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Die Entführung

Auf dem Amsterdamer Zentralbahnhof herrscht reges Leben, denn der Schnellzug Brüssel–Paris ist bald fällig. Im Wartesaale erster Klasse sind alle Tische besetzt. Hier sitzen einige Franzosen, lebhaft plaudernd, bei einer Flasche Rheinwein und betrachten mit spöttischem Lächeln das Getriebe um sich her. Dort trinkt ein altes Ehepaar Tee und füttert dabei das neben ihm auf einem Stuhle liegende Schoßhündchen mit Kuchen. Dicht bei dem Büfett scherzen ein paar junge Herren und Damen miteinander. Letztere fallen durch ihre übermodernen Kleider, ihre bleichen Gesichter und mangelhaften Manieren auf. Mitten im Wartesaal steht eine Gesellschaft von acht Personen, lachend und plaudernd, Mantel über dem Arm und Stöcke und Handtaschen in der Hand. Dazwischen laufen Herren und Damen aufgeregt hin und her, nervöse Kinder lassen ihren Eltern keinen Augenblick Ruhe. Berufsreisende stechen durch ihre Ruhe von der allgemeinen Unruhe scharf ab. Zugbeamte laufen, Befehle gebend oder ausführend, zwischen den Reisenden hin und her.

Endlich erscheint der Portier und ruft mit lauter Stimme: »Den Haag–Rotterdam–Rozendaal–Brüssel–Paris«, und sofort beginnt ein allgemeines Drängen nach dem Ausgang.

In einem abgelegenen Winkelchen des Wartesaales erhebt sich langsam ein Herr, setzt mit auffallender Ruhe seinen Zylinder auf, nimmt seinen Mantel über den Arm und greift mit der andern Hand nach einer kleinen Damentasche, die auf dem Tische steht. Dann wendet er sich an eine junge Dame und sagt: »Wollen Sie so freundlich sein und mir folgen. Nehmen Sie lieber selbst Ihre Fahrkarte, dann kann ich sie wenigstens nicht verlieren.«

»O bitte, Herr van der Griend, behalten Sie sie«, sagte das junge Mädchen ängstlich.

Der Herr wurde dunkelrot, und seine Augen sprühten, indem er heftig entgegnete: »Nennen Sie doch nicht meinen Namen!« Dann biß er sich auf die Lippe, als ob er sich selbst auf einer Dummheit ertappt hätte, und fügte hinzu: »Verzeihen Sie, Sie können natürlich nicht wissen, daß dort an der Tür ein Raufbold steht, mit dem ich kürzlich aneinander geraten bin. Wenn dieser nur meinen Namen hört, dann wird er rasend.«

Myntje, denn sie war natürlich die junge Dame, sah nach der Tür, konnte jedoch niemand entdecken, der einen solchen Eindruck machte; aber sie hatte keine Zeit, weiter darüber nachzudenken, denn sie stand schon an der Kontrolle.

Draußen steht fauchend und keuchend die Riesenlokomotive. Die großen Laternenaugen werfen gelbrote Strahlen über die Schienen und lassen die Lokomotive wie ein Ungetüm erscheinen, das vor Ungeduld brennt, die lange Wagenreihe in rasender Fahrt mitzuschleppen. Auch in den Wagenabteilen brennt schon Licht.

Van der Griend drängte sich durch die Menge, ab und zu sich umsehend, ob Myntje ihm auch folgte, und lief auf ein noch leerstehendes Wagenabteil erster Klasse zu. »Setzen Sie sich dort in die Ecke«, sagte er, »da haben wir es gemütlich.«

Myntje stieg zögernd, so, wie man es bei reiseungewohnten Leuten findet, in das feine Abteil und setzte sich auf den ihr angewiesenen Platz.

Van der Griend folgte ihr hastig und zog die Gardine vors Fenster, ehe er sich ihr gegenüber niederließ. »So, nun ist es geglückt!« rief er, »und wir haben das Abteil für uns allein. Aber eilen muß man sich.«

Myntje beruhigte sich allmählich bei diesen Worten. Die auffallende Hast ihres Begleiters hatte sie ängstlich gemacht. So seltsam hatte sie van der Griend noch nicht gesehen. Jetzt war er wieder ruhig.

»Ich sehne mich nach meiner Mutter«, sagte er und steckte sich eine Zigarre an. »Ich bin schon ziemlich lang nicht mehr in Paris gewesen. Sicher holt sie uns im Wagen am Bahnhof ab, denn sie bildet sich immer ein, daß vom Nordbahnhof, wo wir ankommen, bis zu unserm Hause eine große Strecke Wegs sei.«

Plötzlich sprang van der Griend vor, drohenden Blickes den Portier ansehend. Jemand suchte die Tür zu öffnen; aber van der Griend warf sich mit aller Macht gegen dieselbe und hielt von innen den Türgriff fest. Dabei verriet sein Gesicht entsetzliche Angst und Wut.

»Wie merkwürdig! Ist denn das Ding verrostet?« hörte man draußen sagen. »Ruft doch den Schaffner!«

Dieser rüttelte an der Tür, gleichfalls ohne Erfolg. »Das verstehe ich nicht«, sagte er. »Aber, meine Herren, das Abfahrtssignal ist bereits gegeben. Bitte, begeben Sie sich in einen andern Wagen.«

Sachte setzte sich der Zug in Bewegung und fuhr dann mit zunehmender Schnelligkeit aus dem Bahnhof. Erst als man schon eine Strecke gefahren war, ließ van der Griend die Türschnalle los und kehrte an seinen Platz zurück. »Jetzt wird uns niemand mehr stören«, sagte er und steckte seine ausgegangene Zigarre aufs neue an. »Um halb zehn Uhr etwa sind wir in Brüssel und müssen dort einige Stunden auf den Pariser Zug warten. Dieser trifft um Mitternacht ein, und dann müßten wir den Schlafwagen benutzen, was für Leute, die wenig reisen, nicht angenehm ist. Wenn man zu seinem Vergnügen reist, braucht man weniger auf Schnelligkeit als auf Bequemlichkeit zu sehen. Darum könnten wir vielleicht eine andere Route nehmen.«

Einen Augenblick überlegte er. »Sie haben doch vor Ihrer Abreise alles genau so gemacht, wie ich Ihnen gesagt habe?« fragte er plötzlich, Myntje scharf ansehend.

»Gewiß! Ich habe Frau Nielsen gesagt, daß wir nach Calais gehen und ihr die Adresse angegeben, wohin mir etwaige Briefe nachgesandt werden sollen.«

»Gut. Dann verlieren sie unsere Spur. Ich weiß nämlich, daß Friedrich Nielsen unsern Plan vereiteln wollte. Er hat an die Mitternachtsmission berichtet, daß wir zusammen nach Paris fahren mit allerlei schlechten Absichten. Er rechnete auf die Findigkeit der Mitternachtsmission und daß diese nach Ondoliet und Paris telegraphieren werde, um uns aufzuhalten. Diesmal werden sie sich bös blamieren, und Nielsens Rache wird ihm keine Genugtuung geben. Das hat man davon, wenn man einem Menschen Geld geliehen hat, es nun zurückverlangt und sich weigert, mehr vorzuschießen. Nun ist er mir spinnefeind geworden. Aber so ist die Welt.«

Nach einiger Ueberlegung sagte er weiter: »Ich möchte natürlich, daß Sie Brüssel sehen; aber da wir nun doch durch Belgien fahren, meine ich, daß wir uns auf der Hinreise Antwerpen und auf der Rückreise Brüssel ansehen sollten. Wir fahren dann nicht über Eschen, sondern über Vlissingen und Ter Neuzen. Heute abend kommen wir natürlich nicht mehr nach Antwerpen, sondern müssen in Vlissingen übernachten, um morgen früh das erste Boot nach Ter Neuzen zu benutzen und dann mit dem Zug nach Antwerpen zu fahren. Dann kommen wir morgen abend nach Paris und haben den Vorteil, daß Sie nicht zu müde werden. Ueberdies wird die kleine Meerfahrt von Vlissingen nach Ter Neuzen die Eintönigkeit der Reise angenehm unterbrechen. Sollen wir es so machen?«

»Ich füge mich ganz Ihrer Leitung«, antwortete Myntje lachend. »Sie wissen besser als ich, wie man es machen muß, um am meisten zu genießen.«

»Dann kaufe ich in Rozendaal andere Fahrkarten für die Hinreise. Der Ausflug wird dadurch allerdings teurer, aber das macht nichts, wir leben ja nur einmal.«

Van der Griend sah zum Fenster hinaus auf die Winterlandschaft, die sich allmählich in Dunkel hüllte. Wer ihn aufmerksam beobachtete, hätte einen triumphierenden Ausdruck seiner Augen und ein geradezu teuflisches Lächeln gesehen. Und wer die Gedanken des Mannes hätte lesen können, der hätte die Erklärung seiner großen Fröhlichkeit gehabt. Er war überzeugt, daß nun keine Macht der Welt seine Beute aus seinen Raubtierklauen mehr entwinden konnte. Ungehindert war er mit Myntje in den Zug gekommen, ja sie hatte, ohne es zu wissen, mitgeholfen, das Netz zu schlingen, in dem sie gefangen werden sollte, dadurch, daß sie Frau Nielsen vorlog, sie ginge nach Calais. Van der Griend hatte dasselbe Friedrich Nielsen geschrieben. Er hatte nämlich von der Veränderung gehört, die mit diesem vorgegangen war, und da sein ehemaliger Helfershelfer seine Pläne leicht hätte durchkreuzen können, war ihm daran gelegen, den jungen Mann und seine Mutter irrezuführen. Allerdings zweifelte er nicht daran, daß Fritz wegen seiner geldlichen Verpflichtung ihm gegenüber schweigen werde. Aber van der Griend pflegte sich nach allen Seiten hin zu decken. So hatte er sich den Anschein gegeben, als ob er nichts von Nielsens Bekehrung wüßte und wirklich glaubte, daß der junge Mann krank sei. Er hatte ihm in Geheimschrift mitgeteilt, daß Andrée eine neue »Einrichtung« in Calais habe und Myntje für diese bestimmt sei. Der schlaue Mädchenhändler wollte damit bezwecken, daß die Mitternachtsmission und die Polizei auf eine falsche Spur geleitet würden. Er verhehlte sich nicht, daß in Eschen oder Paris die Polizei ihn beim Aussteigen aus dem Zug erwarten könne. Darum änderte er seinen Reiseplan. Ueber Vlissingen, Ter Neuzen und St. Nicolaus würde niemand ihn belästigen. Schließlich konnte ein Aufenthalt in Antwerpen dazu dienen, daß sie unbemerkt mit einem gewöhnlichen Zug nach Paris fahren konnten. Der ganze Plan war von van der Griend schon seit Tagen festgestellt worden. Er nahm die gewohnten Fahrkarten nur, daß bei etwaigen Nachforschungen am Schalter festgestellt werden konnte, welche Route sie genommen hatten.

Soweit war seiner Meinung nach alles nach Wunsch gegangen, und auch seine letzte Befürchtung, einen Spion als Mitreisenden zu bekommen, war vorläufig wenigstens unbegründet. »Ich will sehen«, sagte er sich, »ob mein Widersacher Landhuis schlau genug ist, um mir meine Beute jetzt noch aus den Fingern zu reißen.«

Während van der Griend seinen Gedanken nachhing, fühlte sich Myntje gar nicht ruhig. Es war merkwürdig, welch eigentümlicher Druck, wie von einer Ahnung drohender Gefahr, sich auf sie gelegt hatte, obwohl ihr nicht in den Sinn kam, daß ihr Begleiter ihr irgendwie schaden wollte. Umsonst fragte sie sich nach dem Grund ihrer Niedergeschlagenheit. Höchstens konnte der Gedanke, mit einem ihr doch eigentlich noch ziemlich fremden Herrn eine Auslandsreise zu unternehmen, ihrem sittlichen Bewußtsein zu schaffen machen. Im tiefsten Innern ihres Herzens war etwas, das sich mit diesem Besuch in Paris in Begleitung eines fremden Mannes nicht zufrieden geben konnte. Unwillkürlich fragte sie sich, was wohl ihre Großeltern, Pfarrer Kramer und Fräulein van Bel zu ihrer Reise sagen würden. Und seltsamerweise ging es ihr beim Gedanken an Ondoliet gerade wie damals auf ihrer Reise nach Amsterdam. Wieder sah sie überall das Angesicht ihrer Großmutter vor sich; aber nun lag ein Ausdruck entsetzlicher Angst auf demselben, gerade wie eine Mutter wohl aussehen würde, die ihr Kind, durch eine Sturmflut erfaßt, vom Strom mit fortgerissen sieht. Große Angst bemächtigte sich Myntjes, und der Gedanke schoß ihr durch den Kopf: »Begehe ich etwa ein Wagstück?« Plötzlich erinnerte sie sich der Begegnung im Hotel de l'Europe. Sie sah wieder das häßliche Lachen Andrées, hörte seine rauhe Stimme und schrak unwillkürlich zusammen.

Draußen war alles tief dunkel. Ab und zu leuchteten in regelmäßigen Zwischenräumen die Laternen der Bahnwärter auf, an denen der Zug vorbeisauste, oder man gewahrte in weiter Ferne die erleuchteten Fenster eines einsamen Bauernhofes.

Plötzlich fiel van der Griend das veränderte Aussehen seiner Reisegenossin auf. Es durfte nicht sein, daß sie sich trübseligen Gedanken hingab. Und nun begann er Myntje in seiner aufgeräumten Art von all dem Schönen zu erzählen, das sie bald sehen würden. Es glückte dem gerissenen Schurken auch, die Schatten auf Myntjes Gesicht zu vertreiben, und es dauerte nicht lange, so ertönte wieder ihr fröhliches Lachen im Abteil.


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