache nicht einmal die ganze Freude ausdrücken, die du an einem Weibe hast – oder an einem Plumpudding.
O Maria, Maria, lieber Engel meiner Jugend, du, die ich mit einer so süßen, so von Duft und zarten Träumereien erfüllten Liebe umfaßte, lebe wohl!
Lebe wohl! Andre Leidenschaften werden kommen, ich werde dich vielleicht vergessen, aber du wirst immer auf dem Grunde meines Herzens bleiben, denn das Herz ist ein Land, wo jede Leidenschaft auf den Ruinen von andern zusammenstürzt und wühlt und pflügt.
Lebe wohl! Und doch wie hätt' ich dich geliebt, wie hätt' ich dich geküßt und dich in meine Arme geschlossen! Ach! Meine Seele zerschmilzt in Wonne bei all den Torheiten, die meine Liebe erfindet. Lebe wohl!
Lebe wohl! Und doch werde ich immer an dich denken, in den Wirbel der Welt werde ich geworfen, werde vielleicht darin sterben, zerschmettert unter den Tritten der Masse, in Fetzen gerissen. Wohin ich gehe? Was ich werde? Ich möchte alt sein und weiße Haare haben. Nein, ich möchte schön wie die Engel sein, Ruhm und Genie erlangen, und alles dir zu Füßen legen, damit du über das alles schreitest; aber ich habe nichts von allem und du hast mich ebenso kalt angesehn, wie einen Lakai oder einen Bettler.
Und ich, weißt du, daß ich keine Nacht, keinen Tag, keine Stunde verbrachte, ohne an dich zu denken, ohne dich wiederzusehn, wie du aus den Wellen emporstiegst, mit dem schwarzen Haar um deine Schultern, deiner braunen Haut mit ihren Perlen salzigen Wassers, deinen Kleidern, aus den Wasserbäche stürzten und deinem weißen Fuß mit den rosigen Nägeln, die sich in den Sand bohren, und daß diese Vision mir immer gegenwärtig ist, und dies stets in meinem Herzen raunt? Oh! Nein, alles ist öde.
Lebe wohl! Und doch, wenn ich dich sähe, wenn ich vier oder fünf Jahre älter wäre, kühner … vielleicht? O nein, ich errötete bei jedem deiner Blicke. Lebe wohl!
Wenn ich die Glocken erklingen und das Totengeläute seufzend schallen höre, ist mir in der Seele eine vage Traurigkeit, etwas Unerklärbares und Träumendes wie sterbende Töne.
Eine Gedankenreihe klingt auf beim traurigen Schall der Totenglocke. Mir ist, als säh' ich die Welt in ihren schönsten Festtagen, im Triumphgeschrei, mit rasselnden Wagen und Kränzen und über alledem ein ewiges Schweigen und eine ewige Majestät!
Meine Seele entflieht zum Ewigen und Unendlichen und schwebt auf dem Ozean des Zweifels, wenn diese Glocke klingt, die den Tod verkündet.
Du regelmäßige, du grabeskalte Stimme, die doch zu allen Festen erklingt und zu jeder Trauer weint, gern laß ich mich betäuben von deiner Harmonie, die den Lärm der Städte erstickt. Auf den Feldern, auf den Hügeln golden vom reifenden Korn höre ich gern die schwachen Klänge der Dorfglocke, die inmitten der Landschaft ertönt, während die Grille im Grase zirpt und der Vogel im Gezweige zwitschert.
Im Winter, in jenen sonnenlosen Tagen, die von einem trüben und bleichen Licht erhellt sind, verharrte ich lange, um alle Glocken zur Messe läuten zu hören. Von überall her drangen die Stimmen, die als Netz der Harmonie gen Himmel stiegen, und ich sammelte meine Gedanken über diesem gigantischen Instrument. Es war groß, unendlich, ich fühlte in mir Töne, Melodien, Echos aus einer andern Welt, ungeheure Dinge, die alsbald starben.
O ihr Glocken! Ihr werdet also auch meinem Tode läuten und eine Minute später einer Taufe. Ihr seid also ein Hohn wie das übrige und eine Lüge, wie das Leben, von dem ihr jeden Abschnitt verkündet. Taufe, Hochzeit, Tod. Armes Herz, verloren und versteckt bist du mitten in den Lüften und könntest so treffliche Dienste leisten als glühende Lava auf einem Schlachtfeld oder als Eisen für die Pferde …