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Die vorliegende Erklärung erfolgt gänzlich freiwillig. Sie enthält alle Tatsachen über den Mord in Ealing, die zu meiner eigenen Kenntnis gekommen sind, und erstreckt sich über die Zeit vom 15. Januar nachts, wo Alexander Kinloch mich in meinem Haus in der Albany Road zu Ealing aufsuchte, bis zum 26. April, wo ich ihn zum letztenmal sah.
An dem angegebenen Tag wurde Kinloch gegen acht Uhr dreißig von einem Polizisten zu mir gebracht. Der Beamte erklärte, er habe den Mann sich in der Nachbarschaft herumdrücken sehen, und der Betreffende behaupte, mich zu kennen. Er schob ihn vor sich her und forderte mich auf, ihn näher anzusehen. Das Ganze spielte sich vor meiner Haustür ab. Die Nacht war dunkel und noch unsichtiger infolge des dicken Nebels. Ich ersuchte deshalb den Polizisten, mit seiner Laterne das Gesicht des Mannes aus nächster Nähe zu beleuchten. Es geschah, und ich erkannte sofort, daß ich Kinloch vor mir hatte. Er war in einem bedauernswerten Zustand. Seine Kleidung war zerrissen und mit Schmutz bedeckt. Er selbst war nervös und bebte wie jemand, der vergeblich eine große Erregung zu unterdrücken bestrebt ist. Aber sobald der Lichtschein auf sein Gesicht fiel, erkannte ich außerdem, daß ihm, seitdem wir uns zum letztenmal gesehen hatten, noch etwas Besonderes widerfahren war. Er benahm sich ganz anders. Und gleich darauf erkannte ich auch, was daran schuld war. Der blendende Lichtkegel der Polizeilaterne fiel ihm gerade in die Augen. Trotzdem starrte er in den Glanz hinein, ohne mit der Wimper zu zucken. Als der Beamte ihm dann einen Spazierstock in die Hand schob, brauchte man mir nichts weiter mehr zu erzählen. Ich wußte, daß der Mann, den er zu mir gebracht hatte, blind war.
Kinloch war ein alter Freund von mir, obwohl ich seit einigen Jahren von ihm nichts gehört hatte. Er suchte mich in dieser Nacht auf, weil er Hilfe brauchte. Nur widerwillig mußte er sich dazu entschlossen haben, das folgerte ich sofort aus dem Umstand, daß er mich nicht längst aufgesucht, sondern diesen Schritt so lange hinausgezögert hatte, bis er in die Verfassung geraten war, in der er jetzt vor mir stand – in den Zustand äußerster Bedürftigkeit.
Kinloch war etwa vier Stunden bei mir. Er verließ jedoch das Haus, ohne von mir irgendwelche Hilfe empfangen zu haben. Wir hatten einen Streit über eine Sache, die mit der Mordangelegenheit nichts zu tun hat. Wir haben uns auch früher häufig gezankt. Ja, man könnte sagen, daß diese gelegentlichen Streitereien sozusagen einen Bestandteil unserer Freundschaft bildeten. Niemals zuvor hatte jedoch ein solcher Zank zu einem völligen Bruch zwischen uns geführt.
Als Kinloch gegangen war und ich wieder an meinem Schreibtisch saß, empfand ich zunächst Verblüffung über die Wendung der Dinge, dann Gewissensbisse. Der Bruch war so plötzlich gekommen. Ich verbrachte lange Zeit damit, darüber nachzudenken. War Alexander, so fragte ich mich, reizbarer geworden als früher? Hatte ich nicht genügend Rücksicht darauf genommen, daß er inzwischen so viele Schicksalsschläge erduldet hatte, oder war mit mir selbst ein Wandel vorgegangen? Ich fragte mich, was von schädlicherem Einfluß auf den Charakter eines Menschen ist: Not oder Wohlstand? Dann meldeten sich die Gewissensbisse. Ich sah ein, daß ich einem Freund gegenüber, der mich nur widerstrebend und voller Scham aufgesucht hatte, zu hochfahrend gewesen war. Ich möchte darüber keine Zweifel lassen. Ich bin in meinem Leben mit vielen Menschen zusammengekommen, die eine neue Bekanntschaft nur danach einschätzen, wie weit sie aus ihr Vorteile ziehen können. Kinloch gehörte nicht zu dieser Sorte. Er versuchte niemals, »nützliche« Freundschaften zu schließen. Mit großer Beschämung gestand ich mir ein, daß er ganz gewiß in mir keinen nützlichen Freund gewonnen hatte – wie der heutige Abend bewies –, als das Telephon in meinem Schlafzimmer läutete. Die Unterbrechung war mir willkommen. Ein Nachtbesuch, auch ein ganz gleichgültiger, war mir lieber, als mit meinen Gedanken allein zu bleiben. Ich erinnere mich, im Vorbeigehen nach der Uhr auf der Diele gesehen zu haben. Sie zeigte zwölf Minuten vor zwei.
Aber als ich den Hörer aufnahm, hörte ich nicht die weinerliche Stimme irgendeiner Hausangestellten, die unter den Launen eines zänkischen Patienten zu leiden hat, sondern die Stimme des Sergeanten von unserem Polizeirevier, der eilig und kurz angebunden mir mitteilte: »Tookworth Avenue 15 ist jemand niedergestochen worden. So rasch Sie können, Herr Doktor.«
»Rettungswagen?«
»Nein.«
Ich wußte also, was ich mitzunehmen hatte, stopfte alles in eine Handtasche und lief, so rasch ich konnte. Ich erkannte das Haus sofort als das von Ponsonby Paget. Am Eingang traf ich Inspektor Green und zwei Polizisten, die ebenso eilig von der anderen Seite kamen.
»Doch nicht etwa Ponsonby Paget?« fragte ich.
Der Inspektor, der außer Atem war, nickte nur. Wir traten gemeinsam ein.
In dem langen schmalen Raum, in den wir von einem totenbleichen Hausmädchen geführt wurden, fanden wir bereits einen Polizisten und zwei andere Männer vor. Ponsonby Paget lag auf dem Boden neben seinem Schreibtisch. Aber sobald ich mich über ihn gebeugt hatte, um die Wunde näher zu untersuchen, wußte ich schon, daß menschliche Hilfe hier umsonst war. Ein kleines Loch in dem gestärkten Frackhemd zeigte die Stelle, der Stich mußte den Bogen der Aorta getroffen haben. Es war eigentlich überflüssig, dem Inspektor zu sagen, daß der Mann längst tot war. Green ersuchte mich flüsternd, die beiden anderen im Zimmer anwesenden Männer einmal zu mustern. Allem Anschein nach waren die beiden von dem diensthabenden Polizisten eigens zu dem Zweck festgehalten worden. Der eine war ein schon älterer Mensch, wie es sich herausstellte, Ponsonby Pagets Butler. Der andere, ein junger, blondhaariger Bursche, machte einen ziemlich nervösen und erregten Eindruck. Ein flüchtiger Blick überzeugte mich jedoch rasch, daß unmöglich einer der beiden innerhalb der letzten halben Stunde dem Ermordeten den tödlichen Stich beigebracht und doch alle Spuren an Körper und Kleidung entfernt haben konnte. Im Grunde war es nur eine Formalität, daß ich mir die beiden überhaupt ansah. Auch Green schien dieser Auffassung, denn seine spähenden Augen waren bereits anderweitig beschäftigt.
Dann geschah etwas, was mir einen furchtbaren Schlag versetzte. Green, der behutsam unter den umgeworfenen und zersplitterten Möbeln herumstöberte, zog unter einem umgeworfenen Tisch einen Spazierstock heraus. Nachdem er ihn aus der Nähe sorgfältig gemustert hatte, brachte er ihn mir. Er hielt ihn mir hin und stellte irgendeine Frage. Ich hatte den Stock kaum in der Hand, als ich ihn auch schon erkannte. Es war Kinlochs Stock, der Stock, den ihm vor ein paar Stunden vor meiner Haustür der Polizist zurückgegeben hatte. Ich erinnerte mich um so klarer daran, als Kinloch den Stock nicht in den Garderobeständer in meiner Diele stellte. Ein Blinder und sein Stock sind unzertrennlich, und ich hatte deutlich vor Augen, wie Kinloch die ganze Zeit in meinem Studierzimmer mir gegenüber saß, den Stock quer über die Knie gelegt. Ich schloß aus all dem, daß Kinloch, nachdem ich ihn im Stich gelassen hatte, bei Ponsonby Paget vorgesprochen haben mußte.
Es ist mir völlig unmöglich, mich zu erinnern, was ich sagte und tat, als ich jetzt plötzlich den Stock in der Hand hielt, während Green und der Journalist mich aufmerksam betrachteten. Irgendwie machte ich mich jedenfalls von ihnen los. Das nächste, dessen ich mich entsinnen kann, ist, daß ich noch lange im Dunkeln in meinem Arbeitszimmer saß. Meine Gedanken drehten sich unablässig um eine einzige Tatsache und ihre Folgen. Ich hatte Sandy Kinloch hinausgeworfen – wenigstens lief mein Verhalten darauf hinaus –, er hatte seinen Weg in ein anderes Haus gefunden, und jetzt lag in diesem Haus ein Ermordeter. Und ich, der Kinloch sozusagen auf diese Bahn gedrängt hatte, ich war gerufen worden, um Zeuge der Folgen meiner Handlungsweise zu sein. Es war ein furchtbarer Gedanke, der mich hartnäckig verfolgte. Kinloch war ein Mensch von weicher Gemütsart gewesen, ja sein menschliches Mitempfinden für andere war, wie ich oft gedacht hatte, über den Durchschnitt hinausgegangen. Aber die Not verhärtet – und ich selbst hatte im Laufe dieser Nacht an ihm Spuren von Verbitterung entdeckt. Auch jetzt konnte ich nicht glauben, daß seine Hand den mit solcher Sachkunde beigebrachten Stich geführt hatte. Nur ein Wunder konnte einen Blinden dazu befähigen. Trotzdem war er in die Affäre mit verwickelt. Sein Stock lieferte den Beweis dafür. Die Gründe, die ihn in das Mordzimmer geführt hatten, mochten so harmlos wie möglich sein, aber jedenfalls war er jetzt in Gefahr, und ich – das war der bittere Gedanke, der immer wiederkehrte – hatte ihn selbst hineingestoßen.
Aber meine innere Ruhe wurde noch mehr erschüttert, als die Voruntersuchung über den Tod Ponsonby Pagets eröffnet wurde. Nachdem meine eigene Aussage als medizinischer Sachverständiger beendet war, blieb ich eigens, um den formulierten Untersuchungsbefund zum Schluß mit anzuhören. Es ist wahr, daß dabei nichts zutage kam, was Kinloch belasten konnte. Zutage kam dagegen, daß Ponsonby Paget – und zwar ergab das die Aussage des Butlers – dauernd mit einer großen Anzahl höchst zweifelhafter Persönlichkeiten in Beziehungen stand. Vielleicht hätte mich das einigermaßen beruhigt, wenn nicht eine Tatsache gewesen wäre. Die ganze Zeit über hatte ich gehofft, daß Kinlochs Spazierstock durch einen reinen Zufall in das Mordzimmer geraten sein könnte. Es war ja denkbar, daß er ihn verloren hatte oder daß er ihm weggenommen worden war. Der Verbrecher konnte den Stock ins Haus gebracht haben, aber auch der Ermordete selbst – denn die Polizei hatte bereits nachgewiesen, daß er ohne Wissen des Personals nach dem Essen das Haus noch einmal verlassen hatte. Diese Hoffnung zerstob jedoch in alle Winde, als ich die Gegenstände zu Gesicht bekam, die im Vorraum des Amtszimmers zur Schau gestellt waren. Darunter befand sich sorgfältig zwischen zwei Glasscheibchen gepreßt etwas, das man ebenfalls im Mordzimmer gefunden hatte, eine Strähne schwarzen Haares, die, wie ich ohne weiteres feststellen konnte, jemandem gewaltsam ausgerissen worden war. Trotzdem ergab die Untersuchung nichts, was geeignet war, Kinloch direkt mit dem Verbrechen zu belasten.
Natürlich war mir bekannt, daß die Polizei bei dem öffentlichen Feststellungsverfahren durchaus nicht alles preisgibt, was sie weiß. Ein paar Tage später traf ich zufällig Inspektor Green und versuchte durch eine vorsichtige Anspielung auf den Mord, ihn zum Sprechen zu bringen. Er erwies sich aber als wenig mitteilsam. Sein Vorgesetzter, so erklärte er mir, hatte die Polizeizentrale in Scotland Yard veranlaßt, einzugreifen, und er persönlich hatte mit dem Fall nichts mehr zu tun. Ich wußte zwar, daß, dessenungeachtet, er immer noch eine Menge über die Weiterentwicklung der Untersuchung wissen mußte, ich wagte es aber nicht, ein zu großes Interesse gerade an diesem Mordfall an den Tag zu legen. Greens Schweigsamkeit erklärte ich mir mit seiner Verstimmung und Enttäuschung, weil er in einem sensationellen Mordfall durch die Einmischung der Zentrale ausgeschaltet worden war. Auffällig war indessen doch, daß Green mir gegenüber zwar durchaus höflich, aber ziemlich kurz angebunden war. Da mir auf diese Art alle Informationen von maßgebender Stelle fehlten, war ich einzig und allein auf die Zeitungen angewiesen. Gewiß, sie waren voll von dem Mord. Ich abonnierte sämtliche Zeitungen und las jede Zeile. Überall, im Zug, im Autobus, auf der Straße, im Restaurant, liefen die wildesten Gerüchte um. Die verstiegensten Theorien über die Ursachen des Mordes und über diejenigen, die ihn begangen hatten, wurden erörtert. Meine eigenen Patienten legten, wie ich feststellen mußte, das dringende Bedürfnis an den Tag, sich mit mir darüber zu unterhalten, sogar die alten unverheirateten Damen, die meines Wissens niemals zuvor Interesse für irgend etwas zwischen Himmel und Erde, außer für die Symptome ihrer meist eingebildeten Leiden gehegt hatten. Meine Nerven litten darunter außerordentlich.
»Doktor«, seufzte eine von ihnen einmal in meiner Sprechstunde, »genau so gut können wir ja in unseren eigenen Betten ermordet werden.«
»Na, schön«, entgegnete ich, zum äußersten gereizt, »das ist doch der beste Platz, den man sich dafür aussuchen kann.«
Die Patientin hatte ich verloren.
Dann kam die Zeit, wo außerhalb Ealings das Interesse an dem Mordfall nachließ. Das konnte man schon aus den Zeitungen ersehen. Der Raum, den sie der Ermordung Pagets widmeten, wurde immer kleiner und kleiner. Es kam der Tag, wo eine der Zeitungen, die ich hielt, keine Zeile mehr darüber brachte. Nicht viel später hatte schon eine ganze Reihe Blätter die Sache fallen lassen – wie es schien, für immer. Ich bestellte die meisten Blätter wieder ab, und bald merkte ich, daß ich zwar nicht fähig war, die Tragödie von Ealing gänzlich aus meinen Gedanken zu verbannen, daß ich aber auch wieder an andere Dinge zu denken vermochte.
Eines Morgens, als ich aus dem Hospital kam, prallte ich beinahe mit Inspektor Green zusammen. Er war wegen eines Straßenunfalls unterwegs.
»Und der Fall Ponsonby Paget, der kommt wohl gar nicht mehr voran?« sagte ich. Ich hatte mein seelisches Gleichgewicht allmählich so weit wiedergefunden, daß ich fähig war, gänzlich zwanglos und beiläufig auf die Sache anzuspielen.
»Nein, es gibt da nicht viel zu berichten«, meinte er. »Sie wissen ja, die Zentrale hat die Sache an sich genommen.«
Ich sah, daß er jetzt eher geneigt war, über die Sache zu reden, demnach hatte er, wie ich schloß, das Gefühl der Kränkung über die Art, wie er von der Zentrale beiseitegeschoben worden war, überwunden.
»Die Zeitungen haben die Sache ganz fallen lassen«, bemerkte ich.
»Mit Ausnahme des ›Record‹.«
»Und ihr von der Polizei habt sie auch fallen lassen, aber ohne jede Ausnahme«, sagte ich wie im Scherz.
Er sah mich amüsiert an.
»Das möchte ich denn doch nicht sagen, Herr Doktor. Sie wissen, daß die Polizei eine Sache nie ganz fallen läßt.« Er stieß einen leichten Seufzer aus. »Sonderbarer Fall, nicht wahr? Sah zuerst wirklich nicht so aus, als ob nicht genügend Material vorläge, auf das wir uns stützen könnten. Der Raum war übersät mit Spuren – sogar erstklassige Fingerabdrücke waren da. Selten habe ich einen Fall gesehen, bei dem wir so viele vielversprechende Beweisstücke zusammenbringen konnten – sieben Stück waren es und keins weniger.«
»Acht«, korrigierte ich ihn prompt.
Green schüttelte den Kopf. »Falsch, Herr Doktor! An die Zahl erinnere ich mich genau. Ich weiß noch, wie ich mir dachte, daß es genau soviel sind, wie die Woche Tage hat.«
»Acht«, wiederholte ich hartnäckig.
»Aber nein, hören Sie doch zu, ich zähle Sie Ihnen auf: Überzieher mit Pelzkragen, ein Paar Lackschuhe, zerbrochenes Whiskyglas, die Whiskykaraffe, das Papier mit den Fingerabdrücken, der Umschlag mit der Strähne schwarzen Haares und der dreieckige Splitter von einem Spiegel. Das sind doch wohl sieben.«
»Ja, das sind sieben«, gab ich zu, »aber –«
»Aber was, Herr Doktor?« Green schien überrascht, er sah mich an.
Ich fühlte ein unbestimmtes Unbehagen. Mir wäre es lieber gewesen, er hätte etwas anderes vergessen als gerade den Spazierstock.
»Sie haben den Stock vergessen«, würgte ich dann heraus.
Es folgte ein unbehaglicher Augenblick, währenddessen Green mich gespannt anstarrte – es wirkte irgendwie komisch –, dann lachte er laut und herzlich.
»Das soll sich einer vorstellen, daß ich ausgerechnet den Spazierstock vergesse, wo ich ihn selbst gefunden habe.«
Ich lachte ebenfalls. Daß der Stock vergessen werden konnte – daß das überhaupt möglich war – war eine Erlösung für mich. Zumindest stand fest, daß Green dem Stock wenig Bedeutung beimaß.
»Aber was sagte ich doch?« meinte er nachdenklich. »Ach ja, ich sagte schon, ich habe selten einen Fall erlebt, bei dem es so viele anscheinend vielversprechende Anhaltspunkte gab. Und doch –« er zuckte die Achseln und streckte mit einer beredten Geste der Hilflosigkeit die Hände aus – »es gab so unzählig viel Leute, auf die die Anzeichen hinzuweisen schienen. Sie haben ja selbst die Aussage des Butlers gehört, nicht wahr? Ich meine über Ponsonby Pagets zahlreiche nächtliche Besucher. Na, schön, da der Mann alle möglichen Leute im geheimen bei sich empfangen hat, wird Inspektor Snargrove noch viel Zeit brauchen, ehe er mit seiner Arbeit zu Ende ist.«
»Snargrove ist demnach noch mit der Untersuchung betraut?«
»Na, natürlich, selbstverständlich. Und ich beneide ihn nicht darum. Jetzt muß er versuchen, Dutzende von diesen heimlichen Besuchern ausfindig zu machen, und diese Leute haben alle miteinander, aus Gründen, die mit dem Mord gar nichts zu tun haben, ein lebhaftes Interesse daran, sich nicht finden zu lassen.«
Wir waren inzwischen vor meiner Haustür angelangt, aber die Worte des Inspektors hatten meinen Gedanken eine ganz neue Bahn gewiesen. Ich blieb mit der Hand auf der Klinke stehen.
»Es waren meistens Frauen, wie der Butler ausgesagt hatte.«
»Jawohl, Herr Doktor, Frauen. Von der Zofe angefangen bis zur feinen Dame. Aber sie kamen alle aus demselben Grund. Sie wollten allerlei Skandalgeschichten aus der Gesellschaft, die er für seine Zeitung brauchen konnte, bei ihm zu Geld machen.«
»Ich verstehe schon. Snargrove muß also auf die ganze Gesellschaft Jagd machen?«
»Es bleibt ihm nichts anderes übrig. Und ich glaube, man kann sagen, sie werden ihm nicht auf halbem Weg entgegenkommen«, nickte Green und verabschiedete sich mit einer lässigen Handbewegung.
Das Gefühl der Sicherheit, das mir die Unterhaltung mit Inspektor Green verschaffte, war dafür verantwortlich, daß ich auf das Inserat von Selwyn & Smith antwortete. Wenn ich nicht gewußt hätte, daß die Behörden damit beschäftigt waren, nach Pagets nächtlichen Besucherinnen zu fahnden, wäre ich dazu viel zu vorsichtig gewesen, es sei denn, ich hätte weit mehr über Selwyn & Smith gewußt, als mir zu der Zeit, wo ich sie aufsuchte, bekannt war. Das Inserat, das ich bei einem ärztlichen Besuch in einer zufällig herumliegenden Zeitung fand, lautete:
Alexander David Kinloch wird etwas
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An diesem Inserat fiel mir etwas besonders auf. Es war seltsam, daß die Inserenten, wie der Wortlaut der Anzeige erkennen ließ, nicht zu wissen schienen, daß er blind war, trotzdem aber seinen vollständigen Namen kannten. War das ein Köder, den man auslegte, um ihn zu fangen? Mehrere Tage lang unternahm ich nichts – ich begnügte mich, festzustellen, daß Tag um Tag das Inserat wieder erschien. Am sechsten Tag blieb es plötzlich aus. Das beunruhigte mich. War etwas Besonderes geschehen? Zwei Tage ließ ich noch verstreichen. Dann wurde mir die Ungewißheit unerträglich, und ich ging zu Selwyn & Smith hinauf. Ich war entschlossen, herauszubekommen, ob etwas geschehen sei, aber auch äußerst vorsichtig zu sein.
»Sie suchen auf dem Inseratenweg nach einem gewissen Alexander David Kinloch«, sagte ich, als man mich in das Privatbüro des Chefs geführt hatte.
Mr. Spencer, ein kleiner Mensch mit einem runden Gesicht, betrachtete mich eingehend über den oberen Rand seiner Brille hinweg, die ihm fast auf der Nasenspitze saß.
»Sind Sie Mister Kinloch?«
»Na, und wenn ich's bin?« erwiderte ich ausweichend.
Mr. Spencer zog die Augenbrauen hoch.
»Sie werden sich bei uns unter allen Umständen über Ihre Persönlichkeit ausweisen müssen«, bemerkte er trocken.
»Zu welchem Zweck?«
Meine Vorsicht schien ihm allmählich auf die Nerven zu gehen.
»Gestatten Sie, gestatten Sie, Herr, wir wollen diese kleinen Finten doch bitte bleiben lassen. Sie können wirklich nicht verlangen, daß ich Ihre Frage beantworte. Vorläufig kann ich bloß annehmen, Sie sind von der Straße hereingeschneit, weil es Ihnen einfällt, die Rolle des Herrn Kinloch zu spielen.«
Nun, dies gab mir wenigstens die Gewißheit, daß es sich um irgendeinen bestimmten Vorteil für Kinloch handelte. Während ich noch zauderte, bewegte sich Mr. Spencers Hand, dem mein Zögern nicht entgangen war, bereits nach der Klingel. Es war klar, daß er nicht länger geneigt war, mich für Kinloch zu halten. Hastig schob ich ihm meine Visitenkarte auf den Schreibtisch und sagte:
»Können Sie mir Ihr Wort darauf geben, daß Sie nach Kinloch tatsächlich wegen einer Angelegenheit suchen, die ihm persönlich Vorteil bringt? Sehen Sie«, fügte ich unbeholfen hinzu, »ich selbst habe den Wunsch, ihn aufzufinden.«
Während ich sprach, hatte er meine Visitenkarte genau gemustert und starrte mich jetzt gespannt an.
»Und sind Sie bereit, Herr Doktor, mir im gleichen Sinne Ihr Ehrenwort zu geben?«
»Von ganzem Herzen! Ja, wenn ich die Gewißheit haben könnte, daß Sie Kinloch gegenüber von denselben guten Absichten beseelt sind wie ich, würde ich Ihr Büro in einer froheren Stimmung verlassen, als ich sie seit vielen Tagen gekannt habe.«
Die Wärme, mit der ich gesprochen hatte, schien ihn zu überraschen. Sein Benehmen mir gegenüber wandelte sich.
»Ich habe ziemlich viel zu tun«, sagte er, »und da es jetzt klargestellt ist, daß wir beide dem jungen Mann nur das Beste wünschen, begreife ich nicht ganz, warum Sie immer noch auf den Busch zu klopfen versuchen. Sie behaupten, daß Sie den Wunsch haben, ihn zu finden. Wir wünschen dasselbe. Was wissen Sie über ihn? Wir hatten fast schon angenommen, er sei tot.«
»Nein, er ist nicht tot. Wenigstens war er es noch nicht am 15. Januar, wo er bei mir zu Hause in Ealing war.«
»Ach Gott, wenn ich das nur gewußt hätte. Merkwürdig, daß ihm nicht einmal unser Inserat zu Gesicht gekommen ist.«
»Es wäre merkwürdiger, wenn das eingetreten wäre. Kinloch ist blind, Mr. Spencer.«
»Blind? Oh, wie traurig. Lieber Gott, ich hoffe, doch nicht gänzlich und unwiderruflich erblindet?«
»Gänzlich erblindet schon, aber, wie ich hoffe, nicht unwiderruflich. Das ist ein Grund, warum ich so großen Wert darauf lege, ihn ausfindig zu machen. Er leidet an Corneitis, einer Form der Blindheit, die früher als unheilbar galt, es aber seit dem Kriege nicht mehr ist.«
Mr. Spencer zeigte sich tief interessiert, und während er sich damit beschäftigte, seine Brille zu putzen, setzte ich auseinander, daß Kinloch mich nicht wegen seines Augenlichts aufgesucht hatte, sondern weil ich ein alter Freund von ihm war. Ich machte ihm weiter klar, daß ich selbst kein Augenspezialist bin, und daß ich von der neuen Behandlung der Corneitis erst erfahren hatte, nachdem ich mit Kinloch zusammengetroffen war. Ich schloß mit der Feststellung, daß ich beabsichtige, ihn auf meine Kosten nach Edinburgh zu schaffen und ihn dort durch einen berühmten Chirurgen behandeln zu lassen, der auf Grund seiner Kriegserfahrungen dieses neue Wunder der Augenoperation entdeckt hatte.
»Nun, schön«, sagte er. »Das ist wirklich sehr gütig von Ihnen, äußerst gütig. Trotzdem müßte Mr. Kinloch fähig sein, für die Ausgaben selbst aufzukommen.«
Ich war nahe am Lachen.
»Es ist klar, daß Sie über Kinloch wenig wissen«, sagte ich. »Er ist völlig mittellos. Nicht einen Pfennig besitzt er. Deshalb hätte er vermutlich, selbst wenn er im Besitze seines Augenlichts gewesen wäre, Ihr Inserat niemals gesehen. Verstehen Sie? Damals nachts, als er zu mir kam, war er beinahe in Lumpen, ein völlig niedergebrochener Mensch und – nun, wir zankten uns! Es ist alles meine Schuld. Ich will in Ihren Augen nicht besser erscheinen, als ich bin. Die häßliche Wahrheit ist, daß ich ihn weglaufen ließ, ohne ihm geholfen zu haben. Und deshalb habe ich jetzt den Wunsch, etwas für ihn zu tun – etwas ganz Besonderes, etwas, wovon er sich in seinen kühnsten Hoffnungen nicht träumen läßt.«
Mr. Spencer beugte sich vor und tupfte mich aufs Knie.
»Dr. Dunn«, sagte er, »ich verstehe Ihre Gefühle vollkommen, und ich bin überzeugt, daß, wenn Sie für Kinloch tun, was Sie beabsichtigen, Sie mehr tun, als nur eine Schuld begleichen – ohne daß Sie dabei für die Auslagen aufzukommen brauchten, denn das hat er jetzt nicht nötig.«
»Nicht nötig –« sagte ich.
»Hat Kinloch Ihnen je erzählt, daß er Aktien gekauft hat?«
»Ja. Irgendwelche völlig wertlosen Aktien, mit denen ihn ein Freund hereingelegt hat«, sagte ich bitter.
Der kleine Mann schmunzelte.
»Ich würde mich gerne auch so hereinlegen lassen«, sagte er und begann, mir die ganze Sache zu berichten. Es war eine äußerst verwickelte Geschichte, aber es lief, wie es schien, darauf hinaus, daß Kinloch, der in finanziellen Dingen ahnungslos war wie ein neugeborenes Kind, von irgend jemand veranlaßt worden war, jeden Pfennig, den er besaß, in den wertlosen Aktien einer Teeplantagengesellschaft anzulegen. Dann war das unerwartete Ereignis eingetreten. Irgendein Finanzgenie hatte einen Plan ausgetüftelt, durch den die Teeerzeugung eingeschränkt worden war, das Ergebnis war eine künstliche Verknappung des Teeangebots auf dem Markt, und die Preise waren turmhoch emporgeschnellt. Kinloch aber, der seine Anteile in der Verwaltung von Selwyn & Smith gelassen hatte, als es ihm klargeworden war, daß er hereingelegt worden war, hatte keine Ahnung von der plötzlichen Steigerung des Wertes seiner Aktien.
»Sie halten ihn also jetzt für reich?« fragte ich.
»Reich ist ein relativer Begriff«, antwortete er. »Aber zumindest kann ich es wagen, zu behaupten, daß er jetzt in behaglichen Umständen leben kann.«
Nun, als ich Mr. Spencers Privatbüro verließ, war mein Wunsch, Sandy Kinloch aufzufinden, dringender als je. Ich nehme an, daß die Dinge, die ich Mr. Spencer berichtete, bei ihm dasselbe Gefühl hervorgerufen hatten. Aber es gab hier Schwierigkeiten. Mr. Spencer wußte ja so vieles nicht. Vielleicht wäre es richtiger gewesen, wenn ich ihm einiges über die Mordaffäre von Ealing erzählt hätte. Ich hatte darüber aber Schweigen bewahrt. Erstens einmal war es nicht mein eigenes Geheimnis. Außerdem aber war ich zu sehr auf meiner Hut, um gegenüber einem Mann, den ich zum erstenmal in meinem Leben sah, mit einer solchen Eröffnung herauszurücken. Wie die Dinge sich gestalteten, wäre es allerdings besser gewesen, wenn ich Mr. Spencer gegenüber etwas mehr Aufrichtigkeit riskiert hätte, denn in seinem neu angefachten Eifer begann er wieder auf dem Inseratenweg nach Kinloch zu suchen. Er gab dem Text eine neue Form; – auf Grund der Einzelheiten, die er von mir erfahren hatte, ließ er jetzt sein Inserat in Zeitungen einrücken, die von der breiten Volksmasse gelesen werden. Die einzige Zeitung dieser Art, die ich noch immer bezog, war der »Record«. Ich pflegte ab und zu einmal einen Blick hineinzuwerfen, weil es das einzige Blatt war, das immer noch auf der Tragödie von Ealing herumtrommelte. Und in dem Augenblick, wo mir Mr. Spencers neuestes Inserat zu Gesicht kam, hatte ich das Gefühl, daß die Dinge schief zu gehen drohten. Das s Inserat lautete: e:
ALEXANDER DAVID KINLOCH!
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Jetzt wurde mir klar, welchen Fehler ich begangen hatte. Entweder hätte ich Spencer ins Vertrauen ziehen müssen oder wenigstens mir den neuen Text, den er seinem Inserat zu geben beabsichtigte, zur Überprüfung ausbitten sollen. Ich fuhr schleunigst in die Stadt und kämpfte auf dem ganzen Weg mit allen Kräften gegen meine Befürchtungen an, aber schon die ersten Worte Spencers schienen mir zu bestätigen, daß das Verhängnis unausweichlich im Anzug war.
»Noch keine Antwort?« erkundigte ich mich.
»Aber doch, sogar drei«, sagte er und schien sogar sehr damit zufrieden.
»Drei?«
Ich war vollständig niedergeschmettert. Es war, als beginne der Boden unter meinen Füßen zu wanken.
»Ach, Sie müssen nicht zu hoffnungsvoll sein. Keine dieser Antworten ist, fürchte ich, sehr vielversprechend.« Mr. Spencer putzte nachdrücklich seine Brille. »Nämlich alle drei Leute, die da waren«, fuhr er fort, »kamen, um sich hier nach Ihrem jungen Freund zu erkundigen.«
»Sie haben ihnen doch hoffentlich nichts mitgeteilt?« warf ich dazwischen.
»Du lieber Himmel, nein! Aber der Besuch erwies sich als äußerst lästig. Ich mußte die Herrschaften darauf aufmerksam machen, daß anscheinend unser Inserat von ihnen mißverstanden worden sei und daß wir Informationen zu erhalten und nicht zu geben wünschten.«
»Wissen Sie, wer es war?«
»Nein, ich habe mir auch nicht die Mühe genommen, mich zu erkundigen. Wenn eine Belohnung ausgeschrieben ist, kommen uns alle möglichen Leute ins Haus geschneit, das wissen wir aus Erfahrung. Immerhin entsprachen diese drei nicht ganz dem Typus, den wir gewohnt sind, muß ich sagen. Deshalb habe ich sie auch persönlich empfangen und meine Zeit damit verloren.« Er hielt inne. »Sie wissen nicht, ob eine gerichtliche Vorladung gegen Mr. Kinloch vorliegt?«
»Nein. Warum?«
»Nun, einer von den dreien, ein grobknochiger, muskulöser Bursche mit einem blühenden Gesicht und einem dicken Schnurrbart, machte mir ganz den Eindruck, als ob er irgendwie zur Rechtspflege Beziehungen hätte.«
»Zur Justiz?« fragte ich, eine Beute der allerschwärzesten Befürchtungen.
»Nun ja, ich sage ja nicht, daß es sich gleich um die strafrechtliche Seite handeln muß. Es können ja auch Schulden sein. Der Bursche sah ganz so aus, als wäre er ein Gerichtsvollzieher.«
Blitzgleich stand das Bild des Mannes vor mir, auf den Mr. Spencers Beschreibung gut paßte – der Beamte von Scotland Yard, den ich, bei der Voruntersuchung über den Mord, in Ealing gesehen hatte, Inspektor Snargrove. Wer aber konnten die beiden andern sein?
»Und die beiden andern?« fragte ich.
Mr. Spencer rieb sich nachdenklich das Kinn.
»Nun, der eine war ein ziemlich langer Bursche mit Raubvogelaugen, schwarzer Schnurrbart, stark gestutzt. Der Mann hatte eine merkwürdig stramme Haltung – wie ein Soldat in Zivil. Ich dachte, es handelt sich unter Umständen um einen früheren Kameraden von Kinloch. Und der dritte Mann – er ist erst vor einer halben Stunde von hier weg – hatte auch so etwas Sehniges, aber er war glattrasiert. Freilich war er den beiden andern insofern nicht ähnlich, als er nicht den Eindruck machte, gut in eine Uniform zu passen. Eher sah er aus wie ein Mediziner, und ganz gewiß war er ein Landsmann von Ihnen.«
Von den beiden letzten Besuchern konnte ich mir hinsichtlich ihres Aussehens und Berufs kein rechtes Bild machen. Das stimmte mich unbehaglich, und wahrscheinlich deshalb entschloß ich mich, jetzt plötzlich Mr. Spencer ins Vertrauen zu ziehen. Nach einer Pause, in der ich fieberhaft nachgedacht hatte, sagte ich:
»Da diese Leute Ihnen nicht gesagt haben, warum sie nach Kinloch suchen, ist es vielleicht besser, ich sage es Ihnen –«
Mr. Spencer streckte beschwörend die Hände aus und schnitt mir mit einem hastigen Ausruf das Wort vom Munde ab.
»Gar nicht nötig, daß die drei mir was sagten«, meinte er. »Dank dessen, was Sie mir über Kinlochs finanzielle Vermögensverhältnisse gesagt haben, konnte ich's auch so raten – alle drei wollen Geld. Der Gerichtsvollzieher ganz gewiß. Der alte Kriegskamerad wollte entweder Geld von Kinloch leihen oder eine alte Schuld bezahlt haben. Und der schottische Doktor, der schnüffelt wohl auch herum, weil er noch eine unbezahlte Rechnung für Kinloch hat, was?«
Er lachte, aber ich schüttelte den Kopf.
»Nein, es ist eine viel ernstere Sache. Kinloch ist unschuldig, aber –«
»Oh«, fuhr er mir wieder dazwischen, »von allen hirnlosen –« Er unterbrach sich und begann nach seiner Brille zu suchen, die auf den Boden gefallen war. Ich war sprachlos vor Verblüffung und starrte ihn an. Nachdem er eine Weile auf dem Boden herumgewirtschaftet hatte, richtete er sich wieder auf. Er war sehr rot im Gesicht, wahrscheinlich vom Bücken, und er sprach weiter, als hätte er nicht gehört, was ich sagte. »Natürlich hat mir der Kerl, der Gerichtsvollzieher, erklärt, er würde bei gelegener Zeit schon Mittel finden, um mir den Mund zu öffnen, aber es war kein Kunststück für mich, ihm zu beweisen, daß, wenn ich die geringste Ahnung davon hätte, wo Kinloch zu finden sei, ich wohl schwerlich eine Belohnung für die Information aussetzen würde.«
Das war es also! Endlich verstand ich. Spencer wünschte nichts zu wissen, um nichts aussagen zu müssen. Meine Achtung für ihn nahm in bedeutendem Maße zu. Er war ebenso anständig, wie ich blöd gewesen war.
»Sie werden aber wiederkommen – diese drei –« sagte ich.
»Ach ja, kein Zweifel«, antwortete er anscheinend wieder in bester Stimmung. »Aber wohl erst, wenn wir aufhören zu inserieren.« Und dann, als wolle er sicher sein, daß ich ihn verstand, fuhr er mit bedeutungsvoller Betonung fort: »Ich habe das Erscheinen des Inserats für geraume Zeit fest bestellt und im voraus bezahlt. Das ist vielleicht eine Torheit gewesen, denn es ist ganz gut möglich, daß die Notiz immer noch erscheint, wenn wir Kinloch längst gefunden haben.«
Aber die Tage vergingen, und ich erhielt kein Lebenszeichen von Kinloch. Ich begann bereits zu fürchten, daß ich nie wieder von ihm hören würde. Ich erschien jetzt oft bei Spencer, aber es war vergeblich. Spencer selbst zeigte sich jedoch unweigerlich voller Zuversicht. Wenn ich ihn drängte, mir Gründe dafür anzugeben, pflegte er nur zu sagen:
»Doktor, wo Geld zu verdienen ist, findet sich immer einer, der es verdienen will. Noch nie ist es vergeblich gewesen, wenn unsere Firma in dieser Weise inseriert hat. Früher oder später ist der Erfolg doch, daß irgendeine Antwort kommt.«
Einen Tag darauf überraschte er mich mit einer Frage:
»Doktor, sehen Sie sich auf der Straße manchmal um?«
Ich verstand ihn nicht. Darauf winkte er mich ans Fenster.
»Sehn Sie dort – der Mann in grauem Überrock und schwarzem, steifem Hut, der das Trottoir auf der anderen Seite entlang schlendert.« Und als ich vorsichtig hinüberspähte, fragte er: »Haben Sie ihn irgendwann schon mal gesehen?«
Ich konnte mich nicht erinnern, diesen etwas vierschrötigen Menschen schon irgendwo gesehen zu haben.
»Ah – da – sehen – Sie!« rief Spencer.
Der Mann da drüben hatte eben einen raschen Blick zu unserem Fenster heraufgeworfen, und als er uns gewahr wurde, entfernte er sich, anscheinend in den Anblick des lebhaften Straßenverkehrs versunken.
»Diesmal hat er 'nen Schnitzer gemacht«, murmelte Spencer.
»Wer ist das?« fragte ich. Die Sache gefiel mir durchaus nicht.
»Oh, ich dachte nur, es ist besser, Ihnen einen Wink zu geben, damit Sie wissen, daß Sie verfolgt werden. Die letzten drei Male, wo Sie hier gewesen sind, haben wir den Mann drüben stehen und auf Sie warten sehen. Wenn Sie irgend etwas angestellt haben, Doktor – ich sage Ihnen – passen Sie auf!«
Nach diesem Erlebnis stellte ich meine Besuche bei Spencer ein. Wir verabredeten, daß er mich telephonisch oder durch ein Telegramm benachrichtigen sollte, wenn er mit mir zu sprechen wünschte. Wahrscheinlich stand es irgendwie mit Kinloch im Zusammenhang, daß ich heimlich überwacht wurde. Deshalb war es angebrachter, meine Besuche bei der Firma Selwyn & Smith einzustellen und so den Anschein zu erwecken, als hätten wir alle Hoffnung, auf die Inserate eine Antwort zu erhalten, aufgegeben.
Für meinen Teil traf das übrigens zu. Ich hatte völlig daran verzweifelt, und doch erwies es sich zu guter Letzt, daß Spencers Optimismus recht behalten sollte. Eines Morgens klingelte mein Telephon, und als ich den Hörer am Ohr hatte, war es Spencer.
»Sind Sie's selbst, Doktor?«
Seine Stimme klang triumphierend. Ich wußte sofort, irgend etwas Neues war eingetreten.
»Ja, was ist los?«
»Neuigkeiten!«
»Doch nicht –«
In meiner Überraschung hätte ich mir beinahe zuviel entschlüpfen lassen.
»Psst! Psst! Kommen Sie zu mir heraus, womöglich macht man sich mit uns nur einen schlechten Witz!«
Als ich glücklich bei ihm im Büro war, legte er einen Zettel vor mich hin, auf den folgendes gekritzelt war:
»Mr. Keiller, zur Zeit zu erfragen im Gasthaus ›Zum Wappen von Aberlundy‹, Gart, Argyllshire, ist in der Lage, einem Beauftragten der Firma Selwyn & Smith mündlich ausführliche Auskunft über Alexander Kinloch zu geben.«
»Nun?« meinte Spencer, als ich das gelesen hatte.
»Ich bin nicht der Ansicht, daß sich einer hier mit uns einen schlechten Witz machen will.«
»Sie meinen, daß dieser Mr. Keiller etwas weiß?«
»Ich meine sogar, es wird sich herausstellen, daß Kinloch selbst dieser Mr. Keiller ist. Auf alle Fälle ist dieser Zettel hier von einem Blinden geschrieben worden. Man kann sehen, daß er ein Parallellineal benutzt hat, um eine Führung für die Feder zu haben. Betrachten Sie es einmal genauer. Alle Zeilen sind zwar an und für sich gerade, aber sie steigen von rechts nach links an, weil das Lineal nicht genau gerade auf dem Papier lag.
»Sind Sie Ihrer Sache sicher?« fragte Mr. Spencer. »Ich lege durchaus keinen Wert darauf, ins Blaue hinein eine so weite Reise zu unternehmen.«
Ich untersuchte die Handschrift genauer und fand mich in meiner Überzeugung bestärkt. Ich hatte Sandys Handschrift nicht mehr gesehen, seit er erblindet war. Ich wußte auch, wie stark die Handschrift durch nachträgliche Erblindung beeinflußt werden kann, aber obwohl das langsame mühselige Malen der Buchstaben einer Schrift beinahe jede Individualität rauben muß, war ich auch so noch imstande, in der Gestaltung einzelner Buchstaben Ähnlichkeiten mit Kinlochs früherer Handschrift zu entdecken. Ich wies Spencer darauf hin.
»Ich mache Ihnen einen Vorschlag«, sagte ich schließlich. »Ich werde Ihnen einen alten Brief von Kinloch schicken, dann können Sie sich selbst ein Urteil bilden.«
»Gut«, meinte er, »ich kann ohnehin vor morgen nacht nicht abreisen.«
Das konnte ich ebensowenig, denn ich mußte zunächst einen Kollegen ausfindig machen, der mich vertrat. Aber ich kümmerte mich darum, noch ehe ich nach Ealing zurückkehrte. Sobald ich nach Hause gekommen war, schickte ich Spencer den versprochenen Brief. Dies schien ihn überzeugt zu haben, denn gleich am nächsten Morgen erhielt ich ein Telegramm:
»Heute mitternacht Euston Bahnhof.«
Den Rest des Tages widmete ich den Vorbereitungen zur Abreise. Zum Teil waren das recht ungewöhnliche Vorbereitungen. Ich muß offen zugeben: ich war tief beschämt gewesen, weil Spencer erst mich hatte darauf aufmerksam machen müssen, daß ich heimlich überwacht wurde. Gewiß muß auch ein Mediziner scharf beobachten, aber seine Beobachtungsgabe liegt auf einem ganz anderen Gebiet, als bei einem Mann in Spencers Stellung. Heimlich um Straßenecken zu spähen, auf der Straße plötzlich kehrtzumachen und zu beobachten, wer mir folge, an Schaufenstern stehenzubleiben, um die Leute zu mustern, die hinter meinem Rücken vorbeigehen, das alles waren Dinge, die mir von ganzer Seele widerstrebten. Deshalb hatte ich auch, selbst nachdem Spencer mich darauf aufmerksam gemacht hatte, daß ich verfolgt wurde, nichts Derartiges getan. An diesem Tage aber traf ich meine Vorsichtsmaßregeln. Niemals habe ich mich auf einem so ungeheuren Umweg nach einem Bahnhof begeben, wie in dieser Nacht. Ich begann nämlich damit, daß ich mich auszog, um 10 Uhr 15 zu Bett ging und das Licht ausdrehte. Nachdem ich etwa dreiviertel Stunde gelegen hatte, klingelte ich die Nachtschwester im Hospital an und stellte so viele beunruhigende Fragen über das Befinden eines Patienten, daß ich richtig gleich darauf dringend ins Hospital gerufen wurde. Ich ließ den Taxameter vor dem Hospital warten, beruhigte die Nachtschwester wieder, ging hinunter und erklärte dem Chauffeur, er könne nach einer Stunde wiederkommen, da die Operation dann voraussichtlich beendet sei. Danach durchschritt ich das Gebäude in seiner ganzen Länge, entschlüpfte durch einen Hinterausgang und erwischte den Zug um 11.25 nach dem Paddington-Bahnhof. Von da fuhr ich mit einem Taxameter die Marylebone Road hinunter und betrat den Abfahrtsbahnsteig auf dem Euston-Bahnhof knappe drei Minuten vor Mitternacht. Spencer war schon da. Er stand gleich neben dem Bahnsteigschaffner an der Sperre. Er hatte Billetts bis Glasgow genommen.
»Für einen Neuling eine ganz erstklassige Leistung«, bemerkte er lobend.
Er sah, daß ich ihn nicht begriff.
»Sehn Sie doch«, sagte er, »wenn einer hinter Ihnen her ist, dann ist er Ihnen diesmal nicht dicht genug auf den Fersen geblieben.«
Der Bahnsteigschaffner warf gerade die Gittertür an der Sperre knallend ins Schloß. Ich war der letzte, der den Bahnsteig betreten hatte.
Als der Zug in Gart haltmachte, wurde es bereits wieder dunkel. Seit wir von Callander abgefahren waren, hatten wir gesessen und von Kinloch gesprochen, während die schwere Schnellzugsmaschine geduldig ihren Weg an den Flanken mächtiger Berge entlang und über schäumende Gebirgsbäche suchte. Spencer war jetzt ebensosehr darauf aus, etwas über Kinloch zu hören, wie er vorher abgeneigt war. Zuerst überraschte mich das, dann verstand ich es besser. In seinem Beruf als Anwalt durfte man über eine Angelegenheit entweder gar nichts oder man mußte alles wissen. Jetzt, wo Spencer anständigerweise nicht mehr behaupten konnte, daß ihm nicht das geringste bekannt sei, war es besser und sicherer, wenn er alles wußte. Und das erzählte ich ihm, während der Zug schnaufend durch die Berge kroch. Aber als wir in die Nähe von Gart kamen, wurden wir schweigsam. Ich blickte ins Tal hinunter, wo hier und da in einer Hütte ein Licht blinkte. Meine Gedanken eilten voraus zu der Unterredung mit Kinloch, die, wie ich annahm, bevorstand.
Steif von der langen Fahrt und frierend in dem scharfen nördlichen Klima, versuchten wir, von dem einzigen Bahnbeamten, den Gart aufwies, Auskunft über den Weg zum Gasthof »Zum Wappen von Aberlundy« zu bekommen. Bald sahen wir es im Zwielicht vor uns. Ein langes, zweistöckiges Gebäude, weiß getüncht. Ich wußte sofort, was das für eine Art Gasthof war. Im Sommer und während der Anglersaison herrschte wahrscheinlich genug Betrieb. Um diese Zeit des Jahres mußte es recht still sein. Und so war es auch. Der Wirt, ein dickes Faß von einem Mann, mit rosigem Gesicht, aber anscheinend träge und lässig, riß vor Erstaunen Mund und Augen auf, als er uns mit unseren Reisetaschen eintreten sah.
»Wir wünschen Mr. Keiller zu sprechen«, begrüßte ihn Spencer.
Der fette Mensch erholte sich etwas, klappte den Mund zu, öffnete ihn aber gleich wieder, um zu bemerken:
»Ach ja, ich hab' mir schon immer gedacht, 's muß doch bald mal einer kommen. Donner ja, meine Herren, ich bin recht froh, daß Sie da sind.«
»Stimmt was nicht?« fragte ich scharf.
Er machte kehrt und betrachtete mich, ehe er Antwort gab.
»Och nein, ne Katastrophe ist's nicht, wenn Sie das meinen. Keine Spur, meine Herren. Er hat bloß angefangen –« hier sank seine Stimme zu einem vertraulichen Flüstern –, »'n bißchen zu trinken, 'n Blinder, nicht wahr – 's ist 'ne gefährliche Sache für 'nen Blinden, wenn er des Guten zuviel tut.«
Mein Herz wurde schwer. Wie im Traum hörte ich Spencers Stimme:
»Ah, und geschieht's oft, daß Mr. Keiller in diesem Zustand ist?«
»Ach Gott, nee, das nicht. Voll hab' ich den noch nie gesehen. Das ist's ja grade. Der hat was auf dem Herzen, so daß er meinen Whisky gar nicht spürt.«
»Führen Sie mich zu ihm«, sagte Spencer brüsk.
»Sagen Sie zunächst nichts davon, daß ich da bin«, flüsterte ich ihm zu, als wir einen langen Gang hinuntergeführt wurden.
Der Wirt öffnete eine Tür.
»'n Herr wünscht Sie zu sprechen, Mr. Keiller«, brüllte er, als habe er es mit einem Tauben zu tun.
Erst dachte ich, wir seien in ein leeres Zimmer geführt worden. Aber als ich in die Finsternis hineinspähte, konnte ich undeutlich das Gesicht eines Mannes erkennen, der da am Tisch saß. Es war Sandy Kinloch. Ich erkannte ihn sofort, als er seine blicklosen Augen auf uns richtete.
»Guten Abend, Mr. Keiller, wir – wir haben Sie in einer geschäftlichen Angelegenheit aufgesucht«, sagte Spencer.
»Geschäftlich?« wiederholte Sandy mit heiserer Stimme.
»Ja. Vielleicht ist der Herr Wirt so freundlich und schaltet das Licht ein.«
»Ich werd' 'ne Lampe bringen«, sagte das Monstrum und verließ uns widerstrebend.
Spencer setzte sich Sandy gegenüber. Ich ließ mich leise in einen Stuhl gleiten, der dicht bei der Tür stand.
»Die Sache ist, daß wir nach Mr. Kinloch suchen«, erklärte Spencer.
»Das dachte ich mir! Und es ist kein Kunststück, zu erraten, was Sie ›geschäftlich‹ mit ihm zu besprechen haben«, warf Sandy ein.
»Sie überraschen mich. Ich dachte, daß nur Mr. Kinloch allein über die Teeaktien etwas wüßte.«
»Teeaktien?« Die Frage verriet völlige Verständnislosigkeit.
»Ja, es handelt sich um Teeaktien.«
Zunächst war es still, dann wurde Sandy von einem wilden Lachanfall geschüttelt – freilich, es war kein Lachen der Freude, und es brach ebenso unvermittelt ab, wie es begonnen hatte.
»Sie müssen entschuldigen«, sagte er, »aber daß Sie behaupten wollen, Sie wären wegen Teeaktien gekommen, wirkt humoristischer, als Sie selbst wissen können. Wie die Dinge liegen, hat Kinloch seinerzeit einen ziemlichen Brocken Geld in Teeaktien angelegt. Er hat sie dann bei seinem Anwalt liegenlassen, weil sie vollständig wertlos geworden waren.«
»Wertlos?« sagte Spencer. »Aber mein sehr verehrter Herr, meinen Sie, daß ich wegen völlig wertloser Aktien diese lange Reise unternommen hätte?«
»Nein, das glaube ich nicht«, erwiderte Sandy, »und deshalb ist es mir auch leicht, zu erraten, warum Sie wirklich gekommen sind. Wir wollen das Versteckspiel sein lassen. Ich bin Kinloch, und Sie sind ein Polizist. Und es sind nicht die Teeaktien, wegen der Sie mich sehen wollten, sondern der Ealinger Mo …«
Ich erstickte das letzte Wort, indem ich einem nahe der Tür stehenden kleinen, mit Geschirr vollgepfropften Tisch einen Fußtritt gab, daß er umstürzte. Es geschah keinen Augenblick zu früh, denn schon sah man im Korridor den Lichtschein der Lampe, die der Wirt brachte. Er erschien auf der Schwelle, tief bestürzt über das Prasseln und Klirren, und sah, daß wir alle drei aufgesprungen waren. Mit gemischten Gefühlen betrachtete er den Schaden.
»Och«, rief er, »sind Sie sich schon in die Haare geraten? Wenn Sie bloß auf die Lampe gewartet hätten, wär's vielleicht nicht so teuer zu stehen gekommen.«
»Macfarlane«, brüllte ihn Kinloch an, »wer sind diese Leute – wie sehen sie aus?«
Im Licht der Lampe, die der Wirt jetzt auf den Tisch gestellt hatte, sah ich dicke Schweißtropfen auf Sandys Stirn glitzern. Der Wirt war bemüht, ihn zu beruhigen. Dabei musterte er uns kritisch.
»Sie sehn gar net so übel aus, Mr. Keiller«, erklärte er schließlich salbungsvoll. »Ich kann nichts Besonderes an ihnen finden. Ich hab' schon 'ne bessere Sorte gesehen und schon 'ne schlechtere.«
»Aber sehn sie wie Polizisten aus?«
»Polizisten?« Macfarlane begrüßte diesen Einfall mit Hohngelächter. »Die da Polizisten? Der Deibel, nee. Da sind sie woll 'nen guten Kopf zu klein dafür – für unsern Distrikt hier ganz gewiß –, 's wär' denn just, daß sie immer bloß zu dritt oder viert auf Streife gehn.«
Er blinzelte mir zu, als wolle er sich auf diesem Weg über die Kritik an meiner Körperlichkeit entschuldigen. Endlich wurde ich soweit meiner Gefühle Herr, um sprechen zu können:
»Sandy«, sagte ich und ging zu ihm hin. »Sandy, mein Jung'.«
Er fuhr heftig zusammen. Seine Hand, die fieberhaft zitterte, suchte nach meiner.
»Peter!« flüsterte er. »Peter, großer Gott – du bist da? Wozu bist du gekommen?«
»Nur um dich zu finden, Sandy.«
Und während er meine Hand packte, wendete ich mich zu Macfarlane, der sich noch immer um uns herumdrückte. Wir mußten ihn endlich loswerden.
»Ist das ein Privatzimmer?« fragte ich.
»Nein, Herr, aber um die Zeit des Jahres kommt's allemal aufs selbe 'raus, 's ist doch keiner hier, der 'reinkommen könnte, außer mir.«
»Dann bin ich dafür, daß wir es auch wirklich als ganz privat betrachten«, erklärte ich in unmißverständlichem Ton.
Seine Haltung zeigte, daß ihm dieser Ton mißfiel. Er machte kehrt, erklärte aber mit warnend aufgehobenem Zeigefinger:
»Schön, mein Herr, aber ich mach' Sie darauf aufmerksam, daß das 'n Extrazimmer ist, mit freiem Gebrauch des Klaviers.«
Sogar Spencers Gesicht verzog sich zu einem Lächeln. Selbst Sandy schien es nicht nur aufzuheitern, es schien ihm etwas zu Kopf zu steigen, wenigstens dachte ich so, als er plötzlich den Refrain einer schottischen Ballade vor sich hin summte:
»Roys Weib in Aldevalloch,
Roys Weib in Aldevalloch,
Wißt ihr, wie sie mich betrog,
Als ich ritt über die Heide von Balloch –«
Hat sie mich betrogen? Oder hab' ich mich selbst betrogen?
Er schüttelte müde den Kopf, wie jemand, der eine Frage wiederholt, die er sich schon oft gestellt und immer unlösbar gefunden hatte. Ach, ich hätte an seiner Stelle antworten können! Und ohne erst die ganze Geschichte zu kennen! Denn – wie ich nachher zu Spencer sagte – wenn eine Frau bei der Sache die Hand im Spiel hatte, dann war nicht mehr viel Raum, zu zweifeln, wer betrogen hatte.
Am folgenden Morgen war Kinloch in einer viel gesunderen inneren Verfassung. Als ich ihn in seinem Zimmer besuchte, wo das Tageslicht voll durch ein östliches Fenster hereinströmte, hatte ich während unserer Unterhaltung Zeit, seine Augen genau zu mustern, ohne ihn merken zu lassen, worum es ging. Vor dem Krieg hätte man seinen Fall wohl als hoffnungslos betrachtet. Jetzt war ich dessen nicht so gewiß. Ich entschloß mich deshalb, über die Ealinger Affäre kein Wort zu verlieren, solange Kinloch nicht von Fyffe, dem Augenspezialisten in Edinburgh, untersucht worden war. Zunächst aber galt es, dafür zu sorgen, daß er sich innerlich etwas frischer und unbelasteter fühlte. Um dies zu bewerkstelligen, hatte ich große Hoffnung auf die Neuigkeiten gesetzt, die Spencer für ihn hatte. Aber Kinloch schien über Nacht Spencer vollständig vergessen zu haben.
»Du hast mir noch nicht erzählt, wie du herausgefunden hast, wo ich bin«, sagte er.
»Spencer hat es mir mitgeteilt.«
Sein Gesicht drückte Erstaunen aus.
»Spencer – ich dachte, das wäre ein Patient, der unter deiner Obhut steht, jemand, bei dem's im Hirn nicht ganz richtig ist.«
»Wieso?«
»Nun, wegen seines irrsinnigen Geschwätzes über die Teeaktien. Du mußt sie in seiner Gegenwart mal erwähnt haben, und er hat's aufgeschnappt.«
»Aber wenn er behauptet hat, daß du hier zu finden bist, hat er wenigstens recht behalten.«
»Das ist wahr, aber wie er's zuwege gebracht hat –«
»Auch das, was er über die Teeaktien gesagt hat, stimmt. Du kannst sie jetzt für einundvierzig Schilling verkaufen.«
»Hm – die ganzen Aktien zusammen für einundvierzig Schilling, was?«
»Nein, zu einundvierzig Schilling pro Aktie. Mr. Spencer, in seiner Eigenschaft als Teilhaber der angesehenen Anwaltsfirma Selwyn & Smith, weiß ziemlich genau, was er redet.«
»Selwyn & Smith?« rief er. »Ach, das hab' ich nicht gewußt.«
Ich konnte sehen, daß er mir jetzt glaubte. Sein bleiches, verhärmtes Gesicht überzog sich mit einer leisen Röte. Lange saß er schweigend. Ich fragte mich grübelnd, in welcher sonderbaren Welt seine Gedanken sich jetzt wohl tummeln mochten.
An einem Sonntagmorgen wagte ich es endlich, offen mit Sandy über seine Blindheit zu sprechen. Spencer, der nichts mehr hier zu tun hatte, war bereits abgereist. Kinloch hatte die große Neuigkeit, die er ihm überbrachte, nicht mit der Freude aufgenommen, die wir erwartet hatten. Es war mir sofort klar, daß Sandy, wie der Wirt bei unserer Ankunft gesagt, noch etwas Besonderes auf dem Herzen hatte. Ich stellte aber keine Fragen. Ich war nicht gekommen, um meine müßige Neugier zu befriedigen, sondern um einem Freund zu helfen. Und so wagte ich es an diesem Sonntagvormittag, während das Echo der Kirchenglocken zwischen den Bergen schwang. Ich stürzte mich blindlings in das Unternehmen, aber ich bemühte mich doch, so taktvoll vorzugehen wie nur möglich.
»Erinnerst du dich an die Geschichte des Mannes von Bethsaida, Sandy – der da blind war und dessen Augen wieder geöffnet wurden?«
»Ja«, sagte er nach kurzem Zaudern. Er hatte ein sehr feines Gehör, und ich hatte meine Stimme anscheinend nicht so beherrscht, wie ich wollte.
»Erinnerst du dich, wie er gefragt wurde, ob er etwas sehe, und wie er verzückt ausrief: ›Ja, ich sehe Männer wie Bäume, die gehen‹? Er war schon damit zufrieden, daß er Menschen verschwommen sehen konnte wie wandelnde Bäume.«
»Zufrieden? Er – er dankte kniefällig dafür, wenn ich mich recht erinnere.«
»Ja, das tat er. Aber die wenigsten von uns, glaube ich, würden sich damit begnügen.«
Ich beobachtete ihn. Er ballte krampfhaft die Hände.
»Gott – wie wenig du wirklich weißt«, fuhr es ihm heraus. »Menschen zu sehen, und sei es selbst undeutlich wie wandelnde Bäume, ja, bloß hell und dunkel unterscheiden zu können – versprich das einem Blinden, und er wird gern vor dir knien.«
Nun, ich konnte ihm noch nicht einmal soviel versprechen, aber ich erzählte ihm von Fyffes operativen Eingriffen.
Er schüttelte abwehrend den Kopf.
»Nein, nein. Solche Dinge tragen sich nicht zu, Peter. So ist die Welt nicht beschaffen. Denk dran, welches Glück ich mit den Aktien gehabt habe. Das Glück wird einem nicht scheffelweise zugemessen.«
»Sandy«, sagte ich, »ich kann nicht finden, daß du ein Hans im Glück bist. Bis jetzt hast du wenig genug Glück gehabt. Aber früher oder später, denke ich, gleicht sich alles aus. Und ich denke, in deinem Fall ist man dir den Ausgleich lange genug schuldig geblieben.«
Das einzige, was ich über die Weiterentwicklung der Dinge noch zu berichten habe, ist folgendes: Kinloch wurde in Edinburgh von Sir Donald Fyffe operiert und durfte eine Woche später zum erstenmal auf kurze Zeit das Licht wieder sehen, das er nicht mehr erblickt hatte, seit er bei dem Angriff auf Remy in den sechs letzten Wochen des Weltkriegs durch die Explosion einer schweren Granate verschüttet worden war. Wir saßen wieder in Macfarlanes bereits erwähntem Privatzimmer, als wir den ersten Versuch machten. Ich entfernte den Verband im halbdunklen Zimmer, in das etwas matter Lampenschimmer von draußen hereinfiel. Aber als ich feststellen konnte, daß auch in diesem Falle Sir Donald sein Meisterstück gelungen war – nun, ich war nahe daran, von Macfarlanes Klavier doch noch Gebrauch zu machen.
Und wozu gebrauchte nun Sandy sein wiedererlangtes Augenlicht zunächst, zu allernächst? Ich erlebte es mit und dachte zuerst, er sei plötzlich verrückt geworden. Er riß sich den Rock von den Schultern und betrachtete das Futter, die Stelle gerade unter dem Kragen. Das seltsamste war, daß an dieser Stelle nicht das geringste zu finden war, was man derart hätte anstarren können. Trotzdem bebte Sandy vor Erregung. Kurz darauf murmelte er vor sich hin:
»Wann ist das bloß geschehen?«
»Was denn?« fragte ich.
Er hielt mir den Rock hin.
»Da, sieh selbst. Irgend jemand hat die Firma und Adresse des Schneiders, die hier angebracht war, herausgeschnitten. Schlau war das – verdammt schlau! – Wißt ihr, wie sie mich betrog – Roys Weib in Aldevalloch – verdammt gerissen, das muß man sagen.«
Ich bangte um seine Gesundheit. Es kam mir vor, als ob die plötzliche Wiedererlangung der Sehkraft eine plötzliche seelische Störung verursacht hatte. Denn der Rock war in keiner Weise beschädigt. In den nächsten Tagen machte indessen Sandys körperliche Erholung solche Fortschritte, daß ich nach und nach an meine Londoner Praxis zu denken begann. Wenn er sich seelisch mit gleicher Schnelligkeit erholt hätte, hätte ich viel früher schon mich entschlossen, wieder nach Ealing zurückzukehren. Aber eine gewisse innere Unrast, die sich in seinem ganzen Benehmen verriet, gefiel mir durchaus nicht. Hier war eine Stelle, in die noch die Sonde gesenkt werden mußte, ehe ich abreisen konnte. Daß die Angelegenheit in irgendeiner Beziehung zu dem Mord stand, war für mich außer Zweifel, und hinter dem allem eine Frau zu vermuten, war noch viel leichter. Aber gerade das veranlaßte mich, das Thema mit alleräußerster Vorsicht anzuschneiden.
Wir waren auf die Berge hinaufgestiegen und saßen oben im Heidekraut. Vor uns entrollte sich das Tal.
»Hier wird's dir Tag um Tag besser gehn. Die Luft hier oben ist wie Wein. Noch ein oder zwei Monate –«
»Ich reise nächste Woche, Peter.«
»Nächste Woche? Wohin denn?« fragte ich verblüfft.
»In die Stadt.«
»Nach London?«
Er nickte bejahend, sah mich aber nicht an. In der langen Zeit seiner Blindheit hatte er sich abgewöhnt, die Leute anzublicken, mit denen er sprach. Im übrigen erschrak ich über seinen Plan.
»London ist keineswegs der richtige Platz für dich – vorläufig noch«, sagte ich und verlieh meinen Worten besonderen Nachdruck.
»Das bißchen Rauch kann doch nicht viel schaden«, erwiderte er. Er war anscheinend der Ansicht, daß ich nur um seine Augen besorgt war.
Da ich nichts entgegnete, drehte er sich um, um mich anzusehen. Da sagte ich:
»Ich meinte – die Affäre von Ealing.«
Jetzt war er wie vom Blitz getroffen. Zunächst war er überhaupt unfähig, zu reden.
»Also weißt du darum?« sagte er schließlich. Er begann rasch und stoßweise zu atmen. »Nun«, fügte er schließlich hinzu, »wenn du gut darüber informiert bist, dann mußt du ja auch wissen, daß meine Hand nicht im Spiele war.«
»Nein, Sandy, gewiß nicht – aber dein Stock war im Spiel, sozusagen.«
»Dunn«, rief er schließlich, »hast du die ganze Zeit all das gewußt und trotzdem nicht das geringste Wörtchen verlauten lassen?«
»Du hast selbst nicht darüber gesprochen, Sandy. Ich dränge mich nicht gern in das Vertrauen eines andern ein.«
Die Bemerkung traf ihn. Er riß einen trockenen Heidekrautzweig ab und begann damit zu spielen. Seine Gedanken waren sichtlich ganz woanders.
»Peter«, sagte er endlich, »ich schulde dir mehr, als ich je zurückerstatten kann. Wenig Menschen haben für einen Mitmenschen das getan, was du für mich getan hast, aber in dieser Mordangelegenheit gibt es Dinge, die ich dir nicht sagen kann, denn es gibt – es gibt noch jemanden, dem ich sogar mehr schulde als selbst dir.«
»Roys Weib, nehme ich an.«
»Du kannst annehmen, was dir Spaß macht«, sagte er, den kleinen Hieb gelassen hinnehmend.
Sofort saß ich wieder auf dem hohen Pferd.
»Und wofür bist du ihr in so hohem Maß verbunden?« erkundigte ich mich. Mit gespielter Hast fügte ich gleich darauf hinzu: »Aber vielleicht ist das eine indiskrete Frage.«
Er wurde rot. Ich freute mich darüber.
»Ich schulde ihr genau soviel wie dir, Peter«, erwiderte er geduldig. »Wenigstens bin ich ihr gegenüber ebensowenig fähig, meine Schuld zu tilgen, wie dir gegenüber.«
In früheren Zeiten wäre es jetzt vielleicht zu einem Zank gekommen. Und sogar jetzt war ich sehr dazu aufgelegt. Ich kochte vor Entrüstung über sein Benehmen, das ich für reine Narrheit hielt. Aber Kinloch bezwang sich immer noch. Auf meine bissigen Bemerkungen erwiderte er nichts. Es dauerte nicht lange, da sah ich, daß er fest entschlossen war, auf alle meine Ausfälle nichts zu entgegnen. Seine Augen schienen sich von der Aussicht, die sich zu unseren Füßen breitete, nicht losreißen zu können. Aber dann blickte er mich an, und ich merkte, daß nicht die Landschaft ihn beschäftigt hatte, sondern das, was er mir sagen wollte.
»Peter«, begann er, »es gab eine Zeit, wo ich dir zugestimmt hätte: Roys Weib und so weiter. Es gab eine Zeit, wo ich sie haßte, wirklich haßte, verstehst du? Genau wie ich jetzt noch den Mann hasse, vor dessen mörderischen Absichten sie mich geschützt hat. Die Behauptung, daß ich ihr zur Dankbarkeit verpflichtet wäre, hätte ich damals mit Hohngelächter zurückgewiesen. Sie hat mich zwar weggebracht, aber ich wußte, daß es geschah, um ihn zu retten, nicht mich. Keinen Augenblick habe ich mich darüber einer Täuschung hingegeben. Aber dort, in ihrem Hause, habe ich mich eine Zeitlang wie ein wahrer Halunke benommen. Du erinnerst dich an die Nacht, wo ich bei dir zu Hause war? Was hast du damals von mir gedacht? – Daß ich hartgesotten und skrupellos und gemein geworden bin? Ja, das hast du gedacht, und übrigens stimmte es auch. Ohne es selbst eigentlich zu merken, hatte ich etwas von der Umgebung angenommen, in der ich lebte. Zwei Jahre lang habe ich sozusagen keinem die Hand schütteln können, der wirklich saubere Finger hatte, bis ich damals in der Nacht zu dir gekommen bin. Und trotzdem bist du es nicht gewesen, der mich aus dem Sumpf geholt hat, soviel du auch später für mich getan hast. Jetzt erst, wo ich in die Vergangenheit zurückblicke, begreife ich, was das Leben in dem einsamen Haus bei ihr mir Gutes getan hat.«
»Und wieso«, erkundigte ich mich spitz, »hat dieses glückliche Familienleben plötzlich ein Ende genommen?«
»Die alte Frau, die täglich zum Aufräumen kam, hatte mich entdeckt. Sie wollte mich aus dem Haus ekeln und kam deshalb eines Nachts mit einer phantastischen Geschichte heraus, es schleiche draußen einer ums Haus. Sie tat so, als sei es Stellas Gatte. Ich wäre auf den Trick nicht hineingefallen, aber zufällig war zur gleichen Zeit in den Zeitungen eine bevorstehende Verhaftung in der Ealinger Mordaffäre angekündigt. Wir dachten wirklich, man habe uns aufgespürt und wir müßten fliehen – und weit fliehen. Aber selbst da hat sich die Frau prachtvoll benommen, Peter, das sage ich dir. Die Art, in der das alte Weib ihre Frauenehre in Zweifel zog, hatte ihr einen furchtbaren Schlag versetzt. Und trotzdem hat sie mich erst aus dem Haus geschafft und ist selbst noch einmal zurückgegangen, um die nötigen Vorbereitungen für unsere lange Reise zu treffen, ja, um dem Unbekannten die Stirn zu bieten, von dem wir annehmen mußten, daß er in Wirklichkeit ein Polizist war – ihm die Stirn zu bieten, während ich wohl aufgehoben hinter einer Heumiete steckte.«
»Und all das hat sie für dich aus reiner, uneigennütziger Menschenfreundlichkeit getan? Daran sind dir nie Zweifel aufgestiegen, wie?« Und um es stärker zu unterstreichen, pfiff ich die Melodie von Roys Weib leise vor mich hin.
Er wurde sofort rot.
»Und selbst wenn sie mich genasführt hat«, rief er, »habe ich nicht selbst versucht, ihr ein Schnippchen zu schlagen?«
»Und bist 'reingefallen?«
»Wie ich's verdient habe«, entgegnete er.
Er schwieg. Erst nach einer Weile beugte er sich zu mir vor. »Peter, ich habe dir schon gesagt, dort im Hause habe ich mich wie ein Schuft betragen, und das ist wahr. Aber am schuftigsten habe ich mich zu guter Letzt benommen. Wir sind in ihrem kleinen Auto hierhergekommen. Wir sind nur nachts gefahren, tagsüber haben wir den Wagen hinter einer Hecke oder im Wald versteckt und darin geschlafen. Es war eine lange Reise. Fünf Nächte brauchten wir, ehe wir hier ankamen. Und dann, ehe ich sie wegließ, habe ich sie gezwungen, mich zu küssen.«
»Aha, endlich wird der Film, wie er soll«, meinte ich sarkastisch. »Das Weibsstück hat hoffentlich nicht die ganze romantische Geschichte verdorben und sich geweigert?«
»Nein«, sagte Sandy. Er blieb ganz ernst. »Sie hat sich nicht geweigert. Erst dachte ich auch, sie wird sich weigern. Aber als sie mich –«
»Da wußtest du, daß sie nicht so –« versuchte ich ihm weiter zu helfen.
»Doch als sie mich küßte«, fuhr er fort, »merkte ich, daß ihre Wange ganz feucht war von Tränen.«
Darauf war ich nicht gefaßt gewesen. Ich hatte zwar das Gefühl, daß es viel besser gewesen wäre, mich über ihn lustig zu machen, aber merkwürdigerweise konnte ich nicht die richtigen Worte dazu finden. Er bildete sich ein, daß die Frau über seine Brutalität geweint hatte – weil er sie gezwungen hatte, ihn zu küssen –, das war ein so kindlicher Einfall, daß ich die Sprache verlor. Ich wußte einfach nicht, was ich da noch sagen sollte, aber Sandys verstiegener Einfall bereitete mich auf das vor, was noch kommen sollte. Und ich muß sagen, daß diese Vorbereitung dringend nötig war.
»Warum hast du dich eigentlich mit Selwyn & Smith in Verbindung gesetzt?« fragte ich. »Du hattest doch anscheinend vergessen, daß die Aktien noch bei ihnen lagen?«
»Ich dachte, hinter dem Inserat steckt die Polizei. Ich wollte mich der Polizei stellen.«
»Dich stellen? Wieso? Als Mörder?«
»Ja.«
Ich traute kaum meinen Ohren. Von allen lächerlichen Donquichotterien, die mir je zu Ohren gekommen waren, schien mir das die wahnwitzigste. Er wollte sich als Mörder stellen! Aber damit hatte ich auch einen Begriff davon, wie sehr Kinloch im Banne dieser unbekannten Frau stand. Weiß Gott, sie war geschickt zu Werk gegangen, hatte ihn plötzlich in Gart allein sitzenlassen, nachdem er genug behext war, um auf alle Fälle den Mund zu halten, ja sogar um, wenn's darauf ankam, die Rolle des freiwilligen Opfers zu spielen. Als ich mir darüber klar wurde, empfand ich nicht nur Zorn, sondern auch eine Art ehrfürchtigen Staunens darüber, daß selbst ein Mann wie Kinloch in einem solchen Grade von einer Frau beherrscht werden konnte.
»Das mußt du doch begreifen«, fuhr er fort, »sich der Polizei zu stellen, war ein bequemer Weg, um dem Leben zu entrinnen. Ich war des Lebens ja längst überdrüssig. Ich war ja doch nichts mehr weiter als ein Schmarotzer, ein Ungeziefer, das sich im Dunkeln herumtrieb.« Er blickte mich an, seine Augen funkelten plötzlich. »Aber du hast einen anderen Menschen aus mir gemacht. Du hast mir wieder zur Freude am Leben verholfen. Jetzt sehe ich selbst, wie wahnwitzig der Einfall war, einfach die Flinte ins Korn zu werfen.«
Das klang wieder etwas beruhigender. Aber es war doch durchaus nicht das, was ich wollte.
»Aber Sandy«, sagte ich, »wenn du jetzt nach London gehst, wo die Polizei überall herumschnüffelt, dann kommt es auf dasselbe heraus, als wenn du dich freiwillig stellst. Nach allem, was ich beobachtet habe, werden sie sich auf dich stürzen wie die Geier.«
»Ich habe keine Angst. Ich muß sie finden, jetzt, wo ich wieder etwas ausrichten kann«, erklärte er hartnäckig.
»Aber bist du sicher, daß sie solchen Wert darauf legt, gefunden zu werden?«
Das hatte gesessen. Er sah plötzlich derart niedergeschlagen aus, daß vermutlich das Gegenteil zuzutreffen schien. Um aus meiner Entdeckung soviel Nutzen zu ziehen als möglich, fuhr ich fort:
»Hast du hier unter ihrem Namen gelebt?«
»Ich weiß nicht, wie sie heißt«, gab er zu.
»Du hast dich also Keiller genannt, um deinen wirklichen Namen vor ihr geheimzuhalten?«
»Nein, sie kennt meinen Namen.«
»Natürlich! Und alles andere auch! Während du bloß soviel weißt, als sie für gut befunden hat, dir mitzuteilen. Und das scheint so ziemlich gleich Null gewesen zu sein.«
Plötzlich kam mir ein ganz neuer Gedanke.
»Du lieber Himmel, du weißt ja noch nicht einmal, wie sie aussieht, denn du hast sie selbstverständlich niemals gesehen.«
»Nein, wenn du mir ihre Photographie zeigen würdest, würde ich sie nicht erkennen.«
»Und du weißt noch nicht einmal ihren Namen, weißt nicht, wo sie wohnt, weißt nicht, wie sie aussieht. Gott im Himmel, Menschenskind, nach der zu suchen, ist wirklich hoffnungslos, da ist's ja noch leichter, eine Nadel in einem Heuhaufen zu finden.«
Dann ließ ich ihn in Ruhe. Ich sah, daß es ihn quälte. Wir stiegen bergab durch den Nadelwald, fast ohne ein Wort zu wechseln. Selbst unten im Tal, auf der ebenen Landstraße, wo man sich bequem hätte unterhalten können, gingen wir stumm nebeneinander.
Wahrscheinlich wäre ich überhaupt nicht mehr auf Kinlochs Projekt zurückgekommen. Aber ein paar Tage später, als wir abends mit der Pfeife im Mund am Feuer saßen, sprach er selbst wieder davon. Ich wollte am andern Morgen abreisen. Er begann damit, mich in verschiedenen Dingen um Rat zu fragen, und schien auf meine Meinung großen Wert zu legen. Ich wußte natürlich, daß es ihm nur darum zu tun war, mich zu versöhnen. Aber als er einen Schritt weiterging und die Absicht verlauten ließ, mich näher mit seinen weiteren Plänen bekannt zu machen, wies ich das ohne weiteres zurück. Ich erklärte ihm rundheraus, es sei im Interesse seiner eigenen Sicherheit weitaus besser, sich nicht darüber zu äußern, was er zu tun vorhatte und wohin er sich begeben wollte. Ich hatte längst erraten, daß er sich schon irgendeinen irrsinnigen Plan ausgeheckt hatte, um die Frau ausfindig zu machen. Aber es interessierte mich nicht. Und da er selbst zugegeben hatte, daß er die wichtigsten in Betracht kommenden Tatsachen nicht kannte, wußte ich, daß sein Beginnen scheitern mußte. Wenn er wenigstens den Wunsch besessen hätte, die Polizei bei der Ermittlung des wahren Mörders zu unterstützen, wäre die Situation einfacher gewesen. Denn ich war allmählich zu der Einsicht gelangt, daß – vorausgesetzt, er meldete sich freiwillig – es gelingen müßte, mit meiner und Spencers Hilfe, ihn von jedem Verdacht der Beteiligung an der Mordtat zu reinigen. Aber dazu wollte er sich nicht bereit finden. Er wollte keinen Finger rühren, um den Behörden zu helfen, solange er nicht wußte, inwieweit die Frau durch die Verhaftung des Mörders in Mitleidenschaft gezogen wurde. Damit war er von vornherein in einer falschen Stellung. Seine eigene Sicherheit konnte dadurch gefährdet werden, wenn er der Polizei in die Hände fiel. Wenn ich daran dachte, geriet ich, im Bewußtsein meiner Hilflosigkeit, ganz außer mir. Dabei wußte er jetzt, in welcher Gefahr er schwebte. Länger als für seine Augen gut war, hatte er in der Zwischenzeit, seine grüne Schutzbrille auf der Nase, über einem Stapel Zeitungsausschnitten gebrütet, die eine lückenlose Darstellung aller über den Mord bekannten Tatsachen und der verschiedenen Theorien über die Beweggründe und den Urheber enthielten. Deshalb weigerte ich mich auch entschieden, mir seine Pläne anzuhören. Aber erst auf dem Bahnhof, kurz ehe der Zug abfahren sollte, sagte ich ihm, warum ich mich geweigert hatte.
»Siehst du, Sandy, wenn irgend jemand mich fragen sollte, wo du bist oder was du tust, dann kann ich wenigstens, ohne zu lügen, sagen, ich wüßte es nicht.« Mich beschäftigte in diesem Augenblick, wo ich nach London zurückkehren sollte, dieselbe Frage, die meine Abreise so außerordentlich schwierig gestaltete. Ich hatte den Mann nicht vergessen, der mich heimlich überwacht hatte, und ich hatte auch die drei Unbekannten nicht vergessen, die auf Mr. Spencers Büro gewesen waren.
»Oh«, erklärte Sandy rasch, »natürlich kann ich von einem Freund nicht erwarten, daß er für mich lügt.«
»Natürlich nicht«, sagte ich. »Er darf es nicht, wenn er nicht wirklich gut lügen kann.«
Es war eine Wohltat, das Lächeln zu sehen, mit dem er die Bemerkung beantwortete, während er mir noch einmal fest die Hand drückte. Ich denke, er hat mich verstanden.
Aber es stimmte mich wehmütig, mich von ihm trennen zu müssen, ohne zu wissen, welche Pläne er hatte. Ein gewisser Trost lag wenigstens darin, daß wir als Freunde voneinander schieden, trotzdem auf beiden Seiten manches Wort gefallen war, das uns leicht hätte trennen können.