Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Wenn sie an der Kirchentüre das Knie gebeugt hatte, schritt sie durch das hohe Schiff im Gang zwischen den Sitzreihen, öffnete Frau Aubains Bank, setzte sich hin und ließ den Blick umherschweifen.
Die Chorstühle rechts waren voller Knaben, die links voller Mädchen. Der Pfarrer stand am Pult. Auf einem Fenster der Apsis schwebte der Heilige Geist über der Jungfrau; auf einem andern kniete sie vor dem Jesuskind, und hinter dem Sakramentshäuschen stand der Erzengel Michael im Kampfe mit dem Drachen, in Holz geschnitzt.
Der Geistliche erzählte erst aus der Biblischen Geschichte. Sie glaubte das Paradies zu schauen, die Sündflut, den Turm zu Babel, brennende Städte, sterbende Völker, umgestürzte Götterbilder, und von diesem Gesicht verblieb ihr Ehrfurcht vor dem Allerhöchsten und Furcht vor seinem Zorn. Dann hörte sie unter Tränen die Leidensgeschichte an. Warum hatte man ihn gekreuzigt, ihn, der die Kinder liebkoste, das Volk speiste, die Blinden heilte und in seiner Demut mitten unter den Armen, auf der Streu eines Stalles, hatte geboren werden wollen? Die Aussaat, die Ernte, das Keltern, alle diese vertrauten Verrichtungen, von denen das Evangelium spricht, fanden sich auch in ihrem Dasein. Das Auge Gottes hatte darauf geruht und sie seitdem geheiligt. Und zärtlicher denn je liebte sie fortan die Lämmer aus Liebe zum Lamme Gottes und die Tauben um des Heiligen Geistes willen.
Es fiel ihr schwer, sich ihn leibhaft vorzustellen; denn er war nicht nur ein Vogel, sondern auch ein Feuer und zu andern Malen ein Windeshauch. Vielleicht war es sein Licht, das nachts am Rande des Moors flackert; sein Atem, der die Wolken treibt; seine Stimme, die in der Glocken Klang erschallt. Und sie verharrte in Andacht und genoß die Kühle der Mauern und die Stille der Kirche.
Von den Dogmen begriff sie nichts, gab sich auch gar keine Mühe, etwas zu verstehn. Der Pfarrer predigte. Die Kinder sagten her. Schließlich schlief sie ein und fuhr erst jäh auf, wenn die Holzschuhe der weggehenden Kinder auf den Fliesen klapperten.
Auf diese Weise, vom Anhören, lernte sie den Katechismus, denn sie selber hatte als Kind keinen religiösen Unterricht erhalten. Nun aber machte sie alle die frommen Dinge nach, die Virginia tat, fastete wie sie, ging zur Beichte mit ihr. Zu Fronleichnam richteten sie zusammen eine Station her.
Virginias erste Kommunion brachte sie schon lange zuvor um alle Ruhe. Die Schuhe, der Rosenkranz, das Gebetbuch, die Handschuhe bereiteten ihr Sorgen. Und sie zitterte, als sie der Mutter das junge Mädchen ankleiden half.
Während der ganzen Messe war sie beklommen. Herr Bourais verdeckte ihr eine Seite des Chors; aber geradeaus vor ihr stand die Schar der Jungfrauen mit ihren weißen Kränzen über den lang herabhängenden Schleiern. Das sah wie ein Schneefeld aus; und sie erkannte von weitem die liebe Kleine an dem zierlicheren Hals und an der andächtigen Haltung. Das Glöckchen bimmelte. Die Köpfe neigten sich. Es ward ganz still. Dann rauschte die Orgel, und die Sänger und die Gemeinde stimmten das »Agnus Dei« an. Dann traten die Knaben der Reihe nach vor, und nach ihnen standen die Mädchen auf. Schritt vor Schritt, mit gefalteten Händen, zogen sie vor den über und über erleuchteten Altar, knieten auf der ersten Stufe nieder, empfingen eins nach dem andern die Hostie und kamen in derselben Reihenfolge zu ihren Betstühlen zurück. Als Virginia daran kam, beugte sich Felicitas vor, um sie zu sehen; und kraft der Phantasie, die wahre Liebe dem Menschen verleiht, kam es ihr vor, als sei sie selber das Kind dort. Sein Leib wurde der ihre; sie trug sein Kleid; sein Herz schlug in ihrer Brust. Und als es die Lippen öffnete, mußte sie die Augen schließen und wäre beinahe ohnmächtig geworden.
Am nächsten Morgen erschien sie zu früher Stunde in der Sakristei, damit der Herr Pfarrer auch ihr das Abendmahl reiche. Sie empfing es andächtig, empfand aber nicht jene Wonnen wie am Tage zuvor.
Frau Aubain wollte ihre Tochter nach jeder Richtung hin ausbilden lassen, und da ihr Guyot weder das Englische beibringen noch ihr Musikstunden geben konnte, so beschloß sie, sie zu den Ursulinerinnen nach Honfleur zu geben.
Das Mädchen wandte nichts dagegen ein. Felicitas seufzte; sie fand die gnädige Frau gefühllos. Später meinte sie, ihre Herrin habe vielleicht doch recht. Dergleichen ging über ihre Begriffe.
Eines Tages endlich hielt ein alter Kremser vor der Tür; und heraus stieg eine Nonne, die das gnädige Fräulein abzuholen kam. Felicitas hob das Gepäck auf das Wagenverdeck, trug dem Kutscher verschiedenes auf und packte sechs Töpfe mit eingemachten Früchten, ein Dutzend Birnen und einen Veilchenstrauß in den Sitzkasten.
Im letzten Augenblick begann Virginia heftig zu schluchzen. Sie umarmte die Mutter; und die küßte sie auf die Stirn und sagte mehrmals:
»Geh nun! Mut! Mut!«
Der Tritt wurde aufgeklappt; der Wagen fuhr ab.
Hinterher hatte Frau Aubain einen Ohnmachtsanfall, und am Abend kamen alle ihre Freunde, die Familie Lormeau, Frau Lechaptois, die Fräuleins Rochefeuille, Herr von Houppeville und Bourais, um sie zu trösten.
Die Trennung von ihrer Tochter war ihr anfangs sehr schmerzlich. Aber dreimal in der Woche kam ein Brief; und an den andern Tagen schrieb sie ihr, wandelte im Garten auf und ab, las ein wenig und füllte so die Leere der Stunden.
Aus Gewohnheit ging Felicitas am Morgen in Virginias Stube und starrte die Wände an. Es war ihr gräßlich, daß sie ihr nicht mehr das Haar zu kämmen, die Schuhe zu schnüren, sie zu Bett zu bringen hatte, und daß sie nicht mehr beständig ihr reizendes Gesicht sah, sie nicht mehr an der Hand hielt wie ehedem, wenn sie zusammen ausgingen. Um nicht müßig zu sein, versuchte sie zu klöppeln. Ihre Finger waren zu schwer und zerrissen das Garn. Sie taugte zu nichts mehr, hatte den Schlaf verloren; sie hatte, wie sie sich ausdrückte, einen »Knacks« bekommen.
Um sich zu »zerstreuen«, bat sie um die Erlaubnis, daß ihr Neffe Viktor sie besuchen dürfe.
Am Sonntag nach der Messe kam er, mit roten Backen, die Brust bloß, umweht vom Duft der Felder, durch die er gewandert war. Sofort deckte sie für ihn. Sie frühstückten, einander gegenübersitzend, und während sie selber möglichst wenig aß, um die Mehrausgabe wieder einzubringen, stopfte sie ihn dermaßen voll, daß er zuletzt einschlief. Beim ersten Schlag des Vesperläutens weckte sie ihn, bürstete ihm die Hosen, knüpfte ihm die Halsbinde und ging mit ihm, in einer Art Mutterstolz auf seinen Arm gestützt, zur Kirche.
Seine Eltern gaben ihm stets den Auftrag mit, ihr etwas abzuknöpfen, etwa ein Päckchen Zucker, oder Seife, Schnaps, manchmal sogar Geld. Er brachte seine Leibwäsche zum Ausbessern, und Felicitas besorgte diese Arbeit, froh darüber, daß ihn dies zum Wiederkommen veranlagte.
Im August nahm ihn sein Vater auf die Küstenfahrt mit.
Es waren gerade Ferien. Die Ankunft der Kinder tröstete sie. Aber Paul war launisch, und Virginia durfte nicht mehr geduzt werden, was ihrem Verkehr Zwang antat, eine Schranke zwischen sie setzte.
Viktor fuhr nacheinander nach Morlaix, nach Dünkirchen und nach Brighton. Jedesmal, wenn er zurückkam, brachte er ihr ein Geschenk mit: das erstemal ein Muschelkästchen, das zweitemal eine Kaffeetasse, das drittemal einen großen Pfefferkuchenmann. Er wurde hübsch, war gut gewachsen, bekam einen Anflug von Schnurrbart, hatte treuherzige offene Augen und trug ein Lederhütchen, das er wie ein Lotse im Nacken sitzen hatte. Er erzählte ihr ergötzliche Geschichten, die von seemännischen Ausdrücken wimmelten.
An einem Montag, am 12. Juli 1819 (sie vergaß das Datum ihr Lebelang nicht), teilte ihr Viktor mit, daß er für eine lange Fahrt geheuert sei und in der übernächsten Nacht mit dem Paketboot von Honfleur nach Le Havre zu seinem Schoner abgehen werde, der demnächst seine Reise antrete. Er werde etwa zwei Jahre ausbleiben.
Daß sie ihn so lange nicht sehen sollte, versetzte Felicitas in großen Kummer. Um ihm ein letztes Lebewohl zu sagen, zog sie am Mittwoch abend, nachdem die gnädige Frau gegessen hatte, ihre Überschuhe an und lief die drei Meilen von Pont-l'Évêque nach Honfleur.
Am Kalvarienberg wandte sie sich statt nach links nach rechts, verirrte sich in den Lagerplätzen und mußte umkehren. Leute, die sie fragte, sagten, sie solle sich beeilen. Sie ging rund um den Hafen mit seinen vielen Schiffen; stolperte über Taue. Dann senkte sich der Boden. Lichter schimmerten kunterbunt durcheinander; und als sie Pferde am Himmel hängen sah, glaubte sie verrückt geworden zu sein.
Am Rande des Hafendammes wieherten auch welche, erschreckt durch die See. Ein Kran hob sie in die Höhe und ließ sie in ein Schiff hinab, wo sich zwischen Obstweinfässern, Käsekörben, Getreidesäcken Fahrgäste drängten. Man hörte Hühner gackern. Der Kapitän fluchte; und ein Schiffsjunge lehnte am Ankerbalken, die Ellbogen aufgestützt, unbekümmert um all das. Felicitas, die ihn nicht gleich erkannt hatte, rief: »Viktor!« Er hob den Kopf; sie stürzte nach ihm hin – und im selben Augenblick ward die Brücke weggezogen.
Das Paketboot wurde von Frauen, die dabei sangen, aus dem Hafen getreidelt. Seine Rippen krachten; die schweren Wogen peitschten seinen Bug. Das Segel hatte sich gedreht. Man sah niemanden mehr. ... Auf dem mondsilbrigen Meere schwamm ein schwarzer Fleck, der immer blasser ward, immer tiefer tauchte und schließlich verschwand.
Als Felicitas wieder am Kreuzberg vorüberkam, kam es ihr in den Sinn, ihn, den sie am meisten auf der Welt liebte, den lieben Gott anzuflehen. Lange stand sie da und betete, das Gesicht in Tränen gebadet, den Blick in den Wolken. Die Stadt schlief. Zollwächter wandelten auf und ab; und ohne Unterlaß, brausend wie ein Wildbach, stürzte das Wasser aus den Löchern der Schleusen. Es schlug zwei Uhr.
Das Sprechzimmer bei den Nonnen wurde vor Tagesanbruch nicht geöffnet. Ein längeres Ausbleiben wäre der gnädigen Frau sicherlich nicht recht, und so machte sie sich auf den Heimweg, trotz aller Sehnsucht, ihren Liebling zu umarmen. Die Mägde im Gasthofe standen eben auf, als sie in Pont-l'Évêque ankam.
Der arme Junge sollte also monatelang auf den Wellen treiben! Seine früheren Fahrten hatten sie nicht in Besorgnis versetzt. Aus England und der Bretagne kam man wieder; aber Amerika, die Kolonien, die Antillen, das lag in verlorenen Regionen am anderen Ende der Welt.
Fortan dachte Felicitas immer nur an ihren Neffen. Brannte die Sonne, so meinte sie, der Durst müsse ihn quälen; witterte es, so fürchtete sie, der Blitz könne ihn erschlagen. Wenn sie hörte, wie der Wind im Schornstein heulte und die Schiefer vom Dache losriß, sah sie ihn im selben Unwetter, hoch auf einem zerbrochenen Maste, ganz hintenübergestreckt, vom Gischt überflutet; oder er wurde – eine Erinnerung an das Geographiebuch mit den Kupferstichen! – von den Wilden gefressen, im Walde von Affen verschleppt, oder er verschmachtete an ödem Gestade. Aber niemals sprach sie von ihren Kümmernissen.
Frau Aubain hatte andre Sorgen: um ihre Tochter.
Die guten Schwestern fanden, sie sei lieb und gut, aber zart. Die geringste Erregung schadete ihr. Das Klavierspiel mußte sie aufgeben.
Die Mutter bekam vom Kloster regelmäßig Bericht. Als eines Morgens der Briefträger nicht gekommen war, geriet sie in Unruhe. Sie ging in der Großen Stube hin und her, immer von ihrem Großvaterstuhle bis zum Fenster. Es war unbegreiflich. Seit vier Tagen keine Nachricht!
Um sie durch Beispiel zu trösten, sagte Felicitas:
»Ich, gnädige Frau, ich habe nun sechs Monate keine!«
»Von wem denn? ...«
Leise erwiderte die Magd:
»Nu ... von meinem Neffen!«
»Ach, dein Neffe!«
Frau Aubain zuckte mit den Achseln und begann von neuem auf und ab zu gehen; was soviel heißen sollte wie: »Was schert mich der? An den denke ich gar nicht! Ein Schiffsjunge! Ein Strolch! Große Sache! Meine Tochter dagegen ... Bedenke doch!«
Felicitas war an Roheit gewöhnt, aber das empörte sie. Und doch vergaß sie es wieder.
Es schien ihr ganz natürlich, daß man wegen der Kleinen den Kopf verlor.
Die beiden Kinder waren ihr gleich wert; mit beiden fühlte sie sich durch Herzensbande verbunden; beider Schicksal war auch das ihre.
Der Apotheker teilte ihr mit, daß Viktors Schiff in der Havanna angekommen sei. Er hatte die Nachricht in einer Zeitung gelesen.
Wegen der Zigarren stellte sie sich die Havanna als ein Land vor, wo man nichts tat als rauchen; und so dachte sie sich ihren Viktor in einer Tabakwolke unter Negern lustwandeln. Konnte man von dort im »Notfalle« auf dem Landwege zurück? Und wie weit war das von Pont l'Évêque? Um dies zu erfahren, wandte sie sich an Herrn Bourais.
Der holte seinen Atlas hervor, begann ihr zunächst den Begriff der Längengrade beizubringen, und wie er Felicitas höchlichst verdutzt sah, lächelte er fein schulmeisterlich. Schließlich zeigte er mit seinem Bleistift innerhalb der Umrisse eines länglichen Flecks auf einen schwarzen, kaum erkennbaren Punkt und sagte: »Da ist's!« Sie beugte sich über die Karte. Der angetuschte Wirrwarr von Strichen ermüdete ihre Augen, ohne ihr etwas zu sagen, und als Bourais sie fragte, was sie eigentlich möchte, bat sie ihn, er solle ihr das Haus zeigen, wo Viktor wohne. Bourais erhob die Arme, nieste und brach in ein Riesengelächter aus. Derartige Einfalt erregte seine Heiterkeit, während Felicitas nicht verstand, warum er lachte. Sie hatte vielleicht gar erwartet, das Bild ihres Neffen gezeigt zu bekommen. So beschränkt war ihr Verstand!
Vierzehn Tage später ereignete es sich, daß Liébard wie gewöhnlich zur Marktzeit zu ihr in die Küche kam und ihr einen Brief von ihrem Schwager übergab. Da keines von beiden lesen konnte, nahm sie ihre Zuflucht zu ihrer Herrin.
Frau Aubain zählte eben die Maschen eines Strickstrumpfes, legte ihn beiseite, machte den Brief auf, fuhr zusammen und sagte mit leiser Stimme und geheimnisvollem Blick:
»Es wird dir da ein Unglück mitgeteilt. Dein Neffe ...«
Er war tot. Mehr ward ihr nicht berichtet.
Felicitas sank auf einen Stuhl, drückte den Kopf an die Wand und schloß die Lider, die mit einemmal rot wurden. Dann senkte sie die Stirn, ließ die Hände hängen und wiederholte, starr vor sich hinblickend, von Zeit zu Zeit:
»Armes Kerlchen! Armes Kerlchen!«
Liébard sah sie an und seufzte. Frau Aubain zitterte leicht.
Sie schlug ihr vor, ihre Schwester in Trouville aufzusuchen.
Felicitas antwortete durch eine Gebärde, das sei nicht nötig.
Eine Weile redete niemand. Der treffliche Liébard hielt es für angemessen, sich zu entfernen.
Da sagte sie:
»Denen ist das gleich!«
Der Kopf fiel ihr zurück; und mechanisch hob sie ab und zu die langen Nadeln in die Hand, die auf dem Nähtische lagen.
Im Hof gingen Frauen mit einer Trage vorbei, auf der Wäsche triefte.
Sie sah das durch die Scheibe und erinnerte sich ihrer Wäsche. Sie hatte sie gestern eingeweicht und mußte sie heute spülen. Da verließ sie das Zimmer.
Ihr Brett und ihr Waschfaß standen am Ufer der Toucques. Sie warf einen Haufen Hemden auf die Böschung, krämpelte sich die Ärmel auf, ergriff den Bleuel, und ihre starken Schläge hallten in den umliegenden Gärten wieder. Die Wiesen waren verlassen. Der Wind kräuselte die Flut; in ihrem Grunde trieben lange Grasbüschel wie Haar von Leichen. Sie unterdrückte ihren Schmerz und hielt sich tapfer bis zum Abend. Aber dann in ihrer Kammer ergab sie sich ihm, warf sich lang hin auf die Matratze, preßte das Gesicht ins Kissen und preßte beide Fäuste an die Schläfen.
Erst lange darnach erfuhr sie, durch Viktors Kapitän, die näheren Umstände seines Todes. Er war am Gelben Fieber erkrankt, und man hatte ihn im Krankenhaus zu stark zur Ader gelassen. Vier Ärzte hatten ihn gehalten. Er war sogleich gestorben, und der Chefarzt hatte gesagt:
»Schön! Wieder einer!«
Seine Eltern hatten ihn immer schlecht behandelt. Sie wollte sie lieber nicht sehen; und sie wiederum kamen ihr nicht entgegen, sei es aus Vergeßlichkeit, sei es aus der Verhärtung, die das Unglück mit sich bringt.
Virginia wurde schwächer und schwächer.
Beklemmungen, Husten, beständiges Fieber und rote Flecken auf den Wangen verrieten eine tiefere Erkrankung. Herr Poupart riet zu einem Aufenthalt in der Provence. Frau Aubain entschloß sich dazu und hätte Virginia sofort nach Hause genommen, wenn das Klima von Pont-l'Évêque nicht zu rauh gewesen wäre.
Sie traf ein Abkommen mit einem Wagenvermieter, der sie nun an jedem Dienstag nach dem Kloster fuhr. Von einer Terrasse im Garten war die Seine zu sehen. Dort ging Virginia am Arme der Mutter über gefallenes Weinlaub auf und nieder. Man sah die Segel in der Ferne und den ganzen Himmelsrand vom Schloß Tancarville bis zu den Leuchttürmen von Le Havre. Manchmal, wenn die Sonne durch die Wolken brach, mußte sie die Lider halb schließen. Später wurde in der »Laube« gerastet. Die Mutter hatte ein Fäßchen vorzüglichen Malaga angeschafft. Mit dem Scherz, sie werde sich berauschen, trank die Kranke einen Schluck, aber nicht mehr.
Sie kam etwas zu Kräften. Der Herbst ging gemächlich hin. Felicitas sprach Frau Aubain Mut ein. Aber eines Abends, als sie in der Nachbarschaft eine Besorgung gemacht hatte, fand sie Herrn Pouparts Dogcart vor der Tür; er selber stand im Flur. Frau Aubain band ihren Hut.
»Bring Sie mir meine Wärmflasche, meine Börse, meine Handschuhe! Rasch, rasch!«
Virginia hatte Lungenentzündung. Ob es hoffnungslos wäre?
»Noch nicht!« sagte der Arzt; und die beiden stiegen in wirbelndem Schneegestöber in den Wagen. Die Nacht brach an. Es war bitterkalt.
Felicitas lief in die Kirche, um eine Kerze anzuzünden. Dann rannte sie dem Wagen nach, erreichte ihn in einer Stunde, sprang flink hintenauf und hielt sich an den Federn fest. Plötzlich kam ihr der Gedanke: »Der Hof ist nicht abgesperrt! Wenn Diebe kämen!« Und sie sprang wieder ab.
Am andern Morgen, bei Tagesanbruch, begab sie sich zum Doktor. Er war bereits zu Haus gewesen und wieder aufs Land gefahren. Dann hielt sie sich im Gasthof auf, weil sie sich einbildete, Fremde würden ihr einen Brief bringen. Schließlich, schon gegen Abend, stieg sie in die Post nach Lisieux.
Das Kloster lag am Ende einer abschüssigen Gasse. Als sie in der Mitte war, hörte sie seltsame Klänge, Totengeläut.
»Das ist für jemand anders!« dachte sie und ließ heftig den Klopfer schlagen.
Nach ein paar Minuten schlürften Schlappschuhe heran. Die Tür ging halb auf, und eine Nonne erschien.
Die gute Schwester sagte in trübseligem Tone: »Sie ist eben verschieden!«
Zugleich setzte das Glöcklein von Sankt Leonhard doppelt laut ein.
Felicitas ging die Treppe hinauf.
Schon an der Schwelle des Zimmers sah sie Virginia liegen, auf dem Rücken, die Hände gefaltet, den Mund offen und den Kopf hintenüber, unter einem schwarzen Kreuz, das sich über sie neigte, und zwischen starren Gardinen, die weniger weiß waren als ihr Gesicht. Frau Aubain kniete zu Füßen des Bettes, hielt es mit den Armen umklammert und schluchzte krampfhaft. Die Oberin stand zur Rechten. Drei brennende Kerzen auf der Kommode schimmerten wie rote Flecke, und vor den Fenstern wallte weißer Nebel. Nonnen führten Frau Aubain hinaus.
Zwei Nächte lang wich Felicitas nicht von der Toten. Sie betete immer wieder von neuem dieselben Gebete, sprengte Weihwasser auf das Bett, setzte sich wieder und schaute sie an. Am Ende der ersten Nachtwache bemerkte sie, daß das Gesicht gelb geworden war, die Lippen blau, daß sich die Nase zuspitzte und die Augen einsanken. Sie küßte sie mehrere Male, und sie wäre gar nicht weiter verwundert gewesen, wenn Virginia sie wieder aufgeschlagen hätte. Für ein solch Gemüt ist das Übernatürliche ureinfach. Sie kleidete sie an, hüllte sie in ihr Totenhemd, legte sie in den Sarg, setzte ihr einen Kranz auf und löste ihr das Haar. Es war blond und ungemein lang. Felicitas schnitt sich eine dicke Strähne ab und steckte die Hälfte davon in ihren Busen, entschlossen, sich nie davon zu trennen.
Der Sarg Wurde nach Pont-l'Évêque überführt. So hatte es Frau Aubain angeordnet. Sie folgte dem Leichenwagen in einer geschlossenen Kutsche.
Nach der Messe ging es auf den Friedhof. Man brauchte dreiviertel Stunden dahin. Paul eröffnete den Zug. Er schluchzte. Herr Bourais folgte ihm; dann kamen die angesehensten Einwohner, die Frauen in schwarzen Schleiern. Zuletzt Felicitas. Sie dachte an ihren Neffen, und da sie ihm die letzte Ehre nicht hatte erweisen können, war ihre Trübsal doppelt groß, als begrübe man beide zugleich.
Frau Aubains Verzweiflung war grenzenlos.
Zuerst klagte sie Gott an, nannte es Ungerechtigkeit, daß er ihr die Tochter genommen, ihr, die nie etwas Böses getan habe, deren Gewissen so rein sei! Aber nein! Sie hätte sie nach dem Süden bringen sollen. Andere Ärzte hätten sie gerettet! Sie machte sich Vorwürfe, wollte ihr folgen, schrie in ihren Träumen vor Angst auf. Einer vor allem quälte sie. Ihr Mann, in Matrosentracht, kehrte von einer langen Seefahrt zurück und sagte ihr unter Tränen, daß er den Auftrag habe, Virginia mitzunehmen. Dann beratschlagten sie miteinander, um ein Versteck für sie ausfindig zu machen.
Einmal kam sie ganz verstört aus dem Garten ins Haus zurück. Eben waren ihr – und sie zeigte die Stelle – Vater und Tochter erschienen, eins neben dem anderen. Sie hatten nichts getan, sie nur angeblickt.
Während mehrerer Monate blieb sie teilnahmlos in ihrem Zimmer. Felicitas redete ihr sanft zu. Sie müsse sich erhalten, ihrem Sohne zuliebe und auch zu »ihrem« Gedächtnis.
»Ihrem?« wiederholte Frau Aubain, als erwache sie aus einem Traum. »Ach! Das besorgst du ja! Du vergißt sie nicht!«
Damit meinte sie den Friedhof, den zu besuchen ihr aufs strengste untersagt war.
Felicitas pilgerte Tag für Tag hin.
Schlag vier Uhr ging sie die Häuser entlang, erstieg die Anhöhe, öffnete das Gittertor und trat vor Virginias Grab. Das war eine kleine Säule aus hellrotem Marmor, eine Platte darunter, davor ein von Ketten umfriedetes Gärtchen. Die Steine der Gruft verschwanden unter Blumen. Sie begoß die Pflanzen, streute frischen Sand auf, kniete nieder, um die Erde besser lockern zu können. Für Frau Aubain war es eine Erleichterung, eine Art Trost, als sie selber hingehen durfte.
Dann verstrichen die Jahre, eins wie das andere, ohne andere Ereignisse als die Wiederkehr der großen Feste: Ostern, Himmelfahrt, Allerheiligen. Häusliche Geschehnisse gaben Daten ab, auf die man sich später bezog. So verkitteten 1825 zwei Glaser die Fenster im Flur; 1827 stürzte ein Stück vom Dach in den Hof und hätte beinahe einen Mann erschlagen. Im Sommer 1828 hatte die gnädige Frau das »Heilige Brot« zu spenden. Seit dieser Zeit unternahm Bourais geheimnisvolle Reisen, und die alten Bekannten traten eines nach dem anderen vom Schauplatz ab: Guyot, Liébard, Frau Lechaptois, Robelin, der Onkel Gremanville, der seit langem vom Schlage gelähmt war.
Eines Nachts brachte der Postschaffner nach Pont-l'Évêque die Nachricht von der Juli-Revolution (1830). Wenige Tage darnach wurde ein neuer Unterpräfekt ernannt: der Baron von Larsonnière, der Konsul in Amerika gewesen war und außer seiner Frau seine Schwägerin mit drei schon ziemlich großen Töchtern mitbrachte. Man sah sie in flatternden Blusen auf ihrem Rasenplatz. Sie hatten einen Neger und einen Papagei. Frau Aubain empfing ihren Besuch und verfehlte nicht, ihn zu erwidern. Wenn sie sich von ferne zeigten, meldete Felicitas es schleunigst ihrer Herrin. Aber nur eines vermochte sie zu erregen: die Briefe ihres Sohnes.
Er kam nicht dazu, sich einem Berufe zu widmen, weil ihn die Wirtshäuser in Beschlag nahmen. Sie bezahlte seine Schulden; er machte neue. Und wenn Frau Aubain am Fenster bei ihrem Strickzeug seufzte, konnte es Felicitas, die in der Küche ihr Spinnrad drehte, hören.
Sie gingen zusammen am Spalier auf und ab und sprachen immer von Virginia. Sie fragten einander, ob dies oder jenes ihr gefallen hätte; was sie bei der oder jener Gelegenheit wohl gesagt haben würde.
Ihre kleine Hinterlassenschaft war im Stübchen mit den zwei Betten in einem Wandschrank untergebracht. Frau Aubain sah so selten wie möglich nach. Eines Sommertags bequemte sie sich dazu – und Schmetterlinge flogen aus dem Spind.
Virginiens Kleider hingen aneinandergereiht unter einem Brett, worauf drei Puppen, Spielreifen, ein Besteck und der Napf, den sie in Gebrauch gehabt, ihren Platz hatten. Sie nahmen auch die Unterröcke, die Strümpfe, die Taschentücher vor und breiteten sie auf den beiden Betten aus, ehe sie sie wieder zusammenlegten. Die Sonne schien auf diese armseligen Sachen und zeigte die Flecken und Falten, die sich durch die Körperbewegungen gebildet hatten. Die Luft war warm und blau. Eine Amsel zwitscherte. Ringsum war wonniger Frieden. Sie fanden einen kleinen Hut aus langhaarigem kastanienbraunem Plüsch; aber er war ganz von Motten zerfressen. Felicitas bat ihn sich aus. Beider Augen blickten starr ineinander und füllten sich mit Tränen. Da öffnete die Herrin die Arme, und die Magd warf sich hinein; sie umschlangen sich und stillten ihren Schmerz in einem Kuß, der sie einander gleich machte.
Das war das erstemal in ihrem Leben, denn Frau Aubain war keine mitteilsame Natur. Felicitas war ihr dafür dankbar wie für eine Wohltat und liebte sie von da an mit der Treue eines Hundes und in frommer Verehrung.
Ihre Herzensgüte entfaltete sich.
Wenn sie auf der Straße die Trommeln eines durchmarschierenden Regiments vernahm, trat sie vor die Türe mit einem Krug Apfelwein und gab den Soldaten zu trinken. Sie pflegte Cholerakranke. Sie nahm sich polnischer Flüchtlinge an, und einer von ihnen erklärte sogar, er wolle sie heiraten. Aber sie entzweiten sich; denn eines Morgens, als sie von Angelus heimkam, fand sie ihn in ihrer Küche, wo er sich eingeschlichen hatte, bei einer Schüssel kalter Essigtunke, die er in Gemütsruhe auslöffelte.
Nach dem Polen kam Vater Colmiche, ein alter Mann, von dem es hieß, er habe Anno 93 Schandtaten verübt. Er lebte am Ufer des Flusses in einem verfallenen Schweinekoben. Die Gassenjungen belauerten ihn durch die Risse im Mauerwerk und warfen Steine hinein, die auf sein erbärmliches Bett fielen. Dort lag er, von beständigem Katarrh geschüttelt, mit überlangem Haar, entzündeten Lidern und einer Geschwulst am Arm, die größer war als sein Kopf. Sie versah ihn mit Wäsche, reinigte seinen Stall, so gut es ging, und träumte davon, ihn in der Backstube unterzubringen, ohne daß er die gnädige Frau belästige. Als das Geschwür aufgegangen war, verband sie ihn Tag für Tag, brachte ihm manchmal Kuchen, setzte ihn auf ein Bund Stroh in die Sonne, und der arme Alte dankte ihr sabbernd und zitternd mit seiner erloschenen Stimme. Vor Angst, sie zu verlieren, streckte er die Hände aus, sowie er sie fortgehen sah. Er starb. Sie ließ eine Messe für die Ruhe seiner Seele lesen.
Am nämlichen Tage widerfuhr ihr ein großes Glück. Zur Essenszeit erschien der Neger der Frau von Larsonnière und brachte den Papagei im Käfig, dazu die Stange, die Kette und das Schloß. Ein Briefchen der Baronin vermeldete Frau Aubain, daß ihr Mann eine Präfektur bekommen habe und sie am Abend den Ort zu verlassen gedächten. Sie bat, den Vogel als Andenken und Zeichen ihrer Hochschätzung annehmen zu wollen.
Felicitas hatte sich in Gedanken schon seit langem mit dem Vogel beschäftigt. Er war aus Amerika, und dieses Wort erinnerte sie so sehr an Viktor, daß sie sich von dem Neger davon erzählen ließ. Einmal hatte sie sogar gesagt: »Die gnädige Frau wäre glücklich, wenn der Papagei ihr gehörte!«
Der Schwarze hatte dieses Gespräch seiner Herrin berichtet, und da sie das Tier sowieso nicht mitnehmen konnte, entledigte sie sich seiner auf diese Weise.