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Ein halbes Jahrhundert lang beneideten die Bürgerinnen von Pont-l'Evêque Madame Aubain um ihre Magd Félicité.
Für hundert Francs im Jahr besorgte sie Küche und Haushalt, nähte, wusch, plättete, konnte ein Pferd anschirren, das Geflügel mästen, Butter machen, und blieb ihrer Herrin treu – die indessen keine angenehme Person war.
Diese hatte einen schönen Menschen ohne Vermögen geheiratet, der zu Anfang des Jahres 1809 starb und ihr zwei ganz kleine Kinder bei einer Unmenge Schulden hinterließ. Da verkaufte sie ihren Grundbesitz, außer den Gütern Toucques und Gefosses, deren Ertrag sich höchstens auf fünftausend Franken belief, und sie verließ ihr Haus in Saint-Melaine, um ein anderes, das weniger Ausgaben verursachte, zu bewohnen; es hatte ihren Vorfahren gehört und lag hinter den Hallen.
Dieses Haus, das mit Schiefer bekleidet war, lag zwischen einem Durchgang und einer Gasse, die zum Fluß herablief. Die Böden im Innern des Hauses waren uneben, was zum Stolpern Anlaß gab. Ein enger Flur trennte die Küche von dem Saal, in dem Madame Aubain sich in der Nähe des Fensters, in einem Strohsessel sitzend, den ganzen Tag über aufhielt. Acht Mahagonistühle reihten sich an der weißgestrichenen Täfelung entlang. Ein altes Klavier trug, unterhalb eines Barometers, einen pyramidenartigen Haufen von Schachteln und Kartons. Zwei gestickte Lehnsessel standen auf beiden Seiten des Kamins aus gelbem Marmor und im Stil Louis XV. Die Uhr in der Mitte stellte einen Vestatempel dar – und das ganze Zimmer hatte einen etwas modrigen Geruch, denn der Fußboden lag tiefer als der Garten.
Im ersten Stock lag zunächst das Zimmer von »Madame«, das sehr groß und mit einer blaßblumigen Tapete bespannt war und das Porträt von »Monsieur« in der Kleidung eines Dandys enthielt. Es stand mit einem kleineren Zimmer in Verbindung, in dem man zwei Kinderbettstellen ohne Matratzen erblickte. Dann kam der Salon, immer verschlossen und voller Möbel, die mit Überzügen bedeckt waren. Endlich führte ein Gang zu einem Studierzimmer; Bücher und Papierkram füllten die Fächer einer Bibliothek, deren drei Teile einen großen Schreibtisch aus schwarzem Holz umgaben. Die beiden Rückwände verschwanden unter Federzeichnungen, Landschaften in Gouache und Stichen von Audran, Erinnerungen an eine bessere Zeit und entschwundene Pracht. Im zweiten Stock erhellte eine Luke das Zimmer der Félicité, mit Aussicht auf die Wiesen.
Sie erhob sich mit der Morgenröte, um die Messe nicht zu versäumen, und arbeitete ohne Unterlaß bis zum Abend; wenn dann das Mahl beendigt, das Geschirr an seinem Platz und die Tür gut verschlossen war, verscharrte sie die glühende Holzkohle unter der Asche und schlief vor dem Herd ein, den Rosenkranz in der Hand. Beim Einkaufen war niemand hartnäckiger im Feilschen. Was ihre Sauberkeit betraf, so brachte der Glanz ihrer Pfannen die anderen Mägde zur Verzweiflung. Sparsam wie sie war, aß sie langsam und las mit dem Finger auf dem Tisch die Krumen ihres Brotes auf – eines zwölfpfündigen Brotes, das eigens für sie gebacken wurde und zwanzig Tage ausreichte.
Zu jeder Jahreszeit trug sie ein Tuch aus feinem Kattun, das im Rücken von einer Nadel festgehalten wurde, eine Haube, die ihre Haare verbarg, graue Strümpfe, einen roten Rock, und über ihrer Jacke eine Latzschürze wie die Krankenpflegerinnen im Krankenhaus.
Ihr Gesicht war mager, und ihre Stimme spitz. Mit fünfundzwanzig Jahren wurde sie für vierzig gehalten. Vom fünfzigsten an schien sie alterslos – und bei ihrer beständigen Schweigsamkeit, mit ihrer geraden Haltung und ihren gemessenen Bewegungen glich sie einer Frau aus Holz, die automatisch ihre Handlungen verrichtet.
Wie jede andere hatte auch sie ihre Liebesgeschichte gehabt.
Ihr Vater, ein Maurer, hatte einen tödlichen Sturz von einem Gerüst getan. Dann starb ihre Mutter, ihre Schwestern zerstreuten sich, ein Pächter nahm sie zu sich und ließ sie, so klein sie noch war, die Kühe hüten. Sie zitterte vor Frost unter ihren Lumpen, trank auf dem Bauch liegend das Wasser der Pfützen, wurde beim geringsten Anlaß geschlagen und schließlich wegen eines Diebstahls von dreißig Sou, den sie nicht begangen hatte, fortgejagt. Sie ging auf einen andern Pachthof in Stellung, wurde dort Hühnermagd, und da sie ihren Arbeitgebern gefiel, waren die anderen Mägde auf sie eifersüchtig.
Eines Abends im Monat August (sie war damals achtzehn Jahre alt) nahmen sie sie zur Kirchweih nach Colleville mit. Sie wurde sogleich schwindlig, benommen von dem Lärm der Geiger, den Lichtern in den Bäumen, dem bunten Gemisch der Trachten, den Spitzen, den Goldkreuzen, von dieser ausgelassen tanzenden Menschenmasse. Bescheiden hielt sie sich abseits, als ein junger Mann von wohlhabendem Aussehen, der die Ellenbogen auf die Deichsel eines kleinen Wagens gestützt hatte und dabei seine Pfeife rauchte, sich ihr näherte, um sie zum Tanz einzuladen. Er zahlte ihr einen Most, Kaffee, Kuchen, ein Tuch, und bot ihr, da er glaubte, daß sie seine Absicht errate, seine Begleitung an. Am Rande eines Haferfeldes warf er sie gewaltsam zu Boden. Sie hatte Angst und begann zu schreien. Er suchte das Weite.
An einem andern Abend wollte sie auf dem Weg nach Beaumont einen großen Heuwagen, der sich langsam vorwärts bewegte, überholen, und als sie die Räder streifte, erkannte sie Theodor.
Er redete sie mit ruhiger Miene an und sagte, sie müsse alles verzeihen, da »der Alkohol schuld gewesen sei«.
Sie konnte keine passende Antwort finden und hatte Lust, davonzulaufen.
Gleich darauf sprach er von der Ernte und den angesehenen Bürgern der Gemeinde, denn sein Vater hatte Colleville verlassen und war auf den Hof les Écots gezogen, so daß sie jetzt Nachbarn waren.
»Ach!« sagte sie.
Er fügte hinzu, daß man ihn gerne unter die Haube bringen möchte. Übrigens habe er es nicht eilig und warte auf eine Frau nach seinem Geschmack. Sie senkte den Kopf. Da fragte er sie, ob sie nicht heiraten wolle. Sie erwiderte lächelnd, es sei nicht schön, sich über sie lustig zu machen. – »Aber nein, ich schwöre Ihnen!« und er legte seinen linken Arm um ihren Leib; sie ging, von ihm umfaßt und gestützt; sie verlangsamten ihren Schritt. Der Wind wehte weich, die Sterne funkelten, die ungeheure Heuladung schwankte vor ihnen; und die vier Pferde wirbelten mit ihren schleppenden Tritten den Staub auf. Ohne Weisung wandten sie sich dann nach rechts. Er umarmte sie noch einmal. Sie verschwand im Dunkel.
Die folgende Woche gewährte sie Theodor des öfteren ein Stelldichein.
Sie trafen sich in Hinterhöfen, hinter einer Mauer, unter einem einsamen Baum. Sie war nicht unschuldig in der Art der jungen Damen – die Tiere hatten sie belehrt –, aber Vernunft und Ehrgefühl bewahrten sie vor einem Fehltritt. Dieser Widerstand fachte Theodors Liebe an, so daß er, um seine Leidenschaft zu befriedigen (oder ganz naiv vielleicht ), ihr die Heirat vorschlug. Sie wollte zuerst nicht daran glauben. Er leistete heilige Eide.
Bald rückte er mit einem unangenehmen Geständnis heraus: seine Eltern hatten ihm letztes Jahr einen Ersatzmann gekauft; aber jetzt könne man ihn von einem Tag auf den andern wieder einziehen; der Gedanke an den Dienst erschreckte ihn. Diese Feigheit nahm Félicité für einen Beweis seiner Zärtlichkeit; die ihrige verdoppelte sich dadurch. Sie schlich sich des Nachts davon, und wenn sie zum Stelldichein erschien, quälte Theodor sie mit seinen Ängsten und seinem Drängen.
Endlich gab er an, daß er selbst auf die Präfektur gehen wolle, um sich Bescheid zu holen, und daß er ihr diesen am nächsten Sonntag zwischen elf Uhr und Mitternacht bringen würde.
Als der Augenblick gekommen war, lief sie zu ihrem Schatz.
An seiner Statt fand sie einen seiner Freunde.
Er teilte ihr mit, daß sie ihn nicht mehr wiedersehen sollte. Um vor der Aushebung sicher zu sein, hatte Theodor eine alte, sehr reiche Person, Madame Lehoussais aus Toucques, geheiratet.
Ihr Kummer war hemmungslos. Sie warf sich zu Boden, stieß Schreie aus, rief nach dem lieben Gott und jammerte ganz einsam auf den Feldern bis zum Sonnenaufgang. Dann kehrte sie auf den Hof zurück und gab ihre Absicht, fortzugehen, kund; und nachdem sie am Ende des Monats ihren Lohn empfangen hatte, band sie alle ihre kleinen Habseligkeiten in ein Taschentuch und begab sich nach Pont-l'Evêque.
Vor dem Gasthof wandte sie sich an eine Bürgersfrau in einer Witwenhaube, die gerade eine Köchin suchte. Das junge Mädchen konnte nicht viel, aber sie schien so viel guten Willen zu haben und so wenig Ansprüche zu machen, daß Madame Aubain schließlich sagte:
»Gut, ich nehme Sie!«
Eine Viertelstunde später hatte sich Félicité bei ihr eingerichtet.
Anfangs lebte sie dort in einem gewissen Furchtgefühl, das ihr »die Art des Hauses« einflößte, und das Andenken an »Monsieur«, das über allem lag. Paul und Virginie, das eine sieben das andere kaum vier Jahre alt, schienen ihr aus einem kostbaren Stoff gebildet zu sein; sie trug sie auf dem Rücken wie ein Pferd, und Madame Aubain verbot ihr, sie jede Minute zu küssen, was sie zu Tode betrübte. Dennoch fühlte sie sich glücklich. Die Sanftheit der Umgebung hatte ihre Traurigkeit vertrieben.
Jeden Donnerstag kamen die gewohnten Gäste, eine Partie Boston spielen. Félicité sorgte schon vorher für die Karten und die Fußwärmer. Sie stellten sich Schlag acht Uhr ein und brachen auf, bevor es elf schlug.
Jeden Montagmorgen breitete der Trödler, der unter dem Durchgang wohnte, sein altes Eisen auf dem Boden aus. Alsdann erfüllte sich die Stadt mit einem Stimmengewirr, in das sich das Wiehern von Pferden, das Blöken von Lämmern, das Grunzen von Schweinen nebst dem harten Rattern der Karren auf der Straße mischte. Gegen Mittag, wenn der Markt am lebhaftesten war, sah man einen alten Bauern von hoher Gestalt am Eingang erscheinen, mit der Mütze auf dem Hinterkopf und einer Hakennase; es war Robelin, der Pächter von Gefosses. Kurze Zeit darauf stand Liébard da, der Pächter von Toucques, klein, rot, feist, mit einer grauen Weste und sporenbesetzten Stulpenstiefeln.
Beide boten ihrer Herrin Hühner und Käse an. Ständig machte Félicité ihre schlauen Pläne zuschanden; und sie gingen voller Achtung für sie fort.
In unregelmäßigen Abständen empfing Madame Aubain den Besuch des Marquis von Gremanville, eines Onkels von ihr, der sich durch Schwelgerei ruiniert hatte und zu Falaise auf dem letzten Fetzen seiner Güter lebte. Er fand sich immer zur Frühstücksstunde ein, mit einem abscheulichen Pudel, dessen Pfoten alle Möbel beschmutzten. Trotz seiner Bemühungen, sich als vornehmer Mann zu geben, worin er so weit ging, daß er jedesmal seinen Hut lüftete, wenn er »mein seliger Vater« sagte, verführte ihn doch die Gewohnheit, sich Glas auf Glas einzuschenken und schlüpfrige Dinge zu erzählen. Félicité trieb ihn höflich hinaus: »Sie haben jetzt genug, Monsieur de Gremanville! Bis zum nächsten Mal!« Und sie schloß die Tür.
Gern öffnete sie sie dem Herrn Bourais, einem ehemaligen Advokaten. Seine weiße Krawatte und sein kahler Kopf, seine Hemdkrause, sein weiter, brauner Gehrock, seine Art, eine Prise zu nehmen, indem er den Arm bog, seine ganze Persönlichkeit erzeugte bei ihr diese Verwirrung, in die uns der Anblick außerordentlicher Menschen versetzt.
Da er die Güter von »Madame« verwaltete, schloß er sich stundenlang mit ihr in das Zimmer von »Monsieur« ein, fürchtete stets, sich zu kompromittieren, hatte eine grenzenlose Achtung vor den Behörden und behauptete Lateinisch zu verstehen.
Um den Kindern den Unterricht angenehm zu machen, machte er ihnen eine Erdkunde mit Kupferstichen zum Geschenk. Sie stellten mannigfaltige Bilder aus der Welt vor, federngeschmückte Menschenfresser, einen Affen, der ein junges Mädchen raubt, Beduinen in der Wüste, einen Walfisch, der harpuniert wird, und so weiter.
Paul erklärte Félicité diese Stiche. Das war auch ihre ganze wissenschaftliche Bildung.
Die der Kinder wurde von Guyot besorgt, einem armen Teufel, der, im Rathaus angestellt, wegen seiner schönen Handschrift berühmt war und sein Taschenmesser am Stiefel wetzte.
Wenn gutes Wetter war, begab man sich schon in der Früh nach dem Gute Gefosses.
Der Hof lag an einem Hang, das Haus stand in der Mitte; und in der Ferne erschien das Meer wie ein grauer Fleck.
Félicité nahm aus ihrem Korb Scheiben kalten Fleisches, und man frühstückte in einem Raum, der sich an die Molkerei reihte. Er war der einzige Rest eines nun verschwundenen Lusthauses. Die Fetzen der Tapete an der Wand zitterten im Luftzug. Madame Aubain senkte den Kopf unter der Wucht der Erinnerungen; die Kinder wagten nicht mehr zu sprechen. »So spielt doch!« sagte sie; sie liefen davon.
Paul stieg in die Scheune, fing Vögel, ließ flache Steine über das Wasser des Teiches tanzen, oder er schlug mit einem Stock gegen die großen Fässer, die wie Trommeln dröhnten.
Virginie fütterte die Kaninchen, rannte fort, um Kornblumen zu pflücken, und die Schnelligkeit, mit der sich ihre Beine bewegten, entblößte ihre bestickten Höschen.
An einem Herbstabend kehrte man über die Weiden heim.
Der Mond in seinem ersten Viertel erhellte einen Teil des Himmels, und ein Nebel wogte wie ein Schal über den Windungen der Toucques. Rinder lagen auf dem Rasen und ließen ruhigen Blicks die vier Personen vorübergehn. Auf der dritten Weide erhoben sich einige, dann stellten sie sich in der Runde vor ihnen auf. – »Fürchten Sie nichts!« sagte Félicité, und ein wehmütiges Lied summend, streichelte sie den Rücken des zunächst stehenden; es drehte sich um, und die anderen folgten seinem Beispiel. Aber als man die nächste Weide überquerte, ertönte ein furchtbares Brüllen. Es kam von einem Stier, den der Nebel verbarg. Er näherte sich den beiden Frauen. Madame Aubain wollte anfangen zu laufen. – »Nein! nein! Nicht so schnell!« Sie beschleunigten jedoch ihren Schritt und hörten hinter sich ein kräftiges Schnaufen, das näher kam. Seine Hufe fielen wie Hämmer auf das Gras der Wiese; jetzt galoppierte er! Félicité wandte sich um, und sie riß mit beiden Händen Erdschollen aus dem grasigen Boden, die sie ihm in die Augen warf. Er senkte das Maul, schüttelte die Hörner und zitterte vor Wut, während er schrecklich brüllte. Madame Aubain, die mit ihren beiden Kleinen am Ende der Weide angekommen war, suchte verzweifelt nach einem Mittel, die hohe Böschung zu überwinden. Félicité wich schrittweise vor dem Stier zurück, und ständig schleuderte sie ihm Grasklumpen ins Gesicht, die ihn blind machten, während sie schrie: »Beeilt euch! beeilt euch!«
Madame Aubain stieg in den Graben, half Virginie, dann Paul herüber, fiel mehrere Male bei dem Versuch, die Böschung zu erklimmen, und dank ihrem Mut schaffte sie es.
Der Stier hatte Félicité gegen ein Gatter getrieben; sein Geifer flog ihr ins Gesicht, eine Sekunde später hätte er sie aufgeschlitzt. Sie hatte gerade noch Zeit, sich zwischen zwei Latten hindurchzuwinden, und das schwere Tier blieb voller Verblüffung stehen.
Über dieses Ereignis wurde in Pont-l'Evêque noch nach Jahren gesprochen. Félicité bildete sich nichts darauf ein, da sie nicht einmal ahnte, daß sie etwas Heldenhaftes vollbracht hatte.
Virginie nahm sie ausschließlich in Anspruch; denn sie hatte sich infolge des Schreckens eine nervöse Affektion zugezogen, und Herr Poupart, der Arzt, verordnete Seebäder in Trouville.
Zu jener Zeit wurden diese noch wenig besucht. Madame Aubain zog Erkundigungen ein, befragte Bourais und machte Vorbereitungen wie für eine lange Reise.
Ihre Koffer wurden am Abend vorher von Liébards Wägelchen abgeholt. Am nächsten Morgen brachte er zwei Pferde, das eine mit einem Frauensattel, der mit einer Sammetlehne versehen war; und auf dem Rücken des zweiten bildete ein gerollter Mantel eine Art von Sitz. Madame Aubain stieg auf, und hinter ihr nahm Félicité Virginie zu sich, und Paul bestieg Herrn Lechaptois' Esel, den man unter der Bedingung, gut auf ihn zu achten, zur Verfügung gestellt hatte.
Der Weg war so schlecht, daß seine acht Kilometer zwei Stunden erforderten. Die Pferde sanken bis zu den Fesseln in den Schlamm und machten, um wieder herauszukommen, abrupte Bewegungen mit den Hüften; oder sie stolperten in den Wagenspuren, und zu anderen Malen mußten sie springen. An manchen Stellen blieb die Stute Liébards plötzlich stehen. Er wartete geduldig, bis sie sich wieder in Marsch setzte; und er sprach über die Leute, deren Grundstücke den Weg säumten, und gab zu ihrer Geschichte moralische Betrachtungen. So sagte er in den Mauern von Toucques, als man unter von Kapuzinerkresse umrankten Fenstern vorbeiritt, mit Achselzucken: »Da lebt eine Frau Lehoussais, die, anstatt einen jungen Mann zu nehmen ...« Das übrige hörte Félicité nicht; die Pferde trabten, der Esel galoppierte; alle bogen in einen Fußweg ein, ein Gattertor ging auf, zwei Knaben erschienen, und man stieg vor der Jauchepfütze ab, unmittelbar auf der Schwelle der Tür.
Als Mutter Liébard ihrer Herrin ansichtig wurde, gab sie reichlich ihre Freude zu erkennen. Sie trug ihr ein Frühstück auf, das aus einem Lendenbraten, Kaldaunen, Blutwurst, einem Hühnerfrikassee, Apfelmost, einem Obstkuchen und Branntwein-Pflaumen bestand, während sie das ganze mit Höflichkeiten für Madame würzte, die sich in bester Gesundheit zu befinden schien, für Mademoiselle, das sich »großartig« entwickelt habe, für Monsieur Paul, der erstaunlich »kräftig« geworden, ohne ihre seligen Großeltern zu vergessen, welche die Liébards gekannt hatten, da sie seit mehreren Generationen im Dienst der Familie standen. Der Pachthof zeigte, wie sie selbst, gewisse Alterserscheinungen. Die Deckenbalken waren von Würmern zerfressen, die Mauern rauchgeschwärzt, die Scheiben grau von Staub. Eine eichene Anrichte trug alle möglichen Gerätschaften, Krüge, Teller, Zinngeschirr, Wolfsfallen, Scheren für die Schafe; eine ungeheure Klistierspritze erregte die Heiterkeit der Kinder. Nicht ein Baum in den drei Höfen, der nicht Pilze an seinem Stamm oder in seinen Zweigen einen Mistelbusch gehabt hätte. Der Wind hatte ihrer mehrere umgeworfen. Sie hatten in der Mitte wieder ausgeschlagen; und alle bogen sich unter der Masse der Äpfel. Die Strohdächer, die braunem Samt ähnelten und von ungleicher Dicke waren, hielten den stärksten Sturmwinden stand. Jedoch war die Remise dem Verfall nahe. Madame Aubain sagte, sie wolle sich die Sache angelegen sein lassen, und befahl, die Tiere wieder anzuschirren.
Als man noch eine halbe Stunde Wegs bis Trouville vor sich hatte, stieg die kleine Karawane ab, um die Ecores zu passieren; eine Klippe, die über den Booten hing. Drei Minuten später war man am Ende des Hafendamms und kehrte im »Goldenen Lamm« bei Mutter David ein.
Virginie fühlte sich vom ersten Tag an weniger schwach, was vom Luftwechsel und der Wirkung der Bäder kam. Sie nahm sie in Ermangelung eines Badeanzugs im Hemd; und ihre Bonne kleidete sie in einem Zollhäuschen, deren sich die Badenden bedienten, wieder an.
Nachmittags begab man sich mit dem Esel über die Roches-Noires, in Richtung Hennequeville. Anfangs stieg der Pfad zwischen Geländen hinan, die hügelig wie die Rasenflächen eines Parks waren; dann gelangte man auf eine Hochebene, wo Weide- und Ackerland abwechselten. Am Rande des Weges zwischen Brombeerranken reckten sich Stechpalmen; hier und da schrieb ein großer, abgestorbener Baum mit seinen Zweigen Zickzacklinien in die blaue Luft.
Fast immer machte man auf einer Wiese Rast, wo man Deauville zur Linken, Le Havre zur Rechten und gegenüber das offene Meer hatte. Es glänzte in der Sonne, glatt wie ein Spiegel, und war so ruhig, daß man kaum seinen Wellenschlag hörte; verborgene Sperlinge zwitscherten, und das alles überspannte die ungeheure Wölbung des Himmels. Madame Aubain hantierte sitzend an einer Näharbeit; Virginie, ihr zur Seite, flocht Binsen; Félicité rupfte Lavendel aus; Paul, der sich langweilte, wollte aufbrechen.
Andere Male setzten sie mit einem Boot über die Toucques und suchten Muscheln. Die Ebbe gab Seeigel, Seepferdchen und Seesterne frei; und laufend suchten die Kinder Schaumflocken zu erhaschen, die der Wind davontrug. Schläfrig fielen die Wogen auf den Sand und rollten den Strand entlang; er dehnte sich, so weit das Auge reichte; nach dem Lande zu begrenzten ihn jedoch die Dünen, die ihn vom Marais trennten, einer hippodromförmigen großen Wiese. Wenn sie von dort zurückkehrten, erschien Trouville in der Ferne auf dem Abhang des Hügels, bei jedem Schritt wachsend, und es schien sich mit all seinen ungleichen Häusern in fröhlicher Unordnung zu entfalten.
An den Tagen, an denen es zu heiß war, verließen sie ihr Zimmer nicht. Die blendende Helle von draußen quetschte Lichtstreifen zwischen die Brettchen der Jalousien. Nicht ein Laut aus dem Dorf. Unten auf dem Bürgersteig kein Mensch. Diese lastende Stille verstärkte die Ruhe über den Dingen. In der Ferne bearbeiteten die Hämmer der Kalfaterer die Schiffskiele, und eine Brise brachte Teergeruch.
Das Hauptvergnügen war die Heimkehr der Boote. Sobald sie die Bojen hinter sich hatten, fingen sie an zu lavieren. Ihre Segel fielen auf Zweidrittelhöhe der Masten; und während das Focksegel sich blähte wie ein Ballon, zogen sie näher, glitten durch das Gekräusel der Wogen bis mitten in den Hafen, wo plötzlich der Anker fiel. Dann legte sich das Boot gegen den Hafendamm. Die Matrosen warfen zappelnde Fische über die Planken; eine Reihe von Karren erwartete sie, und Frauen in Baumwollhauben stürzten herbei, um die Körbe zu holen und ihre Männer zu umarmen.
Eines Tages sprach eine von ihnen Félicité an, die kurz darauf vor Freude strahlend ins Zimmer trat. Sie hatte eine ihrer Schwestern wiedergefunden; und Nastasie Barette, verehelichte Leroux, erschien, einen Säugling an der Brust, an der rechten Hand ein zweites Kind und zu ihrer Linken einen kleinen Schiffsjungen, der die Fäuste in die Seiten stemmte und die Mütze schief auf dem Kopf trug.
Nach einer Viertelstunde wurde sie von Madame Aubain verabschiedet.
Man begegnete ihnen immer in der Nähe der Küche oder auf den Spaziergängen, die man machte. Der Ehemann zeigte sich nicht.
Félicité faßte Zuneigung zu ihnen. Sie kaufte ihnen eine Decke, Hemden, einen Herd; es war klar, daß sie sie ausnützten. Diese Schwäche ärgerte Madame Aubain, die auch die Vertraulichkeiten des Neffen nicht mochte – denn er duzte ihren Sohn; – und da Virginie hustete und die Saison zu Ende ging, kehrten sie nach Pont-l'Evêque zurück.
Monsieur Bourais beriet sie bei der Wahl eines Internats. Das in Caen galt als das beste. Dorthin wurde Paul geschickt; und er nahm tapfer Abschied, zufrieden, fortan in einem Hause zu leben, wo er Kameraden haben würde.
Madame Aubain fand sich in die Trennung von ihrem Sohn, weil sie unumgänglich war. Virginie dachte mit jedem Tag weniger daran. Félicité vermißte seinen Lärm. Doch sollte eine neue Beschäftigung sie zerstreuen; von Weihnachten an brachte sie das kleine Mädchen jeden Tag zum Katechismusunterricht.
Wenn sie an der Tür eine Kniebeugung gemacht hatte, ging sie unter dem hohen Schiff zwischen der doppelten Reihe von Stühlen nach vorn, öffnete Madame Aubains Bank, setzte sich und ließ ihre Blicke um sich schweifen.
Die Knaben füllten auf der rechten, die Mädchen auf der linken Seite das Chorgestühl; der Pfarrer stand am Pult; auf einem Fenster des Chors schwebte der Heilige Geist über der Jungfrau; ein anderes zeigte sie kniend vor dem Jesuskind, und hinter dem Tabernakel stellte eine Gruppe aus Holz den Heiligen Michael dar, wie er den Drachen bezwingt.
Der Priester gab zuerst eine kurze Zusammenfassung der Heiligen Schrift. Sie glaubte das Paradies zu sehen, die Sündflut, den Turm zu Babel, brennende Städte, sterbende Völker, gestürzte Götzenbilder; und sie behielt von diesen Visionen die Ehrfurcht vor dem Allerhöchsten und die Angst vor seinem Zorn. Wenn sie dann die Leidensgeschichte hörte, weinte sie. Warum hatten sie ihn gekreuzigt, ihn, der die Kinder liebte, der das Volk speiste, die Blinden heilte, und der aus Sanftmut unter den Armen auf dem Mist eines Stalles hatte geboren werden wollen? Die Saat, die Ernte, die Kelter, all die vertrauten Dinge, von denen das Evangelium spricht, sie fanden sich in ihrem Leben; die Anwesenheit Gottes hatte sie geweiht; und zärtlicher noch liebte sie die Lämmer aus Liebe zum Lamm, die Tauben wegen des Heiligen Geistes.
Sie hatte Mühe, sich ihn vorzustellen; denn er war nicht nur Vogel, sondern auch noch ein Feuer und zuweilen ein Hauch. Es war vielleicht sein Licht, welches des Nachts an den Ufern der Sümpfe schwebte, sein Atem, der die Wolken trieb, seine Stimme, welche den Glocken ihren Wohlklang verlieh; und sie saß in ihre Andacht versenkt und erquickte sich zugleich an der Kühle der Mauern und der Stille der Kirche.
Was die Dogmen anging, so begriff sie nichts davon, ja, versuchte nicht einmal, zu begreifen. Der Pfarrer redete und redete, die Kinder repetierten, schließlich schlief sie ein; und erwachte mit einem Ruck, wenn die Kinder beim Hinausgehen mit ihren Holzpantinen auf den Fliesen klapperten.
Auf diese Weise, nur durch Zuhören, lernte sie den Katechismus, denn ihre religiöse Erziehung war in ihrer Jugend vernachlässigt worden; und von nun an machte sie Virginies sämtliche Übungen mit, sie fastete wie sie, und sie ging mit ihr zur Beichte. Am Fronleichnamsfest schmückten sie zusammen einen Altar.
Die Erste Kommunion nahm ihr im voraus die Ruhe. Sie war in Aufregung wegen der Schuhe, wegen des Rosenkranzes, wegen des Buches, wegen der Handschuhe. Mit welchem Zittern half sie der Mutter, das Kind ankleiden!
Während der ganzen Messe empfand sie eine Herzensangst. Monsieur Bourais verdeckte ihr eine Seite des Chors; doch gerade vor ihr bildete die Schar der kleinen Jungfrauen mit ihren weißen Kränzchen über den herabgelassenen Schleiern etwas wie ein schneebedecktes Feld; und sie erkannte von weitem die liebe Kleine an ihrem zierlichen Halse und an ihrer andächtigen Haltung. Die Glocke ertönte. Die Köpfe neigten sich; es wurde still. Zum Brausen der Orgel stimmten die Sänger und die Menge das Agnus Dei an; dann begann der Vorbeizug der Knaben; und nach ihnen erhoben sich die Mädchen. Schritt vor Schritt gingen sie mit gefalteten Händen auf den über und über erleuchteten Altar zu, knieten auf seiner ersten Stufe nieder, empfingen der Reihe nach die Hostie und schritten in derselben Ordnung wieder zu ihren Bänken zurück. Als Virginie an der Reihe war, beugte sich Félicité vor, um sie zu sehen; und in der Phantasie, welche die wahre zärtliche Liebe verleiht, schien es ihr, als wäre sie selbst dieses Kind; sein Antlitz wurde das ihrige, sein Gewand umgab sie, sein Herz schlug in ihrer Brust; in dem Augenblick, wo es den Mund öffnete, schloß sie die Augen und war nahe daran, in Ohnmacht zu fallen.
In der Frühe des folgenden Tages erschien sie in der Sakristei, damit der Herr Pfarrer ihr die Kommunion reiche. Sie empfing sie andächtig, aber sie empfand dabei nicht wieder die gleiche Wonne.
Madame Aubain wollte aus ihrer Tochter eine wohlerzogene Person machen; und da Guyot sie weder Englisch noch Musik lehren konnte, beschloß sie, das Kind zu den Ursulinerinnen von Honfleur in Pension zu geben.
Das Kind machte keine Einwendungen. Félicité seufzte und fand, Madame sei gefühllos. Dann dachte sie, ihre Herrin habe vielleicht doch recht. Diese Dinge gingen über ihren Verstand.
Eines Tages endlich hielt ein alter großer Wagen vor der Tür; und heraus stieg eine Nonne, die Mademoiselle abholen kam. Félicité hob das Gepäck auf das Verdeck, legte dem Kutscher verschiedenes ans Herz und packte sechs Töpfe mit Eingemachtem und ein Dutzend Birnen nebst einem Veilchenstrauß in den Sitzkasten.
Im letzten Augenblick wurde Virginie von heftigem Schluchzen erfaßt; sie umarmte ihre Mutter, die sie auf die Stirn küßte und dabei wiederholte: »Komm! Nur Mut! Nur Mut!« Der Wagentritt wurde zurückgeschlagen, der Wagen fuhr ab.
Da hatte Madame Aubain eine Ohnmacht; und am Abend stellten sich alle ihre Freunde ein, um sie zu trösten, das Ehepaar Lormeau, Madame Lechaptois, Mademoiselle Rochefeuille, Monsieur de Houppeville und Bourais.
Zuerst schmerzte es sie sehr, ihre Tochter entbehren zu müssen. Aber dreimal die Woche empfing sie von ihr einen Brief, an den anderen Tagen schrieb sie ihr, ging in ihren Garten, las ein wenig und füllte so die Leere der Stunden aus.
Des Morgens trat Félicité aus Gewohnheit in Virginies Zimmer und schaute an die Wände. Es fehlte ihr, daß sie ihr nicht mehr das Haar zu kämmen, die Stiefel zu schnüren, ihr das Bettuch einzustecken brauchte – und daß sie nicht mehr ihr reizendes Gesicht sah, sie nicht mehr an der Hand hielt wie früher, wenn sie zusammen ausgingen. In ihrer Untätigkeit versuchte sie Spitzen zu klöppeln. Unter ihren zu ungeschickten Fingern rissen die Fäden; sie verstand nichts mehr, hatte den Schlaf verloren, war, wie sie sich ausdrückte, »untergraben«.
Um sich zu »zerstreuen«, bat sie um die Erlaubnis, ihren Neffen Victor empfangen zu dürfen.
Er kam sonntags nach der Messe, mit rosigen Wangen, offener Brust, und in den Kleidern den Duft der Felder, die er durchwandert hatte. Sofort legte sie dann sein Gedeck zurecht. Sie frühstückten, einander gegenübersitzend; und während sie selbst so wenig wie möglich aß, um die Ausgabe wieder einzusparen, stopfte sie ihn so mit Essen, daß er schließlich einschlief. Beim ersten Klang der Vesperglocke weckte sie ihn, bürstete seinen Überzieher, knüpfte seine Krawatte und begab sich, stolz wie eine Mutter auf seinen Arm gestützt, in die Kirche.
Seine Eltern beauftragten ihn stets, ihr etwas abzuknöpfen, mochte es nun ein Paket Farinzucker, Seife, Branntwein oder zuweilen sogar Geld sein. Er brachte ihr seine Sachen zum Ausbessern; und sie übernahm diese Arbeit, glücklich über eine Gelegenheit, die ihn zwang, wiederzukommen.
Im Monat August nahm ihn sein Vater mit auf See.
Es war die Zeit der Ferien. Die Rückkehr der Kinder tröstete sie. Aber Paul war launenhaft, und Virginie hatte nicht mehr das Alter, in dem man sie duzen konnte, was ihrem Verkehr einen gewissen Zwang antat, ein Hindernis zwischen sie legte.
Victor ging nacheinander nach Morlaix, nach Dünkirchen und nach Brighton; bei der Rückkehr von jeder Reise brachte er ihr ein Geschenk mit. Das erste Mal war es eine Schachtel aus Muscheln, das zweite Mal eine Kaffeetasse, das dritte Mal ein großer Pfefferkuchen. Er wurde hübsch, hatte eine gutgewachsene Gestalt, ein wenig Schnurrbart, gutmütige, offene Augen und trug eine kleine Ledermütze, die er wie ein Steuermann nach hinten schob. Er belustigte sie dadurch, daß er ihr Geschichten erzählte, die von seemännischen Ausdrücken wimmelten.
An einem Montag, dem 14. Juli 1819 (sie vergaß das Datum nicht mehr), verkündete Victor, er habe sich für eine lange Fahrt verpflichtet und würde in der Nacht das zweitnächsten Tages an Bord des Paketbootes von Honfleur gehen, um seinen Schoner zu erreichen, welcher demnächst Le Havre verlasse. Er würde vielleicht zwei Jahre fort sein.
Die Aussicht auf eine so lange Abwesenheit betrübte Félicité tief; und um ihm noch Lebewohl zu sagen, zog sie am Mittwochabend, nachdem Madame gespeist hatte, Galoschen an und legte die vier Meilen zurück, die Pont-l'Evêque von Honfleur trennen.
Als sie am Kalvarienberg angekommen war, ging sie, anstatt sich nach links zu halten, nach rechts, verirrte sich zwischen den Lagerschuppen, kehrte wieder um; Leute, welche sie ansprach, rieten ihr, sich zu beeilen. Sie ging um das mit Schiffen gefüllte Hafenbecken herum, stolperte über Taue; dann senkte sich der Boden, Lichter kreuzten sich, und sie glaubte verrückt geworden zu sein, als sie am Himmel Pferde erblickte.
Am Rande des Hafendamms standen andere und wieherten, erschreckt vom Meer. Ein Kran zog sie in die Höhe und ließ sie dann in ein Schiff hinab, wo sich Reisende zwischen Mostfässern, Käsekörben, Getreidesäcken drängten; man hörte die Hühner gackern und den Kapitän fluchen; und ein Schiffsjunge verharrte, ohne auf all dies zu achten, auf den Ankerbalken gelehnt. Félicité, welche ihn nicht wiedererkannt hatte, schrie: »Victor!« Er hob den Kopf; sie stürzte hinzu, als man plötzlich die Brücke wegzog.
Das Paketboot, das Frauen singend treidelten, lief aus dem Hafen aus. Seine Wanten krachten, schwere Brecher peitschten seinen Bug. Das Segel hatte sich gedreht, man sah niemand mehr – und es bildete auf dem vom Mond versilberten Meer einen schwarzen Fleck, der immer blasser wurde, versank, verschwand.
Als Félicité am Kalvarienberg vorbeikam, wollte sie Gott anempfehlen, was sie am meisten liebte; und sie betete lange, stehend, mit tränenüberströmtem Gesicht, den Blick in den Wolken. Die Stadt schlief, Zollbeamte schritten auf und ab; und ohne Unterlaß stürzte das Wasser durch die Öffnungen der Schleuse, mit dem Tosen eines Wildbachs. Es schlug zwei Uhr.
Das Sprechzimmer des Klosters würde nicht vor Tagesanbruch geöffnet werden. Eine Verspätung aber könnte Madame gewiß verdrießen; und trotz ihrer Sehnsucht, Virginie zu umarmen, ging sie weiter. Die Mägde des Gasthofs standen auf, als sie in Pont-l'Evêque ankam.
Der arme Junge sollte also monatelang auf den Wogen schaukeln! Seine früheren Reisen hatten sie nicht geängstigt. Aus England und der Bretagne kam man heim; aber Amerika, die Kolonien, die Inseln, das verlor sich in unbestimmten Regionen am andern Ende der Welt.
Von nun an dachte Félicité ausschließlich an ihren Neffen. An sonnigen Tagen beunruhigte sie sich um seinen Durst; gab es ein Gewitter, so fürchtete sie den Blitz für ihn. Hörte sie den Wind, welcher im Kamin rumorte und die Schieferplatten davontrug, so erblickte sie ihn von demselben Unwetter gepeitscht, an der Spitze eines gebrochenen Mastes, den ganzen Körper hintübergebeugt, unter einer Decke von Schaum; oder er wurde – das waren Erinnerungen an die Erdkunde mit den Stichen – von den Wilden gefressen, von Affen in einem Wald überfallen, oder er starb auf einem verlassenen Strand. Und niemals sprach sie über ihre Ängste.
Auch Madame Aubain hatte deren, wegen ihrer Tochter.
Die Schwestern fanden, sie sei liebenswürdig, aber zart. Die geringste Erregung entkräftete sie. Man mußte das Klavierspiel aufgeben.
Ihre Mutter verlangte vom Kloster einen regelmäßigen Briefwechsel. Als eines Morgens der Briefträger nicht gekommen war, wurde sie ungeduldig; und sie ging im Zimmer vom Lehnstuhl bis zum Fenster auf und ab. Es war wirklich nicht zu verstehen! seit vier Tagen keine Nachricht.
Um sie mit ihrem Beispiel zu trösten, sagte Félicité zu ihr:
»Ich, Madame, habe schon seit sechs Monaten keine mehr bekommen! ...«
»Von wem denn? ...«
Die Magd erwiderte leise:
»... von meinem Neffen!«
»Ach! Ihr Neffe!« Und achselzuckend nahm Madame Aubain ihren Spaziergang wieder auf, was heißen sollte: »Daran dachte ich nicht! ... Außerdem kümmert mich das nicht! ein Schiffsjunge, ein Landstreicher, was soll die Geschichte ... während meine Tochter ... Man bedenke doch! ...«
Obgleich Félicité unter rauhen Verhältnissen aufgewachsen war, war sie empört über Madame; dann vergaß sie.
Es schien ihr ganz selbstverständlich, wegen der Kleinen den Kopf zu verlieren.
Die beiden Kinder hatten gleiche Bedeutung für sie. Dasselbe Band ihrer Gefühle umschlang sie, und ihre Schicksale mußten die gleichen sein.
Der Apotheker teilte ihr mit, daß Victors Schiff in Havanna angekommen sei. Er hatte die Nachricht in einer Zeitung gelesen.
Wegen der Zigarren stellte sie sich Havanna als ein Land vor, in dem man nichts anderes tat als rauchen, und Victor bewegte sich in einer Tabakswolke unter Negern.
Konnte man »falls es not tat«, von dort auf dem Landwege heimkehren? Welche Entfernung hatte es von Pont-l'Evêque? Um das zu erfahren, befragte sie Monsieur Bourais.
Er holte seinen Atlas und begann die Längengrade zu erklären; und über Félicités Verdutztheit zeigte er das typische Lächeln des Pedanten. Schließlich zeigte er mit seinem Bleistift auf einen schwarzen, kaum wahrnehmbaren Punkt zwischen den Einschnitten eines ovalen Flecks und sagte dazu: »Hier.« Sie beugte sich über die Karte; dieses Netz von farbigen Linien ermüdete ihre Augen, ohne daß es ihr etwas sagte; und da Bourais sie aufforderte zu sagen, was sie bedränge, bat sie ihn, ihr das Haus zu zeigen, in dem Victor wohne. Bourais hob die Arme, nieste und lachte ungeheuer; eine derartige Einfalt machte ihm Freude; und Félicité begriff ihre Ursache nicht – sie, die vielleicht erwartete, sogar das Bild ihres Neffen zu erblicken, so beschränkt war ihr Verstand!
Vierzehn Tage später trat Liébard wie gewöhnlich zur Marktzeit in die Küche und übergab ihr einen Brief, welchen ihr Schwager ihr sandte. Da sie beide nicht lesen konnten, wandte sie sich an ihre Herrin.
Madame Aubain, welche die Maschen eines Strickzeugs zählte, legte dieses zur Seite, erbrach das Siegel des Briefes, schrak zusammen, und mit leiser Stimme und verschleiertem Blick:
»Es ist ein Unglück ... das man Euch mitteilt. Euer Neffe ...«
Er war tot. Mehr stand nicht drin.
Félicité sank auf einen Stuhl, lehnte ihren Kopf gegen die Wand und schloß die Augenlider, die sich plötzlich röteten. Dann wiederholte sie von Zeit zu Zeit mit gesenktem Kopf, herabhängenden Händen und starrem Blick:
»Armer kleiner Junge! armer kleiner Junge!«
Liébard betrachtete sie seufzend. Madame Aubain hatte ein leichtes Zittern.
Sie schlug ihr vor, ihre Schwester in Trouville zu besuchen.
Félicité antwortete mit einer Bewegung, daß das nicht nötig sei.
Es trat eine Stille ein. Der tüchtige Liébard hielt es für angemessen, sich zurückzuziehen.
Da sagte sie:
»Denen ist das gleich!«
Ihr Kopf fiel zurück; und mechanisch griff sie von Zeit zu Zeit nach einer der langen Nadeln auf dem Arbeitstisch.
Durch den Hof gingen Frauen mit einer Tragbahre, auf der triefendes Linnen lag.
Als sie diese durch die Scheiben bemerkte, erinnerte sie sich ihrer Wäsche; da sie sie gestern eingeweicht hatte, mußte sie heute ausgespült werden; und sie ging aus dem Zimmer.
Ihr Brett und ihr Faß befanden sich am Ufer der Toucques. Sie warf einen Haufen Hemden auf die Böschung, krempelte ihre Ärmel in die Höhe, nahm ihren Waschbläuel zur Hand; und die heftigen Schläge, die sie gab, hörte man bis in die umliegenden Gärten. Die Wiesen standen leer, der Wind wühlte den Fluß auf; in der Tiefe schwammen darin lange Gräser wie die im Wasser treibenden Haare einer Leiche. Sie bezwang ihren Schmerz und hielt sich bis zum Abend sehr tapfer; aber in ihrem Zimmer gab sie sich ihm hin, flach auf ihrer Matratze liegend, das Gesicht ins Kissen gedrückt und die beiden Fäuste gegen die Schläfen.
Sehr viel später erfuhr sie von Victors Kapitän selbst die näheren Umstände seines Todes. Man hatte ihn im Krankenhaus zu sehr zur Ader gelassen, wegen gelben Fiebers. Vier Ärzte hielten ihn zugleich. Er war sogleich gestorben, und der Direktor hatte gesagt:
»Gut! noch einer!«
Seine Eltern hatten ihn immer unmenschlich behandelt. Sie zog vor, sie nicht wiederzusehen; und sie selbst kamen ihr auch nicht entgegen, sei es, daß sie sie vergessen oder sich in ihrem Elend verhärtet hatten.
Virginie wurde schwächer.
Beklemmungen, Husten, beständiges Fieber und Flecken auf den Wangen zeigten eine ernste Erkrankung an. Monsieur Poupart hatte zu einem Aufenthalt in der Provence geraten. Madame Aubain willigte ein, und sie hätte ihre Tochter sogleich ins Haus zurückgeholt, wäre nicht das Klima von Pont-l'Evêque gewesen.
Sie traf ein Abkommen mit einem Wagenvermieter, der sie jeden Dienstag ins Kloster fahren mußte. In dem Garten befand sich eine Terrasse, von der man die Seine sehen konnte. Über abgefallene Weinblätter ging Virginie dort am Arm ihrer Mutter spazieren. Manchmal zwang sie ein die Wolken durchdringender Sonnenstrahl, mit den Augen zu zwinkern, während sie die fernen Segel und den weiten Horizont vom Schloß von Tancarville bis zu den Leuchttürmen von Le Havre betrachtete. Später ruhte man sich unter der Laube aus. Ihre Mutter hatte ein kleines Faß mit ausgezeichnetem Malagawein besorgt; und sie lachte beim Gedanken an einen Schwips und nahm zwei Fingerhut voll, nicht mehr.
Ihre Kräfte kehrten zurück. Der Herbst schwand langsam dahin. Félicité beruhigte Madame Aubain. Eines Abends jedoch, als sie in der Umgegend eine Besorgung gemacht hatte, traf sie vor der Tür den Wagen von Monsieur Poupart; und er selbst war im Vestibül. Madame Aubain band ihren Hut.
»Geben Sie mir meinen Fußwärmer, meine Börse, meine Handschuhe! aber schnell!«
Virginie hatte eine Lungenentzündung; vielleicht war es hoffnungslos.
»Noch nicht!« sagte der Arzt; und beide stiegen in den Wagen, von Schneeflocken umwirbelt. Die Nacht zog herauf. Es war sehr kalt.
Félicité stürzte in die Kirche, um eine Kerze anzuzünden. Dann lief sie hinter dem Wagen her, welchen sie nach einer Stunde einholte, sprang ohne Mühe hinten auf, wo sie sich an den Federn festhielt, als ihr die Überlegung kam: »Der Hof ist nicht verschlossen! wenn nun Diebe sich einschlichen?« Und sie sprang ab.
Bei Anbruch des folgenden Tages erschien sie bei dem Arzt. Er war zu Hause gewesen und schon wieder aufs Land gefahren. Darauf blieb sie im Wirtshaus, im Glauben, Fremde würden einen Brief für sie abgeben. Schließlich, bei Eintritt der Dämmerung nahm sie die Post nach Lisieux.
Das Kloster befand sich hinten in einer steilen Gasse. In der Mitte derselben hörte sie seltsame Töne, eine Totenglocke. »Das ist für jemand anderer,« dachte sie; und Félicité zog heftig den Klopfer.
Nach mehreren Minuten schlurften Holzschuhe heran, die Tür ging einen Spalt breit auf, und eine Nonne erschien.
Die Schwester sagte mit betrübter Miene, sie sei soeben verschieden. Zu gleicher Zeit setzte die Totenglocke von Saint-Léonard wieder ein.
Félicité gelangte in den zweiten Stock.
Schon auf der Schwelle des Zimmers erblickte sie Virginie, die mit gefalteten Händen auf dem Rücken lag, den Mund offen und den Kopf nach hinten, unter einem schwarzen Kreuz, das sich zu ihr neigte, zwischen regungslosen Vorhängen, die weniger bleich waren als ihr Antlitz. Am Fußende des Lagers, das sie mit ihren Armen umfaßt hielt, schluchzte Madame Aubain in Todespein. Die Oberin stand zur Rechten. Auf der Kommode standen drei Armleuchter, die rote Flecke bildeten, und der Nebel lag weiß vor den Fenstern. Nonnen führten Madame Aubain hinweg.
Zwei Nächte lang wich Félicité nicht von der Toten. Sie wiederholte dieselben Gebete, sprengte Weihwasser über die Laken, setzte sich wieder auf ihren Platz und betrachtete sie. Zu Ende der ersten Wache bemerkte sie, daß das Gesicht gelb und die Nase spitz geworden war; die Lippen hatten eine blaue Farbe angenommen, und die Augen waren eingesunken. Sie küßte sie mehrere Male; und sie würde keine besondere Verwunderung empfunden haben, wenn Virginie sie wieder geöffnet hätte; für Seelen ihrer Art ist das Übernatürliche ganz selbstverständlich. Sie kleidete sie an, hüllte sie in das Leichentuch, legte sie in den Sarg, schmückte sie mit einem Blumenkranz und breitete ihre Haare aus. Sie waren blond und für ihr Alter von außerordentlicher Länge. Félicité schnitt eine dicke Locke davon ab und ließ die Hälfte davon in ihren Busen gleiten, entschlossen, sich niemals davon zu trennen.
Der Leichnam wurde nach Pont-l'Evêque überführt, gemäß den Bestimmungen von Madame Aubain, die dem Leichenwagen in einer geschlossenen Kutsche folgte.
Nach der Messe brauchte man noch drei Viertelstunden, um den Kirchhof zu erreichen. Paul ging an der Spitze und schluchzte. Hinter ihm kam Monsieur Bourais, dann die angesehensten Einwohner, die Frauen, die in schwarze Mäntel gehüllt waren, und Félicité. Sie dachte an ihren Neffen, und da sie ihm diese Ehre nicht hatte erweisen können, empfand sie doppelte Traurigkeit, als hätte man ihn mit ihr zusammen begraben.
Madame Aubains Verzweiflung war ohne Grenzen.
Zuerst empörte sie sich gegen Gott, sie fand ihn ungerecht, da er ihr ihre Tochter genommen – ihr, die niemals Böses getan und deren Gewissen so rein war! Doch nein! Sie hätte sie nach dem Süden bringen müssen. Andere Ärzte würden sie gerettet haben! Sie klagte sich an, wollte zu ihr und schrie in Seelenangst, mitten in ihren Träumen. Einer quälte sie besonders. Ihr Gatte kam im Matrosenanzug von einer weiten Reise zurück und erzählte ihr weinend, daß er den Befehl empfangen habe, Virginie mitzunehmen. Alsdann überlegten sie zusammen, ob sie irgendwo ein Versteck ausfindig machen könnten.
Einmal kam sie aus dem Garten, fassungslos. Gerade eben (sie zeigte die Stelle), waren ihr Vater und Tochter erschienen, beide nebeneinander, und sie bewegten sich nicht; sie schauten sie nur an.
Mehrere Monate hindurch blieb sie teilnahmslos in ihrem Zimmer. Félicité redete ihr gut zu; sie müsse sich erhalten, für ihren Sohn und auch für die andere, in Erinnerung »an sie«.
»Sie?« wiederholte Madame Aubain, als ob sie erwache. »Ach! ja! ... ja! ... Sie vergessen sie nicht!« Das war eine Anspielung auf den Friedhof, den man ihr aus Besorgnis verboten hatte.
Félicité ging alle Tage hin.
Schlag vier Uhr ging sie die Häuser entlang, erstieg den Hügel, öffnete das Gitter und trat an Virginies Grab. Es war eine kleine Säule aus rosigem Marmor, darunter eine Platte und Ketten darum herum; sie schlossen ein Gärtchen ein. Die Einfassungen verschwanden unter einer Fülle von Blumen. Sie besprengte ihre Blätter, erneuerte den Sand und kniete nieder, um die Erde besser bearbeiten zu können. Als Madame Aubain hingehen durfte, empfand sie eine Erleichterung, eine Art von Trost.
Dann schwanden Jahre dahin, alle gleichförmig und ohne andere Zwischenfälle als die Wiederkehr der großen Feste: Ostern, Himmelfahrt und Allerheiligen. Haushohe Ereignisse gaben Daten ab, auf die man sich später bezog. So strichen 1825 zwei Glaser das Vorzimmer an; 1827 hätte ein Teil des Daches, das in den Hof hinabstürzte, beinahe einen Mann getötet. Im Sommer 1828 hatte Madame das geweihte Brot zu spenden; um diese Zeit verschwand Bourais auf geheimnisvolle Weise; und nach und nach zogen die alten Bekannten fort: Guyot, Liébard, Madame Lechaptois, Robelin, Onkel Gremanville, der seit langem gelähmt war.
Eines Nachts verkündete der Postkutscher in Pont-l'Evêque die Juli-Revolution. Wenige Tage darauf wurde ein neuer Unterpräfekt ernannt: der Baron von Larsonnière, früher Konsul in Amerika. Er hatte außer seiner Frau seine Schwägerin mit drei schon ziemlich großen Töchtern bei sich. Man sah sie auf ihrem Rasen in wehende Blusen gekleidet; sie besaßen einen Neger und einen Papagei.
Madame Aubain empfing ihren Besuch und unterließ nicht, ihn zu erwidern. Sobald sie sich von weitem zeigten, eilte Félicité, sie zu benachrichtigen. Doch nur eine Sache war allein imstande, sie zu bewegen: die Briefe ihres Sohnes.
Er konnte bei keiner Laufbahn bleiben, da ihn die Kneipen zu sehr in Anspruch nahmen. Sie bezahlte ihm seine Schulden; er machte neue; und die Seufzer, die Madame Aubain ausstieß, während sie am Fenster strickte, drangen bis zu Félicité, die in der Küche ihr Spinnrad drehte.
Sie gingen zusammen am Spalier entlang spazieren; und sie sprachen immer von Virginie, wobei sie sich fragten, ob dieses ihr gefallen hätte oder was sie wohl bei jener Gelegenheit gesagt haben würde.
Alle ihre kleinen Habseligkeiten waren in einem Schrank in dem Zimmer mit den beiden Betten untergebracht. Madame Aubain besichtigte sie so selten wie möglich. An einem Sommertag entschloß sie sich dazu; und Motten entflogen dem Schrank.
Ihre Kleider hingen in einer Reihe unter dem Brett, auf dem sich drei Puppen, Reifen, ein Puppengeschirr und die Waschschüssel befanden, die sie benutzt hatte. Sie zogen auch die Röcke, die Strümpfe, die Taschentücher ans Licht und breiteten sie auf den beiden Betten aus, ehe sie sie wieder zusammenfalteten. Die Sonne beschien all die armen Sachen und machte die Flecken und Falten sichtbar, die sich durch die Bewegungen des Körpers gebildet hatten. Die Luft war warm und blau, eine Amsel zwitscherte, alles schien in einer tiefen Seligkeit zu leben. Sie fanden einen kleinen kastanienbraunen Hut aus langhaarigem Plüsch wieder; doch er war ganz von Ungeziefer zerfressen. Félicité bat ihn sich aus. Jede schaute die andere an, und ihre Augen füllten sich mit Tränen; schließlich öffnete die Herrin die Arme, die Magd warf sich hinein; und sie drückten einander ans Herz und ließen ihrem Schmerz in einem Kuß freien Lauf, der sie beide gleichmachte.
Es war das erste Mal in ihrem Leben, denn Madame Aubain war keine hingebende Natur. Félicité war ihr dankbar dafür wie für eine Wohltat, und von nun an liebte sie sie mit hündischer Ergebenheit und religiöser Verehrung.
Ihre Herzensgüte entwickelte sich.
Wenn sie die Trommeln eines auf der Straße vorbeiziehenden Regiments hörte, stellte sie sich mit einem Krug Most vor die Tür und bot den Soldaten zu trinken an. Sie pflegte die Cholerakranken. Sie beschützte die Polen; und es gab sogar einen, der erklärte, sie heiraten zu wollen. Aber sie zerstritten sich; denn als sie eines Tages vom Angelus kam, fand sie ihn in ihrer Küche, wo er sich eingeschlichen und sich an einen Fleischsalat gemacht hatte, den er ruhig verzehrte.
Auf die Polen folgte Vater Colmiche, ein Greis, von dem man sich erzählte, er habe anno 93 Entsetzliches begangen. Er lebte am Flußufer in einem verfallenen Schweinestall. Die Gassenjungen betrachteten ihn durch die Ritzen der Mauern und warfen mit Kieseln nach ihm, die auf sein Siechbett fielen, wo er dauernd von einem Katarrh geschüttelt lag, mit langem Haar, die Augenlider entzündet und am Arm eine Geschwulst, die größer war als sein Kopf. Sie versorgte ihn mit Leinen, versuchte seine Bude zu reinigen und träumte davon, ihn im Backhaus unterzubringen, ohne daß er Madame belästige. Als der Krebs aufgebrochen war, verband sie ihn jeden Tag, brachte ihm manchmal Kuchen und legte ihn in die Sonne, auf ein Bündel Stroh; und der arme Alte dankte ihr geifernd und zitternd, mit erloschener Stimme, fürchtete sie zu verlieren und reckte die Hände aus, sobald er sie sich entfernen sah. Er starb; sie ließ für die Ruhe seiner Seele eine Messe lesen.
An jenem Tag widerfuhr ihr ein großes Glück: zur Essenszeit stellte sich der Neger von Madame de Larsonnière ein, in der Hand den Papagei in seinem Käfig, mitsamt der Stange, der Kette und dem Vorlegeschloß. Ein Billett der Baronin kündigte Madame Aubain an, daß sie an dem Abend abreisten, da ihr Gatte in eine Präfektur aufgerückt war; und sie bat sie, diesen Vogel zur Erinnerung und als Zeichen ihrer Hochachtung anzunehmen.
Er beschäftigte seit langem Félicités Phantasie, denn er kam von Amerika; und dieses Wort erinnerte sie an Victor, so daß sie sich darüber bei dem Neger Auskunft holte. Einmal hatte sie sogar gesagt: »Wie glücklich wäre Madame, wenn sie ihn hätte.«
Der Neger hatte das Gespräch seiner Herrin berichtet, die sich auf diese Weise seiner entledigte, da sie ihn nicht mitnehmen konnte.
Er hieß Lulu. Sein Leib war grün, die Spitzen seiner Flügel rosa, seine Stirn blau und seine Kehle goldgelb.
Aber er hatte die lästige Gewohnheit, in seine Stange zu beißen, er riß sich die Federn aus, verkleckerte seinen Kot und verspritzte das Wasser seines Bades; Madame Aubain, der er lästig war, schenkte ihn für immer Félicité.
Sie machte sich daran, ihn zu unterrichten; bald konnte er wiederholen: »Reizender Junge! Ihr Diener, mein Herr! Gegrüßt seist du, Maria!« Er wurde in die Nähe der Türe gestellt, und verschiedene Leute waren erstaunt, daß er nicht auf den Namen Jacquot hörte, da doch alle Papageien Jacquot heißen. Man verglich ihn mit einer Pute, mit einer Gans: jedesmal ein Dolchstoß für Félicité! Merkwürdiger Eigensinn Lulus, von dem Augenblick, wo man ihn anschaute, nicht mehr zu sprechen!
Nichtsdestoweniger suchte er Gesellschaft; denn am Sonntag, während Mademoiselle Rochefeuille, Monsieur de Houppeville und neue Habitués, nämlich der Apotheker Onfroy, Monsieur Varin und der Hauptmann Mathieu, ihre Partie Karten spielten, schlug er mit den Flügeln an die Scheiben und gebärdete sich so wild, daß es unmöglich war, sich gegenseitig zu verstehen.
Bourais' Gesicht schien ihm ohne Zweifel sehr komisch. Sobald er ihn bemerkte, begann er zu lachen, mit allen Kräften zu lachen. Das Kollern seiner Stimme dröhnte durch den Hof, das Echo wiederholte es, die Nachbarn stellten sich an die Fenster und lachten auch; und um vom Papagei nicht gesehen zu werden, drückte sich Monsieur Bourais an der Mauer entlang, wobei er sein Gesicht unter dem Hut verbarg, erreichte den Fluß und kam dann durch die Gartentür herein; und die Blicke, die er dem Vogel zuwarf, entbehrten der Zuneigung.
Lulu hatte von dem Fleischerjungen einen Nasenstüber bekommen, da er sich erlaubt hatte, den Kopf in seinen Korb zu stecken; und seit der Zeit versuchte er immer, ihn durch das Hemd zu kneifen. Fabu drohte, er werde ihm den Hals umdrehen, obwohl er nicht grausam war, trotz seiner tätowierten Arme und seines großen Backenbarts. Im Gegenteil! er hatte eher Zuneigung zu dem Papagei, so daß er ihm aus Übermut sogar Flüche beibringen wollte. Félicité, die solche Manieren erschreckten, nahm ihn in ihre Küche. Seine Kette wurde ihm abgenommen, und er spazierte im Haus herum.
Wenn er die Treppe hinabstieg, stützte er die Krümmung seines Schnabels auf die Stufen, hob das rechte Bein, dann das linke; und sie befürchtete, diese Turnerei könnte ihm Schwindel verursachen. Er wurde krank, konnte weder sprechen noch fressen. Unter seiner Zunge fand sich eine Verdickung, wie sie die Hühner zuweilen haben. Sie heilte ihn, indem sie dieses Häutchen mit ihren Nägeln abzog. Monsieur Paul beging eines Tages die Unvorsichtigkeit, ihm den Rauch seiner Zigarre in die Nase zu blasen; ein anderes Mal, als Madame Lormeau ihn mit der Spitze ihres Sonnenschirms, neckte, schnappte er die Zwinge; schließlich verschwand er.
Sie hatte ihn auf das Gras gesetzt, um ihm eine Erfrischung zu gewähren. Sie entfernte sich für eine Minute, und als sie wiederkam, kein Papagei mehr! Zuerst suchte sie ihn im Gebüsch, am Ufer des Wassers und auf den Dächern, ohne auf ihre Herrin zu hören, die schrie: »Seien Sie doch vorsichtig! Sie sind verrückt!« Dann durchsuchte sie alle Gärten von Pont-l'Evêque; und sie hielt die Vorübergehenden an. – »Sie haben nicht zufällig irgendwo meinen Papagei gesehen?« Denen, die den Papagei nicht kannten, beschrieb sie ihn. Plötzlich glaubte sie auf dem Abhang zwischen den Mühlen etwas Grünes zu unterscheiden, das umherflatterte. Aber oben angekommen, nichts! Ein Hausierer versicherte, er habe ihn gerade in Saint-Melaine, im Laden der Mère Simon getroffen. Sie eilte hin. Man verstand nicht, was sie wollte. Schließlich kehrte sie heim, erschöpft, die Schuhe in Fetzen, den Tod im Herzen; und während sie neben Madame Aubain auf der Bank saß, erzählte sie alle ihre Gänge, als sich ein leichtes Gewicht auf ihre Schulter senkte, Lulu! Was, zum Teufel, hatte er gemacht? Vielleicht war er in der Umgebung spazierengegangen!
Sie hatte Mühe, sich davon zu erholen, oder vielmehr, sie erholte sich nie mehr.
Infolge einer Erkältung befiel sie eine Halsentzündung; kurze Zeit darauf stellte sich ein Ohrenübel ein. Drei Jahre später war sie taub; und sie sprach sehr laut, sogar in der Kirche. Obgleich ihre Sünden, ohne ihre Ehre zu beflecken noch Nachteile für andere zu haben, bis in alle Winkel der Gemeinde hätten dringen können, hielt der Herr Pfarrer es für angemessen, ihre Beichte nur noch in der Sakristei entgegenzunehmen.
Wahngeräusche verwirrten sie schließlich vollkommen. Oft sagte ihre Herrin zu ihr: »Mein Gott! wie dumm Sie sind!« Sie erwiderte: »Ja, Madame«, während sie etwas in ihrer Nähe suchte.
Der kleine Kreis ihrer Gedanken verengte sich noch mehr, und das Läuten der Glocken, das Brüllen der Rinder war für sie nicht mehr vorhanden. Alle Wesen verrichteten ihre Handlungen mit der Lautlosigkeit von Gespenstern. Ein einziges Geräusch gelangte jetzt noch in ihre Ohren, die Stimme des Papageis.
Wie um sie zu zerstreuen, ahmte er das Tick-tack des Bratenwenders nach, das laute Rufen des Fischhändlers, die Säge des Tischlers, der gegenüber wohnte; und beim Klang der Türglocke machte er Madame Aubain nach – »Félicité! die Tür! die Tür!«
Sie hatten Zwiegespräche, er, indem er bis zum Überdruß die drei Sätze seines Repertoirs wiederholte, und sie, indem sie durch zusammenhanglose Reden antwortete, in denen jedoch ihr Herz überfloß. In ihrer Vereinsamung war Lulu ihr fast ein Sohn, ein Liebhaber. Er kletterte an ihren Fingern, schnäbelte an ihren Lippen, klammerte sich an ihr Busentuch; und wenn sie ihre Stirn neigte und dabei wie die Ammen mit dem Kopf wackelte, dann schlugen die großen Flügel der Haube mit den Flügeln des Vogels zusammen.
Wenn sich Wolken türmten und der Donner grollte, stieß er Schreie aus, wobei er sich vielleicht der Regenschauer seiner heimatlichen Wälder erinnerte. Das Rauschen des Wassers versetzte ihn in Ekstase; außer sich, flatterte er hinauf zur Decke, warf alles um und flog durch das Fenster, um im Garten herumzupatschen; doch schnell kehrte er auf einen der Feuerböcke zurück und zeigte, während er hüpfend seine Federn zu trocknen suchte, bald seinen Schwanz, bald seinen Schnabel.
An einem Morgen des furchtbaren Winters von 1837, als sie ihn, der Kälte wegen, vor den Kamin gestellt hatte, fand sie ihn tot, mitten in seinem Käfig, den Kopf nach unten und die Krallen in den Drähten. Ein Blutandrang hatte ihn gewiß getötet! Sie glaubte an eine Vergiftung durch Petersilie; und trotz des Mangels jeglicher Beweise fiel ihr Verdacht auf Fabu.
Sie weinte so sehr, daß ihre Herrin zu ihr sagte: »Lassen Sie ihn doch ausstopfen!«
Sie fragte den Apotheker um Rat, der immer gut zu dem Papagei gewesen war.
Er schrieb nach Le Havre. Ein gewisser Fellacher übernahm die Arbeit. Da jedoch der Post manchmal Pakete abhanden kamen, entschloß sie sich, ihn selbst bis nach Honfleur zu bringen.
Die entlaubten Apfelbäume reihten sich zu beiden Seiten der Straße, Eis bedeckte die Gräben. Hunde bellten um die Gehöfte; und die Hände unter ihrem Umhang schritt sie, mit ihren kleinen schwarzen Holzpantinen und ihrem Korb, mitten auf dem Pflaster eilig dahin.
Sie durchquerte den Wald, ließ Haut-Chêne hinter sich und erreichte Saint-Gatien.
Hinter ihr, in einer Staubwolke und mitgerissen vom Gefälle, jagte eine Postkutsche in vollem Galopp wie eine Windhose heran. Als der Wagenmeister diese Frau erblickte, die sich nicht stören ließ, richtete er sich über dem Verdeck auf, und auch der Postillion schrie, während seine vier Pferde, die er nicht zurückhalten konnte, ihren Lauf beschleunigten; die beiden ersten streiften sie; mit einem Ruck seiner Zügel warf er die Tiere an den Rand der Straße, hob aber wütend den Arm und versetzte ihr mit voller Wucht, vom Leib bis zum Genick einen solchen Hieb mit seiner langen Peitsche, daß sie auf den Rücken fiel.
Ihre erste Bewegung, als sie wieder zur Besinnung kam, war, daß sie ihren Korb öffnete. Lulu war zum Glück nichts passiert. Sie fühlte ein Brennen auf der rechten Backe; als sie hinfaßte, hatte sie rote Hände. Das Blut floß.
Sie setzte sich auf einen Meilenstein, betupfte sich das Gesicht mit ihrem Taschentuch, dann aß sie ein Stück Brot, das sie vorsorglich in ihren Korb gelegt hatte, und tröstete sich über ihre Wunde, indem sie den Vogel betrachtete.
Als sie auf die Höhe von Ecquemauville gekommen war, bemerkte sie die Lichter von Honfleur, die durch die Nacht glitzerten wie eine Menge Sterne; weiter in der Ferne breitete sich undeutlich das Meer aus. Da überfiel sie eine Schwäche; und das Elend ihrer Kindheit, die Enttäuschung in der ersten Liebe, der Aufbruch ihres Neffen, Virginies Tod kamen zugleich wie die Wogen einer Flut, stiegen ihr an die Kehle und erstickten sie.
Dann wollte sie mit dem Kapitän des Schiffs sprechen; und ohne zu sagen, was sie verschickte, gab sie ihm Anweisungen.
Fellacher behielt den Papagei lange. Er versprach ihn immer für die kommende Woche; nach Verlauf von sechs Monaten kündigte er den Versand einer Kiste an; und dann war nicht mehr die Rede davon. Man mußte annehmen, daß Lulu nie mehr zurückkommen würde. »Sie werden ihn mir gestohlen haben!« dachte sie.
Endlich kam er an – und prächtig, aufrecht auf einem Baumast sitzend, der in einem Sockel aus Mahagoni steckte, ein Bein in der Luft, den Kopf schräg und eine Nuß knackend, welche der Ausstopfer aus Liebe zu Grandiosem vergoldet hatte.
Sie schloß ihn in ihr Zimmer.
Dieser Ort, zu dem sie wenigen Zutritt gestattete, glich sowohl einer Kapelle als einem Bazar, so viele religiöse Gegenstände und seltsame Sachen enthielt er.
Ein großer Wandschrank behinderte das öffnen der Tür. Dem Fenster gegenüber, das den Garten überhing, schaute ein rundes Guckloch in den Hof; neben dem Gurtbett trug ein Tisch eine Wasserkanne, zwei Kämme und auf einem zerbrochenen Teller einen Würfel blauer Seife. An den Wänden sah man Rosenkränze, Medaillen, mehrere Madonnen, einen Weihwasserkessel aus Kokosnuß; auf der Kommode, die wie ein Altar mit einem Tuch bedeckt war, stand der Muschelkasten, welchen ihr Victor gegeben hatte; dann eine Gießkanne und ein großer Ball, Schreibhefte, die Erdkunde mit den Stichen, ein Paar Stiefel; und am Nagel des Spiegels hing mit seinen Bändern der kleine Plüschhut. Félicité trieb diese Art von Hochachtung sogar so weit, daß sie einen der Gehröcke von Monsieur aufhob. Allen alten Plunder, den Madame Aubain nicht mehr wollte, nahm sie für ihr Zimmer. Aus diesem Grunde standen auch künstliche Blumen hinten auf der Kommode, und in der Vertiefung der Fensterluke hing das Bild des Grafen von Artois.
Mit Hilfe eines Bretts wurde Lulu an einem Kaminrohr befestigt, das in das Zimmer ragte. Jeden Morgen, wenn sie erwachte, erblickte sie ihn im Schein der Morgenröte, und erinnerte sich dann entschwundener Tage und unbedeutender Tätigkeiten bis in ihre kleinsten Details, und das ohne Schmerz, voller Ruhe.
Da sie mit niemand ihre Gedanken austauschen konnte, lebte sie in einer schlafwandlerischen Stumpfheit. Die Fronleichnamsprozessionen belebten sie wieder. Sie ging zu den Nachbarinnen, bettelte Kerzenleuchter und Strohmatten, um den Altar zu verschönern, den man in der Straße errichtete.
In der Kirche betrachtete sie immer den Heiligen Geist, und es fiel ihr auf, daß er etwas von dem Papagei hatte. Diese Ähnlichkeit schien ihr noch deutlicher auf einem Epinaler Bilderbogen, der die Taufe unseres Herrn darstellte. Mit seinen Purpurflügeln und seinem smaragdfarbenen Leib war er wirklich Lulus Ebenbild.
Sie kaufte ihn und hing ihn an den Platz des Grafen von Artois – so daß sie beide mit einem Blick sehen konnte. Sie vereinigten sich in ihrer Vorstellung, wobei sich der Papagei durch dieses Verhältnis zum Heiligen Geist heiligte, während der letztere in ihren Augen lebendiger und verständlicher wurde.
Gottvater hatte, um sich zu offenbaren, keine Taube wählen können, da dieses Tier keine Stimme besitzt, sondern eher einen von Lulus Ahnen. Und Félicité betete, während sie das Bild betrachtete, aber von Zeit zu Zeit wandte sie sich ein wenig nach dem Vogel um.
Sie hatte Lust, der Jungfrauenkongregation beizutreten. Madame Aubain redete es ihr aus.
Ein bemerkenswertes Ereignis stellte sich ein: Pauls Hochzeit.
Nachdem er zuerst Notariatsgehilfe, dann im Handel, beim Zoll, bei der Steuer tätig gewesen war und sogar angefangen hatte, sich bei der Jagd-, Forst- und Wasserverwaltung um eine Anstellung zu bemühen, entdeckte er plötzlich durch eine Eingebung des Himmels mit sechsunddreißig Jahren seinen Beruf: die Registratur! und er zeigte dafür so große Begabung, daß ein Kontrolleur ihm zugleich mit seiner Protektion auch seine Tochter angeboten hatte.
Paul, jetzt ein ernsthafter Mann, führte sie ins Haus seiner Mutter.
Sie machte sich über die Gewohnheiten in Pont-l'Evêque lustig, spielte die Prinzessin, kränkte Félicité. Bei ihrer Abreise empfand Madame Aubain eine Erleichterung.
Die folgende Woche kam die Nachricht vom Tod von Monsieur Bourais, der in einem Gasthof der Basse-Bretagne gestorben war. Das Gerücht eines Selbstmords bestätigte sich; es erhoben sich Zweifel an seiner Ehrlichkeit. Madame Aubain prüfte ihre Bücher, und sie entdeckte bald die Litanei seiner Gemeinheiten: Unterschlagung rückständiger Zinsen, heimliche Holzverkäufe, gefälschte Quittungen und so weiter. Außerdem hatte er ein uneheliches Kind und »Beziehungen zu einer Person in Dozulé«.
Diese Schändlichkeiten betrübten sie sehr. Im Monat März des Jahres 1853 verspürte sie Schmerzen in ihrer Brust; ihre Zunge schien wie mit Rauch belegt, die Blutegel linderten die Beklemmungen nicht; und am neunten Abend verschied sie, gerade zweiundsiebzig Jahre alt.
Man hielt sie für weniger alt, wegen ihres braunen Haares, dessen herabfallende Strähnen ihr blasses, pockennarbiges Gesicht umrahmten. Wenige Freunde betrauerten sie; denn ihr Benehmen war von einem abstoßenden Hochmut.
Félicité beweinte sie, wie man Herrschaften sonst nicht beweint. Daß Madame vor ihr starb, verwirrte ihre Gedanken, schien ihr im Widerspruch mit der Ordnung der Dinge, unstatthaft und ungeheuerlich.
Zehn Tage später (die nötige Zeit, um aus Besançon herbeizueilen) kamen die Erben an. Die Schwiegertochter durchwühlte die Schubladen, suchte sich Möbel aus, verkaufte die anderen; dann kehrten sie zur Registratur zurück.
Der Lehnsessel von Madame, ihr kleiner runder Tisch, ihr Fußwärmer, die acht Stühle waren weg! Wo die Stiche gehangen hatten, zeichneten sich an den Wänden gelbe Vierecke ab. Sie hatten die beiden Bettchen samt den Matratzen mitgenommen, und im Wandschrank fand sich nichts mehr von all den Habseligkeiten Virginies! Félicité stieg die Stockwerke hinauf, vor Trauer halb von Sinnen.
Am nächsten Tag klebte an der Tür ein Zettel; der Apotheker schrie ihr ins Ohr, daß das Haus verkauft werden sollte.
Sie wankte und mußte sich setzen.
Was sie hauptsächlich bekümmerte, war, daß sie ihr Zimmer aufgeben mußte – das für den armen Lulu so behaglich war. Während sie ihn mit angsterfüllten Blicken umfing, flehte sie zum Heiligen Geist und nahm die götzendienerische Gewohnheit an, ihre Gebete kniend vor dem Papagei zu sprechen. Zuweilen fiel die durch die Dachluke dringende Sonne auf sein Glasauge und ließ einen Lichtstrahl aufblitzen, der sie in Verzückung versetzte.
Sie hatte eine Rente von dreihundertachtzig Francs, die ihr von ihrer Herrin vermacht war. Der Garten lieferte ihr Gemüse. Was die Kleider anging, so hatte sie deren genug, um sich bis zum Ende ihrer Tage zu kleiden, und die Beleuchtung sparte sie dadurch, daß sie sich beim Einbruch der Dämmerung zu Bett legte.
Sie ging kaum aus, um den Laden des Trödlers zu vermeiden, wo einige von den einstigen Möbeln standen. Seit dem Anfall zog sie ein Bein nach; und da ihre Kräfte nachließen, kam die Mère Simon, die mit ihrem Kolonialwarenhandel ihr Geld verloren hatte, jeden Morgen, um ihr Holz zu spalten und Wasser zu pumpen.
Ihre Augen wurden schwächer. Die Fensterläden wurden nicht mehr geöffnet. Viele Jahre vergingen. Und das Haus wurde nicht vermietet und nicht verkauft.
Aus Angst, man könnte ihr kündigen, forderte Félicité keine Ausbesserung. Die Latten des Daches verfaulten; während eines ganzen Winters war ihr Deckbett durchnäßt. Nach Ostern spie sie Blut.
Da wandte sich die Mère Simon an einen Arzt. Félicité wollte wissen, was sie hatte. Da sie jedoch zu taub war, um zu verstehen, erreichte sie nur ein Wort: »Lungenentzündung«. Es war ihr bekannt, und sie versetzte leise: »Ach! wie Madame«, es natürlich findend, ihrer Herrin zu folgen.
Die Zeit der Altäre rückte heran.
Der erste war immer unten am Hügel, der zweite vor der Post, der dritte ungefähr in der Mitte der Straße. Um diesen letzteren gab es Rivalitäten; und die Frauen der Pfarrei entschieden sich schließlich für den Hof von Madame Aubain.
Die Beklemmungen und das Fieber wurden schlimmer. Félicité grämte sich, daß sie nichts für den Altar tun konnte. Hätte sie nur irgend etwas beisteuern können! Da dachte sie an den Papagei. Das sei nicht passend, entgegneten die Nachbarinnen. Doch der Pfarrer gab die Erlaubnis; sie war darüber so glücklich, daß sie ihn bat, wenn sie tot sei, Lulu, ihren einzigen Reichtum, von ihr anzunehmen.
Vom Dienstag bis zum Samstag, dem Vorabend von Fronleichnam, hustete sie immer häufiger. Am Abend war ihr Gesicht eingefallen, die Lippen klebten am Zahnfleisch, sie mußte sich erbrechen; und da sie sich bei Anbruch des folgenden Tages sehr schwach fühlte, ließ sie einen Priester rufen.
Drei alte Frauen waren da während der letzten Ölung. Dann erklärte sie, daß sie Fabu sprechen müsse.
Er kam im Sonntagsstaat, sich unbehaglich fühlend in dieser düsteren Atmosphäre.
»Verzeihen Sie mir«, sagte sie beim Versuch, den Arm auszustrecken, »ich glaubte, Sie seien es gewesen, der ihn getötet hat!«
Was sollte das Geschwätz? Ihn eines Mordes verdächtigt zu haben, einen Mann wie ihn! und er entrüstete sich, fing an Lärm zu machen. – »Sie ist von Sinnen, Sie sehen ja!«
Von Zeit zu Zeit sprach Félicité zu Phantomen. Die alten Frauen entfernten sich. Die Simonin frühstückte.
Ein wenig später nahm sie Lulu und hielt ihn Félicité hin.
»Kommen Sie! nehmen Sie Abschied von ihm!«
Obgleich er keine Leiche war, fraßen ihn die Würmer; einer seiner Flügel war gebrochen, das Werg kam ihm aus dem Bauch. Doch, blind wie sie jetzt war, küßte sie ihn auf die Stirn und drückte ihn gegen ihre Wange. Die Simonin nahm ihn zurück, um ihn auf den Altar zu stellen.
Den Wiesen entströmte der Duft des Sommers. Fliegen summten; die Sonne ließ den Fluß glitzern, wärmte den Schiefer auf dem Dach. Die Mère Simon, die ins Zimmer zurückgekommen war, schlief sanft ein.
Glockenschläge weckten sie; man kam aus der Vesper. Félicités Fieberphantasien ließen nach. Sie dachte an die Prozession und sah sie vor sich, als wenn sie mitgelaufen wäre.
Alle Schulkinder, die Sänger und die Feuerwehr gingen auf den Bürgersteigen, während in der Mitte der Straße vorangingen: der Schweizer mit seiner Hellebarde, der Mesner mit einem großen Kreuz, der Lehrer, der die Knaben überwachte, die Nonne, besorgt um ihre kleinen Mädchen; drei der hübschesten, die wie Engel frisiert waren, streuten Rosenblätter; der Diakon mäßigte mit ausgestreckten Armen die Musikanten; und zwei Knaben mit Weihrauchfässern wandten sich bei jedem Schritt nach dem Heiligen Sakrament, das der Herr Pfarrer in seinem schönen Meßgewand unter einem von vier Kirchenvorstehern getragenen Baldachin aus hochrotem Samt trug. Ein Strom von Menschen drängte sich nach, zwischen den weißen Tüchern, die die Mauern der Häuser bedeckten; und man langte am Fuße des Hügels an.
Kalter Schweiß feuchtete Félicités Schläfen. Die Simonin trocknete sie mit einem leinenen Tuch ab, während sie sich sagte, daß sie eines Tages dasselbe durchmachen müsse.
Das Murmeln der Menge wuchs, war einen Augenblick sehr stark, entfernte sich.
Eine Gewehrsalve erschütterte die Scheiben. Das waren die Postillione, die die Monstranz grüßten. Félicité verdrehte die Augen und sagte so laut sie konnte:
»Ist ihm wohl?« in der Angst um den Papagei.
Ihr Todeskampf begann. Ein immer schnelleres Röcheln hob ihre Seiten. Schaumblasen kamen in ihre Mundwinkel, und ihr ganzer Körper zitterte.
Bald unterschied man das Schnarren der Klapphörner, die hellen Stimmen der Kinder, die tiefe Stimme der Männer. Zuzeiten schwieg alles, und das Geräusch der Schritte, das die Blumen dämpften, klang wie das einer Herde auf dem Rasen.
Die Geistlichkeit erschien im Hof. Die Simonin kletterte auf einen Stuhl, um das runde Guckloch zu erreichen, und überschaute so den Altar.
Grüne Girlanden hingen um den Altar, der mit einer Falbel aus englischen Spitzen geschmückt war. In der Mitte stand ein kleiner Rahmen, der Reliquien umschloß, an den Ecken zwei Orangenbäume und auf der ganzen Länge silberne Leuchter und Porzellanvasen, aus denen Sonnenblumen, Lilien, Pfingstrosen, Fingerhut und Büsche von Hortensien ragten. Dieser Berg von leuchtenden Farben fiel schräg von der ersten Stufe bis zum Teppich ab und setzte sich auf dem Pflaster fort; und seltene Dinge zogen die Blicke auf sich. Eine goldene Zuckerdose trug einen Veilchenkranz, Ohrgehänge aus Alençonner Stein glänzten auf Moos, zwei chinesische Wandschirme zeigten ihre Landschaften. Unter Rosen verborgen ließ Lulu nur seine blaue Stirn sehen, die einem Stück Lapislazuli glich.
Die Kirchenvorsteher, die Sänger, die Kinder reihten sich an den drei Seiten des Hofes auf. Der Priester erklomm langsam die Stufen und setzte seine große strahlende goldene Sonne auf die Spitzendecke. Alle knieten nieder. Tiefe Stille trat ein. Und die Weihrauchfässer glitten schwungvoll an ihren Kettchen.
Ein blauer Rauch stieg in Félicités Zimmer. Sie streckte die Nase vor, ihn mit mystischer Lust einsaugend; dann schloß sie die Augen. Ihre Lippen lächelten. Die Schläge ihres Herzens verlangsamten sich mit jedem Mal, mit jedem Mal wurden sie schwächer, leiser, wie ein Quell, der versiegt, wie ein Echo, das verklingt; und als sie ihren letzten Atemzug tat, glaubte sie, in dem geöffneten Himmel einen riesigen Papagei zu sehen, der über ihrem Haupt schwebte.