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»Ausg'steckt is!«
Die grünen Fichten- und Föhrenbuschen winken von den Wirtshaustüren, baumeln an langen Stangen unter Hausgiebeln als »des Herrgotts Zeigefinger, daß hier heuriger Wein zu haben ist«; und wir wandeln mit bedächtigem Genießerschritt in jene stille Gegend, wo der Wein bis in die Dorfstraßen hineinwächst: nach Sievering, dem uralten Weinbauernestchen mit seinen steilen, vielfach 38 gekrümmten Gassen, seinen klotzigen, dickgemauerten, kleinfenstrigen Häuschen, an deren Wänden überall die Reben emporklettern, gerade so wie damals, als Mozart, Schubert, Grillparzer und wer sonst noch im alten Wien dem staubigen Alltag gerne ein Schnippchen schlug, allsonntäglich das gesegnete Gelände durchstreifte und voll neuer Melodien und Gedanken wieder in seine kleinen, armseligen Wohnräume zurückkam.
Damals stand die schlichte, bäuerlich derbe gotische Kirche, die aus dem 14. Jahrhundert stammt, noch mitten in der freien, wiesenduftenden Landschaft, mit dem mächtigen Turm, den man, wohl ohne zureichenden Grund, als ein propugnaculum, einen Wartturm der alten Römer, angesprochen hat. Heute drängen sich von allen Seiten Gärten und Landhäuser an die Kirche heran, und hätte sie nicht ihre Ellbogenfreiheit gebraucht und wenigstens eine leidlich breite Zone von Baumanlagen um ihre strengen Mauern gelegt als ein grünes noli me tangere, so hätten ihr die nicht immer geschmackvollen Neubauten reichgewordener Emporkömmlinge längst die Lebensluft abgewürgt.
Und doch ist dieses Sievering viel bodenständiger und urwüchsiger geblieben als die anderen Villenorte; einem schlichten, rotwangigen Winzermädel möchte man es vergleichen, während Dornbach oder Pötzleinsdorf schon zur Modedame geworden ist. An der Donau bei Nußdorf beginnt diese bunte Kette und legt sich im mächtigen Halbkreis um den Westen der Stadt; Grinzing, Sievering, Pötzleinsdorf, Dornbach, Hütteldorf, Ober Sankt-Veit, Lainz, Hetzendorf. Dort im Süden liegt schon eine andere Welt: 39 die Ebene des Wiener Beckens, wo in Hunderten von Fabriken die Industrie der Großstadt fiebert und Land und Menschen ein grundverschiedenes Gesicht tragen.
Wohl sind alle diese Orte längst in das Wiener Gemeindegebiet einbezogen. Aber wenn auch die Straßentafeln in Neustift am Walde den Vermerk »XVIII. Bezirk« tragen, der freundliche, langhingedehnte Ort mit dem idyllischen Kirchlein ist auch heute noch eine Persönlichkeit. Und dem richtigen Weinbeißer ist es durchaus nicht gleichgültig, ob er sein Gläschen in Nußdorf, Dornbach oder Grinzing trinkt.
Und gar verschieden sind auch die Lokale, wo der gute Tropfen verabreicht wird.
Da gibt es kleine, nur aus ein paar niedrigen Stuben bestehende Weinbauerhäuschen, deren Besitzer die Schankgerechtigkeit besitzen und für die Zeit, da sie den selbst gekelterten Wein ausschenken dürfen, oft die Möbel des größten Zimmers ausräumen, um für die Gäste Raum 40 zu schaffen; hier herrscht noch die Gemütlichkeit vergangener Zeiten, der Hausvater selbst schenkt ein, man verzehrt auf einfachen Holztischen das mitgenommene bescheidene Nachtmahl, die unbedingt notwendige, stimmungsvolle »Heurigenmusik« wird von einer Geige, einer »Klampfen« oder Zither und von den wacker mitsingenden Gästen selbst besorgt, eine vom Deckenbalken herabhängende Petroleumlampe beleuchtet Szenen, würdig eines niederländischen Meisterpinsels. Andere Gaststätten sind schon anspruchsvoller; da steht am Rand des Waldes oder der Wiese ein eigens zum Zweck erbautes hölzernes Blockhaus mit größeren Räumen und allerlei Behaglichkeit, oder ein altes Wohngebäude ist den Besitzern abgekauft und entsprechend hergerichtet worden; eine kleine Musikkapelle spielt, wohlhabende Bürger mit Frauen und Kindern bilden das Sonntagspublikum und lassen auftragen, was gut und teuer ist – und es ist hier alles teuer, wenn auch nicht immer gut. Es gibt verschiedene Sorten Wein und zur Bedienung genügen der Hausvater und seine Familie lange nicht mehr. Doch sind die Namen der Lokale immerhin noch ein wenig altbürgerlich – zur Resitant, zur Annamirl, zur Gisl auf der Mauer . . . Man ißt und trinkt reichlich, aber man kennt sein Maß, und Arm in Arm, mit bunten Lampions, singend und trällernd tritt man den Heimweg zur Haltestelle der Elektrischen an. Die dritte und unerfreulichste Gattung der Weinlokale aber trägt schon an der Eingangspforte das warnende Mal »Luxusbetrieb«. Ankunft und Abfahrt vollziehen sich im Auto, und was dazwischen liegt, heißt Schiebertum, Halbwelt, unverschämtes Kellnerpack, Blasiertheit, öde 41 Stimmungshascherei – ein Zerrbild der Wiener Gemütlichkeit.
Von Neustift am Walde führt uns eine prächtige breite Straße nach Neuwaldegg und Dornbach. Hier fanden am 12. September 1683 die letzten Kämpfe statt, welche der Belagerung Wiens ein Ende machten; über Salmannsdorf und Neustift marschierend, griffen die Polen unter Sobieski die traurigen Reste des Türkenheeres an, als der entscheidende Schlag der deutschen Hilfsvölker gegen die Hauptarmee im Norden des Schlachtfeldes bereits gefallen war. Armer Sobieski! Alle die prahlerischen Briefe an deine Gattin, das »innigstgeliebte Mariechen«, in denen du dich als den Retter Wiens hinstellst, haben dir bei der Nachwelt nichts genützt und dir und den Deinen bleibt der traurige Ruhm, das mit unermeßlicher Beute gefüllte Lager des Kara Mustafa auf der Schmelz wacker geplündert zu haben, während die Deutschen das fliehende Türkenheer verfolgten.
Betreten wir den wunderschönen, oberhalb Dornbachs gelegenen Park des Schlosses Neuwaldegg. Hundert Jahre nach der großen Türkenschlacht hat ihn Graf Lacy, der Günstling und Vertraute Kaiser Josefs II., anlegen lassen und ein ganzes Menschenalter hindurch arbeitete er an dem Riesenwerk. Wie es ward und wuchs, unablässig gefördert von der liebevollen Fürsorge seines Schöpfers, ist wahrlich eine kurze Betrachtung wert; denn der Park von Neuwaldegg ist der größte und älteste von ganz Österreich, und sein Begründer, mag er auch von dem völlig unkriegerischen Kaiser Josef als Feldherr sehr stark überschätzt worden sein, hat sich vollen Anspruch auf den 42 Dank der Nachwelt erworben. Englische Lords, dem Feldmarschall befreundet und selbst Besitzer großer Gärten in ihrer Heimat, förderten das Werk mit Rat und Tat; Kaiser Josef, der große Gartenliebhaber, der den Wienern seinen Augarten erschloß, nahm starkes Interesse daran; noch steht die kleine, zierliche Kapelle mit dem säulengetragenen Portal, die Lacys und seines Freundes Browne sterbliche Reste umschließt. Die Marswiese mit der Statue des ruhenden Kriegsgottes, der Gladiator, der sterbende Krieger, die große steinerne Vase, das Ruheplätzchen am Spiegelteich, der Dianatempel: hier spricht die köstliche, unseren Zeiten nicht mehr erreichbare Gartenkunst des 18. Jahrhunderts zu uns, Ausdruck und Symbol jener »Rückkehr zur Natur«, die Rousseau predigt. War das nicht im Grunde die gleiche dunkle Sehnsucht der armen, luft- und lichthungrigen Stadtmenschen, die heute Tausende von Wienern an jedem Sonntag in die grünen Arme ihres geliebten Wienerwaldes treibt? 43
Wenn der Feldmarschall Graf Lacy, durch seinen Park lustwandelnd, an dem chinesischen Landhaus, den Tropfsteingrotten, den Springbrunnen und lauschigen Bosketten vorbei zum Dianatempel kam und an dessen Rückseite durch den schönen Eichen- und Buchenwald emporstieg, gelangte er zu seinem Lieblingsaufenthalt, dem Holländerdörfel oder Hameau. Siebzehn kleine Häuser standen auf der umfriedeten Wiese, rindenbekleidete Hütten, vor welchen nach holländischer Art je ein Baum gepflanzt war. »Die Aussicht« nannten Lacy und Browne jene Stelle. Der alte F. C. Weidmann, der im Jahre 1823 die Umgebungen Wiens beschrieb und von der großen und weitläufigen Anlage des Hameaus noch viel mehr erhalten sah als wir Heutigen, schildert den Blick von dieser Anhöhe mit der ganzen 44 Gefühlsseligkeit seines Zeitalters: »Eine Treppe von 21 Stufen führt in den herrlichen freundlichen Salon des Marschallszimmers; das Herze pocht freudiger bey der unermeßlichen Fernsicht, welche sich hier dem Auge öffnet. Über einen großen, herrlichen, reichen Theil unseres geliebten Vaterlandes schwingt sich hier der staunende Blick im Gefühle des gerechtesten Wohlgefallens an dem theuren heimischen Boden; wo man hinabschaut: in die reizenden Thäler, welche der stille Weidlingbach durchrieselt, oder über den Silberspiegel des alten Isters, und die gesegneten Ebenen des Marchfeldes, oder gegen die Kaiserstadt hin, auch hinunter gegen die Ebenen Ungarns, allüberall zeigt sich eine Fülle von Reiz, von Abwechslung und Schönheit, welche den Beschauer fast festbannt an dieses herrliche Plätzchen.«
Hier entfaltete sich das buntbewegte Leben auf dem Edelsitz eines Kavaliers im 18. Jahrhundert. Die Anwesenheit Lacys zog Gäste aus den höchsten Ständen in das stille Dörfchen; sie kamen im Glanz ihrer brokatenen Westen und goldbetreßten Röcke, ihrer seidenen Strümpfe und Galanteriedegen, ihrer Reifröcke und gepuderten Frisuren und in ihrem Gefolge kamen alle diejenigen, denen in Wien der Wettbewerb und das Angebot zu groß war: Musiker, Maler, Tänzer, Schauspieler und Dichter. Was mag da droben geleuchtet und gesprüht und geklungen haben an Sommerfesten und Feuerwerk, an Theatervorstellungen, Jagden, Tanzunterhaltungen und Schäferspielen! Wie eifrig mag man jenen tändelnden Naturkultus getrieben haben, in dem sich das sentimentale Jahrhundert so sehr gefiel! 45
»O site de mon choix! hameau que je préfère,
Heureux qui vit içi tranquille et solitaire!«
so ließ Graf Lacy auf das Rindenhüttchen schreiben, das er zu seinem Aufenthalt gewählt. Beneidenswertes Zeitalter!
Von Neuwaldegg führt eine der schönsten Straßen des Wienerwaldgebietes über die Rohrerhütte und den Exelberg zur Höhe der Sophienalpe empor. Wer den ganzen Zauber der Waldgebirgslandschaft erleben will, der muß da droben stehen, auf der Franz Karls-Aussicht, wenige Minuten nach Sonnenuntergang, wenn Tag und Nacht sich die Hände reichen, wenn die ganze Westhälfte des Himmels noch die warmen Farbentöne von Rot und Gelb zeigt und die phantastischen Wolkenburgen lodern und glühen, als stünden Himmel und Erde dort in den Flammen einer Götterdämmerung; im fernen Osten aber liegt auf blaugrauer Wolkenbank ein müder, grünlich silberner Mond. Und ringsum das Schweigen der Wälder, die Angelus Silesius-Stimmung der großen, großen Sehnsucht nach Frieden, aus der Goethe sein wunderbares »Über allen Gipfeln ist Ruh« geschöpft hat. Vielleicht stand Franz Schubert in einer solchen Abendstunde auf der einsamen Höhe, als er die Melodie zu jenen Dichterworten fand, und die gleiche unbegreiflich hohe Macht goß ihm die Töne ins Herz. Es gibt einen Gott der Stunde, wie es einen Gott des Ortes gibt.
Die Straße hält sich noch kurze Zeit auf der Höhe, um sich dann in großen Serpentinen in das waldige Tal von Hainbach hinabzusenken. Geheimnisvoller Reiz umwittert diese weißen stillen Straßen, und ihre ruhige Linie singt das ewige Lied von Wanderlust und Wanderromantik. 46
Aus der kühlen Dämmerung des Buchenwaldes taucht sie auf, zieht an stillen Waldwiesen vorüber, steigt und fällt, dehnt und streckt sich wie der Leib eines Tieres in wohligem Behagen, leuchtet auf im Sonnenglanz und verdämmert wieder im grünen Waldesschatten. Und man geht und geht und geht, der Tritt des Fußes wird zu Takt und Rhythmus, und aus der Tiefe alter Kindheitserinnerungen löst sich Wort und Weise: oh wandern, wandern, meine Lust, oh wandern! Herr Meister und Frau Meisterin, laßt mich in Frieden weiter ziehn und wandern – und wandern!
Hainbach. Ein Wiesenplatz, ein paar Baumgruppen, einige Wirtshaustische, eine Kegelbahn, eine kleine Gesellschaft von Ausflüglern, fröhlich die mitgebrachten Proviantbüchsen leerend, und ein Rudel Wandervögel. Braune Mädel mit Rucksack, Hängezöpfen und blanken Waden, sehnige Burschen ohne Hüte; einer stimmt die Laute und singt ein Lied aus dem Zupfgeigenhansel. Und die Bürger am Nachbartisch hören zu, lächelnd, neugierig und ein klein wenig neidisch; als sie selbst noch so jung und wanderfroh waren, galt solche harmlose Heiterkeit und Kameradschaft zwischen heranwachsenden Buben und Mädeln als Verbrechen gegen die hausbackene Moral. Die älteren Frauen sehen sich an, zischeln, entrüsten sich über die Jugend von heute und der Zupfgeigenhansl singt: »Schwäbische, bayrische Dirndlein, juchheirassassa, muß der Schiffsmann fahren!«
An dem Stifterbaum in Hinterhainbach haben Freundeshände einst eine Gedenktafel angebracht, und das Haus, in dem er schöne, gestaltungsfrohe Jahre seines stillen Dichterlebens verbrachte, stand bis vor kurzem noch in seiner alten Gestalt; gerne denkt man sich den schweigsamen 48 Malerpoeten an dieser Stelle, ihn, der an der Staffelei immer der Dichter und mit der Schreibfeder in der Hand immer der Maler war. Wie oft mag er am Ufer des geschwätzigen Mauerbaches gesessen und dem Herzschlag des geliebten Waldes gelauscht haben wie einst in der Böhmerwaldheimat! Oder er griff zum Wanderstab und zog die schöne Straße hinab, die am Laudongrab vorüber nach Hadersdorf und Mariabrunn führt; dort hätte er sogar einmal Professor an der Forstakademie werden können, wenn er nicht unbegreiflicherweise am Tage der mündlichen Lehramtsprüfung einfach ausgeblieben wäre, nachdem die schriftliche bereits mit gutem Erfolg bestanden war. Ein echt österreichisches Poetenstückel.
Wo der Mauerbach in die Wien mündet und das Tal dieses launischen und ungebärdigen Wildbaches, den man jetzt endlich mit Stauweihern und Steindämmen gebändigt hat, sich zu einer großen Überschwemmungsebene verbreitert, liegt Mariabrunn.
Vater Eichendorff – diesen Ort hättest du sehen sollen. Es gibt Sommerabende, an denen alle Geister der Romantik um die alten Klostermauern schweben. Wenn man auf der Brücke steht, die über das große Staubecken führt, zur Linken die Mauer des Tiergartens und das Auhoftor mit den mächtigen steinernen Ebern, rechts die Hänge des Wolfersberges, vor sich den schlanken barocken Kirchturm, der sich so fein vom Abendhimmel abhebt; wenn die Aveglocke läutet und von den Wiesen die weißen Duftschleier des Nebels aufsteigen – dann webt auch die Märchenstimmung ihre Schleier um die Wirklichkeit und die alten Sagen von der Gründung Mariabrunns finden den 49 Weg in unser Gemüt – wie Gisela, Witwe des großen Ungarkönigs Stephan des Heiligen, zu Beginn des ungarischen Bürgerkrieges vom Markgrafen Adalbert dem Siegreichen von Babenberg ritterlich aufgenommen, einst in diese Gegend kam; ein schleichendes Fieber verzehrte ihre Kräfte, ärztliche Hilfe vermochte nichts mehr; auf den Wiesen wanderte sie umher, vom Duft der Waldkräuter Genesung hoffend. Da kam sie an eine kleine, dicht bewachsene Quelle und auf dunklem Wasserspiegel glänzte ihr ein schwimmendes, aus Lindenholz geschnitztes Madonnenbild entgegen. Sie zog es heraus und trank aus der Quelle, da wich die Krankheit. Eine hölzerne Kapelle empfing das Gnadenbild; fromme Hände erbauten eine Wallfahrtskirche, zahlreiche Pilgerzüge brachten Leben und Verkehr in diesen bisher öden und gemiedenen Teil des Waldgebirges. Als am Ende des 13. Jahrhunderts eine gewaltige Überschwemmung des Wienflusses die Gegend verheerte, wurde das Gnadenbild ein Raub der Fluten, aber wunderbarerweise fanden es Landleute bei Weidlingau wieder auf. In der dortigen Kirche blieb es zweihundert Jahre – dann kamen die Scharen des wilden Matthias Corvinus, des Königs von Ungarn, die Kirche ward zerstört und die hölzerne Madonna von Söldnern in denselben Brunnen geworfen, in welchem sie vierhundert Jahre früher die fromme Gisela zuerst gesehen hatte. 50 Dreizehn Jahre lang lag sie da – dann fand sie ein Kriegsmann Maximilians. Das war ein Fall für den romantisch veranlagten Habsburger! Seltsam ergriffen von den wunderbaren Schicksalen des Gnadenbildes, befahl er, ihm abermals eine Kapelle zu errichten, und bis zum Türkeneinfall 1529 wurde es dort verehrt. Und während ringsum alle Dörfer, Kirchen und Schlösser in Flammen und Trümmer sanken, entging die unscheinbare kleine Kapelle der Zerstörungswut des Feindes; als dieser 1683 wiederkam, retteten die Mönche des Augustinerklosters die Mariabrunner Madonna auf die Felsenburg Rabenstein. Ein Jahr nach dem Entsatze Wiens gelangte sie endlich zur Ruhe; Leopold I. ließ das Bild wieder in die Wallfahrtskirche bringen; dort steht jetzt die Madonna, die so viel erlebt hat, auf dem Hochaltar, von Augustiner-Ordensbrüdern am Ende des 18. Jahrhunderts mit mehr gutem Willen als künstlerischem Geschmack erbaut. Eine ungeheure Zahl gutgemeinter Votivbilder im Seitengang der Kirche bezeugt die Verehrung, die sie weitum genießt. Auf Kunstwert darf das Bildwerk wohl ebensowenig Anspruch erheben wie die meisten anderen Wallfahrermadonnen. Der alte Kirchendiener steigt just auf einer langen, schmalen Leiter zu ihr empor, löst sorgsam das rote Kleidchen mit dem goldenen Gürtel ab und schmückt die Madonna mit einem goldgestickten Mantel aus weißer Seide, weil doch morgen der Mariabrunner Kirchtag ist. Und das rotbäckige, freundliche Nonnengesicht scheint zu lächeln. . . . .
Der Mariabrunner Kirchtag! Stifter hat ihm in seinen Skizzen aus dem alten Wien eine prächtige Schilderung gewidmet. »Ein wahres Volksfest« nennt er ihn. Und 51 einen Nachklang davon kann man heute noch an jedem 8. September spüren; da brandet das helle, frohe Leben um die Kirchenmauern, die Buden sind bunt von Gebetbüchern, Rosenkränzen, Kindertrompeten und allerlei Spielzeug; Kinder schwärmen und tollen herum und in dem Gasthof knapp an der Kirche ist ewiges Leben. Und inmitten des Trubels hebt sich der von vier schlichten Säulen getragene Überbau der uralten Quelle, die zweimal das Gnadenbild empfing. Die Inschrift, die vom Kaiser Maximilian und der Auffindung des Heiligtums im Jahre 1490 erzählt und nach Weidmann noch vor hundert Jahren vorhanden war, ist leider verschwunden.
Aber noch so mancher Fleck hier ist historisch! In Mariabrunn hat im Jahre 1662 Abraham a Sancta Clara das Ordensgelübde als Augustinermönch abgelegt und sich in einer Reihe von Jahren Verdienste um die Kirche und das Kloster erworben. Abraham a Sancta Clara, der wackere Helfer und Tröster in der Pestnot, der unerschrockene Freund der Armen und Unglücklichen, der am Kaiserhof die Sprache eines aufrechten Mannes zu reden wagt und hohen Herren die unangenehmsten Wahrheiten ins Gesicht schleudert; Abraham, der große Kanzelredner, voll Laune, sprühend von echt österreichischer Lebensfreude und doch wieder voll tiefsinnigem Ernst! Kein Geringerer als Schiller 52 hat von ihm gesagt, er sei ein prächtiges Original und es wäre eine interessante und keineswegs leichte Aufgabe, es ihm zugleich in der Tollheit und in der Gescheitheit nach- oder gar zuvorzutun.
Und wenig über hundert Jahre später spielte in Mariabrunn wieder eine bedeutsame Szene in dem unendlich bunten Drama deutschösterreichischer Kulturgeschichte: Josef II., der eifrige Reformer und Gegner der allmächtigen Jesuiten, nahm Abschied vom Papste Pius VI., der ihn bei seinem Besuch in Wien vergeblich von seinen Reformen abbringen wollte. Eine Marmortafel über dem Haupteingang der Kirche berichtet, sie wären »unter zärtlichen Umarmungen, unter den Tränen der Anwesenden« voneinander gegangen, am 22. April 1782.
Längst sind die Augustinermönche aus dem Kloster Mariabrunn fortgezogen; das Gebäude wurde später zur Forstakademie umgestaltet und ist heute eine forstwirtschaftliche Versuchsstation; zwischen Auhof und Weidlingau aber entstanden in unseren Tagen die großen Stauanlagen der Wienflußregulierung. Sie sollen bei Hochwasser die Fluten zurückhalten, bei Trockenheit ein Durchspülen der Wiener Kanäle gestatten; auf den weiten Flächen der Staubecken spielen die Wiener Kinder, und das tiefst gelegene ist in eine Badeanlage verwandelt, wo sich die Jugend an heißen Sommertagen im Wasser vergnügt.
Am Südabhang des Wolfersberges zieht die Straße gegen Hütteldorf. Überall breiten sich die Schrebergartenkolonien aus; hoch auf die Berghänge hinauf klettern die bunten kleinen Holzhäuschen und fleißige Hände pflanzen, pflegen und ernten Gemüse und Obst. Das ist ein gutes 53 Zeichen und eine frohe Verheißung für die Zukunft. Aus der steinernen Umklammerung der Stadt fliehen die arbeitenden Menschen zu Tausenden hinaus in die Natur, schließen einen heiligen Bund mit der mütterlichen Erde, aus der die reinsten und tiefsten Freuden unseres Lebens erblühen. Nicht Genußsucht und Vergnügungsgier hat sie herausgetrieben; denn die Anlage und Pflege des Schrebergartens erfordert namenlose Mühe und Geduld. Wie sie das Wasser zu den Beeten schleppen, wie sie umgraben, jäten, düngen, den Boden behacken im Schweiß ihres Angesichts – wie sie sich freuen, wenn endlich, endlich im Herbst die kleine Ernte auf Handwägelchen, in Rucksäcken und Körben eingebracht wird!
Auf dem Hügelrücken zwischen Mariabrunn und Hütteldorf erhebt sich die große Anlage der Heil- und Pflegeanstalt Steinhof. Die Goldkuppel der Kirche Otto Wagners – der ersten Kirche im modernen Stil – leuchtet weit in das Land hinein. Ein Wagnis war es, diese Kirche zu bauen – aber es ist gelungen. Sie fügt sich in die Farben, Formen und Linien der Landschaft gefällig ein und wird nicht mehr als etwas Fremdes empfunden wie zur Zeit ihrer Entstehung. Und so beherrscht sie die breiten Gassen und grünen Anlagen dieser ernsten Stätte, wie der Geist wahrer Menschenfreundlichkeit unser Verhältnis zu den Unglücklichen beherrscht, die hier Ruhe, Pflege und oft auch Heilung finden – jenen Unglücklichen, die man in finsteren Zeiten wie wilde Tiere in vergitterte Kotter und Gefängnisse gesperrt hat.
Hütteldorf, vor hundert Jahren noch ganz ländlich, ist heute schon stark mit der Großstadt verwachsen. Fröhliche 54 Maulwürfe, die gerne im Vergangenen wühlen, mögen in der kleinen Kirche den uralten Grabstein Wernhers des Schenken betrachten, der das Heiligtum um 1350 gründete, oder das Grab des Dichters Michael Denis an der Außenmauer mit der von ihm selbst verfaßten Inschrift; Schätzer derberer Genüsse werden zum Brauhaus pilgern, das breit und protzig wie eine mittelalterliche Burg dasteht, Sportfreunde aber zieht es gewaltig nach den ungeheuren Spielplätzen, die an den Tagen, wo ein interessantes Match ausgekämpft wird, mit ihrem bunten, lärmenden Menschenkrater wirklich sehr an eine Arena des Altertums erinnern. Allerdings – wer die Geheimnisse des Fußballsportes nicht erfaßt hat, begreift schwer das atemraubende Interesse, die namenlose Spannung, mit der das Publikum dem Spiele folgt, und lächelt bei dem ohrenbetäubenden, vieltausendstimmigen Geschrei, in dem sich die Erregung Luft macht. Panem et circenses! Des Volkes uralter Ruf, hallend durch zwei Jahrtausende – hier klingt er wieder auf. Nur daß in unseren Tagen Sport und Kino die alten circenses abgelöst haben. Es ist gut so. Mag man gewisse Sporte roh und gefährlich schelten: viel roher und gefährlicher sind jene Masseninstinkte, die der Krieg und seine Nachwirkungen entfesselt haben. Und alles, was diese Instinkte bändigt und der Regel und dem freiwillig befolgten Gesetze unterwirft, arbeitet an einem neuen, gesunden Fundamente menschlicher Kultur. 55