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Als er im Innern des Wagens seinen Platz eingenommen hatte und die Post, von den fünf gleichzeitig davontrabenden Pferden gezogen, sich in Bewegung setzte, fühlte er sich wie von einem Rausch benommen. Wie ein Architekt, der Pläne zu einem Palast ausarbeitet, entwarf er im voraus sein Leben. Er erfüllte es mit Kostbarkeit und Glanz; es wuchs ins Unendliche, zeigte eine verschwenderische Fülle der Dinge; und die Betrachtung nahm ihn so in Anspruch, daß alles ringsum verschwand.
Am Fuß der Anhöhe von Sourdun erkannte er die Gegend wieder, in der sie sich befanden. Sie waren nicht mehr als fünf Kilometer gefahren, höchstens! Er war entrüstet. Er ließ das Fenster herab, um den Weg zu sehen, fragte den Kutscher mehrmals, um welche Zeit sie ankommen würden. Schließlich beruhigte er sich und saß mit offenen Augen in seiner Ecke.
Die Laterne, die über dem Sitz des Postillons hing, beleuchtete die Kruppen der Gabelpferde. Davor konnte er nur die Mähnen der anderen Pferde erkennen, die sich wie weiße Wogen leise bewegten; ihr Atem bildete Nebel zu beiden Seiten des Gespanns; die Eisenketten klirrten; die Scheiben zitterten in ihren Rahmen, und der schwere Wagen rollte in gleichmäßiger Fahrt über das Pflaster. Hier und dort erkannte man eine Scheunenmauer, wohl auch ein ganz einsames Wirtshaus. Auf dem Wege durch die Dörfer sahen sie mitunter den Ofen eines Bäckers Feuergluten ausstrahlen, und dann glitt die ungeheure Silhouette der Pferde über das gegenüberliegende Haus. Auf den Poststationen entstand, nachdem man ausgespannt hatte, für eine Minute tiefe Stille. Oben, unter der Schutzdecke stampfte jemand mit den Füßen, während eine Frau, die auf der Türschwelle stand, ihre Kerze mit der Hand schützte. Dann schwang der Kutscher sich auf den Tritt, und der Wagen fuhr wieder weiter.
In Mormans hörte man es ein Viertel nach eins schlagen.
»Also heute,« dachte er, »heute, bald!«
Allein seine Hoffnungen, seine Erinnerungen, Nogent, die Rue de Choiseul, Madame Arnoux, seine Mutter, alles ging allmählich wirr durcheinander.
Ein dumpfes Geräusch weckte ihn, sie fuhren über die Planken der Brücke von Charenton: das war Paris. Darauf nahmen seine beiden Reisegefährten, der eine seine Mütze, der andere sein seidenes Schnupftuch ab, setzten ihre Hüte auf und fingen an, sich zu unterhalten. Der erstere, ein dicker, roter Mensch in einem Samtrock, war ein Handelsmann, der andere kam zur Hauptstadt, um einen Arzt zu konsultieren – und in dem peinlichen Gefühl, ihn während der Nacht belästigt zu haben, entschuldigte Frédéric sich aus eigenem Antriebe bei ihm, so zartfühlend hatte das Glück ihn gemacht.
Da der Bahndamm offenbar überschwemmt war, fuhren sie geradeaus weiter und kamen wieder ins offene Land. In der Ferne rauchten die Fabrikschlote. Dann wandten sie sich nach Ivry. Sie fuhren eine Straße hinauf, plötzlich erblickte er die Kuppel des Panthéon.
Die Unebenheiten des Geländes glichen Ruinen. Der Gürtel der Festungswerke bildete eine horizontale Erhöhung, und auf den Fußwegen, die an die Straße grenzten, standen kleine, zweiglose Bäumchen, von genagelten Latten umzäunt. Aus Fabriken chemischer Produkte folgten Zimmerplätze der Holzhändler. Hohe Tore, wie man sie auf Bauerngehöften hat, ließen durch ihre weitgeöffneten Flügel das Innere unsauberer Hose voll Kehricht und schmutzigen Wasserlachen in der Mitte sehen. An langen rotgestrichenen Wirtshäusern sah man am ersten Stockwerk zwischen den Fenstern kreuzweise übereinandergelegt zwei Billardqueues in einem Kranz von gemalten Blumen; hier und dort stand verlassen eine alte, halbfertige Baracke. Dann wurde die doppelte Häuserreihe nicht mehr unterbrechen, und von den nackten Fassaden hob sich zuweilen eine riesenhafte Zigarre von weißem Eisenblech ab, um einen Tabakladen zu bezeichnen. Aus Schildern von Hebammen waren Matronen in Hauben abgebildet, die einen pausbäckigen Säugling in spitzenbesetztem Steckkissen hätschelten. Plakate bedeckten die Mauerecken und flatterten zum größten Teil als Fetzen im Winde. Arbeiter in Blusen, Bierwagen, Wäschekarren, Schlächtergefährte kamen vorüber; ein seiner Regen fiel, es war kalt und der Himmel blaß, aber zwei Augen, die ihm mehr galten als die Sonne, strahlten hinter dem Nebel.
An der Barriere wurden sie lange aufgehalten, denn Geflügelhändler, Fuhrleute und eine Hammelherde hemmten den Verkehr. Der Posten ging mit heruntergelassener Kapuze vor seinem Schilderhaus auf und ab, um sich zu erwärmen. Der Zollbeamte kletterte auf das Wagendach, und die Fanfare eines Hornisten ertönte. In schnellem Trab, doch mit klappernden Ortscheiten und flatternden Zügeln ging es den Boulevard hinunter. Die lange Peitschenschnur knallte in der feuchten Luft. Der Kutscher ließ seinen Ruf: »Vorsicht, ho, he!« ertönen, und die Straßenkehrer traten zur Seite, die Fußgänger sprangen zurück, der Schmutz spritzte gegen die Scheiben, sie kreuzten Karren, Kabrioletts und Omnibusse. Endlich begann das Gitter des Jardin des Plantes.
Das gelbliche Wasser der Seine berührte fast die Zugklappen der Brücken. Es atmete Frische aus. Frédéric sog sie mit voller Kraft ein und genoß diese köstliche Pariser Lust, die von dem Duft der Liebe und geistigem Leben erfüllt scheint; er war gerührt beim Anblick der ersten Droschken. Und er liebte alles bis zu der mit einer Strohmatte bedeckten Schwelle des Weinhändlers, den Schuhputzern mit ihren Kasten, den Ladenjungen, die ihre Kaffeetrommeln schüttelten. Frauen trippelten unter ihren Regenschirmen daher; er neigte sich vor, um ihre Züge zu unterscheiden; ein Zufall konnte Madame Arnoux zum Ausgehen veranlaßt haben.
Läden reihten sich aneinander, die Menge wuchs an, der Lärm wurde stärker. Nach dem Quai Saint-Bernard, dem Quai de la Tournelle und dem Quai Montebello ging es über den Quai Napoleon; er wollte seine Fenster sehen, aber sie waren zu sehr entfernt. Dann fuhren sie bei dem Pont-Neuf über die Seine bis zum Louvre hinunter, und durch die Straßen Saint-Honoré, Croix-des-Petits-Champs und Bouloi erreichten sie die Rue Coq-Héron und langten auf dem Hof des Gasthauses an.
Um sein Vergnügen auszukosten, kleidete Frédéric sich so langsam wie möglich an und begab sich sogar zu Fuß auf den Boulevard Montmartre; er lächelte bei dem Gedanken, jetzt gleich auf der Marmorplatte den geliebten Namen wiederzusehen; – er blickte auf. Keine Schaufenster, keine Gemälde, nichts!
Er eilte nach der Rue Choiseul. Monsieur und Madame Arnoux wohnten dort nicht mehr, und eine Nachbarin hütete die Loge des Hausmeisters; Frédéric wartete auf ihn; endlich erschien er, es war nicht mehr der nämliche. Er kannte ihre Adresse gar nicht.
Frédéric ging in ein Café und schlug, während er frühstückte, in einem Handels-Adreßbuch nach. Es gab dreihundert Arnoux, aber seinen Jacques Arnoux! Wo wohnten sie nur? Pellerin mußte es wissen.
Er begab sich ganz oben in das Faubourg Poisionnière, in dessen Atelier. Da an der Tür weder eine Klingel noch Klopfer war, schlug er mit der Faust stark dagegen und rief laut. Gähnende Leere antwortete ihm.
Dann fiel ihm Hussonnet ein. Aber wo einen solchen Menschen auffinden? Einmal hatte er ihn bis zum Hause seiner Geliebten in der Nähe der Rue de Fleurus begleitet. Als Frédéric dort ankam, merkte er jedoch, daß er den Namen des Mädchens nicht wußte.
Er nahm Zuflucht zur Polizei-Präfektur. Er irrte Treppe auf, Treppe ab, von Bureau zu Bureau. Die Auskunftei wurde geschlossen. Man bestellte ihn auf den nächsten Tag.
Darauf ging er zu allen Kunsthändlern, die er entdecken konnte, um zu erfahren, ob niemand Arnoux kenne. Monsieur Arnoux führte dieses Geschäft nicht mehr.
Schließlich kehrte er entmutigt, erschöpft, elend in sein Hotel zurück und ging schlafen. In dem Augenblick, da er sich unter seinen Bettüchern ausstrecken wollte, schnellte er unter einem Einfall empor.
»Regimbart! Welch ein Dummkopf ich war, nicht gleich an ihn zu denken!«
Am nächsten Morgen um sieben Uhr langte er vor einer kleinen Weinstube an, wo Regimbart seinen Weißwein zu trinken pflegte. Sie war noch nicht geöffnet; Frédéric machte einen Spaziergang in der Umgebung und stellte sich nach Verlauf einer halben Stunde abermals dort ein. Regimbart hatte sie eben verlassen. Frédéric stürmte auf die Straße. Er glaubte sogar von fern seinen Hut zu erkennen; ein Leichenwagen und Trauerkutschen kamen zwischen sie. Nachdem das Hindernis vorüber war, hatte er ihn aus dem Gesicht verloren.
Glücklicherweise erinnerte er sich, daß der Citoyen alle Tage pünktlich um elf Uhr bei einem kleinen Gastwirt auf der Place Gaillon frühstückte. Es hieß sich also gedulden; und nach einem endlosen Umherstreifen von der Börse zur Madeleine, und von der Madeleine zum Gymnase trat Frédéric, sicher, Regimbart zu finden, pünktlich um elf Uhr in das Gasthaus auf der Place Gaillon.
»Kenn' ich nicht!« sagte der Gastwirt in schroffem Ton.
Frédéric ließ nicht nach.
»Ich kenne ihn nicht mehr, mein Herr!« erwiderte er mit majestätischem Stirnrunzeln und einem Kopfschütteln, das ein Geheimnis andeutete.
Aber bei ihrem letzten Zusammensein hatte der Citoyen von der Wirtschaft Alexandre gesprochen. Frédéric verschlang ein Weißbrot, sprang in ein Kabriolett und erkundigte sich bei dem Kutscher, ob es nicht irgendwo auf den Höhen von St. Geneviève ein gewisses Café Alexandre gebe. Der Kutscher fuhr ihn Rue des Francs-Bourgeois- Saint-Michel in ein Etablissement dieses Namens, und bei seiner Frage: »Ist Monsieur Regimbart hier?« erwiderte der Wirt mit einem extra liebenswürdigen Lächeln:
»Wir haben ihn noch nicht gesehen, mein Herr,« und wechselte mit seiner Frau, die an der Kasse saß, einen Blick des Einverständnisses.
Und sich nach der Uhr umwendend:
»Aber ich hoffe, wir werden ihn in zehn Minuten hier haben, spätestens in einer Viertelstunde. – Celestin, schnell die Zeitungen! – Was wünscht der Herr zu nehmen?«
Obwohl Frédéric gar kein Bedürfnis hatte, etwas zu genießen, stürzte er erst ein Glas Rum, dann ein Glas Kirsch, darauf einen Curaçao und mehrere kalte und warme Grogs hinunter. Er las das ganze »Siècle« vom Tage, las es noch einmal; er prüfte die Karikaturen des »Charivari« bis auf das Korn des Papiers; zuletzt wußte er die Annoncen auswendig. Von Zeit zu Zeit ertönten Schritte auf dem Trottoir; war er's? oder die Umrisse einer Gestalt zeigten sich auf den Scheiben; aber immer ging sie vorüber!
Um sich zu zerstreuen, wechselte Frédéric den Platz; er setzte sich hinten, dann rechts, dann links und blieb dann, beide Arme ausgebreitet, mitten auf der gepolsterten Bank sitzen. Aber eine Katze, die leise auf der Samtlehne angeschlichen kam, erschreckte ihn, indem sie plötzlich einen Sprung machte, um die Syrup-Flecken auf dem Tablett abzuschlecken; und das Kind des Hauses, eine unerträgliche Range von vier Jahren, spielte auf den Stufen der Kasse mit einer Klapper. Seine Mutter, eine kleine blasse Frau mit schlechten Zähnen, lächelte stupide. Was war nur mit Regimbart geschehen? In tiefer Verstimmung wartete Frédéric auf ihn.
Der Regen prasselte wie Schlossen auf das Verdeck des Kabrioletts. Durch einen Spalt der Musselinvorhänge sah er den armen Gaul unbeweglicher als ein Holzpferd auf der Straße stehen. Der Rinnsteinbach flutete, ungeheuer angewachsen, zwischen zwei Radspeichen; und der Kutscher schlummerte, unter der Decke Schutz suchend; aber in der Furcht, sein Fahrgast könne sich davonmachen, öffnet er von Zeit zu Zeit wassertriefend die Tür; – und wenn Blicke die Gegenstände abnutzen könnten, hätte Frédéric die Uhr zerstören müssen, so unablässig waren seine Augen darauf geheftet. Doch sie ging weiter. Dieser Alexandre schritt indessen hin und her und wiederholte immer von neuem: »Er wird kommen, sage ich Ihnen, er wird kommen,« und um ihn zu zerstreuen, hielt er ihm Reden, sprach von Politik. Er trieb seine Höflichkeit sogar so weit, ihm eine Partie Domino vorzuschlagen.
Endlich um halbfünf Uhr erhob sich Frédéric, der seit zwölf da war, mit einem Satz und erklärte, nicht länger warten zu wollen.
»Ich begreife es selber nicht,« entgegnete der Wirt mit treuherziger Miene, »es ist das erste Mal, daß Monsieur Ledoux ausbleibt.«
»Wie, Monsieur Ledoux?«
»Freilich, mein Herr!«
»Ich sagte Regimbart!« rief Frédéric aufgebracht.
»Ach, bitte tausendmal um Verzeihung! Sie irren sich! Nicht wahr, Madame Alexandre, der Herr sagte: Monsieur Ledoux?« Und zum Kellner gewandt:
»Sie haben es doch auch gehört wie ich?«
Offenbar um sich an seinem Herrn zu rächen, begnügte der Kellner sich mit einem Lächeln.
Unwillig über die verlorene Zeit, wütend auf den Citoyen, dessen Gegenwart er erflehte wie die eines Gottes, und fest entschlossen, ihn aus der Tiefe der entferntesten unterirdischen Räume zu Tage zu fördern, ließ Frédéric sich auf die Boulevards zurückfahren. Sein Wagen ärgerte ihn; er schickte ihn fort: seine Gedanken verwirrten sich, und dann sprudelten alle Namen von Cafés, die er von diesem Dummkopf nennen gehört, auf einmal aus seinem Gedächtnis hervor wie tausend Stücke eines Feuerwerks: Café Gascard, Café Grimbert, Café Halbout, Wirtschaft Bordelots, Havanais, Boeuf à la Mode, Deutsches Bierhaus, Mère Morel; und er begab sich der Reihe nach in alle. Aber eines hatte Regimbart eben verlassen, in ein anderes sollte er vielleicht kommen, in dem dritten habe man ihn seit sechs Monaten nicht gesehen, in einem andern hatte er gestern für Sonnabend eine Hammelkeule bestellt. Schließlich, als er bei dem Limonaden-Händler Bautier die Tür öffnete, stieß Frédéric auf den Kellner:
»Kennen Sie Monsieur Regimbart?«
»Wie, ob ich ihn kenne? Ich habe ja die Ehre, ihn zu bedienen. Er ist oben; er hat eben gespeist!«
Und die Serviette unterm Arm näherte sich der Wirt selbst.
»Sie wünschen Monsieur Regimbart, mein Herr? Er war diesen Augenblick noch hier.«
Frédéric stieß einen Fluch aus, aber der Wirt versicherte ihm, daß er ihn unfehlbar bei Bouttevilain finden würde.
»Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort! er ist ein wenig früher gegangen als gewöhnlich, denn er hat eine geschäftliche Zusammenkunft mit einigen Herren. Aber Sie treffen ihn, wie ich schon sagte, bei Bouttevilain, Rue St. Martin 92, zweiter Aufgang links, im Hof, Zwischenstock, Tür rechts.«
Endlich entdeckte er ihn durch den Tabaksqualm allein im Hinterstübchen bei dem Billard, einen Schoppen vor sich, das Kinn gesenkt, in nachdenklicher Haltung.
»Ach! Ich suche Sie schon so lange!«
Ohne sich zu regen, reichte Regimbart ihm nur zwei Finger, und als hätten sie sich gestern gesehen, sagte er ein paar nichtssagende Worte über die Eröffnung der Sitzungen.
Frédéric unterbrach ihn und fragte mit möglichst natürlicher Miene:
»Arnoux geht es gut?«
Die Antwort ließ lange auf sich warten, da Regimbart gemächlich sein Getränk schlürfte.
»Ja, nicht schlecht!«
»Wo wohnt er denn jetzt?«
»Nun ... Rue Paradis-Poissonnière,« erwiderte der Citoyen erstaunt.
»Welche Nummer?«
»Siebenunddreißig, Donnerwetter, Sie sind komisch!«
Frédéric erhob sich:
»Wie, Sie gehen?«
»Ja, ja, ich habe einen Gang, eine Besorgung, die ich vergessen habe. Adieu!«
Frédéric ging von dem Restaurant zu Arnoux wie von einem lauen Winde getragen, und mit der wunderbaren Leichtigkeit, die man im Traum empfindet.
Bald stand er im zweiten Stockwerk vor einer Tür, deren Glocke läutete; ein Dienstmädchen erschien, eine zweite Tür öffnete sich; Madame Arnoux saß am Feuer. Arnoux sprang auf und umarmte ihn. Sie hatte einen etwa dreijährigen kleinen Knaben auf den Knien; ihre Tochter, jetzt so groß wie sie selbst, stand an der andern Seite des Kamins.
»Erlauben Sie mir, Ihnen diesen Monsieur da vorzustellen,« sagte Arnoux, indem er seinen Sohn unter die Achseln faßte und aufhob.
Und er belustigte sich einige Minuten damit, ihn hoch in die Luft zu werfen und ihn an seinen Armen wieder aufzufangen.
»Du wirst ihn töten, mein Gott! höre doch auf damit!« rief Madame Arnoux.
Aber Arnoux versicherte, daß es keine Gefahr habe, und fuhr damit fort, während er ihm zärtliche Worte im Marseiller Dialekt, seiner Muttersprache, zuflüsterte. – »Mein tapferer Bub, mein Goldeselchen!« Dann fragte er Frédéric, warum er ihnen so lange nicht geschrieben, was er dort unten angefangen und was ihn zurückgeführt habe.
»Ich, mein lieber Freund, bin jetzt Fayence-Händler. Aber reden wir jetzt von Ihnen!«
Frédéric schützte einen langen Prozeß und die Gesundheit seiner Mutter vor; um sich interessant zu machen, verwellte er lange dabei. Er sei fest entschlossen, diesmal definitiv in Paris zu bleiben; von der Erbschaft erwähnte er nichts, – aus Furcht, seinen früheren Eindruck zu schädigen.
Die Vorhänge waren wie die Möbel aus kastanienbraunem Wolldamast; an der Rücklehne lagen dicht nebeneinander zwei Kissen; ein Kessel kochte über dem Kohlenfeuer, und der Lampenschirm auf der Lampe am Rande der Kommode verdunkelte das Zimmer. Madame Arnoux trug ein Hauskleid von dunkelblauem Merino. Den Blick auf das Feuer gerichtet und eine Hand auf der Schulter des kleinen Knaben, löste sie mit der andern das Schnürband seines Leibchens; der Knirps im Hemd weinte und kraute sich den Kopf dabei, genau wie der Sohn des Monsieur Alexandre.
Frédéric hatte erwartet, daß die Freude ihn überwältigen werde, und da er Madame Arnoux nicht in der vertrauten Umgebung fand, vermißte er etwas an ihr, schien sie wie erniedrigt, kurz, nicht mehr dieselbe zu sein. Die Ruhe seines Herzens verblüffte ihn. Er erkundigte sich nach alten Freunden, unter anderen nach Pellerin.
»Ich sehe ihn nicht oft,« sagte Arnoux.
Sie fügte hinzu:
»Wir empfangen nicht mehr wie früher!«
Geschah es, um ihm anzukündigen, daß er keine Einladung erhalten würde? Aber Arnoux machte ihm in herzlicher Weise Vorwürfe, daß er nicht ohne weiteres zum Essen gekommen sei, und erklärte ihm, warum er sein Gewerbe gewechselt hatte.
»Was soll man machen in einer Zeit des Verfalls wie die unsrige? Die große Malerei ist aus der Mode gekommen. Überdies kann man die Kunst überall hineinbringen. Sie wissen, ich liebe das Schöne! Ich muß Sie in diesen Tagen einmal in meine Fabrik führen.«
Und er wollte ihm sogleich einige seiner Erzeugnisse in seinem Magazin im Zwischenstock zeigen.
Schüsseln, Terrinen, Teller und Schalen bedeckten den Fußboden. An den Wänden lehnten große, viereckige Kacheln mit mythologischen Sujets im Stil der Renaissance für Badestuben und Toilettenzimmer, während in der Mitte ein doppeltes Regal, das bis zur Decke reichte, mit Spiegelvasen, Blumentöpfen, Kandelabern, kleinen Jardinièren und großen polychromen Statuetten besetzt war, die etwa eine Negerin oder eine Schäferin in Pompadour-Kostüm darstellten. Die Erklärungen Arnoux' langweilten Frédéric, der fror und hungrig war.
Er eilte ins Café Anglais, aß dort vortrefflich und sagte sich:
»Wie dumm war ich mit meinem Schmerz da zu Haus! Kaum, daß ich sie wieder erkannte! Welch eine Spießbürgern ist sie doch!«
Und in einem jäh aufquellenden Lebensgefühl faßte er egoistische Entschlüsse. Er fühlte sein Herz steinhart werden wie den Tisch, auf den er sich stützte. Jetzt konnte er sich also ohne Furcht mitten ins Leben stürzen. Ihm fielen die Dambreuses ein, er wollte sie ausnutzen; dann erinnerte er sich Deslauriers'. »Ach, Donnerwetter, ich kann mir nicht helfen!« Indessen schickte er ihm durch einen Dienstmann ein Billet mit der Einladung, am nächsten Tage im Palais-Royal mit ihm zu frühstücken.
Deslauriers war das Glück nicht hold gewesen.
Er hatte sich mit einer Dissertation über das Recht des Erblassers zur Mitbewerbung um die Professur gemeldet und dabei die Ansicht vertreten, daß man es so viel wie möglich einschränken müsse; – und als ihn sein Gegner so reizte, daß er sich hinreißen ließ, Dummheiten zu behaupten, geschah es, ohne daß die Examinatoren Einspruch erhoben. Dann hatte der Zufall gewollt, daß er als Gegenstand der Aufgabe die Verjährung loste. Da hatte Deslauriers klägliche Theorien entwickelt, behauptete, daß verjährte Rechtsansprüche wie neue behandelt werden müßten; warum sollte der Eigentümer seiner Habe beraubt werben, weil er die Urkunden nach vollendeten dreißig Jahren nicht beibringen kann? Das hieße ja, die Sicherheit des ehrlichen Mannes dem Erben des Diebes, der sich bereichert hatte, zusprechen. Alle Ungerechtigkeiten wären durch eine Erweiterung jenes Rechts, das Tyrannei und ein Mißbrauch der Macht sei, gutgeheißen. Er hatte sogar ausgerufen:
»Schaffen wir es ab; und die Franken werden nicht länger die Gallier bedrücken, die Engländer nicht die Irländer, die Yankees nicht die Rothäute, die Türken nicht die Araber, die Weißen nicht die Neger, die Polen ...«
Der Präsident hatte ihn unterbrochen:
»Gut! gut! mein Herr! Wir haben mit Ihren politischen Ansichten nichts zu schaffen, Sie werden sich später nochmals stellen.«
Deslauriers hatte sich nicht wieder melden wollen. Aber dieser unglückliche Artikel XX des dritten Bandes des Bürgerlichen Gesetzbuches war für ihn zu einem Gebirge von Verdruß geworden. Er verfaßte eine große Arbeit über »die Verjährung als Grundlage des Zivilrechts und des natürlichen Rechts der Völker« und hatte sich in Dunod, Rogérius, Baibus, Merlin, Vazeille, Savigny, Troplong und andere bedeutende Werke vertieft. Um sich ihnen besser widmen zu können, hatte er seine Stellung als Bureauvorsteher aufgegeben. Er lebte von Repetitionsstunden und Ausarbeitung von Dissertationen; und bei den Sitzungen des Disputierklubs erschreckte er durch seine Heftigkeit die konservative Partei, – lauter Doktrinäre, aus der Schule Monsieur Guizots hervorgegangen, – so sehr, daß er in gewissen Kreisen eine Art Berühmtheit genoß, die aber doch einiges Mißtrauen gegen seine Person in sich schloß.
Er erschien zu der Zusammenkunft in einem dicken, mit rotem Flanell gefütterten Paletot, wie der frühere von Sénécal war.
Die Scheu vor den Vorübergehenden hinderte sie, sich lange zu umarmen, und sie gingen Arm in Arm, strahlend vor Vergnügen, im Auge eine Träne, bis zu Véfour. Dann, als sie allein waren, rief Deslauriers:
»Sapperlot, nun wollen wir es uns schön damit einrichten!«
Frédéric gefiel diese Art, sich gleich als Teilhaber seines Vermögens zu fühlen, gar nicht. Sein Freund bezeigte zuviel Freude für sie beide, nicht genug für ihn allein.
Darauf erzählte Deslauriers von seiner Niederlage und nach und nach von seinen Arbeiten, seiner Existenz, indem er von sich stoisch und von den anderen mit Bitterkeit sprach. Alles mißfiel ihm. Es gab keinen Menschen, der nicht ein Kretin oder eine Kanaille war. Wegen eines schlecht gespülten Glases schimpfte er auf den Kellner, und auf den sanften Vorwurf Frédérics erwiderte er:
»Als ob ich mich vor solchen Kerlen genieren würde, die jährlich bis zu sechs- und achttausend Francs verdienen, die vielleicht Wähler sind, vielleicht gar gewählt werden! O, nein, nein!«
Dann fuhr er heiterer fort:
»Aber ich vergesse, daß ich zu einem Kapitalisten spreche, zu einem Krösus, denn du bist jetzt ein Krösus.«
Und auf die Erbschaft zurückkommend, äußerte er die Ansicht: daß die Erbfolge in der Seitenlinie (an sich eine Ungerechtigkeit, obwohl er sich hier darüber freue), bei der nächsten Revolution bald abgeschafft sein werde.
»Glaubst du?« sagte Frédéric.
»Verlaß dich darauf!« erwiderte er. »Das kann nicht so bleiben! man leidet zuviel! Wenn ich ein Elend sehe wie das Sénécals ...«
»Immer dieser Sénécal!« dachte Frédéric.
»Was gibt's übrigens Neues? Bist du noch verliebt in Madame Arnoux? Das ist wohl vorbei, wie?«
Frédéric, der nicht zu antworten wußte, schloß die Augen und senkte den Kopf. Deslauriers teilte ihm mit, daß Arnoux' Blatt jetzt Hussonnet gehörte, der es umgewandelt hatte. Es hieße jetzt »Die Kunst, literarisches Institut, Aktiengesellschaft, hundert Francs jede Aktie, gemeinsames Kapital: vierzigtausend Francs«, mit dem Recht für jeden Aktionär, seine Arbeiten dort anzubringen, denn, ›der Zweck der Gesellschaft sei, Werke von Anfängern zu veröffentlichen, Talenten, vielleicht Genies, empfindliche Krisen zu ersparen, die verbittern etc.‹ ... Du siehst den Schwindel! Es wäre indessen etwas zu machen, das heißt den Ton besagten Blattes zu heben, dann plötzlich, unter Beibehaltung derselben Redakteure und dem Versprechen einer Fortsetzung des Feuilletons, den Abonnenten eine politische Zeitung zu bieten; der Vorteil würde zwar nicht so enorm sein.«
»Wie denkst du darüber? Willst du dich daran beteiligen?«
Frédéric wies den Vorschlag nicht zurück. Aber er mußte die Regelung seiner Angelegenheiten abwarten.
»Übrigens, wenn du etwas brauchst ...«
»Danke, mein Lieber!« sagte Deslauriers.
An das Samtpolster am Fensterrand gelehnt, rauchten sie dann Importen. Die Sonne schien, die Luft war mild, flatternde Vogelscharen ließen sich im Garten nieder; die Bronze- und Marmorstatuen glänzten, vom Regen gewaschen; Kindermädchen mit Schürzen saßen plaudernd auf den Stühlen, und man vernahm Kinderlachen und das fortwährende Plätschern der Wasserstrahlen des Springbrunnens.
Deslauriers' Bitterkeit hatte Frédéric verstimmt; aber unter der Wirkung des Weines, der in seinen Adern kreiste, halb im Schlaf, benommen, die volle Sonne im Gesicht, empfand er nichts als ein ungeheures, wollüstig stumpfsinniges Wohlbehagen – wie eine von Hitze und Feuchtigkeit gesättigte Pflanze. Deslauriers blickte mit halbgeschlossenen Lidern unbestimmt in die Ferne. Seine Brust hob sich, und er sagte:
»Ach! das war schöner, als Camille Desmoulins dort unten auf einem Tisch stehend das Volk aufstachelte, die Bastille zu stürmen! In jener Zeit lebte man, konnte man sich betätigen, seine Kraft beweisen! Simple Advokaten kommandierten Generale, Barfüßer schlugen Könige, während jetzt...«
Er schwieg, dann rief er plötzlich:
»Aber die Zukunft ist doch groß!«
Und den Marsch auf die Scheiben trommelnd, deklamierte er die Verse von Barthélemy:
Elle reparaîtra, la terrible Assemblée
dont, après quarante ans, votre tête est troublée,
colosse qui sans peur marche d'un pas puissant.
»Den Schluß weiß ich nicht mehr! Aber es ist spät, wollen wir gehen?« Und auf der Straße fuhr er fort, seine Theorien auseinanderzusetzen.
Frédéric betrachtete, ohne ihm zuzuhören, für seine Einrichtung passende Stoffe und Möbel in den Schaufenstern; und vielleicht wars der Gedanke an Madame Arnoux, der ihn bestimmte, bei der Auslage eines Antiquitätenhändlers vor drei Fayencetellern stehen zu bleiben. Sie waren mit gelben Arabesken von metallischem Glanz geschmückt, und jeder kostete hundert Taler. Er ließ sie für sich zurückstellen.
»Ich an deiner Stelle kaufte mir lieber Silberzeug,« sagte Deslauriers und verriet durch diese Vorliebe für Prunk den Mann von niedriger Herkunft. Als er allein war, begab Frédéric sich zu dem berühmten Pomadère, wo er sich drei Paar Beinkleider, zwei Röcke, einen Pelzmantel und fünf Westen bestellte; darauf zum Schuhhändler, einem Wäschelieferanten, einem Hutmacher und befahl überall, sich möglichst zu beeilen. Drei Tage später, bei seiner Rückkehr aus Havre, abends, fand er seine vollständige Garderobe zu Haus; und ungeduldig, sich ihrer zu bedienen, entschloß er sich sogleich, einen Besuch bei Dambreuse zu machen.
Allein es war zu früh, kaum acht Uhr.
»Ob ich zu den anderen gehe?« fragte er sich.
Arnoux war allein und im Begriff, sich vor einem Spiegel zu rasieren. Er schlug ihm vor, ihn an einen Ort zu führen, wo er sich amüsieren würde, und als er den Namen Dambreuse hörte, sagte er:
»Ah, das trifft sich gut! Sie werden dort Freunde von ihm sehen; kommen Sie! das wird spaßhaft!«
Frédéric entschuldigte sich, Madame Arnoux erkannte seine Stimme und sagte ihm durch die Wand guten Tag, da ihre Tochter nicht wohl und sie selber leidend war; und man hörte das Klirren eines Löffels gegen ein Glas und das leise Geräusch vorsichtig berührter Gegenstände, wie es in einem Krankenzimmer üblich ist. Dann verschwand Arnoux, um sich von seiner Frau zu verabschieden. Er hatte eine Menge Gründe!
»Du weißt wohl, daß es wichtig ist! Ich muß hingehen!, es ist notwendig, ich werde erwartet ...«
»Geh, mein Lieber, amüsiere dich!«
Arnoux rief eine Droschke herbei.
»Palais Royal! Galerie Montpensier, 7.«
Und auf die Polster sinkend, sagte er:
»Ach, wie bin ich müde, mein Lieber! Ich komme noch dabei um! Übrigens kann ich es Ihnen wohl sagen.«
Er neigte sich zu seinem Ohr und flüsterte geheimnisvoll:
»Ich versuche, das Kupferrot der Chinesen wiederzufinden.«
Und er erklärte ihm, was Glasur und was langsames Feuer sei.
Bei Chevet angelangt, brachte man ihm einen großen Korb, den er in die Droschke stellen ließ. Darauf wählte er für »seine arme Frau« Weintrauben, Ananas, verschiedene Leckerbissen und ordnete an, daß sie ihm am nächsten Morgen zeitig geschickt würden.
Dann gingen sie in eine Maskengarderobe, denn es handelte sich um einen Ball. Arnoux wählte eine blaue Samthose, ebensolche Weste, eine rote Perücke; Frédéric einen Domino; und sie stiegen Rue de Laval vor einem Hause ab, dessen zweite Etage mit farbigen Laternen beleuchtet war.
Schon unten an der Treppe hörte man den Lärm.
»Wohin, zum Teufel, führen Sie mich?«
»Zu einem guten Mädchen, fürchten Sie nichts!«
Ein Groom öffnete ihnen die Tür, und sie traten in das Vorzimmer, wo Paletots, Mäntel und Schals haufenweise auf Stühle geworfen lagen. Eine junge Dame im Kostüm eines Dragoners aus der Zeit Ludwigs XV. durchschritt es in diesem Augenblick. Es war Mademoiselle Rose-Annette Brou, die Herrin des Hauses.
»Nun?« sagte Arnoux.
»Es ist geschehen!« erwiderte sie.
»Ah! danke, mein Engel!«
Und er wollte sie küssen.
»Sieh dich vor, Dummkopf. Du verwischst meine Schminke.«
Arnoux stellte Frédéric vor.
»Treten Sie nur dort ein, Monsieur, seien Sie willkommen!«
Sie schlug hinter sich eine Portiere auseinander und rief feierlich:
»Der Küchenjunge Herr Arnoux und der Fürst, einer seiner Freunde!«
Frédéric war vom Licht anfangs geblendet; er sah nichts als beim Klange eines von Pflanzen verdeckten Orchesters, zwischen Wänden, die mit gelber Seide ausgeschlagen und mit Pastellporträts hier und da und Kristall-Wandleuchtern im Stile Ludwigs XVI. geschmückt waren, ein Wogen von Seide, Samt, nackten Schultern, eine Menge von Farben. Hohe Lampen, deren matte Glocken Schneebällen glichen, überragten Blumenkörbe in den Ecken, die auf Konsolen standen, – und vor ihm, hinter einem kleineren Zimmer, unterschied man in einem dritten ein Bett auf Säulentorsen, mit einem venetianischen Spiegel am Kopfende.
Der Tanz hörte auf, und beim Anblick Arnoux', der mit seinem Korb voll aufgehäufter Eßwaren auf dem Kopf daherkam, erhob sich ein Beifallsklatschen, ein Freudenlärm. – »Vorsicht, der Kronleuchter!« Frédéric blickte auf: es war der Meißner Kronleuchter, der den Laden der Kunsthandlung geschmückt hatte; die Erinnerung an alte Tage kam ihm in den Sinn; aber ein Infanterist der Linie in der Interimsuniform mit jener albernen Miene, die für Rekruten traditionell ist, pflanzte sich vor ihm auf, breitete, um sein Erstaunen zu bezeichnen, beide Arme aus, und er erkannte trotz des schrecklichen, schwarzen, gedrehten Schnurrbarts, der ihn entstellte, seinen alten Freund Hussonnet. Ihn mit Oberst anredend, überhäufte der Bohemien ihn mit Begrüßungen in halb elsässischem, halb Neger-Kauderwelsch. Durch all diese Personen aus der Fassung gebracht, wußte Frédéric nichts zu erwidern. Ein Bogen klopfte auf ein Pult, und Tänzer und Tänzerinnen begaben sich auf ihre Plätze.
Es waren etwa sechzig an der Zahl, die Frauen meist als Bäuerinnen oder Marquisen, die Männer, fast alle reiferen Alters, im Kostüm von Fuhrleuten, Schiffslastträgern oder Matrosen.
Frédéric sah, an die Wand gelehnt, der Quadrille vor ihm zu.
Ein schöner Alter, als venetianischer Doge gekleidet, mit langem Talar von purpurroter Seide, tanzte mit Rosanette, die einen grünen Rock, Trikothose und Jagdstiefel mit goldenen Sporen trug. Das Paar gegenüber bestand aus einem Arnauten, mit Yatagans beladen, und einer blauäugigen Schweizerin, weiß wie Milch und rund wie eine Wachtel, in Hemdärmeln und rotem Mieder. Um ihr Haar, das bis in die Kniekehlen herabfiel, zur Geltung zu bringen, war eine große Blondine, Statistin bei der Oper, als Wilde erschienen. Über ihrem braunfarbigen Trikot trug sie nichts als einen Lederschurz, Glasarmbänder und ein Diadem aus Flittern, aus dem ein Büschel Pfauenfedern hervorragte. Vor ihr schlug ein Hanswurst in einem grotesk weiten Frack mit dem Ellbogen den Takt auf seiner Tabatière. Ein kleiner Watteau-Schäfer, himmelblau und silbern wie Mondenschein, schlug mit seinem Hirtenstab gegen den Thyrsus einer Bacchantin, die, mit Trauben umkränzt, ein Pantherfell um die linke Hüfte und Sandalen mit goldenen Bändern trug. Von der anderen Seite schwenkte eine Polin in hellrotem Samtspencer ihr Gazeröckchen über ihren perlgrau seidenen Strümpfen, die in rosa, mit weißem Pelzwerk verbrämten Stiefelchen steckten. Sie lächelte einem dickbäuchigen Vierziger zu, der, als Chorknabe verkleidet, sehr hohe Sprünge machte und dabei sein Chorhemd aufhob, während er mit der andern Hand die rote Hose festhielt. Aber die Königin, der Stern war Mademoiselle Loulou, die berühmte Tänzerin der öffentlichen Bälle. Da sie jetzt reich war, trug sie einen Spitzenkragen auf ihrer Jacke von schwarzem, glattem Samt, und ihre breiten, hinten eng anliegenden und in der Taille von einer Kaschmirschärpe zusammengehaltenen Pluderhosen aus hochroter Seide waren längs der ganzen Nähte mit kleinen weißen frischen Kamelien besteckt. Ihr blasses, etwas ausgeschwemmtes Gesicht mit der Stumpfnase schien noch kecker durch die struppige Perücke, auf der ein grauer Männerfilzhut saß, den ein Fauststoß aufs rechte Ohr gedrückt hatte, und bei den Sprüngen, die sie machte, berührten ihre Tanzschuhe mit Diamantenschnallen fast die Nase ihres Nachbarn, eines großen, ältlichen Barons, der ganz in einer eisernen Rüstung steckte. Auch ein Engel war da mit goldenem Schwert in der Hand und zwei Schwanenflügeln am Rücken, der hin und her laufend fortwährend seinen Kavalier, einen Ludwig XIV. verlor, der nichts von den Figuren verstand und den Kontretanz in Verwirrung brachte.
Beim Anblick dieser Menschen überkam Frédéric ein Gefühl der Verlassenheit, ein Mißbehagen. Er dachte wieder an Madame Arnoux und ihm schien, daß er an etwas ihr Feindlichem teilnehme.
Als die Quadrille beendet war, trat Rosanette zu ihm. Sie war ein wenig außer Atem, und ihr spiegelblankes Halsschild hob sich leicht unter dem Kinn.
»Und Sie, mein Herr,« sagte sie. »Sie tanzen nicht?«
Frédéric entschuldigte sich, er könne nicht tanzen.
»Wirklich nicht? Aber mit mir? Sicher nicht?«
Und auf eine Hüfte gestützt, das andere Knie etwas zurückgedrückt, betrachtete sie ihn eine Minute mit halb bittender, halb spöttischer Miene, während sie mit der linken Hand den Perlmuttergriff ihres Degens streichelte. Schließlich sagte sie »Guten Abend«, drehte sich auf den Hacken um und verschwand.
Unzufrieden mit sich selber, wußte Frédéric nichts anzufangen und irrte im Ballsaal umher.
Er trat in das Boudoir, das in blaßblauer, mit Feldblumenbouquets durchwirkter Seide ausgeschlagen war, wo an der Decke in einem vergoldeten Holzkranz aus einem azurblauen Himmel hervortauchende Amoretten auf Wolken tändelten, die Federkissen glichen. Diese Eleganz, die heute für Damen vom Schlage der Rosanette armselig anmuten würde, blendete ihn, und er bewunderte alles: die künstliche Schlingpflanze, die den Spiegelrahmen schmückte, die Kaminvorhänge, den türkischen Diwan und in einer Wandnische eine Art Zelt mit weißem Musselin über rosa Seide austapeziert. Schwarze Möbel mit Kupfereinlagen statteten das Schlafzimmer aus, wo sich auf einer mit Schwanenpelz bedeckten Estrade das große Bett mit einem straußenfederngeschmückten Baldachin erhob. In einem Nähkissen steckten Nadeln mit Edelsteinknöpfen, auf Schalen lagen Ringe, und im Dunkel bei dem Schein, den eine an drei Kettchen hängende böhmische Ampel verbreitete, unterschied er Medaillons an Goldstreifen und silberne Kästchen.
Durch eine kleine, halbgeöffnete Tür sah man ein Treibhaus, das die ganze Breite des Altans einnahm mit einer Volière am andern Ende.
Dieses Milieu war wohl dazu angetan, ihm zu gefallen. In einer Anwandlung von jugendlicher Auflehnung schwor er sich, zu genießen, zu wagen; dann kehrte er zum Eingang des Saales zurück, in dem jetzt viel mehr Leute waren (alles bewegte sich in einer Art leuchtendem Staub), blieb stehen, um den Quadrillen zuzuschauen, wobei er die Augen zukniff, um besser sehen zu können – und atmete den weichen Frauenduft ein, den sein Körper wie einen einzigen, unermeßlichen Kuß empfand.
In seiner Nähe, an der andern Seite der Tür, sah er Pellerin; – Pellerin in großer Toilette, den rechten Arm in der Brust, hielt er mit der linken Hand neben seinem Hut einen zerrissenen weißen Handschuh.
»Es ist lange her, seit man Sie gesehen hat! Wo, zum Teufel, waren Sie denn? Auf Reisen, in Italien? Schablonenhaft Italien, wie? nicht so toll, wie man sagt? Einerlei! bringen Sie mir doch dieser Tage Ihre Skizzen!«
Und ohne seine Antwort abzuwarten, fing der Künstler an, von sich selbst zu sprechen.
Er hätte große Fortschritte gemacht, indem er nun definitiv den Unsinn der Linie erkannt habe. Man sollte bei einer Arbeit nicht so sehr auf Schönheit und Einheit sehen als auf den Charakter und die Mannigfaltigkeit der Dinge.
»Denn alles existiert in der Natur, also ist alles berechtigt, alles plastisch. Es handelt sich nur darum, den Ton zu treffen, das ist es. Ich habe das Geheimnis entdeckt, sehen Sie! Schauen Sie sich also einmal diese kleine Frau mit der Sphinx-Frisur an, die mit einem russischen Postillon tanzt, das ist einfach, klar, bestimmt, alles in Halbflächen und grellen Tönen. Indigo unter den Augen, ein Zinnoberfleck auf der Wange, Nußbraun an den Schläfen; piff, paff!« Und er zeichnete mit dem Daumen wie mit Pinselstrichen in der Luft. – »Während die Dicke da unten,« fuhr er, auf eine Fischhändlerin weisend, fort, die ein kirschrotes Kleid, ein goldenes Kreuz um den Hals und ein im Rücken verschlungenes Tuch von Linon trug, – »nichts als Rundungen; die Nasenflügel blähen sich wie die Flügel ihrer Haube, ihre Mundwinkel heben sich, das Kinn senkt sich, alles ist fett, verschmolzen, massig, ruhig und sonnig, ein wahrer Rubens! Beide aber sind vollkommen! Wo ist also der Typus?« Er ereiferte sich: »Was ist eine schöne Frau? Was ist das Schöne? Ah! das Schöne! werden Sie sagen ...« Frédéric unterbrach ihn, um zu erfahren, wer der Pierrot mit dem Ziegenbock-Profil wäre, der mitten in einer Pastourelle alle Tänzer zu segnen anfing.
»Gar nichts! ein Witwer, Vater von drei Knaben. Er läßt sie zerrissen herumlaufen, verbringt den Tag im Klub und schläft mit dem Dienstmädchen.«
»Und jener dort, im Kostüm eines Dorfschulzen, der in der Fensternische mit einer Marquise à la Pompadour spricht?«
»Die Marquise ist Madame Vandaël, eine ehemalige Schauspielerin des Gymnase, die Geliebte des Dogen, Grafen de Palazot. Es sind jetzt zwanzig Jahre, daß sie miteinander leben, man weiß nicht warum. Hatte diese Frau einst schöne Augen! Der Citoyen neben ihr heißt Hauptmann d'Herbigny, ein Veteran der alten Garde, der nichts besitzt als sein Ehrenkreuz und seine Pension, dient den Grisetten bei Feierlichkeiten als Oheim, arrangiert Duelle und läßt sich zum Essen einladen.«
»Ein Lump also?« fragte Frédéric.
»Nein, ein ehrlicher Kerl!«
»Ah!«
Der Künstler nannte ihm noch andere, und als er einen Herrn bemerkte, der wie Molières Ärzte ein langes, aber von oben bis unten weit offenes Gewand aus schwarzer Serge trug, um alle seine Berlockes zu zeigen, erklärte er:
»Dieser hier ist der Doktor des Rogis, der um jeden Preis berühmt sein wollte und daher ein medizinisches Buch über Pornographie geschrieben hat; er leistet der vornehmen Welt gern Dienste und ist sehr diskret; die Damen schwärmen für ihn. Er und seine Gattin (die magere Burgfrau dort im grauen Kleide) sind zusammen an allen öffentlichen und anderen Orten zu sehen. Trotz der Dürftigkeit ihres Haushalts haben sie ihren ›Jour‹, an dem Verse vorgetragen werden. – Achtung!«
In der Tat trat der Doktor zu ihnen; und bald bildeten die drei am Eingang des Saales eine Gruppe von Plauderern, zu der sich Hussonnet, augenblicklich der Geliebte der Wilden, ein junger Dichter, der unter einem kurzen Mantel à la Franz I. die armseligsten Gliedmaßen auswies, und endlich ein geistvoller, als Türke verkleideter junger Mann gesellte. Aber sein mit gelben Tressen besetztes Wams war vom Quacksalbern im Umherziehen so sehr abgenutzt, seine faltigen Pluderhosen hatten ein so verblichenes Rot, der wie ein Tartarenwulst zusammengerollte Turban war so jämmerlich und sein ganzes Kostüm endlich so erbärmlich und eben darum so echt, daß die Frauen ihren Abscheu nicht verhehlten. Der Doktor tröstete ihn darüber mit großen Lobreden über das Kostüm seiner Geliebten. Dieser Türke war der Sohn einer Bankiers.
Zwischen zwei Quadrillen lenkte Rosanette ihre Schritte nach dem Kamin, wo sich in einem Sessel ein kleiner beleibter Greis in kastanienbraunem Rock mit goldenen Knöpfen niedergelassen hatte. Trotz seiner welken Wangen, die auf die hohe weiße Kravatte herabhingen, gaben ihm seine noch blonden, wie eine Pudelmähne gekräuselten Haare etwas übermütiges.
Zu seinem Gesicht herabgeneigt, hörte sie ihm zu. Dann reichte sie ihm ein Glas Likör, und nichts konnte winziger sein als ihre Hände in den Spitzenärmeln unter den Aufschlägen des grünen Rockes. Nachdem der Alte getrunken hatte, küßte er sie.
»Aber das ist ja Monsieur Oudry, der Nachbar Arnoux'!«
»Den hat er verloren,« sagte Pellerin lachend.
»Wie?«
Ein Postillon von Lonjumeau faßte sie um die Taille, ein Walzer begann. Darauf erhoben sich schnell alle Frauen nacheinander, die rings um den Saal auf Bänken saßen, und ihre Röcke, ihre Schärpen und ihr Kopfputz begannen sich zu drehen.
Sie walzten so dicht an ihm vorüber, daß Frédéric die Tröpfchen auf ihren Stirnen unterscheiden konnte; – und diese immer lebhaftere und regelmäßigere, schwindelerregende Bewegung versetzte ihn in eine Art Taumel und löste andere Vorstellungen in ihm aus, während alle in tollem Wirbel vorüberzogen und eine jede Schönheit ihre besondere Wirkung übte. Die Polin, in einer gewissen schmachtenden Hingabe, weckte die Lust in ihm, sie an sein Herz zu drücken und mit ihr im Schlitten durch eine verschneite Landschaft zu fahren. In wonnigem Frieden stieg am Ufer eines Sees das Bild einer Sennhütte vor ihm auf bei den Tanzschritten einer Schweizerin, die in gerader Haltung mit gesenkten Augen walzte. Dann plötzlich lockte die Bacchantin, die ihren braunen Kopf zurückwarf, Träume von verzehrender Glut in gewitterdunklen Oleanderhainen beim wilden Rasseln der Tambourins hervor. Die Fischhändlerin lachte, von dem schnellen Takt außer Atem gebracht, laut auf, und er hätte in den Porcherons gern mit ihr getrunken und mit derben Händen ihr Brusttuch gelockert, wie in alter, guter Zeit. Aber die Lastträgerin, die leichtfüßig kaum den Fußboden berührte, schien in der Geschmeidigkeit ihrer Glieder und dem Ernst ihres Gesichtes alle Raffinements moderner Liebe zu vereinen, einer Liebe, die die Schärfe einer Wissenschaft und die Beweglichkeit eines Vogels hat. Die Hand auf der Hüfte, drehte sich Rosanette; ihre auf den Kragen herabreichende Zipfel-Perücke streute Iris-Puder um sie; und bei keiner Tour verfehlte sie, Frédéric mit den Spitzen ihrer goldenen Sporen zu streifen.
Bei den letzten Klängen des Walzers erschien Mademoiselle Vatnaz. Sie hatte ein algerisches Tuch um den Kopf gewunden, auf der Stirn eine Reihe von Münzen, und die Augenränder waren mit Antimon gefärbt; sie trug eine Art Paletot von schwarzem Kaschmir über einem hellen, silberdurchwirkten Rock und hielt ein baskisches Tambourin in der Hand.
Hinter ihr schritt ein großer junger Mann im klassischen Dante-Kostüm, der (sie machte jetzt kein Hehl mehr daraus) der ehemalige Sänger aus der Alhambra war und Auguste Delamare hieß, sich aber anfänglich Anténor Dellamare, dann Delmas, darauf Belmar und schließlich Delmar nennen ließ, und somit seinem wachsenden Ruhm gemäß seinen Namen änderte und vervollkommnete; denn er hatte die Kneipe mit dem Theater vertauscht und eben als Gaspardo le Pêcheur im Ambigu rauschend debutiert.
Als Hussonnet ihn bemerkte, runzelte er die Stirn. Seitdem sein Stück zurückgewiesen worden war, verabscheute er die Schauspieler. Man könne sich die Eitelkeit dieser Herren, besonders dieses da nicht vorstellen! – »Welch ein Poseur das ist, sehen Sie nur!«
Nachdem er Rosanette nachlässig begrüßt hatte, lehnte Delmar sich an den Kamin, wo er die Hand auf dem Herzen, den linken Fuß vorgestreckt, die Augen gen Himmel, mit seinem Kranz von vergoldetem Lorbeer über der Kapuze, unbeweglich stehen blieb, indem er sich bemühte, in seinen Blick viel Poesie zu legen, um die Damen zu blenden. In einiger Entfernung bildete sich ein großer Kreis um ihn.
Nachdem die Vatnaz Rosanette innig geküßt hatte, kam sie zu Hussonnet, um ihn zu bitten, ein Werk über Erziehung: la Guirlande des jeunes Personnes, Beiträge zur Literatur und Moral, die sie veröffentlichen wollte, auf den Stil hin durchzusehen. Der Schriftsteller versprach seine Hilfe. Dann fragte sie ihn, ob er nicht in einem der Blätter, die ihm zur Verfügung ständen, ihren Freund ein wenig herausstreichen lassen könnte und ihm später vielleicht eine Rolle anvertrauen. Hussonnet vergaß darüber, ein Glas Punsch zu nehmen.
Arnoux hatte ihn selber zubereitet, und den Groom des Grafen neben sich, der ein leeres Tablett trug, bot er allen mit Genugtuung davon an.
Als er eben an Monsieur Oudry vorübergehen wollte, hielt Rosanette ihn an.
»Nun, und Ihre Angelegenheit?«
Er errötete ein wenig; endlich wandte er sich an den Alten.
»Unsere Freundin sagte mir, daß Sie die Gefälligkeit haben würden...«
»Aber Herr Nachbar, ich stehe ganz zu Ihrer Verfügung.«
Der Name Dambreuse wurde erwähnt; da sie sich halblaut unterhielten, verstand Frédéric sie nur undeutlich; er begab sich an die andere Ecke des Kamins, wo Rosanette und Delmar plauderten.
Der Komödiant hatte gewöhnliche Züge, die man wie Theaterdekorationen nur aus der Ferne betrachten darf, dicke Hände, große Füße, schwere Kinnbacken; und er riß die berühmtesten Schauspieler herunter, behandelte die Dichter von oben herab, sagte: »Mein Organ, meine Erscheinung, meine Mittel,« und schmückte seine Rede mit Vorliebe durch ihm selbst wenig verständliche Ausdrücke, wie »Morbidezza«, »analog« und »homogen« aus.
Rosanette hörte ihm mit leisem, zustimmendem Kopfnicken zu. Man sah die Bewunderung unter der Schminke in ihren Zügen aufleuchten, und ein feuchter Glanz glitt wie ein Schleier über ihre hellen Augen von unbestimmter Farbe. Wie konnte ein solcher Mann ihr gefallen? Frédéric redete sich innerlich in noch größere Verachtung gegen ihn hinein, vielleicht um eine Art Neid, den er ihm gegenüber empfand, zu verscheuchen.
Die Vatnaz stand jetzt neben Arnoux; und während sie von Zeit zu Zeit laut lachte, warf sie einen Blick auf ihre Freundin, die Monsieur Oudry nicht aus den Augen ließ.
Dann verschwanden Arnoux und die Vatnaz; der Alte sprach leise mit Rosanette.
»Jawohl, ja, es bleibt dabei! Lassen Sie mich in Ruhe!«
Und sie bat Frédéric, in die Küche zu gehen, um nachzusehen, ob Monsieur Arnoux nicht dort sei.
Ein Bataillon von halb gefüllten Gläsern bedeckte den Fußboden; und in den Kasserollen, Töpfen, Pfannen und im Backofen schmorte es. Arnoux kommandierte die Dienstboten, duzte sie, rührte die Remoulade, kostete die Sauce, schäkerte mit den Mädchen.
»Schön,« sagte er, »melden Sie ihr: Ich lasse anrichten.«
Es wurde nicht mehr getanzt, die Frauen hatten sich wieder gesetzt, die Männer gingen umher. Mitten im Salon blähte sich einer der Fenstervorhänge im Winde, und trotz der Bemerkungen der anderen setzte die Sphinx ihre schweißfeuchten Arme dem Luftzuge aus. Wo war denn Rosanette? Frédéric suchte sie überall, selbst im Boudoir und im Wohnzimmer. Einige, die allein oder zu zweien sein wollten, hatten sich dorthin geflüchtet. Das Dunkel mischte sich mit dem Geflüster. Man vernahm leises Lachen hinter dem Taschentuch und vermeinte am Rande der ausgeschnittenen Mieder das Rascheln der Fächer zu hören, das lind und sanft war wie das Flattern verwundeter Vögel.
Als er in das Treibhaus trat, sah er Delmar unter den breiten Blättern einer Caladiumpflanze neben dem Springbrunnen platt auf dem Bauche auf dem leinenüberzogenen Sofa liegen. Rosanette, die neben ihm saß, strich mit der Hand durch sein Haar, und sie blickten einander an. Im selben Augenblick trat Arnoux von der andern Seite durch die Volière ein. Delmar erhob sich mit einem Satz und ging dann, ohne sich umzusehen, ruhigen Schrittes hinaus, blieb sogar in der Nähe der Tür stehen, um eine Hibiscusblüte zu pflücken, mit der er sein Knopfloch schmückte. Rosanette senkte das Gesicht, Frédéric, der sie im Profil sah, merkte, daß sie weinte.
»Nun! was hast du denn?« sagte Arnoux.
Sie zuckte die Achseln, ohne zu antworten.
»Ist es seinetwegen?« fragte er.
Sie schlang die Arme um seinen Hals, küßte ihn auf die Stirn und sagte langsam:
»Du weißt doch, daß ich dich immer lieben werde, Dickerchen! Wir wollen nicht mehr daran denken. Laß uns soupieren!«
Ein Messingkronleuchter mit vierzig Kerzen erhellte den Saal, dessen Wände unter alten Fayencen verschwanden, die dort hingen; und das von oben herabfallende grelle Licht machte eine riesenhafte Steinbutte noch weißer, die zwischen Nebengerichten und Früchten die Mitte der Tafel einnahm, während eine Reihe mit Bouillon gefüllter Teller sie umrahmte. Mit raschelnden Kleidern setzten die Frauen sich nebeneinander und rafften ihre Röcke, Schärpen und Ärmel zusammen; die Männer ließen sich in den Ecken nieder. Pellerin und Monsieur Oudry saßen neben Rosanette, Arnoux gegenüber. Palazot und seine Freundin gingen eben fort.
»Glückliche Reise!« sagte sie, »greifen wir zu!«
Und der Chorknabe, ein drolliger Mensch, machte Zeichen des Kreuzes und stimmte das Benedicite an.
Die Damen waren entrüstet, besonders die Fischhändlerin, die eine Tochter hatte, aus der sie eine anständige Frau machen wollte. Arnoux »liebte dergleichen ebenfalls nicht«, er fand, man müsse die Religion achten.
Eine deutsche Kuckucksuhr schlug zwei und erregte mit ihrem Kuckuck ungeheures Vergnügen. Allerlei Gespräche schwirrten durcheinander: Wortspiele, Anekdoten, Prahlereien, Wetten, Lügen, die für Wahrheiten gehalten wurden, unwahrscheinliche Behauptungen, ein Wirrwarr von Worten, der sich bald in einzelne Unterhaltungen auflöste. Weine wurden herumgereicht, die Gerichte folgten einander, und der Doktor tranchierte. Man warf sich von weitem eine Orange, einen Korken zu und verließ seinen Platz, um mit anderen zu plaudern. Rosanette wandte sich häufig an Delmar, der unbeweglich hinter ihr stand; Pellerin schwatzte, Monsieur Oudry lächelte. Mademoiselle Vatnaz verspeiste fast ganz allein die Krebspyramide, und die Schalen krachten unter ihren langen Zähnen. Der Engel saß auf dem Klaviersessel (dem einzigen Platz, wo seine Flügel ihm zu sitzen gestatteten) und kaute still und ununterbrochen.
»Welch eine Leistung!« wiederholte der Chorknabe verblüfft, »welch eine Leistung!«
Und die Sphinx trank Branntwein, schrie aus vollem Halse, gebärdete sich wie ein Dämon. Plötzlich entfärbten sich ihre Wangen, und da sie das Blut, das sie zu ersticken drohte, nicht länger zurückdrängen konnte, führte sie ihre Serviette an die Lippen und warf sie dann unter den Tisch. Frédéric hatte es gesehen.
»Es ist nichts!«
Und auf seine inständige Bitte, fortzugehen und sich zu schonen, entgegnete sie langsam:
»Ach was! wozu? lieber dies als etwas anderes! Das Leben ist nicht so lustig.«
Da erschauerte er unter eisiger Traurigkeit, als hätte er Welten von Elend und Verzweiflung gesehen, eine Kohlenpfanne neben einem armseligen Bett und die Leichen der Morgue in ihren Lederschürzen, mit dem Hahn, aus dem kaltes Wasser über ihr Haar fließt.
Der Wilden zu Füßen hockend, kreischte Hussonnet indessen mit heiserer Stimme, um den Schauspieler Grassot nachzuahmen:
»Sei nicht grausam, o Celuta! Dieses kleine Familienfest ist reizend! Berauscht mich mit Sinnenlust, meine Schönen! Laßt uns lustig sein! laßt uns lustig sein!«
Und er fing an, die Frauen auf die Schultern zu küssen. Sie schauerten zusammen, von seinem Schnurrbart gekitzelt. Dann tat er, als wolle er einen Teller an seinem Kopf zerschlagen, indem er leicht daraufstieß. Andere machten es ihm nach; die Porzellanstücke flogen umher wie Dachschindeln bei Sturm, und die Lastträgerin rief:
»Geniert euch nicht, es kostet nichts! Der Mann, der sie fabriziert, stellt sie uns zur Verfügung!«
Aller Augen wandten sich auf Arnoux. Er erwiderte:
»Jawohl! aber auf Rechnung, wenn Sie erlauben!«
Offenbar um nicht oder nicht mehr als Liebhaber der Rosanette zu gelten.
Zwei wütende Stimmen erhoben sich plötzlich:
»Dummkopf!«
»Gassenjunge!«
»Ich stehe zu Ihrer Verfügung!«
»Gleichfalls!«
Es waren der mittelalterliche Ritter und der russische Postillon, die sich stritten; dieser hatte behauptet, daß Rüstungen Tapferkeit unnötig machten, und der andre hatte das für eine Beleidigung gehalten. Er wollte sich schlagen, alle legten sich ins Mittel, und mitten in dem Tumult versuchte der Hauptmann, sich Gehör zu verschaffen.
»Meine Herren, hören Sie mich! ein Wort! Ich habe Erfahrung, meine Herren!«
Rosanette schlug mit dem Messer an ihr Glas und erlangte dadurch schließlich Ruhe; dann wandte sie sich an den Ritter, der seinen Helm aufbehielt und darauf an den Postillon mit einer langhaarigen Mütze:
»Stecken Sie vor allem Ihren Bratspieß ein! das regt mich auf! – und Sie da, herunter mit dem Wolfskopf. – Wollen Sie mir wohl gehorchen, zum Donnerwetter! Seht meine Epaulettes! Ich bin eure Marschallin!«
Sie bequemten sich dazu, und alle applaudierten mit dem Ruf:
»Es lebe die Marschallin! es lebe die Marschallin!«
Darauf nahm sie aus dem Kübel eine Flasche Champagner und schenkte ihn hoch von oben in die Schalen, die ihr gereicht wurden. Da der Tisch zu groß war, kamen alle Gäste, besonders die Frauen an ihre Seite, hoben sich auf den Fußspitzen, über die Stuhllehne, wodurch sich eine Minute eine Pyramide von Kopfbedeckungen, nackten Schultern, ausgestreckten Armen, vorgeneigten Körpern bildete, – und dazwischen leuchteten lange Strahlen von Wein, denn Arnoux und der Pierrot ließen an zwei Ecken des Saales jeder eine Flasche auslaufen und bespritzten die Gesichter. Die kleinen Vögel aus der Volière, deren Tür man offen gelassen hatte, erfüllten den Saal und flatterten erschreckt um den Kronleuchter oder schlugen mit den Köpfen gegen die Scheiben und die Möbel; und einige, die sich auf die Köpfe gesetzt hatten, sahen mitten im Haar wie große Blumen aus.
Die Musikanten waren fortgegangen. Das Piano aus dem Vorzimmer wurde hereingezogen. Die Vatnaz setzte sich daran, und von dem Chorknaben, der das Tambourin schlug, begleitet, begann sie einen ungestümen Kontretanz, wobei sie auf die Tasten schlug wie ein stampfendes Pferd und den Körper wiegte, um den Takt besser anzugeben. Die Marschallin zog Frédéric mit sich, Hussonnet schlug Rad, die Lastträgerin verrenkte den Körper wie ein Clown, der Pierrot geberdete sich wie ein Orang-Utang, die Wilde ahmte mit ausgebreiteten Armen die Schwankungen einer Schaluppe nach. Schließlich konnten alle nicht mehr; sie hielten inne, und man öffnete ein Fenster.
Der helle Tag schien mit der Frische des Morgens herein. Ein Ausruf des Staunens ertönte, darauf Stille. Die gelben Flammen der Kerzen flackerten, wobei zuweilen ihre Lichtmanschetten aufleuchteten. Bänder, Blumen, Perlen bedeckten den Fußboden, die Konsolen klebten von Likör und Punschflecken, die Tapeten waren bespritzt, die Kostüme zerknittert, verstaubt; Haarsträhnen hingen auf die Schultern herab und von Schweiß aufgelöste Schminke enthüllte fahle Gesichter mit blinzelnden geröteten Lidern.
Die Marschallin allein hatte, frisch wie nach einem Bade, rosige Wangen und glänzende Augen. Sie warf ihre Perücke weit von sich, und ihre Haare fielen wie ein Vlies um sie, so daß von ihrem ganzen Anzug nichts als die Kniehose zu sehen war, was einen komischen und zugleich reizenden Anblick bot.
Die Sphinx, deren Zähne aufeinander schlugen, brauchte einen Schal.
Rosanette eilte ins Zimmer, um ihn zu holen, und als die andere ihr folgte, schlug sie ihr die Tür heftig vor der Nase zu.
Der Türke bemerkte ganz laut, daß man Monsieur Oudry nicht habe fortgehen sehen. Niemand beachtete diese Bosheit, so ermüdet waren alle.
Dann, während auf die Wagen gewartet wurde, wickelten sich alle in ihre Mäntel und Kapuzen. Es schlug sieben Uhr. Der Engel saß noch immer vor einer Schüssel mit Butter und Sardinen im Saal, und die Fischhändlerin rauchte neben ihm Zigaretten und gab ihm dabei Ratschläge für das Leben.
Endlich waren die Droschken gekommen, und die Gäste gingen. Hussonnet, der als Korrespondent für die Provinz angestellt war, mußte vor seinem Frühstück dreiundvierzig Zeitungen lesen; die Wilde hatte eine Probe am Theater, Pellerin ein Modell, der Chorknabe drei Rendezvous. Aber der Engel konnte sich, von den ersten Symptomen eines verdorbenen Magens befallen, nicht erheben. Der mittelalterliche Baron trug ihn bis zur Droschke.
»Gib acht auf ihre Flügel!« schrie die Lastträgerin durch das Fenster.
Auf dem Flur sagte Mademoiselle Vatnaz zu Rosanette:
»Adieu, meine Liebe! dein Abend war sehr schön.« Dann neigte sie sich zu ihrem Ohre:
»Behalte ihn!«
»Bis auf bessere Zeiten,« erwiderte die Marschallin langsam und wandte sich um.
Arnoux und Frédéric gingen zusammen, wie sie gekommen waren. Der Fayencehändler hatte ein so düsteres Aussehen, daß Frédéric glaubte, er sei nicht wohl.
»Ich? Nicht im geringsten!«
Er kaute an seinem Schnurrbart, runzelte die Brauen, und Frédéric fragte ihn, ob seine Geschäfte ihm Sorge machten.
»Keineswegs!«
Dann plötzlich sagte er:
»Sie kennen ihn, den alten Oudry, nicht wahr?«
Und in einer Anwandlung von Groll:
»Er ist reich, der alte Lump!«
Darauf sprach er von einem wichtigen Brennen, das heute in seiner Fabrik beendet werden sollte. Er wollte es sehen. Der Zug ging in einer Stunde. »Ich muß aber erst meine Frau begrüßen.«
»Ach, seine Frau!« dachte Frédéric.
Dann legte er sich mit einem unerträglichen Schmerz im Hinterkopf zu Bett und trank eine Karaffe Wasser, um seinen Durst zu löschen.
Es erwachte ein anderer Durst in ihm, der Durst nach Weibern, nach Luxus und allem, was das Pariser Leben mit sich bringt. Er fühlte sich ein wenig benommen, wie ein Mensch, der ein Schiff verläßt; und in der Halluzination des ersten Schlafes sah er fortwährend die Schultern der Fischhändlerin, die Lenden der Lastträgerin, die Waden der Polin, das Haar der Wilden an sich vorüberziehen. Dann erschienen ihm zwei große schwarze Augen, die nicht auf dem Balle waren; und leicht wie Schmetterlinge, feurig wie Fackeln, kamen sie und gingen, flatterten, stiegen bis zur Decke empor und herab bis zu seinem Munde. Frédéric strengte sich an, diese Augen zu erkennen, ohne daß es ihm gelang. Aber schon hatte der Traum ihn umfangen; ihm war, als ob er mit Arnoux an die Deichsel einer Droschke gespannt wäre und die Marschallin, die rittlings auf ihm saß, ihn mit ihren goldenen Sporen ritzte.