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So blieb alles im gleichen. Aber in Renes Köpfchen tauchte noch manchmal der Gedanke auf, daß Balder nicht für sie als Gespiele passe, weil er so ganz anders sei als die andern, und man niemals mit ihm glatt auskomme; aber dann meinte sie wieder, man müsse ihm etwas zu gute halten. Denn es schien ihr doch, daß manches in ihm feiner sei, als in den andern. Wenn er nicht mißmutig war, so hatte er ein helles Gesicht, in das jedes gern blicken mochte, auch sie selbst; und weil er selten lachte, so klang es um so herzlicher, wenn es geschah, so daß er ihr dann besonders gut gefiel. Sie sagte es ihm auch: »Wenn du nur öfter lachen würdest, Balder, es wäre so hübsch.«
Und er: »Ich kann mich auch freuen, ohne zu lachen. Wenn ich an etwas denke, was mir lieb ist, so freue ich mich und lache doch nicht.«
Damit war sie zufrieden. – Aber doch hatte sie oft ihre liebe Not mit ihm und mußte ihm vieles nachsehen, wie sie ihrer Mama mitteilte, 130 wenn er zuweilen alle Kinder mit seinem eigenen Wesen plagte und sie besonders.
Renes Mutter besaß einen Hof mit Meierei außerhalb der Stadt. Dahin nahm sie einst die Kinder mit, so viel ihrer auf zwei Wagen Platz hatten, und auch Balder war dabei. Alle freuten sich auf den prächtigen Ausflug, und die Stimmung der jungen Gesellschaft war so sonnig wie der Tag, an dem sie hinaus fuhren. Der Meierhof lag auf einer schönen Waldwiese, von der schattiger Wald hinan stieg. Man hatte allerlei Spiele vor, wie gewöhnlich, aber den Hauptreiz bot diesmal die Erlaubnis, in den Wald hinauf zu gehen und Erdbeeren zu sammeln. Diese waren nun in voller Reife, und man sagte es dem Walde zu besonderem Lobe nach, daß er reichlich damit versehen war. Nur wuchsen sie auf versteckten Plätzchen, und es galt nun solche zu entdecken.
Der Wetteifer wurde somit angespornt, wer von den Kindern am meisten sammeln werde. Sie bekamen Täschchen aus Birkenrinde, die mit kleinen Stäben haltbar gefügt waren, und in 131 denen die Frucht sich besonders frisch erhielt. Also teilten sie sich mit Absicht und Zufall, um auf die Suche zu gehen.
Rene und Balder hatten sich aneinander geschlossen; jedes trug sein Rindentäschchen sorgsam in der Hand, und sie stiegen wohlgemut hinan in den prächtigen Laubwald. Die Sonne blieb draußen; sie konnte nicht mit eindringen, denn die breitwipfeligen Buchen bildeten ein Dach, das ihr den Eingang wehrte. Dennoch tropfte ihr Licht überall durch die Dachlücken herein und schimmerte golden grün bis zum Grunde hinab, so daß die Flügeldecken der Käfer aufleuchteten, die dort ihr Wesen trieben unter zart gefiederten Farnen und Glockenblumen, und der graue Stamm einer einzelnen hohen Tanne mit hellen Tupfen besprengt wurde.
Rene und Balder waren weiter als die andern vorgedrungen, und das Lachen und Jauchzen der zerstreuten Gesellschaft drang nur gedämpft zu ihnen. Alles war so schön um sie her, daß die Schönheit des Waldes auch die Kinder überfloß, und sie sich zuweilen erstaunt anblickten, als hätten 132 sie sich zum erstenmale gesehen. Rene plauderte traulich, und Balder hörte ihr zu. Er meinte wieder, aus dem Rauschen und Weben und aus dem seltsamen Lichtgefunkel in der Ferne müsse etwas wundersames kommen, und dachte dann, es sei genug wundersam, daß er hier mit Rene gehe. Er fühlte eine traumhafte Seligkeit im Herzen, als hätte er schon einmal von etwas geträumt, das so war, wie er es heute erlebte. Rene sah dagegen alles mit wirklichen Augen vor sich, jede Blume, jedes Gesträuch und jeden Grashalm, und sie war desto freudiger. Werden wir bald Erdbeeren finden? war unter den vielen wichtigen Gedanken, die in ihr auftauchten, der allergewichtigste. Das war ihr wirkliches Ziel, dem sie durch den ganzen Waldeszauber nachschritt, während Balder nichts deutlich sah, und doch alles um ihn her durchsichtig und lebendig ward. Rene beäugelte ihn schelmisch von der Seite und fragte: »An was denkst du?«
»An garnichts,« erwiderte er.
»Wie kann man denn an garnichts denken!« rief sie mit leisem Vorwurf aus. »Das ist nicht recht. 133 Und denkst du nicht an die Erdbeeren, die wir finden sollen, schönere als alle andern?«
»Ja gewiß, auch an das. Wir müssen die schönsten finden, die im Walde sind, das weiß ich.«
»Nun, das ist recht, wenn du so denkst. Das gefällt mir wieder von dir, Balder. Aber dann mußt du auch fleißig suchen und nicht so in die Luft schauen. Dort wachsen sie nicht.« Und ihr kindliches Lachen klang wie Vogelgesang in den Wald.
Sie gingen weiter, das kleine Mädchen plaudernd und dabei immer eifrig suchend, Balder wieder mit seinem Blick in die Ferne verloren und darüber das Nahe übersehend.
Plötzlich hielt Rene den Schritt an und reckte das schlanke Hälslein, ihre Augen leuchteten.
»Siehst du was, Balder?«
»Wo?«
»Dort hinter den beiden Gebüschen. Dort ist alles rot von den schönsten Erdbeeren.«
Und sie eilte darauf zu; Balder folgte ihr.
Es war eine kleine Erhöhung, ein lauschiges Plätzchen, das den ganzen Vormittag von der 134 Sonne beschienen wurde; jetzt lag es im Schatten, und in der That war alles rot besäet von würzigen Erdbeeren inmitten des frischen Grüns.
Rene jauchzte auf. »Wie froh bin ich, Balder! Wir werden die schönsten haben. Welch ein Glück! Nun sammeln wir rasch!«
Aber Balder blickte noch immer vor sich in den Wald hinein. Dort webte es mit goldenem Sonnenlicht im Gezweige und rief und lockte ihn stumm und beredt: Komm, da ist es noch schöner. Und was du begehrest, findest du hier weit besser. – Er schwankte noch. Die Nähe lag vor ihm wie ein prächtig gedeckter Tisch, und er sollte weiter suchen! Da schien es ihm mit einem Male, als sehe er den blauen Sittich durch die grünen Baumwipfel schweben, und sein Gefieder erschimmerte wundersam. Dazu kam ein Klingen aus der Ferne durch den Wald gezogen, wie das seltsam süße Getön des Muschelhorns, das er schon zweimal gehört hatte, und das rief: Komm, folge mir nach. Immer weiter und du findest alles schöner: einen noch grüneren Wald und Erdbeeren, die noch röter sind. Komm!
135 Nun galt es kein Besinnen; er sagte eifrig zu Rene: »Bleiben wir hier nicht. Laß uns weiter gehen. Das sind noch immer nicht die schönsten Erdbeeren, die hier wachsen. Komm, die finden wir erst weiter oben.«
Und er zeigte mit der Hand in eine unbestimmte Ferne.
Rene, die sich schon gebückt hatte und zu sammeln begann, erwiderte: »Nein, nein, wie magst du nur so reden, Balder! Da müßte mich jeder auslachen, wenn ich von hier wegginge. Weiter suchen! das fiele mir ein, wo hier alles in Hülle und Fülle ist. Bleib' da, Balder, und sei froh.«
»Nein, ich will nicht – ich kann nicht. Ich gehe weiter. Komm!«
Rene nahm sich nicht Zeit aufzublicken, so emsig sammelte sie; aber in ihrem kindlichen Herzen stieg ein Zorn gegen Balder auf und sie sagte: »Geh du, wenn du willst. Ich bleibe.«
»Gut, so gehe ich,« antwortete er.
Nun rief sie ängstlich: »Du wirst mich doch nicht allein lassen, Balder, Balder!«
Er aber war schon weiter gegangen. Das 136 wunderbare Klingen, das ihn noch immer durch den Wald tiefer hinein lockte, übertönte das Rufen des kleinen Mädchens; aber den blauen Sittich sah er nicht mehr.
Rene erhob sich bestürzt, und etwas wie Furcht überkam sie; da hörte sie nahende Schritte, sie atmete erleichtert auf: es war Irg, der heran kam. Sie begrüßte ihn freudig und klagte über den thörichten Balder, der noch etwas weiter suchen wollte, was ihm vor der Nase lag: die prächtigsten Erdbeeren, und sie ermunterte nun Irg wohlwollend, mit ihr den Segen einzuheimsen. Beide füllten auch ihre Rindentäschchen bis zum Rande mit der duftigen Frucht und traten dann den Rückweg zur Meierei an, wo sich auch schon die andern versammelt hatten, jedes mit mehr oder minder des begehrten Gutes versehen. Auf der Waldwiese stand der Tisch mit weißem Linnen gedeckt; die Erwachsenen saßen bereits daran, und auch die Kinder nahmen ihre Plätze zur wohlverdienten Jause ein, deren Hauptschüssel köstlich süßen Rahm enthielt, zu dem die gesammelten Erdbeeren besonders gut schmecken sollten.
137 Alle saßen bereit, nur einer fehlte, das war Balder. Ein Fragen erhob sich von den Erwachsenen, wo er geblieben sei? Die Kinder wußten schon um die Sache, denn Irg hatte es ihnen mitgeteilt, und sie lachten und tuschelten über den thörichten Balder, der mit nichts zufrieden war und alles besser haben wollte als die andern. Endlich erschien er am Waldrande und kam mit langsamen Schritten näher. Die Kinder sahen es ihm gleich am Gesichte an, daß er nichts gefunden hatte.
Und so war es auch; sein Rindentäschchen war leer. Sie lachten ihn weidlich aus; doch Renes Mutter tröstete ihn mit einigen Worten und lud ihn ein, sich zu Tisch zu setzen, und reichte ihm von dem allgemeinen Schatze, der gesammelt war. Er aß von der Milch, rührte jedoch die Erdbeeren nicht an. Rene selbst sprach garnichts, sie lachte auch nicht wie die anderen.
Aber Balders sonniger Tag war getrübt; er blieb wortlos, in sich gekehrt und nahm an der ganzen Unterhaltung keinen Teil. Sie ließen ihn auch sein, wie er war. Er fühlte, daß er 138 an dem Ganzen selbst Schuld trage und daß ihn etwas verblendet hatte, weiter hinein in den Wald zu gehen. Er fühlte auch, daß er das Wirkliche verschmäht um eines lockenden Ungewissen willen; aber er hatte es in gutem Glauben gethan. Die Ferne hatte ihm zugerufen: Komm! und er mußte folgen. Das alles bedrückte sein kindliches Gemüt, und er war unzufrieden mit sich und den andern. Er sah auch, daß Rene heiter und wohlgemut mit allen sprach; nur für ihn hatte sie keinen Blick. Da regte sich in ihm der Trotz und er dachte sich: ich will ihr zeigen, daß mir nichts daran liegt. Und als die Kinder nach genossenem Mahle sich auf der Waldwiese im Spiele zu tummeln begannen, da war er in jäh erwachter Laune allen voran. Man erkannte ihn kaum wieder, so gewaltsam hatte er sich in eine aufgeregte Lustbarkeit hinein gezwungen und gefiel sich darin, jubelnder als alle andern zu sein. Die Erwachsenen am Tische sagten unter sich: Welch ein sonderbarer Knabe! Nun tollt er herum und ist doch vorhin wie ein Steinbild gesessen. Den Kindern gefiel er nun 139 wieder prächtig, und auch Rene betrachtete ihn oft verwundert; aber er hatte keinen Blick für sie, und es schien ihm mehr an dem Wohlgefallen aller andern zu liegen als an dem ihrigen.
Aber als dies eine gute Weile gedauert hatte, schnappte er wieder ab; eben so plötzlich wie seine übermütige Laune gekommen war, entschwand sie wieder und ließ, wie ein gefälliges Musikstück, das jäh abgebrochen wird, die Empfindung des Mißtons zurück. Er stand wieder wortlos bei Seite und mißmutiger als je, so daß sich alle Teilnehmer der Geselligkeit in dem Gedanken vereinigten: Mit dem ist nichts anzufangen; zwingt er sich ja einmal gut zu thun, so ist es dann um so ärger mit ihm. Diese seine Stimmung hielt auch auf der Heimfahrt an. Er bedankte sich mit einigen leisen Worten bei Renes Mutter für die vergnügliche Gasterei, während es die andern mit lautem Jubel thaten, aber dann ging er hinweg, ohne von Rene Abschied zu nehmen. 140