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Die ersten Arbeiten zum Antonius fallen in die Zeit nach der bretonischen Reise, ins Jahr 1849. Durch die Orientreise unterbrochen, in den Jahren 1856, 1859, 1869 und 1870/71 wieder aufgenommen und mühsam umgeformt, gelangt das Werk endlich im Herbst 1872 zur Vollendung. Aber es bleibt noch in der Schublade liegen, Flaubert wagt nicht, es zu veröffentlichen. Erst April 1874 erscheint es bei Charpentier.
Die »Versuchung« ist also ein Lebenswerk, man könnte es (auch aus anderen Gründen) Flauberts Faust, gewissermassen seinen Faust II. Teil, nennen. Es enthält, wie jenes Werk, eine Überfülle von gelehrtem, sich häufenden Material wissenschaftlichen und philosophischen Inhalts, das mitunter nur mit einer scheinbar leicht übergeworfenen künstlerischen Maske versehen, dem Leser viel zu denken gibt, aber nicht immer durch den Schwung ursprünglicher Dichterkraft hinreißt, das sogar bisweilen ermüdet. So glaubt man wohl unter den Reden der Heresiarchen, unter den Selbstbiographien all der Götter, Zauberer, Heiligen und Ungetiere das wissenschaftliche Gerüst des gesammelten Materials noch leise wahrnehmen zu können, ähnlich wie in »Bouvard und Pécuchet«. Trotz alledem steht Flauberts Werk ohnegleichen in der Weltliteratur als Gebilde einer unerhört phantastischen Gestaltungskraft, als eine wunderbare Mischung von klarster Realität und tiefer, klingender Poesie.
Flaubert war im Antonius – wie in Salammbo und der Herodias – bestrebt, durch die schärfste wissenschaftliche Analyse, durch das dichterisch-visionäre Betrachten der heute noch wenig veränderten Gegenden, Gebräuche, Menschentypen des Orients und durch Abstreifen aller herkömmlichen historischen Anschauungsweisen dem wahren Geiste jener Zeiten so nahe zu kommen, daß er sich zu einer neuen Wirklichkeit, zu einer Art Kulturgeschichte von suggestivster Darstellungskunst verkörpern mußte.
Das Werk klingt in eine Art monistischen Pantheïsmus aus, der sich mit dem Katholizismus verschmilzt. Ob unsere heutige religiöse Anschauung durch diese Lösung befriedigt wird, ist zweifelhaft. Für die allein in Frage kommende künstlerische Bedeutung des Werkes ist dieser Einwand völlig belanglos.
Im Nachfolgenden bringe ich die Briefstellen aus Flauberts Korrespondenz, welche Bezug nehmen auf den hl. Antonius. Sie werden am besten die Entwicklung der Arbeit vor Augen führen.
Frankfurt am Main, Juni 1921.
Hermann Lismann.
*
An Alfred Le Poittevin, 13. 5. 1845 (24 Jahre).
Ich habe ein Bild von Breughel gesehen, welches die Versuchung des hl. Antonius darstellt und mich auf den Gedanken brachte, dieselbe für das Theater zu bearbeiten, aber das verlangt nach einem anderen als ich bin.
An M me. Louise Collet, August 1846.
Ich habe meine Versuchung des hl. Antonius (Kupferstich von Callot) ausgepackt und an der Wand befestigt ... Ich liebe dieses Werk sehr. Seit langem habe ich es mir gewünscht. Das Traurig-Groteske hat für mich einen unerhörten Reiz; es entspricht den geheimsten Ansprüchen meiner lustig-bitteren Natur. Es macht mich nicht lachen, aber reichlich träumen ....
An Parain, Mai 1849.
... ich habe meinen verflixten St. Antonius noch nicht beendet (er dauert ewig, der Schweinekerl, obwohl ich darüber abmagere).
An denselben.
Ich arbeite immer noch an meiner »Versuchung« wie zehn Neger. Ich habe noch für zwei gute Monate.
An M me. Louise Collet, 15. 1. 1852.
Ich sagte Dir schon, daß die »sentimentale Erziehung« ein Versuch war. Der hl. Antonius ist wieder ein anderer. Indem ich einen Gegenstand wählte, bei welchem ich vollkommen frei war in Bezug auf lyrischen Schwung, Bewegungen, Verirrungen, befand ich mich damals ganz in meinem Element und konnte die Zügel schießen lassen. Niemals werde ich den hinreißenden Schwung in meinem Stil wieder erlangen, wie damals während achtzehn großer Monate, in denen ich geschwelgt und mit Lust die Perlen zu meinem Halsband gewählt hatte. Ich hatte nur eine Sache vergessen: den Faden, das war der zweite Versuch, schlimmer als der erste; jetzt bin ich am dritten: nun ist es Zeit, ans Ziel zu gelangen – oder sich aus dem Fenster zu stürzen.
An dieselbe, 1. 2. 1852.
Dieser gute hl. Antonius .... ist ein verfehltes Werk. Ich selbst war darin der hl. Antonius und das hatte ich vergessen. Diese Persönlichkeit will gestaltet sein (keine leichte Sache!); wenn es für mich irgend eine Möglichkeit gäbe, dieses Buch zu verbessern, wäre ich sehr froh, denn ich habe viel, viel Zeit daran verschwendet und viel Liebe. Aber es ist noch nicht genügend ausgereift. Ich hatte nämlich viel an den materiellen Elementen des Buches gearbeitet, will sagen am historischen Teil, ich hatte mir eingebildet, das Scenarium sei fertig und ich machte mich an die Arbeit. Alles hängt vom Plan ab; und der Antonius hat keinen; die Darlegung der streng durchdachten Ideen hat keineswegs eine Parallele in der Verkettung der Tatsachen. Trotz des reichlichen dramatischen Gerüstes fehlt das Dramatische.
An dieselbe, 3. 1. 1853.
O glückliche Zeiten des hl. Antonius, wo seid ihr? Damals schrieb ich mit meinem ganzen Ich.
An Louis Bouilhet, 1. 6. 1856.
Ich ... korrigiere den hl. Antonius. Ich habe im Antonius alles ausgemerzt, was mir zur Unzeit angebracht erschien, – keine kleine Arbeit, da nun der erste Teil, der 160 Seiten umfaßte, nur mehr 74 in der Abschrift enthält. In etwa acht Tagen hoffe ich, diesen Teil erledigt zu haben. Mehr gibt es im zweiten Teil zu tun, in welchem ich endlich eine Verbindung gefunden habe, die vielleicht armselig – aber doch immer eine Verbindung ist, eine mögliche Zusammenfassung. Die Person des hl. Antonius wird aufgewettert werden durch zwei oder drei Monologe, die rettungslos die Versuchungen herbeiführen werden. Was den dritten Teil betrifft, so ist die Mitte vollkommen neu zu bearbeiten. Im Ganzen vielleicht einige zwanzig oder dreißig Seiten zu schreiben. Ich streiche die allzulyrischen Stellen, merze viele Umstellungen aus und gehe den Wendungen zu Leibe, welche abseits führen von der Grundidee. Kurz, ich hoffe das lesbar und nicht allzu langweilig zu gestalten.
Wir wollen darüber sehr ernstlich diese Ferien sprechen. Denn das ist eine Sache, die mir auf der Seele lastet, und ich hätte ein wenig Ruhe, wenn ich von diesem Alpdruck befreit wäre.
An denselben, 25. 8. 1856.
Der hl. Antonius, der mir während eines Monats Spaß gemacht hat, ödet mich jetzt an.
An denselben, 1. 9. 1856.
Was Du auch »darüber sagen mögest«, ich glaube, daß Du etwas verstehen wirst vom hl. Antonius. Du wirst zum mindesten »meine Intentionen« erkennen. Du wirst mir helfen, die Lücken des Planes zu verstopfen, die besch... Sätze wegzuwischen und die schlappen Perioden, die in der Mitte wie ein aufgetrennter Schuh klaffen, neu zu besohlen.
An denselben, 9. 9. 1856.
Was den hl. Antonius betrifft, so lasse ich ihn vorläufig liegen, solange ich daran bin, zwei ungeheure Bände über die Ketzereien zu analysieren. Ich sinne darüber nach, was man tun muß, um stärkere Dinge hineinzubringen. Mich widert die Deklamation an, die sich in diesem Buche findet. Ich suche brutale Effekte. Bezüglich des Planes weiß ich nichts mehr zu tun. Ich hätte Deinen Rat nötig, besonders im Dramatischen.
An denselben, 23. 9. 1856.
Ich arbeite immer (am Antonius) und entwickle die Hauptperson mehr und mehr. Es ist sicher, daß man jetzt einen Plan erkennt, aber viele Dinge fehlen daran. Was den Stil betrifft, so hattest Du die Güte, das einen Durchfall von Perlen zu nennen. Durchfall, das ist möglich, aber was die Perlen betrifft, so sind sie selten. Ich habe alles noch einmal geschrieben, mit Ausnahme von vielleicht zwei oder drei Seiten.
An Jules Duplan, October 1856.
Ich habe diesen Herbst viel an meiner alten Narretei, dem hl. Antonius, gearbeitet; er ist von einem Ende zum anderen neu geschrieben, bedeutend reduziert und zusammengeschmolzen. Ich habe vielleicht noch für einen Monat Arbeit. Ich werde erst wieder frei atmen, wenn mir dieses verteufelte Werk nicht mehr auf den Schultern lastet, das mich gar noch vor Gericht bringen könnte – und demzufolge ich sicherlich als verrückt gelten werde. – Was liegt daran! eine so geringfügige Erwägung wird mich nicht aufhalten.
An M me. Maurice Schlesinger, 16. 1. 1859.
Nach der Veröffentlichung meines Romans hatte ich mich wieder an ein großes Werk meiner Jugend gemacht mit dem Titel »Die Versuchung des hl. Antonius«. Nach sechs Monaten Arbeit mußte ich Verzicht leisten und es wieder zur Seite legen. Dieses Buch hätte mir zur jetzigen Zeit unendliche Unannehmlichkeiten bereitet.
An George Sand, Februar 1869.
Ich habe meine alte Narretei, den Antonius, wieder aufgenommen. Ich habe meine Notizen durchgelesen, mache einen neuen Plan und verschlinge die eklesiastischen Memoiren von Le Nain de Tillemont. Ich hoffe, es gelingt mir ein logisches Band (und damit eine dramatische Spannung) zu finden zwischen den verschiedenen Halluzinationen des Heiligen. Diese extravagante Welt gefällt mir und ich versenke mich in dieselbe.
An Frl. Leroger de Chantepie, 8. 7. 1870.
Ich habe mich wieder an eine alte Narretei gemacht, von der ich Ihnen, glaube ich, schon gesprochen habe. Es ist eine Versuchung des hl. Antonius. Das heißt eine dramatische Darstellung der alexandrinischen Welt im vierten Jahrhundert. Nichts ist merkwürdiger wie diese Epoche. Ich glaube, das Buch wird Sie wegen des dargestellten Milieus interessieren. Aber ich habe es noch lange nicht beendet. Das ist eine Arbeit, die mich wohl an die zwei Jahre kosten wird. Ich möchte mich ganz und gar darin verlieren und nicht mehr an mein Elend und meinen Kummer denken.
An M me. Roger des Genettes, April 1871.
Um all dem Jammer aus dem Wege zu gehen versenke ich mich, wie ein Verzweifelter, in den hl. Antonius, und arbeite unausgesetzt und voll Kraft. Wenn mir nichts in den Weg kommt, werde ich das Buch vor einem Jahr beendet haben.
An dieselbe, Mai 1871.
Der hl. Antonius grüßt Sie ganz untertänigst (da Sie sich nach ihm erkundigen) und wüßte sich nichts besseres zu wünschen, als Ihnen – wenn auch unvollendet – vorgestellt zu werden. Der gute Mann hat Schädelbrummen von dem Schauspiel der Ketzer, hat den Buddha angehört und wohnt eben den Prostitutionen von Babylon bei. Ich habe noch schlimmere Dinge mit ihm vor.
An George Sand, 25. 7. 1871.
Der ungeheure Ekel, den mir meine Zeitgenossen einflößen, wirft mich zurück in die Vergangenheit und ich bearbeite meinen guten Antonius mit allen meinen Kräften. Ich bin allein seinetwegen nach Paris gekommen, denn es ist mir unmöglich in Rouen die Bücher, deren ich bedarf, zu verschaffen. Ich habe mich in die Religionen Persiens versenkt. Ich suche mir eine klare Idee des Gottes Hom zu machen, was nicht leicht ist. Ich habe den ganzen Monat Juni mit dem Studium des Buddhismus hingebracht, über welchen ich schon viele Notizen hatte. Aber ich wollte den Stoff soweit als möglich erschöpfen. So habe ich denn auch einen kleinen Buddha gemacht, den ich für recht liebenswürdig halte. Wie gerne würde ich Ihnen diesen Schmöcker (den meinigen), vorlesen!
An dieselbe, 1872.
Ich habe gestern einen schönen Tag mit Turgenjeff verbracht und ihm die 115 bisher geschriebenen Seiten des Antonius vorgelesen .... nichts entgeht ihm .... er hat mir zwei oder drei Ratschläge gegeben, die im einzelnen vorzüglich sind.
An dieselbe.
... Ich bin mitten unter den fantastischen Ungeheuern.
Wenn ich von ungefähr den Stoff erschöpft haben werde, gehe ich ins Museum um vor den wirklichen Monstren zu träumen, dann sind die Studien für den Antonius beendet.
An M me. Roger de Genettes, 15. 5. 1872.
Ich zwinge mich mit aller Gewalt zur Arbeit. Aber das Herz ist nicht bei der Schriftstellerei. Der gute hl. Antonius (den ich wieder aufgenommen habe und der bis Ende August fertig sein wird), ödet mich an wie das Leben selbst, was nicht wenig heißen will. Ich bräuchte, um ihn zu beenden, die Begeisterung, wie ich sie letzten Sommer hatte. Aber seitdem habe ich schlimme Stöße erleiden müssen.
Und wie ich Lust hätte, Ihnen gerade dieses Buch vorzulesen. Denn es ist für Sie geschrieben, ich verstehe damit für die kleine Zahl, für die kleine Schar, die sich über die Dinge klar wird.
An M me. Gustave de Maupassant, 30. 10. 1872.
Das erste Werk, das ich in den Druck gebe, wird an seinem Anfang den Namen Deines Bruders tragen, denn in meinen Gedanken war die Versuchung des hl. Antonius immer »Alfred Le Poittevin« gewidmet. Ein halbes Jahr vor seinem Tode habe ich ihm von diesem Buche gesprochen. Nun habe ich dieses Werk vollendet, welches mich zu verschiedenen Malen während 25 Jahren beschäftigt hat! Da er nicht mehr da ist, hätte ich gerne Dir das Manuskript vorgelesen, meine liebe Laura. Übrigens weiß ich nicht, wann ich es veröffentlichen werde. Die Zeiten sind keineswegs günstig.
Dem Gedächtnisse meines Freundes
Alfred Lepoittevin
gestorben
in La Neuville-Chant-d'Oisel
am 3. April 1848.