Heinrich Federer
Wander- und Wundergeschichten aus dem Süden
Heinrich Federer

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Das Wunder von Bolsena

Der Erzpriester Aldo Aldi di Senti von Bolsena predigte mit leiser Stimme zu seinen Pfarrkindern von den Kostbarkeiten der Bruderliebe. Er brachte viele Beispiele aus den alten Büchern, heidnischen und christlichen. Denn er war ein gelehrter Mann. Man hörte ihn Castor und Pollux, Achill und Patroklus im gleichen Atem mit David und Jonathan nennen. Aber seine Stimme blieb dünn und dürr wie das Rascheln von alten Buchblättern, und nie rauschte ein Lüftchen der Begeisterung durch dieses papierene Wesen. Die Gemeinde horchte auch übel genug zu, gähnte oder plauderte untereinander oder nickte ein. Aber in einem merkten die Leute scharf auf: sie standen in zwei unvermischten Haufen, gelb- und blaubebändert unter der Kanzel und ließen zwischen sich eine scharfe Kluft der Feindschaft offen. Sogar die zierlichen Knäblein des Hauses Benoni hüben und die in langen Röcken ganz frauenhaft dastehenden sechs- und siebenjährigen Mägdlein der Herrschaft Quatri, die in der Via Santa Christina einander gegenüber wohnten und Schnüre zueinander spannten, wenn die Eltern auf dem Markte zu Orvieto waren, und daran Reiflein aus Draht herüber, hinüber gleiten ließen und sich an die Finger steckten, als wären sie nun Frau und Mann, sogar diese unschuldigen Kleinen sahen jetzt steif aneinander vorbei in die Kanzelhöhe oder noch lieber zu den bemalten Holzengelchen an der Diele.

Aldo Aldi predigte verdrossen weiter. Diese breite Spanne zwischen seinen Zuhörern gefiel ihm nicht. Er hatte sich vorgenommen, im Worte nicht zu erlahmen, bis diese Heerstraße des Hasses schmäler würde, bis sie nur noch ein kleines Gäßlein für ein paar Querköpfe wäre, über das die übrige Gemeinde sich fröhlich hinwegsetzen könne. Statt dem schien die Straße während seines Vortrages immer breiter zu werden und der einzige, der darüber stolzierte, sich immer unmanierlicher zu gebärden – der alte Bruderzwist.

Just mit vorbesagten Benoni und Quatri hatte er begonnen. Jene zwei alten Häuptlinge der Familienherrschaft hatten sich auf dem vierten Kreuzzug in enge Freundschaft zusammengelebt und in einem grauen Seesturm gemeinsam die Gründung einer Kirche Athanasia gelobt, wenn sie der Woge entkämen. Kein geringerer als Innozenz der Dritte hatte ihr Versprechen mit seinen blassen, weltregierenden Händen gesegnet. Aber die Fundamente waren noch nicht fertig gelegt, als die beiden Kreuzfahrer daheim verstarben und die weitverzweigte Verwandtschaft, die ohnehin immer in ungleicher Meinung gestanden und sich gegenseitig möglichst geärgert hatte, in der Absicht der Stiftung und in der Art des Baues immer weiter auseinanderging. Die Benoni wollten eine einfache Kirche, ohne Gepränge nach außen, aber dafür sollten die heiligen Geräte recht köstlich, besonders aber der Tabernakel ein Kleinod sein, und es sollte das Geld vor allem an fromme Stiftungen wie Jahrzeitmessen, Seelämter und für eine nimmermüde kleine Betergarde vor dem Allerheiligsten aufgewendet werden. Doch das widersprach den Quatri, die dem Bau etwas Domhaftes und in seiner marmornen Majestät weithin über die Stadthäuslein Herrschendes verleihen wollten. Wohl, der Gottesdienst im Innern sollte einfach und würdig sein wie das Herz eines rechtschaffenen Bolsener Christen. Aber das Gesicht dieses Menschen sollte nach außen so mächtig und herrlich wirken, daß dadurch Tausende angezogen würden, auch das Innere kennen zu lernen. In die Fassade der Kirche sollte das meiste Geld geworfen werden.

Die übrigen Einwohner der Stadt und die paar Geistlichen fanden einen guten Sinn in beiderlei Begehren. Aber je nachdem sie sich mehr zur Fassadenpartei oder zu den Tabernakelfreunden neigten, vermehrten sie den Hader erst recht. Und nach und nach wuchs die Uneinigkeit über den Bau hinaus zu einem bittern Gegensatz in der ganzen Lebenshaltung. Die Benoni folgten einem knappen, sparsamen, etwas hartherzigen Leben und zogen den blauen Gürtel streng um ihre Hüften. Die Quatri dagegen huldigten einem vielbräuchigen und nach allen Sonnenseiten lachenden Dasein. Jene lasen nur fromme oder philosophische Schriften, diese sangen auch arabische Liebeslieder, wie man sie von Spanien und aus dem Orient heimgebracht hatte. Jene sandten keine Söhne nach Salerno, wo Mauren in der Astronomie und Algebra einen glanzvollen Unterricht gaben; diese aber ließen ihre Knaben nicht bloß in Salerno studieren, sondern sie mußten ihnen auch die schöne Insel Sizilien besuchen und dort ein paar starke Atemzüge der ghibellinischen Luft trinken. Denn die Quatri hielten es heimlich mit den Staufen, während die Benoni wie eiserne Pfeiler unter dem päpstlichen Kampf- und Triumphbogen standen. Vielleicht war sich das, was man mit den rohen Parteiaugen nie ergründen, nur verwirren und bestäuben kann, die scheue, innere Seele, hüben und drüben ganz nahe. Vielleicht, wenn diese Seelen sich einmal unerwartet, ohne politische Abzeichen und Parteifarben, unter einem Tor begegnet wären, so wie sie sich einst unter den ehernen Pfosten der Ewigkeitsportale begegnen werden, vielleicht hätten sie sich verwundert, wie sehr sie im Guten und Schlimmen sich glichen. Sie hätten sich lieber Du gesagt und wären Arm in Arm den noch unverlorenen Rest ihres Lebens mitsammen gegangen. So aber sahen sie im Gegner nichts anderes als das pure, böse Gegenteil, und wo sie sich trafen, kam es zu Schlägereien, bis ein paar blutige Fetzen und wieder ein Stück Menschlichkeit auf dem Platze blieben.

Erzpriester Aldo Aldi, der auf der Kanzel stand und über die breite Scheidung im Volke zu Füßen staunte, hatte leider dieses Ärgernis lange gar nicht bemerkt. Als es dann immer höher loderte und in die letzten Stadtwinkel seine Fackel trug, da wollte er erst recht nichts davon wissen. Denn er war von Natur ein Mensch der Studierstube und ließ seinen Chorkaplan Bruhino allein mit den seelsorgerlichen Mühsalen fertig werden. Er las die heilige Messe und verrichtete den Psalter in aller Geziemendheit, teilte die unumgänglichen Almosen aus und fastete zu gebotener Zeit mit buchstäblicher Genauigkeit. Von Zeit zu Zeit predigte er auch, aber buchmäßig, langweilig, da ihm die natürlichen Gaben des freien Vortrages abgingen und er immer schon im ersten Satz in den Ton einer wissenschaftlichen Abhandlung verfiel. Aber weitaus die meiste Zeit verkapselte er sich in sein Studierzimmer, durchgrübelte dort mathematische Tafeln, bohrte sich in allerlei Geheimnisse der Physik und Chemie, schmolz Metalle und braute Tränklein und hoffte, so manches Glas ihm auch zersprang, daß gewiß einmal aus einer Mischung etwas Blühendes wie eine Art Jugend oder etwas Glänzendes wie eine neue Sorte Gold aus dem Sud hüpfe. Und nur wenn das Getöse der Zänker in den Straßen gar zu laut wurde, lüftete er das Vorhänglein am Fenster ein wenig, streckte seine staubige Gelehrtennase scheu heraus und bat: Bitte, bitte, Freunde, haltet Frieden!

Er merkte nicht, wie nach und nach sein ganzes Denken sich in Formeln und Zahlen, in Prozesse der Vermischung und der Sonderung einschloß, und wie er oft sogar bei jenem Unmeßbaren und Unzählbaren, was weder von einer Formel gefangen, noch von einem Naturgesetz umschrieben werden kann, wie er sogar die Wunder der Seele, die Säume der Ewigkeit, den Hauch der Gottheit sozusagen an einem Zipfel fassen und in die Schrullen seiner Gläschen und Schäufelchen hinein zu schulmeistern suchte. Und so entging es ihm auch, wie er aus einem tapferen Forscher nach und nach ein Grübler und Quacksalber der Alchemie ward. Während er mit allerlei arabischem Zahlenspuk und einem Mischmasch von Pulvern Gold machen wollte und daran nicht müde wurde, ob auch innert Jahresfrist aus aller Arbeit kein noch so dünnes Schimmerchen hervorglitzerte, vergaß er ganz, daß es für sein Amt eine andere und nötigere Goldkunst gäbe, seine Pfarrkinder aus dem grauen Hader wieder in den goldenen Ring der Familieneintracht zurückzubringen. An all das dachte dieser unhirtliche Mann nicht, und wenn er abends in der Chorvesper rief: Dominus det nobis suam pacem! so fiel ihm der ungeistliche Widersinn des Verses auf seiner Lippe nicht auf und ruhig hörte er und wie selbstverständlich die Antwort: Et vitam aeternam, amen!

Aber heute hat es ihn nun doch auf die Kanzel und zu einem Wort für den Frieden notgedrungen. Denn Papst Urban war ins nahe Orvieto zur Pfingstfeier gekommen, und nun hatte sich Bolsena wie die übrigen Provinzstädtchen vorgenommen, Seiner Heiligkeit sich durch eine stolze Gesandtschaft und durch einige geistreiche Geschenke zu empfehlen. Aber auch vor dem heiligen Vater wollten die Bolsener nicht Hand in Hand erscheinen. Beide Parteien hatten sich ein eigenes Geschenk erdacht und hergerichtet. Da unten vor der Kanzel lag eines rechts, das andere links auf einem kleinen Kredenztisch, bei den ernsten Benoni mit blauer, bei den frohen Quatri mit festlich gelber Seide umhüllt. Jetzt nach der Predigt sollten sie entschleiert und vom Erzpriester in die Obhut des Tabernakels gestellt werden. Zwei junge, adelige Menschen würden sie bewachen bis zur Frühmesse. Dann würde Aldo Aldi sie nach dem › Ite missa est‹ für die hohe Reise und die ehrwürdige Bestimmung segnen, und dann gleich vom Kirchentor weg würde der Zug sich zur Stadt auf dem weißen Orvieter Tuffhügel aufmachen.

Der Prediger sah mit Unbehagen die Tischlein so weit voneinander und in so feindseligen Farben sich gegenüber stehen. Sie bezeichneten ihm so recht die große Spaltung im Volke. Selbst wenn sie schenken, hassen diese Menschen noch! Es war Sonntag abend um die achte Stunde, und die Sonne spritzte nur noch einige letzte, messerscharfe, rote Blutstrahlen über die Köpfe. Nicht freundlicher, nein, unheimlicher und böser malte sie das ganze Volksbild da unten.

Aldo Aldi fühlte sein Wort noch nie so lahm wie heute. Ach könnte er es nur dies eine Mal wie ein Schwert oder eine Flamme schwingen, statt daß es ihm sogleich in den lehrsatzlichen und ledernen Ton einer Abhandlung vertrocknete, wie er deren über seine Pröbeleien mehrere abgefaßt und nach Salerno geschickt hat. Er fühlt, wie schlimm dieser Ton hierher paßt und wie furchtbar eintönig und einschläfernd er da unten wirkt.

Wahrhaft, da schliefen einige stehend oder sitzend durcheinander. Die muntern Kinder aber schweiften an den bemalten Kirchenwänden herum und ließen ihre Äuglein am Bildwerk ganze Geschichten erfinden. Aber über allen lag eine bleierne Mattigkeit, und doch war man noch vor einer halben Stunde so keck wie nie in die Kirche geschritten. Das Wort Liebe, das von der Kanzel so oft niederrieselte, ach, es fuhr nicht wie ein Blitz und Donnerschlag oder wie ein jubelnder Morgensonnenschein in die Menge, sondern wie ein fernes, dämmeriges und ganz wirkungsloses Wetterleuchten irrte es da und dort durch die Langeweile und erlosch wieder spurlos. Was konnte aber diese tatseligen, raschlebigen Bolsener auch ein Predigen von den Kategorien, der Substanz und den Akzidenzien der Liebe interessieren, dieses per se und in se und propter se! Wenn doch nur bald das Amen käme und sie ihre Gabe enthüllen und am Gegner messen könnten!

Aldo Aldi predigte mühselig weiter und sah die schreckliche Straße da unten sich immer tiefer in die schläfrigen Ufer seiner Zuhörer hineinfressen. Aber was ihn noch mehr ängstigte, das waren die beiden halbwüchsigen, herrlichen Geschöpfe, die an jedem, eins am blauen, eins am gelben Kredenztisch standen und einander mit kalten und stolzen Blicken straften, sobald sie mit den Augen zusammentrafen. Und doch mußten sie einander immer wieder anschauen, Ettore di Benoni und Anita di Quatri. Ihm fiel ein kohlschwarzer Haarschopf über den Kopf und wuchs tief in die Stirne und um Ohr und Schläfe herein und lief dann vom Wirbel wie ein feiner Samtpelz noch tief ins Genick hinunter. Aus diesem finstern Urwald schaute ein rundes, blühweißes Gesicht mit blauen Augen wie ein Märchen hervor. Diese blauen Augen waren neben dem nachtschwarzen Gekraus etwas unsagbar Herrliches und schwammen im Gesichtlein wie zwei blaue, leuchtende Riesentautropfen. Anita di Quatri ließ umgekehrt ein langes, wie Junikorn gelbes Haar zu beiden Schläfen niederfallen. Aber zwischen diesen zwei goldenen Vorhängen guckte ihre kluge Seele aus zwei ganz nächtigen Fensterchen heraus. Die beiden zwölfjährigen Kinder waren am gleichen Tag geboren und niemand, der sie sah, konnte begreifen, wie so viel Tag und Nacht auf einem und demselben Knaben- und Mädchengesichtlein Platz finden mochte. Freilich Anita hatte mehr Tag, Ettore mehr Nacht an sich, und es mochte wohl sein, daß der allgescheite Schöpfer im letzten Moment der Erschaffung die Kinderaugen noch schnell umgetauscht hatte, weil sonst dieser Ettore mit den schwarzen gar eine unheimliche Finsternis, Anita mit den blauen gar eine ausschweifende Helligkeit um sich verbreitet hätte.

Ettore und Anita waren die Enkel jener Kreuzfahrer, die eine Athanasiakirche gelobt hatten. Ihr gleichzeitiger Geburtstag war der letzte Anstoß gewesen, das Gelübde in Tat umzusetzen. Beide Kinder waren Waisen und zeigten mit ihrem verschlossenen Mund und dem vollen, mit keiner Wimper zuckenden Blick ihrer großen Augen eine mächtige Selbständigkeit. Anita hatte ihr frommes Ämtlein, die Gabe zu hüten, eigentlich ihrem Bruder Fiero zu verdanken, der auch so ein glitzerig blondes Wesen war, aber harte, dunkelgraue Augen und magere, immer vor Eifer gerötete Wangen trug. Bei einer Schlägerei mit den Benoni hatte er von Ettore einen so tiefen Degenstoß in das rechte Oberbein bekommen, daß er seitdem im Palast lag und trotz Salben und Brennen nicht aus dem hohen Wundfieber herauskam. Damals trugen schon zehnjährige adelige Knirpse ein volles Gewaffen und zückten es in den Raufereien der Alten schon gelehrig mit. Anita, die ihren stolzen und hochgesinnten Bruder leidenschaftlich liebte, vergab dem Ettore seinen Streich auch nicht, nachdem von der Stadtsignoria für beide Teile jenes Straßenrummels Straflosigkeit ausgesprochen worden war. Denn sie bangte, Fiero müsse sterben, und sah im blauäugigen Finsterling gegenüber schon jetzt nichts anderes als den Mörder ihres Bruders.

In den letzten Ostern hatte sie mit Ettore den Fronleichnam des Herrn empfangen sollen. Aber sie sagte ehrlich, daß sie Ettore nicht verzeihe, daß sie ihm den gleichen Degenstich einmal zurückgeben werde, daß somit ihr Beichten ein Betrug und ihre Kommunion ein Gottesraub wäre. Und desgleichen weigerte sich der Knabe, die Osterandacht zu machen. Er lehnte es ab, dem Fiero abzubitten, der ihm immer im Weg gestanden und nun einmal gehörig unterlegen war. Noch nie hatte er die Süßigkeit einer siegreichen Sünde so kostbar empfunden. Er lachte, wenn es hieß, sein Opfer zitterte vor Fieber heiß und dünn wie eine Flamme. Jeden Morgen küßte er beim Erwachen die Degenspitze, die so geschickt in einen lebendigen Menschen gefahren war. So hatte Aldo Aldi beide Kinder auf die nächste Ostern zurücksetzen müssen.

Santissima Madonna, seufzte sein Herz, wenn schon die Jungen so hassen! Dort stehen sie hell und dunkel sich gegenüber und scheinen so wenig zusammenkommen zu können, als der Morgen zum Abend. Wenn Kinder so bitter werden, daß ich sie nicht zum Gastmahl des Herrn bringen darf, was muß ich dann erst von den vielen grauen Erwachsenen mit ihren scharfen Nasen und den lederharten Gesichtern erwarten! Was predige ich da in den Wind! Wenn ich die Kinder nicht gewinne, habe ich nichts gewonnen.

Aldo Aldi riß sich jetzt aus der dürren Wissenschaft seiner Predigt gewaltsam heraus und kehrte zu David und Jonathan zurück. Er versuchte, sie als Knäblein zu schildern, die zusammen einen Topf, ein Schwert und ein Herz trugen, obwohl Saul sie auseinanderreißen wollte. Aber er fand keine lieblichen, jungen Worte für eine so junge und liebliche Sache. Er konnte nicht kindlich sprechen. Er konnte nicht malen, nicht musizieren, nicht jubeln mit der Stimme. Es ward immer alles so trocken und pröblerisch und katzengrau wie seine Laboratoriumskünste. Seine Worte staubten förmlich von Büchermoder. Er fühlte, da unten reckte kein einziges Kind den Kopf zu ihm empor. Die Straße ward nun wohl drei Armspannen breit, und an beiden scharfen Ecken glühten und froren sich die zwei jungen Augenpaare mit einer Stärke an, daß ihm alle weitern Sätze schwanden und er nur noch ein schwaches Amen sagen konnte.

Nun atmete der kalte Haufen da unten auf, federte auseinander und drang, die Träger der Tischlein mit Ettore, Anita und dem Pfarrer vorausstoßend, eilig zum Hochaltar vor. Dort gab Aldo Aldi ein Zeichen, worauf der Junker und das Fräulein ihren Bedienten winkten, den Vorhang zum Tischgeheimnis zu lüften. Ein tiefes Ah rauschte wie ein Wind durch die volle Kirche. Man sah zwei Kirchenmodelle!

Die Benoni hatten im Kleinen die Athanasiakirche, wie sie ihnen im Sinne schwebte, aus weißem Marmor schnitzen lassen und als Weihegeschenk bestimmt. Das Modell sah wirklich schmucklos nach außen aus. Aber aus dem Innern leuchtete es wie Gold. In der Tat, man konnte die Fensterchen und Portale öffnen und sah inwendig sechs winzige Altärchen aus getriebenem Silber mit den verzwicktesten Golddrahtarbeiten. Vom Gewölbe hing eine Ampel aus Chrysolith, darin schwammen zwei, drei klare Öltropfen und speisten ein winziges Flämmlein. Aber sein Strahl genügte, um den innern Reichtum in Schimmer und Wärme genießen zu lassen. Dies Kirchlein nun ergriff der Knabe di Benoni mit seinen langen, zarten, herrschaftlichen Händen und trug es die sechs Stufen des Hochaltars hinauf und stellte es auf der Evangelienseite neben dem Reliquienschrein des heiligen Protasius ab.

Das war aber nun das Erstaunliche, daß auch die Quatri auf den gleichen Einfall gekommen waren und ihr Jungfräulein nun ein ebensolches Kirchenmodell andächtig auf die Epistelseite neben den Reliquienschrein des heiligen Gervasius setzte. Dieses Tempelchen war aber aus bläulichem Alabaster erbaut und ließ sich nicht öffnen und nach innen begucken. Aber man war auch gar nicht dazu versucht, so siebenfältig schön war der Bau nach außen mit Giebeln und Türmchen, gestuften Gesimsen und umlaufenden zierlichen Säulenreihen belebt. Die Fassade war mit farbigen Steinen belegt, und eine Hand, die feiner als das betrachtende Auge arbeitete, hatte ein unentzifferbar feines, weiches Mosaikbild in die Giebelfront gelegt: den Martertod der Kirchenpatronin Santa Christina. Das andere Modell wäre vor diesem erlesenen Kunstwerk ganz in Schatten versunken, wenn nicht das Lämplein so freudig aus den Fenstern geleuchtet und ihm ein Leben verliehen hätte, das alle Zier und Köstlichkeit dem Nebenbuhler nicht geben konnte.

»So muß die Kirche sein!« riefen ein paar Benoni.

»Ja, so!« erwiderten die Quatri und zeigten auf ihr gleißendes Alabasterstück.

»Eine Kirche, in die man nicht hineinkann!« höhnten die Benoni.

»Oder eine, aus der man nicht mehr hinausdarf!« vergalten die Quatri.

»Eine Kirche ohne Tabernakel, he!«

»Ein Tabernakel ohne Kirche, he!«

»Habet Frieden, ich segne beide!« beschwor der Erzpriester.

»Segne, was du willst, aber unser Herrgott segnet nur eine!« schrie es böse zurück.

»Und wir wissen welche!« prahlten die Benoni.

»Gewiß nicht euern Sarg!«

»Etwa euere Kinderspielschachtel?«

»Habet Frieden, wir sind in der Kirche!« wiederholte Aldo Aldi.

»Ja, wir sind in der Kirche,« sagte Mino Gualti, ein finsterer Benoni. »Aber es sind welche da, die längst hinausgestäupt gehörten . . . deren Knäblein nicht mehr das Kreuz schlagen können, deren Töchter das Einmaleins früher als das Vaterunser lernen und deren Jünglinge maurische Heidentänze tanzen! Es sind welche da, die . . .«

»Die mitten in dem Tempel stehen,« unterbrach ein Quatri, »wie jener Großhans von Jerusalem, als ob er ihnen allein gehöre, und die zum Herrgott reden, als ob sie ihn gekauft hätten, und sonst niemand zum allmächtigen Vater reden dürfte . . . die . . . die nennen wir Pharisäer!«

»Pharisäer, bravo, das ist's,« bekräftigten seine Genossen und warf es der volle rote Mund Ettores dem Mägdlein über den Altar ins errötende Gesicht.

»Und ihr Heiden!« kam es zurück.

»Heiden! . . . Pharisäer!« . . . widerhallte es von den Wölbungen. Man schob und drängte sich und fing an die Fäuste zu zeigen und ein Haß lohte aus den vielen Augen, der sich nicht mehr um ein Kirchlein so oder so kümmerte, sondern der im Nachbar seinen Widersacher im Handel und Wandel, seinen Betrüger und Bedroher, sein Hindernis und Unglück des Lebens sah. Machtlos klang das beschwichtigende, dürre Stimmlein Aldis durch die wachsende Empörung. Was galt dieser Mann, der nach dem Gottesdienst nirgends mehr zu sehen war, der dann aus dem Weihrauch seines geistlichen Kleides heraus schon wieder bei seinen mehr als merkwürdigen Spielereien hockte! Ihm liegt am Saft eines Stengels oder am Körnlein eines seltenen Steines mehr als an ihrem Geblüt und Knochen. Er ist, denken die Benoni, am Ende noch schlimmer als sämtliche Quatri. Ihm ist vielleicht lieber, wir bauen gar keine Kirchen mehr. Noch nie war er bei den Fundamenten und keinen Quattrino gab er an den Bau. Und wann war er das letztemal bei einem Kranken? Wann hat er unsere Kinder das letztemal unterrichtet? Macht das alles nicht sein Kaplan? Friede, Friede! schreit er . . . Ja, damit er um so ruhiger schäufeln und träufeln kann in seiner Apotheke. Auf den achten wir nicht.

»Leute, hört!« rief es irgendwoher.

Oben am Altar standen fest Anita und Ettore und legten ihre Hände auf ihr Gotteshäuschen, als wären sie seine Schutzengel. Doch hegten sie keine engelhaften Gefühle. Sie preßten ihr Mäulchen hart zusammen und hätten gern am lautesten in den Tumult hineingeschimpft. Aber sie sind Kinder, sie dürfen nicht. O wenn doch ihre Partei die andere hinausstieße, und ihn damit, den greulichen, schwarznackigen Buben da drüben mit den freilich so einzigen herrlichen Augen!

»Leute, hört!« klang es wieder, und sobald man die Stimme erkannt hatte, hörte das Scharren der Füße und das Hin- und Herstoßen der Ellbogen auf, und das gesamte Volk spitzte sein großes Ohr. Crispin sprach, der Vater des Kirchensigrist, immer noch mitschaffend, obwohl neunzigjährig, die ehrwürdig herumwandelnde Chronik von Bolsena.

»Leute, geht hinaus,« strengte er sich möglichst laut an. Doch blieb es eine leise, ferne Stimme, wie von einem, der schon der Erde den Rücken gekehrt hat und gleichsam von einem Fenster der Ewigkeit hineinspricht. Um so stiller ward es um so eine Stimme. »Leute, ich habe die Kerzen am Altar nicht angezündet, um eure Sünden zu beleuchten,« sagte er und zitterte den Altar hinauf und zerdrückte eine Flamme nach der andern zwischen den Fingern. Dann machte er eine unbehilfliche und schmerzliche Verneigung vor dem Allerheiligsten und verschwand langsamen Schrittes in der Sakristei.

Das schlug wie ein Blitzstrahl ein. Crispino, der zehn Erzpriester mit seinem Sakristanmantel überdauert, der mit Franz von Assisi drei Tage lang auf dem Bolsener Inselchen meditiert und aus dem gleichen Töpflein gegessen hatte, Crispino, der über die so zart weißen und doch den Kirchenglobus so fest haltenden Hände Papst Innozenzius' das Lavabowasser geschüttet und dem gottseligen Thomas von Aquino, diesem Ausbund der Gottesgelahrtheit, Manipel und Kasel mehrmals angezogen hatte, ihn, den Mann der Päpste und der Heiligen wollten sie nicht kränken und seiner schönen Kirchenordnung nicht weh tun. So zogen sie denn in ungeschicktem Durcheinander hinaus. Aber auf dem Stadtplatz begann das Getöse nun mit aller Freiheit und Wildheit der Straße. Man hörte es summen und brummen wie vor einem Bienenstock, wenn der Schwarm uneins geworden ist. Wut, Schmerz, Bosheit, Lanze, Schild und Roßhufe schrien wild untereinander. Es schob sich mit Rennen und Stoßen bis ans Portal und schlug wieder zurück an die Häuser gegenüber, nah und fern, und schien eine eigentliche Schlacht zu werden.

Aldo Aldi stand allein unten am Altar und schämte sich noch immer vor dem Echo, das die leise Stimme des früheren Sakristans so gewaltig in den Hallen zurückgelassen hatte. War er wirklich noch der Pfarrer? War's nicht jener? Oben, neben ihren Tempelchen standen die Kinder, aber sahen ihn mit keinem Auge an, sondern beugten horchend ihre Köpflein vor und suchten aus dem Getobe draußen herauszufinden, ob ihre Partei schlage . . . hoffentlich! . . . und die andere geschlagen werde, o hoffentlich, hoffentlich!

In den Chorstühlen rechts und links, mit einer Laterne für die hereinbrechende Kirchennacht und mit einem Korb zu Füßen, worin sie Brot, Käse, Früchte und ein Krüglein Wein für die Wache eingepackt hatten, saßen Anitas Kammerjungfer Guida und Ettores Reit- und Waffenknecht Guido. Sie sollten ihren Herrschaften während der Nacht allhier Gesellschaft leisten und sie zu guter Zeit speisen.

Der Pfarrer wollte die Kinder ansprechen. Aber da schrie der Bub eben und warf seine Augen wie zwei stahlblaue Dolche zum Mädchen hinüber: »Jetzt, hörst du . . . ha, das war meines Bruders Pio Stimme! Er hat gelacht! Ihr habt Hiebe bekommen, elende Hiebe!«

»Du irrst, das war nicht Lachen,« zirpte wunderhoch das Stimmlein der Maid in den groben Bubenlaut. »Das war Schreien. Mein Ohm hat ein gutes Schwert! Das macht große Löcher, sag' ich dir. Da muß man immer schreien.«

Weg, weg eilig, von dieser Gottlosigkeit, in die Stube, in die Bücher, dachte der Erzpriester. Die Wissenschaft macht nicht bluten und fluchen. Sie allein ist Friede. Mögen die Kapläne hier wirken. Bruhino ist jung. Er hat noch Kinderlaut auf der Zunge.. – Aldo läuft weg, er flieht, er verschwindet im grauenden Dämmer der Kirche. Nur die Kinder bleiben oben am Altare Stirne gegen Stirne trotzig stehen. Ihre hellen, kleinen, runden Gesichter leuchten aus dem Dunkel des Chores. Aber es ist ein Glanz Luzifers dabei, Luzifers in junger himmlischer Bosheit.

Draußen stürmte es furchtbar weiter. »O, könnte ich doch hinaus,« entfuhr es den großen, durstigen Lippen des Knaben, und seine Hand schoß unwillkürlich an den Gurt.

»Geh doch, geh, daß ich deine Kirche die Stiegen hinunterwerfen kann!« forderte Anita. Schwarz flackerten ihre Augen aus dem Goldhaar.

»Nicht anrühren sollst du sie, du . . . du schlechtes Ding!«

Geringschätzig verzog sie den Mund. So viel galt ihr sein Schimpfen. Daß er es wohl merke! Keiner Silbe will sie ihn noch würdigen.

Es wurde völlig Nacht. Draußen verlor sich der Lärm in die hintersten Gassen. Das ewige Licht, das an seiner langen Schnur von der Decke hing, flatterte leise wie ein himmlischer Schmetterling mit goldenen Flügeln in der Mitte des Dunkels hin und her in einem immer gleichen, stillen, frommen Kreis. Dabei machte es die Wände mit seinen auf- und abschwenkenden Lampenschatten lebendig. Dort schienen die gemalten Heiligen zu wandern und zu wirken. Die Kinder sahen es und erlebten eine ganze Legende daran. Sebastians Pfeile flogen gegen die Bogenschützen zurück; Tarcisius drückte die silberne Hostienkapsel ans Herz, und man hörte, wie sein Kleidchen unter den Händen der garstigen Heidenbuben zerriß; das blanke Kirchengeschirr klirrte, und die goldenen Schellchen klingelten, die Laurenzius Stück für Stück den Armen verteilte, bevor es der Häscher raube; man vernahm das Wassergesprudel, in dem der junge Novize Plazidus zu ertrinken drohte. Aber dann lief Maurus wie auf hartem Boden über den Spiegel hinaus und holte seinen lieben kleinen Freund. Und der gewaltige Patriarchenmantel des Abbas am Ufer schauerte vor Freude am Wunder und mehr noch am Gehorsam seines Mönchs. Solches sah und hörte vor allem Anita. Ettore sah andere Gottesspiele. Er hörte das Fahnenwehen der Konstantinsschlacht und bemerkte mit Lust, wie Petri Schwert schwirrte und dem Malchus das Ohr abhieb. Vor allem aber war ihm beim Kreuzzugbild wohl. Wie Jerusalem zerkrachte, wie Goffredo die Leiter erstürmte, heija, wie die Halbmondmenschen unter den Speeren aufschrien und zappelten und wie dort um einen Junker seines Alters die Funken stoben, so mannlich hieb der schon drein! Das bin ich. Ich heiße Ettore di Benoni, ich werde König von Jerusalem, ich bin der Töter Muhameds. Ich, ich, ich!

Die Diener im Gestühl schliefen schon lange und auch das Mägdelein ward sehr müd' und setzte sich auf die oberste Altarstufe, das Antlitz halbwegs gegen das im Dunkel verschwimmende, unheimlich erzählende und drohende Kirchenschiff gewandt. Ettore blieb nun erst recht steif und schlank stehen. Er zog das Schwert aus dem Gehäng und stellte es mit der Spitze auf den Boden ab. Beide Hände, in hirschledernen Handschuhen, stützte er auf den Kreuzgriff, kein Knie auch nur um ein kleines gebogen, genau wie die Gralritter vor dem Heiligtum gemalt werden, so stand er da.

Durch das offene Chorfenster hörte man den Südwestwind vom großen See heraufziehen und sich durch die Ulmen des Pfarrgartens winden, und man sah die erleuchteten Vorhänge am Gitter der Pfarrstube auf- und niederwehen. Und die blauen und blanken Augen des unentwegten Burschen, denen nichts entgehen konnte, schossen dreist am Altar vorbei und ans Fenster hinüber und bemerkten sehr deutlich, wenn das Tüchlein zur Seite wehte, wie Aldo Aldi an einem Tisch mit Röhren und Gläsern hantierte und oft auf eine große schwarze Tafel sah, die mit wunderlichen Zeichen verkreidet war. Zornig schürzte der Knabe die Lippe. So ist es also wahr, der Pfarrer treibt Apothekerkünste. Da doktert er an irgend einem Gebräu herum, denn es steigen kleine, giftige Räuchlein über seine Glatze auf. Um das kümmert er sich jetzt, wo sich seine Herde zerfleischt! Ich hab' ihn nie gern gehabt. Er hat uns kein einziges Geschichtlein erzählt, wie Don Bruhino drüben in Sant' Agnese. Er hat immer gesagt: Weg, weg! macht keinen Lärm! . . . Ich habe keine Zeit! . . . Geht, geht! ich habe den Kopf voll Arbeit, geht zu Don Bruhino! Ihr bringt mich völlig aus dem Häuschen – Bettelten sie dann wenigstens: Padre, ein paar Birnen doch! . . . Nehmt, nehmt, sagte er und warf ihnen den Gartenschlüssel zu, und laßt mich um Gotteswillen in Ruh'! Und so dringend sie oft an sein Tor pochten, ach, er öffnete eine so geizige Spalte, daß nur gerade seine Fingerspitze hindurchwinkte: marsch!

Seltsam kommt es Ettore vor, wie der Pfarrer jetzt schattenhaft hin- und herhuscht, dann die Hände über das Pfännchen breitet und von der großen Tafel etwas herunterliest! Armer Tropf, treib' er doch nur seine schwarzen Spektakel da innen! Was weiß er von den Quatri, wie sie während seiner Vesper kegeln . . . und haben sie etwa nicht recht? . . . was weiß er von Fiero di Quatri, dem Bruder des Balges da auf der Treppe, der gesagt hat, wenn er Stadtherr würde, so bände er die Benoni am Daumen und an der großen Zehe zusammen und ertränke sie alle im Bolsener See? . . . Nun, das hat er ihm gründlich versalzen! gelobt sei dieser liebe Degen! . . . Aber was weiß Aldo Aldi von Pietro Pliore, der den Benoni die schönsten Jagdfalken und Edelhunde vergiftet hat? . . . und was weiß er von meinem Ohm, der diesem Pliore den Roßknecht mit dem hellsten Schimmel abfing und beiden die Ohren stutzte und die Nase schlitzte, so daß nun beide für immer gezeichnet sind? Nichts weiß er. Und doch ist es schön, wenn man das alles weiß und mitschlagen und mitlachen kann. Jetzt haben wir Benoni alle wichtigen Ämter, die Geld einbringen, in der Hand. Aber die Quatri sind leider in den Kastellen ringsum und in Orvieto Meister und plündern jeden Benoni schlank und blank aus, den sie auf dem Lande treffen. Sie haben dem Manfred gegen den Papst Gold und Lanzenstoßer geschickt. Die Bande! Und von all dem weiß der da oben im Häusel nichts und ist doch ein Pfarrer! . . . Ettores Augen glühten jetzt so dunkelblau wie der Nachthimmel über den Ulmen und sprühten Funken, wie dort oben in der windklaren Luft die Sterne ihr Gold fast wild herumspritzten.

Ja, was weiß so ein Stubenmann vom schönen Raufen und Schildbrechen, vom Reiten und Pfeilschwirren ab dem Bogen, und vom Knien auf der Brust eines Feindes, bis er nicht mehr Gnade rufen kann! Heija, wie schön ist das Leben, wenn man draußen ficht! und wie dreimal schön, wenn man siegt! Ich siege immer!

Diese Anita, ach du lieber Gott, was soll ich so einem Zopfe bös sein. Sie ist doch nur eine Puppe! . . . Aber wie, ist das Spiel da drüben schon aus? Ei, ei, wie ist der Mann still geworden! Da fällt er in den Sessel und stützt den Kopf und stiert in den Tisch. Ist ihm wohl das Glas zerbrochen und der Sprudel über den Boden gelaufen? Ist alles nichts, das ganze Wunder zerronnen, das er da heraustrichtern wollte? der Narr! Les' er seine Mess' und bet' er sein Brevier und geh' er zu den Kranken . . . das ist gescheiter. Da hat er jetzt den Spaß! Fast glaub' ich, er weint . . .

Ettore wundert sich mächtig. Soll er es nicht Anita zeigen, daß sie auch etwas merkt? Doch da steht der Erzpriester auf . . . schau wie bleich . . . wächsern . . . und schwitzt doch, wischt und wischt immer die Stirne . . . was hat er da noch abzuwischen? Jetzt bläst er die Kerze aus . . . nun steht er im Dunkel . . . ich seh' nichts mehr . . .

So war es, Aldo löschte das Licht aus und ging zu Bette. Zum drittenmal war ihm der Versuch mit dem Rosensamen mißglückt. So ein Kernlein ward eine Maiwoche lang in Olivenöl gelegt und mit Kohlenstaub aufs feinste umhüllt, dann mit einem Stäublein Arsenikum vermischt, in ein feuchtes, von seinem Wurzelwerk durchflochtenes Moorklötzlein gesteckt und an einem milden Feuer gewärmt. Alsdann sollte unter mystischen Zahlensprüchen gleich ein grünes Keimspitzchen hervorgucken, ein Stengel sich in die Höhe stupfen, ein Knösplein oben am Stiel sich zusammenknoten und binnen einer Viertelstunde ein fertiges Röslein hervorbluten. Der große Albertus zu Köllen hat es können, sagt man. Warum kann Aldo es nicht? zum drittenmal nicht? Ach was, mir will nichts gedeihen. Kein Blütlein hier und auf der Kanzel keines und im Volk der Stadt keines. Wär' ich Professor in Rom geworden, wie mir der Bischof riet, statt da im Landstädtchen unser Benefiz anzunehmen und mich und meine Schäflein versauern zu lassen . . . Er schlägt ein Kreuz über sich, murmelt leis das Nunc dimittis»Nun entlässest du« usw., das priesterliche Nachtgebet im Brevier, eigentlich Canticus Simeonis genannt., streckt sich im Bett und erschauert, weil ihm der Gedanke kommt: so einst im Sarg! so lang, so steif, so gestreckt von Brett zu Brett! O Gott, warte noch! Gib Zeit! Ich bin reisefertig, nein, gar nicht . . .

Ich muß morgen die Gaben segnen. Dann reise ich gleich mit nach Orvieto. Das schafft andere Gedanken. Bei Papst Urban ist Magister Robertus Ederus, der einen Diamanten ohne Feuer geschmolzen hat. Der weiß mehr als Vogel, Maus und Mensch zusammen. Er sieht durch die Rinde der Erde in ihre feurigen Löcher hinab. Viel kann er mich lehren. Einen Schreiber nehm' ich mit. Und viel Pergament. Aber, wird er . . . ein Rös . . . lein . . . aus . . . Samen leben . . . dig . . . aus Tod . . . wird er . . .

Ettore stand noch immer steif neben dem Evangelienbuch. Das ewige Licht glomm leiser, der Wind regte sich nicht mehr. Die Schatten standen still an der Wand, alles schlief. Ihm ward sehr langweilig. Er hatte schon einigemal ein Paternoster gebetet . . . es lief nicht recht . . . und schlafen durfte er nicht, ein Gralwächter! So einer sitzt nicht einmal, zuckt mit keinem Lid, steht lebendig aber still wie ein Baum.

Da schrie das Mägdlein auf. Es hatte geträumt, wie es als schneeweiße Taube über vielen hundert Kirchen hinfliege, von Turm zu Turm. Da sah es einen schwarzen Falken von weit hinten durch die Luft ihm nachfliegen. O, es war Ettore. Er hatte ganz schwarze Federn und eisblaue Augen. Sie flügelte und schwalbelte und kam nicht mehr vorwärts und hörte schon furchtbar nah den Pfiff und das Flügelrauschen des Verfolgers. Da ward ihr schwindlig, sie fing an zu fallen, schrie auf, erwachte und tat einen zweiten Schrei, als sie nicht ihre schmucke Schlafkammer mit der Zofe neben dem Lämpchen, sondern die weite, dunkle Kirche sah, worin das ewige Licht ertrank. Totenstille regierte und nur ihr Stimmlein kehrte von allen Ecken bange zurück. Dort unten in der Bank schliefen Guida und der Knecht. Sie wandte sich zwischen den Schrecken des Traumes und Erwachens irrend zu Ettore. Der warf sie mit harten stahlblauen Blicken zurück. Da wie ein rechts und links verscheuchtes Vögelchen kroch sie in die Mitte des Altars, klammerte sich an die große Hostie und an den gewaltigen Kelch, die an der Tischwand in Marmor gemeißelt waren, und blickte auf bebenden Knien von da über das Gesimse zu den vergoldeten Flügeltüren des Tabernakels empor. Jesuskind, Jesuskind, schrie sie, du liebes, mächtiges da drinnen, komm doch schnell heraus, ich fürchte mich sehr.

Ettore hatte zuerst verächtlich ein schiefes Mäulchen über diese Furchtgret gezogen. Aber dann erwachte die angeborene Ritterlichkeit des Adelsbuben in ihm. Er sah die schwarzen Augen des Kindes voll Angst am Tabernakel kleben, das korngelbe Haar sträubte sich furchtsam an den Schläfen auf; Anita schwankte einen Augenblick, ob sie es wagen sollte, ins finstere Chorgestühl hinab zur Zofe zu springen oder nah' am Tabernakel zu bleiben, kehrte dann der grauenvoll schwarzen Kirche den Rücken und reckte die Arme so weit sie konnte über den Opfertisch. Sie war wie ein gerupftes und verschupftes Engelchen anzuschauen, das den Himmel, wo hinein es fliehen sollte, verriegelt findet. Das rührte den stolzen Jungen.

»Jesuskind,« flüsterte sie leis und hastig »ich fürchte mich. Die zwei dort schlafen. Es ist gewiß mitten in der Nacht. Da unter den Platten liegen die Toten. Jesuskind, ich fürchte mich sehr! Ettore Benoni ist wach, aber er schaut mich fürchterlich an. O, er tut mir sicher Leides. Heb' mich, schütz' mich!« Sie fing leis an zu schluchzen, und da sie ihr verlassenes Kirchlein an der Ecke sah, schob sie es eilig in die Mitte des Altartisches, stand auf und hielt sich mit beiden Händen an seinem prächtigen Geschnörkel.

Ettore wurde wider Willen auf einmal befangen. Was meint denn dieser Rock? Er tut ihm doch nichts Böses an. Daß man so von ihm denken kann!

»Lieb Jesus, gib acht auf Ettore!« schrie sie fort. »Ja, ja,« ermutigte sie sich und versuchte ihn zu schrecken, weil er sein Kirchlein nun neben das ihre rückte und auch in die Mitte schritt, »ja, ja . . . komm nur, schlag' nur . . . aber da innen ist der schöne Jesus, der große Jesus. Paß auf, wenn du mir weh tun willst, da blitzt es heraus und trifft dich.« So drohte sie, und ihre Wangen erhitzten sich, während ihre Augen noch immer einen leisen Flor vom Schlummer trugen.

Dem Bürschlein schien, er hätte noch nie ein so hübsches, kleines tapferes Wesen gesehen. Er konnte die Augen nicht mehr von diesem zitternden Drohmäulchen lassen. Er suchte ein geschicktes Wort, um es zu beruhigen. Aber er konnte besser mit einem Prügel als mit seinen Wörtlein dreinfahren. So sprachen denn nur seine Augen: hör' auf, ich bin nicht ein solcher, ich bin ein Ritter!

»Doch, doch,« rief Anita und der Mut der Anklage machte sie fester, »du hast meinen Bruder Fiero töten wollen. Du hast ihm das Bein durchstochen. Aber das Jesuskind weiß es. Lieb Christ,« rief sie, schon viel kecker geworden, ans Türchen, »siehst du ihn? er steht vor deinem Häuschen, er hat das Schwert in der Hand, mit dem er Fiero so tief geschnitten hat, daß er nicht mehr aufstehen kann. Nimm es ihm doch weg, sonst . . .«

»Er hat mich gereizt,« entschuldigte sich jetzt Ettore gegen den Tabernakel, denn diese wütende Klage hielt er nicht länger aus. »Er hat mich heillos gereizt,« wiederholte er mit seiner tiefsten und weichsten Knabenstimme und bückte die Stirne ein wenig vornüber. »Er hat mich einen Mohraffen geschimpft, weil . . . weil . . . mir das schwarze Haar so dick in den Rücken hinunter wächst. Und da bin ich wild geworden und habe einfach auf ihn losgestochen . . . Ich täte es jetzt vielleicht nicht mehr so wild. Ich . . .«

»Jesuskind, er tät' es wieder! er hat mich noch vorhin ein schlechtes Ding genannt. Aber mein Bruder ist vom Stich nun immer krank und hat große Schmerzen und ist ganz mager geworden. Schau nur morgen, wenn sie ihn im Bett dahertragen, wie er Fieber hat, friert und doch schwitzt. O Ettore, was hast du mit ihm gemacht!« Tränlein auf Tränlein glucksten ihr aus den Augen.

»Ich habe nicht gedacht, daß es so schlimm würde,« flüsterte der Knabe gegen den Tabernakel. Die Totenstille ringsum, das geheimnisvolle Lämplein mitten im Dunkel schwebend, die stillen, sozusagen zuwartenden Goldtürlein da, hinter denen die Ewigkeit selber wohnte, das alles machte auch diesen frischen Burschen jetzt verzagt, und er hätte gewünscht, die Klagen des Mägdleins überstimmen zu können, damit sie doch ja nicht den Richter da innen gegen ihn einnehme. »Ich werde schnell so grimmig,« fuhr er fort, »das Blut steigt mir in den Kopf, ich . . . ich hab' so ein flinkes, böses Blut . . . da wußte ich nichts mehr, alles ward mir rot vor dem Aug' und ich zog aus und stach zu. Ach, ich weiß, du hast nie gestochen, Jesus, du hast dich lieber stechen lassen. Ach, mein Streich ist mir jetzt völlig leid, Jesus. Ich laß mich nicht unterkriegen, aber ich will jetzt auch immer aufpassen, daß ich keinen anderen plage. Ich hab' auch seitdem nichts Blutiges mehr getan, als . . . als . . . meine zwei Knechtlein geschlagen . . . aber sie sind ja nur Hörige . . . und sie machen nicht alles recht, wie ich's haben will, sieh . . .«


 << zurück weiter >>