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Es war ein Glück, daß nun der Weg sich leise lichtete und man bald allen Schatten verlor und wie ein andrer Mensch in einer tiefgelben Abendsonne warm und hell auf belebten Feldern stand. Da brüllte Vieh, rauchten Herbstfeuer, pfiffen und knallten Hüterbuben, bellten Hunde und winkten die kleinen Fenster der Schindelhäuser. Weit vorne in der Tiefe mußte das eigentliche Obwaldnerland liegen. Man sah davon nur das bläuliche Ende der Sarnersees, wie er zu Füßen der Giswilerberge eingeschlafen war. Diese schlossen mit beschneiten Köpfen das Bild gen Himmel ab; aber mit den Füßen standen sie noch warm in der Oktoberfreude des Tales. Der Platz zunächst, wo Simon stand, war reifes Obstland und stand hügelhoch über dem Tal. Ganz nahe zur Linken sprangen die Kernserberge steil empor. Sie standen so eng neben den schwarzblauen Sachslerbergen, daß man von der tiefen Schlucht dazwischen, aus der die Dunkel stiegen und die Marter eines gequälten Wassers schrie, hier noch keine Ahnung haben konnte. Erst nach und nach ward ein Riß und weit hinten ein neues majestätisches Gebirge sichtbar.
»Geht es da nach Sankt Niklausen hinauf?« fragte Simon verschüchtert. Bürgler nickte und grüßte dann und wann etwa Bauersleute übers Feld. Weit herumgesäet lagen die Häuser mit ihren verbrannten Gesichtern. Wäsche hing an den Hecken, von den Lauben lachten Kürbisse mit ihren ungeheuren Humorbacken. Links blitzte ein Kapellentürmchen aus dem welken Laub.
»Wißerlen!« bemerkte Bürgler nach rechts, »Siebeneich,« nach links zeigend. »Hier schwenken wir in die Höhe. Oder wollt Ihr durchs Dorf? Die Kernser sind wunderfitzig wie Geißen . . . Unsre Pferde bringen wir beim Balzlisepp unter, kommt!«
Sie trabten einem ansehnlichen Gebäude zu, aus dessen Balkengitter junges Heu duftete, während aus den Luken des gemauerten Unterbaues jenes behagliche demokratische Gezänke oder Gespräch oder wie man's nennt, erscholl, das dumme Schweine, lustige Kälber, eine faule alte Milchkuh und nervöses Federvieh zusammen etwa verüben, um sich die langen Stallstunden zu kürzen. Daneben stand ein graues, baufälliges Hüttlein.
Herr Quicker strebte mechanisch dieser Baracke zu. »He, wollt Ihr dem Balzli in die Stube reiten?« fragte Bürgler.
»Jaso, dort ist der Stall. Da wohnt das Vieh also besser als der Mensch,« versuchte Simon zu witzeln.
»Das gehört sich auch, gilt es doch viel mehr im Preis . . . wahr oder nicht, Obrist?« redete Bürgler den alten, unverwunderten Bauer an, der eine Mistgabel an der Brust, mit den nackten Ellbogen sich über den untern zugeriegelten Flügel des Türchens aus dem Duft und Dunkel des Stalles herauslehnte und weder grüßte, noch herauskam. »Habt Ihr nicht etliche Male in Mailand für eine Kuh zwanzig Dukaten genommen, wohingegen Ihr uns arme Teufel unserm heiligen Vater Sixtus für einen halben Gulden verkauft habt. Dunque . . .« schloß der Jüngling herausfordernd.
Balzlisepp, der einst an der Spitze von sechshundert Mann mit großer Pracht in Mailand eingezogen war, Obrist Baltassar Josef Bucher mit Kuhmist am Kittel und Strohhalmen im Haar und einer Gabel, wo einst die Stoßlanze geprunkt hatte, murrte etwas in der unvergleichlich hallenden Mundart Obwaldens. Der Innsbrucker erinnerte sich bei den vielen Oi und Ai und Hüo an das Griechische, das er in Prag ein Schnüffelchen lang gerochen hatte. Er verstand nichts. Sehr deutlich hatte er nur das Eine aufgeschnappt, daß ein gemeiner Söldner nur einen Viertelsgulden galt. Das Geschäft erwachte, die Kassierstirne trat hart und sicher hervor, und seine Lippen bewegten sich einwärts, indem sie einige Zahlen gleichsam nach innen, in die Geschäftsseele hinein sogen.
So unwirtlich der Bauer dreinblickte, dennoch lud er sie, als die Einstallung der Pferde besorgt war, in die Stube zum Imbiß. Es schwirrte da von Fliegen um Milch und Honig. Bürgler achtete sie kaum; aber Herr Simon wehrte und scheuchte ab, und gerade ihm setzten sie von allen Seiten zu.
»Und so wollt Ihr zum Brüoder hinauf?« fragte beinahe unwillig Balzlisepp, »und wollt seine heilige Rüoh stören. Unser Klaus liebt das nicht.«
Der herzogliche Rat suchte umsonst eine Erwiderung. Das helle braune Auge des Bauern verwirrte ihn.
»Oder plagt Euch ein Gebresten? Dann wohl, ich will nichts gesagt haben.«
»Ich bin gesund,« versetzte Simon und fühlte sogleich, daß es so sei und daß er dennoch irgendwie jetzt heillos gelogen habe.
»Er ist ja selber ein Doktor, Obrist,« verwies Bürgler und leckte boshaft mit der Zunge an seinen vorspringenden Zähnen. »Er macht doch lieber andre Leute krank.«
Simon blickte verlegen in die Ohrlappenschüssel und mühte sich, eine dicke Fliege aus der Milch zu seihen. »Mit Verlaub, wie weit ist es noch von hier bis Sankt Niklausen, Herr . . . Herr Oberst . . .« stotterte er.
»Die ist schlauer als Ihr,« sagte der Bauer grinsend. Dann schoß er mit zwei behaarten Fingern ins Näpflein und hielt dem Gast das Insekt wie in der Zange vors Gesicht. »So packen wir Eidgenossen!«
»In was für Schlachten habt Ihr gefochten, wenn ich fragen darf?« bat der Kanzler bescheiden.
»Fragen dürft Ihr schon immer,« lachte der Alte grob und strich sich das viele lange Haar am Arm rückwärts. Dabei sagten seine Blicke zum Bürgler: was bringst du mir da für ein unschlaues Kaninchen in die Stube?
»Erzählet doch!« forderte Bürgler und hieb tapfer in Brot und Käse ein. »So was mag ich immer hören.«
Aber der Alte ließ sich nicht herbei, was er schon so oft aus Freude oder Höflichkeit erzählt hatte, bis es ihn selbst zuletzt langweilte, nun einem Hergelaufenen rein für die Neugier abzuleiern. »Bis Sankt Niklausen sind's gut anderthalb Stunden,« bemerkte er kurz, und dann, nach einigem Stocken, »merket, die Battaglien sind kein Butterbrot. Fraget nur den Klebli oben am Kappeli. Dran hat man sich bald überessen.«
Verstimmt von all der Ungemütlichkeit und halben Grobheit, schob Quicker die letzte Butterschnitte in den Mund, erhob sich und fragte: »Unsere Schuldigkeit?«
Der Bauer schüttelte die Hand. »Habt Ihr es so eilig?« fragte er, aber öffnete sichtlich gern die Türe. »Also bringet mir ein Andenken vom Brüoder, einen Gruß oder ein gutes Wort oder sonst was. 's ist alles recht, was vom Ranft kommt, ade!«
Die Wanderer stiegen rasch die Bergwiesen gegen die Schlucht empor. Es dämmerte schon. Nahe über ihnen stand der Tannenwald und schwieg und schlief wie ein ausgeplaudertes, müdes Volk. Die Stille der Alpen wurde grenzenlos. Tief unten im Lande, das man nun von dieser Höhe völlig übersah, lagen die Dörfer am See noch in abendlicher Geschwätzigkeit. Aber hier schien schon eine Straße in die Einsamkeit Gottes zu laufen.
»Nehmt kleinere Schritte, Freund Bürgler,« bat Simon weit hinter dem Jüngling. »So flink kann ich Euch nicht folgen.«
Bürgler lehnte sich auf einen Hagstock und wartete. Seine losen Augen hatten jetzt einen fast frommen Glanz. Beinahe schwärmerisch blickte sein hübsches Gesicht in diese Abendseligkeit seiner Heimat hinab. Die blauen Ringe um seine Augen schienen nicht mehr von lockern Gewohnheiten, sondern von einer süßen Schwermut zu erzählen. Als Quicker anlangte, hörte er ihn mit leiser Melodie etwas vor sich hinsummen.
»Was heißt das?« fragte er mit barbarischer Neugier.
Stolz sah Bürgler auf das Männchen hinunter und fuhr schon mit einem Korn Selbstverspottung fort:
»Lo giorno se n'andava e l'aer bruno Toglieva gli animai che sono in terra, Dalle fatiche loro, . . . ed io sol uno M'apparecchiava a sostener . . .
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und so weiter . . . . lari . . . fari . . . Kennt Ihr Dante? Kann man mit mehr Melancholia vom Abend reden . . .?«
»Zu Prag einmal lasen wir so etwas . . . Verschwitzt, vergessen . . .! Aber saget, ist das der Wald, den Euer Bruder so mächtig lieb hat? Warum? sind doch Tannen wie überall.«
»O Ihr! Dem Einsiedler ist doch der Wald, was dem Fisch das Wasser oder dem Geizhals der Geldsack . . . Nein, nein, ich will artig bleiben . . . er ist seine Ruh' und Speis', sein Haus und Tempel, seine Familie, sein Buch . . . Darin geht er mit seiner Seele spazieren, sagt das Volk, und nichts stört das Paar. Hopla ho, das ist zu poetisch. Aber ohne Spaß, Doktor, der Teufel hat den Bruder aus diesen Tannen heraus oft angefallen wie ein Bär oder eine Lawine. Aber der Klaus hat den Zauber warm wie er herunterkam, gleich mit seinen Käserarmen aufgefangen und in den Fluß geschmissen . . . da kühl' dich ab! So was hätt' ich mal sehen mögen . . .«
»Ist das beglaubigt? Man fabriziert so flink aus Wasser und Wein ein Wunder.«
»Aber dann ist auch Unsere hochliebe Fraue von diesem gleichen Wald zum Klausner niedergestiegen. Ich glaub' wohl, daß ihm ein Gehölz mit solchen Abenteuern gerade paßt . . .«
»Wer hat's gesehen?«
»Wir zwei,« hieb der Bürgler mit bissigem Humor zurück, »würden es einen Zoll vor der Nase nicht einmal sehen, wir haben zu viel Staub im Aug' . . . Doch Ihr seht ohne das nicht gut, Herr Botanikus. Nun seid Ihr schon zum drittenmal an dieser Pflanze vorbeigerannt. Und ist sie doch eine Rarität weit und breit. Wie heißt Ihr's? Ist's was zu Tee?«
»Da ist ja keine Blume mehr daran . . .«
»Ein Doktor Botanikus!«
Der Kenner der Metalle kannte sozusagen keine Botanika, nicht blühende, geschweige denn verblühte. Seine Lage ward kitzlig. »Vielleicht eine Spezialität Subsilvaniä,« riet er.
»Es ist eine gelbe Blüte,« half Bürgler und marschierte großbeinig weiter, »wie ein Schuh, mit braunen Flügeln oder Maschen oder Segeln daran . . .«
»Segel, aha, velum felix, will sagen Glückssegel, da haben wir's,« schwindelte Quicker mit einer verzweifelten Raschheit. Einen solchen Namen, wenn ihn sein starkes Gedächtnis nicht trog, hatte seine Frau beim Blumenrätselspiel mit Ira oft nachdrücklich vorgebracht und mit ihrem Schneewittchenlächeln dann zu ihm oder zum Fenster gewinkt und bedeutet, woher es wohl wehen werde, dieses Glückssegel.
Das prompte Latein des Begleiters machte den Bürgler stutzig. Ist er doch Botanikus? Dann entgegnete er weich: »Wir hingegen nennen es Frauenschuh
»So, so! sandalum muliebre,« stürzte der Innsbrucker hinein. »Das ist nur eine Variatio.«
»Und lassen bei diesem Namen alle Segel sinken. Denn wer kann so einem seidenen Pantoffel widerstehen, mit solcher Kappe und schmalen Ferse und den Bändern daran! Ihr vielleicht habt es vermocht, Ihr seht mir ganz so aus. Aber ich nicht . . . und ich will's nicht.« Er stampfte mit dem Fuße. »Schaut es gut an,« begann er nochmals in einem Gemisch von Zorn und Schwärmerei und hielt ihm das falbe Gewächs vor die Nase, »und stellt Euch vor, was da blühte, ein so kleines, süßes, stilles Schühlein oder Füßchen, ein so liebes, das Euch folgte und folgte und nicht von Eurem Fuße weg mochte, wenn es auch doppelt so viele Schritte machen mußte . . . und wenn es sogar Fußtritte von Euren bösen Schuhen bekam, den falschen, den harten, den davonlaufenden, treulosen . . .«
Wie ein Unsinniger sprudelte er das heraus, nichts als Leiden und Klage im Gesicht. Seine Lippen zuckten, die Augen schienen bis in den Stern zu bluten. Herr Quicker aber merkte nichts von dem Weh dieses Jungen. All das wilde, heiße Gerede schien auf ihn allein gemünzt. Es überflutete ihn wie ein Wolkenbruch. Er preßte die Hände vor Aug' und Stirne. Aber er sah und hörte es so nur noch deutlicher. Auf frauenhaft zarten Schühlein ging es hinter ihm, folgte, zupfte, glänzte und bedrängte ihn. »Bleib, bleib,« flehte er, »jetzt kann ich dich nicht brauchen in diesem rohen Handel; jetzt stör' mir das Geschäft nicht. 's ist ja alles für dich. Nachher putz' ich meine Hände und Füße und lauf' zu dir und knie vor dir und küss' deine Frauenschuhe . . . aber jetzt bleib zurück, Gertrud . . .« Und in einer wahren Todesangst blickte er auf, wo denn ihr Fuß so leise des Weges schlürfe, und wiederholte: »Bleib, bleib Gertrud!«
»Gertrud,« schrie es neben ihm im gleichen Atem.
»Was . . . was sagt Ihr . . . was wißt Ihr . . .?« fragte Simon entsetzt.
»Gertrud, Schälijungfer Gertrud, Bäsi, kennst du mich wirklich nicht mehr?«
Ah so, das war es gewesen. Barfuß, mit schönen weichen Schritten wie eine Gemse kam ihnen eine Jungfer von oben quer durchs kurze Gras entgegen. Sie trug einen Rückenkorb über die Schultern geschnallt mit Äxten und Sägen und anderm Werkzeug, aber ging trotz der Last bolzgerade und zeigte ein rundes, milchiges Gesicht mit Augen wie reifen Brombeeren.
Sie sah den Fremdling herzhaft an und wandte sich dann mit einem freundlich-spöttischen Ton an den Führer: »Schon wieder im Land? Mußt pressieren, Heinz, wenn du im Schlegel übernachten willst; 's sind vornehme Leut' beim Klebli.«
»Mach' keine Späss', Meitli,« zürnte Bürgler; »was soll ich im Schlegel? Ich übernacht' bei Euch, wie sich's unter Vettersleut' gehört. Das Seppeli ist doch noch oben?«
»Der Hans . . . Ja, und drei Geißen und . . .«
»Das Seppli, frag' ich,« herrschte der Jüngling dunkel vor Eifer und schüttelte die Jungfer derb am Arm; »oder ist es auch schon zum Vater nach Kerns hinabgezogen?«
Gertrud Schäli blies ihre vollen Lippen auf und lachte ihm überlegen, aber nicht böse ins Gesicht und sagte: »Paperlapa, was sorgst du, wo meine Schwester ist; acht lieber, wo du bist, schöner Vettersbub du.«
Damit sprang sie abkürzend über den Weg die Halde nieder. »Wart doch,« befahl er und stampfte vor Aufregung. Aber von der Jungfer sah man nur noch die Zöpfe im Abendrot glänzen und verschwinden.
»Affe, verdammter,« schimpfte Bürgler. »Ihr seht, was für ein grobes Weiberpack hierzulande wächst,« entschuldigte er sich verwirrt gegen Quicker und wischte mit dem Zeigfinger einen feinen Schweiß von der geraden Nase und dem Lippenflaum.
»Ich verstehe gar nichts,« sagte Simon, den dieser Auftritt ein wenig aufgerüttelt hatte. »Was heißt das, mit dem Schlegel? Wer war die Jungfer?«
»Meine grobe Bäsi. Die Schäli haben eine wackere Sennhütte nur ein Paternoster weit vor Sankt Niklausen, wo sie den Sommer durch hirten. Ich bin dort wie daheim. Der Schlegel hingegen gehört dem Ratsherrn Bitzi, dem Klebli, wie's Volk ihn namset, einem komischen Alten neben der Kapelle. Dort steigen die Pilger meist ab . . .«
»Also denn . . .«
»Da sitzt auch der Kaplan, und Ihr werdet dick und dünn ausgefragt, und die Wallfahrer hängen Euch am Ärmel und kommen mit, und Ihr wollt doch allein . . . ganz allein,« wiederholte Bürgler scharf, »mit dem Bruderklaus reden . . .! Botanika, nicht?«
»Warum . . . wie . . . was habt Ihr nur immer . . .?«
»Unter uns, Mann,« der Jüngling näherte sein brennendes Gesicht und brockte hart aus den Zähnen hervor, »es gibt doch sicher noch bessere Kräuter als den Frauenschuh, etwa den Werberschuh, den Söldnerschuh, den herumlaufenden Pensionenschuh, den vergoldeten . . . ach, lieber Herr aus Innsbruck, lassen wir doch die Kappen fallen! Ihr seid der Gesandte Sigismunds, und ich bin der Sohn des Landammann Bürgler, und dort oben im Schälihüttlein ist mein Schatz. Ihr habt schlecht gemummt. Ich hab' Euch die Politik schon in Luzern angerochen . . .«
Das traf. Der Legat stand und stand erst wie ein Holzscheit in den Boden geschlagen und wunderte sich, daß ihm dennoch nicht sterbensübel, im Gegenteil merkwürdig leicht ward, ähnlich einem dumpfen Kopfe, dem mit einem Hieb ein verhocktes Geschwür entleert wird. Simon fühlte sich genau so erleichtert. Wohl oder übel, der schwierigen Geheimnistuerei war er los. Wie aus einer Erstarrung erwachte er und bürstete sich die Brauenpölsterchen. Dann schüttelte er die letzte Verwirrung von sich und lachte zum erstenmal auf dem gestrengen Schweizerboden hellauf. »Gebt mir die Hand,« forderte er treuherzig. »Ihr habt recht. Das ist nicht mein Talent. Freilich, über alle Straßen den Ambassadore ausschreien, Ihr versteht, das ging auch nicht. Aber Euch hätt' ich von erst an vertrauen sollen. Ein Verliebter ist doch auch kein Diplomat . . . und Ihr, endlich merk' ich's . . . seid es über Haar und Ohren hinaus.«
Heinz grinste höflich.
»Jawohl, ich reise um Söldner für den Erzherzog und ich bitt' Euch kurz und gut: helfet mir! saget ja!«
»Ja . . . so gut es meine Gesundheit verträgt.«
»Was heißt jetzt das wieder?«
»Ich meine mein Wohlsein . . . also meine Obwaldnerei . . . nein, meine Liebschaft, meine Heirat . . .«
»Wie kann Euch das quer kommen?«
»So . . . so . . . wer weiß, wie lang das Seil ist, wenn man nur einen Zipfel greift . . .? Hop, jetzt heißt es noch vor Nacht unter Dach kommen. Durchs Gebüsch dort und wir sehen die Hütte!«
Dieses Gebüsch war aber ein recht dunkles und breites Gehölze. Wortlos tasteten sich die zwei durch. Dem Österreicher fiel auf, wie oft der Gespan sich schneuzte und nieste. Als sie aber aus dem Tann traten, erschrak er geradezu vor der fahlen Blässe des Bürgler. Malte die grüngraue Dämmerung so oder die Sehnsucht der letzten Minute? In einem weichen Tau glänzten des Jünglings Augen und schienen nichts anzuschauen und alles zu sehen.
»Fühlt Ihr Euch unwohl?« fragte Quicker betreten.
Heinz stellte die Zähne vor wie ein Eber. »Was spinnt Ihr?« versetzte er grob, »so laßt mich doch einmal in Ruh'!« und lief mit heftigen Sätzen voraus. Je näher er dem Häuschen kam, das er wohl vergessen konnte, aber das ihn nicht vergaß und immer wieder rief und lockte, desto unleidlicher wurde ihm die Gesellschaft des Zahlensaugers. Wie oft schon unterwegs hatte er den Graukopf zum Teufel gewünscht. Diese letzten Minuten, bevor er das Seppeli sieht, muß er allein sein. Wieder wie vor vierzehn Tagen, da er den gleichen Weg ging, wie ihn der Moro geheißen hatte, überfallen ihn die Erinnerungen.
Er weiß noch gut, wie oft er da schon als Knabe heraufstieg, mit dem Haselstecken und dem Schäferhund, um einen Trupp Geißen zur Sommerung ins Melchtal auf die Alpe seines Vaters zu treiben. Bei seinen armen, aber lustigen Vettern Schäli hier oben machte er jedesmal Halt, und jedesmal strich ihm Seppeli sogleich ein dickes Butterbrot. Klar entsinnt er sich, wie er einst bei einem heillosen Berggewitter hier übernachten mußte, und als es über die Schindeln prasselte wie siebenhundert Bäche, noch im Heulager gottlos betete, der Allmächtige möge seine himmlischen Seen doch Tag und Nacht so weiter ausschütten, wie vor alters bei der Sündflut, damit er hier mit den zwei Mädchen und dem Hans noch lange weiterspielen könne. Und wenn die Flut stiege, so ließe er Hund und Geißen und sogar den Hans und die Gertrud, packte einzig das Seppeli und kletterte mit ihm die Felsen hinauf. Und schwölle das Wasser noch höher und netzte den obersten Stein des Kernserberges, dann bände er sich mit ihr am gleichen Gurt zusammen, spränge tapfer ins Wasser hinaus und den fernen Geißbergstöcken zu und von da zum Titlis und so immer zu einem höhern Gipfel, der noch übers Wasser tauchte, und wollte wahrhaft erproben, was stärker sei, das Wasser oder seine Liebe . . . Er wollte Seppelis Arche sein!
»Herr Heinrich, Herr Bürgler, gemach, ich bitt' schön . . .« rief es hinten.
. . . Aber dann einige Jährchen darauf kam es beinahe umgekehrt. Er fiel beim Steinrautensuchen auf Klisteralp und bekam zerschundene Knie und ein böses Loch in den Kopf. Man trug ihn hinunter in dieses Stadel. Die Vettersleut gaben ihm Seppelis Laubsack, der viel zu kurz war für seine langen Herrenbubenbeine. Aber er ringelte sich wohlig wie eine Katze darin zusammen. Das Bäschen brachte ihm den Haberbrei. So hübsch hatte er es noch nie gefunden wie jetzt, da es in die Suppe blies und dabei rundere und rötere Backen bekam als der posaunenblasende Engel am Sankt Niklauser-Altar. Sie tropfte ihm Öl in den Riß und legte Lattichumschläge auf die Stirne. Es tat wohl; aber er dachte, gäbe Seppeli ein Küßchen darauf, es heilte noch schneller. Zum Lohn für die Pflege erzählte er ihr alle Geschichten, die er vom Vater und den Älplern wußte, und wo es nicht grausig oder leuchtend genug schien, malte er noch einen dicken Strich Schwefel oder Purpur hinzu . . . Er zählte sechzehn Jahre und hatte davon schon in Basel ein Jahr verstudiert und verjubelt.
He, schneller, schneller! Der Gauner dahinter läuft mir Mordio na . . . »Laßt Euch doch Zeit,« schreit er zurück, »ich wart' oben . . . ich muß was ausschwitzen . . .«
. . . Wußte er keine Geschichten mehr, so erfand er solche. Die gefielen dem Seppeli noch besser. Fertig, auf Ehr und Seligkeit, 's ist fertig, mußte er immer wieder schwören. Denn noch hielt sie ihren Mund offen, um all das Wunderbare zu essen. Ja, sie sah und hörte nicht bloß, sie aß seine Geschichten wie gebratene süße Apfel. Er mußte ihr die Lippen mit zwei Fingern schließen, damit sie glaubte: punktum, das Märchen ist aus. Er sieht es noch haarscharf, wie die Sonne niedrig durchs Fenster fiel und gerade einen Honigtupf auf Seppelis Mund traf, als er nach einer solchen Sage es zum erstenmal anders probierte und Lippe mit Lippe schloß. Ach, das war süßer als Sonne und Honig. Er hätte es nie geglaubt. Aber es machte ihn nicht frech. Frech ist er erst in Mailand geworden. Er kann es sich nicht erklären, vor vierzehn Tagen hat er es wieder gefühlt, was für eine sonderbare Scheu sich von nun an in die Kameradschaft mit Seppeli mischte, ein seliges Angsthaben, ein Rot- und Beklommenwerden. Sie hockten meist zusammen, küßten sich nicht mehr, redeten die gewöhnlichsten Sachen von Milch und Käse, Kilbi in Kerns und Schwinget im Melchtal, sie lachten und spaßten; aber das Seppeli wurde immer sorgloser, er immer sorgenvoller dabei. Wenn er dachte, daß er nun bald ohne Schwindel herumgehen könne und dann nach Hause müsse, faßte er das Mädchen plötzlich an beiden Armen, daß es aufschrie und doch wieder lachte wie ein Distelfink . . .
Ja, viel hat er gedacht, und nichts dachte sie, und das war vielleicht das Schöne, schoß es Heinzen durch den Kopf. »Laßt mich allein!« drohte er wütend rückwärts. Der verdammte Hund dahinten, auf den Fersen ist er mir von Luzern weg. Keinen Schnauf Ruhe gönnt er mir . . .! Was kommt jetzt? o Himmel, was kommt . . . Peppina, Seppeli, mein Seel', und ich hab' doch nur ein Herz . . . Er schnob und schwitzte wie ein gehetzter Hirsch. In diese paar Sekunden stürzten ihm die Ereignisse von Jahren.
Als sein Knabenhimmel am schönsten blaute, hörte er eines Abends hinter der Bretterwand poltern: »Vetter Landammann, mit Vergunst, seht selber nach. Das ist nicht mehr Kinderei. Euer Bub tut ernst und schwer wie ein Mann mit Seppeli. Wir wollen nicht Schuld und Reu hinterher. Nehmt ihn weg, 's ist hohe Zeit. Jedem ist sein Kind lieb. Nehmt ihn, er hinkt ja schon hurtig wie ein Spitzbub . . .«
Laufen, laufen, sonst verwürgt man an solchen Erinnerungen. Denn jetzt kam's schwarz und schwer über sein rotes Haar. In die Fremde mit dem Nichtsnutz, hieß es. Über den Gotthard!
Aus jedem Schneegewässer und Dohlenpfiff unterwegs rief es ihm: halt! zurück . . . Wenn ihm ein Mensch auf dem Paß begegnete, schrie er jedesmal: das Seppeli grüßen oben in Nik . . . und jedesmal: klatschte ihm eine Maulschelle ins Gesicht, bevor er den Heiligen aussprechen konnte . . . Und so hat es keinen Bericht bekommen. »Trockne die Augen, sonst lachen dich die Italiener aus,« spottete der Landammann hart . . . Aber, Diavolo, wie der Alte hinter mir galoppiert! Rennen, rennen! Ich muß das fertig denken . . . Ja, bei einer Musikbande, die über den Berg zog, horchte er zum erstenmal auf und bekam die Augen von selbst trocken. Wie die spielten und hopsten, und wie mit mächtigen Ohrenringen und einem Fetzen Seide im Haar ein kohlenglutiges Mädchen vor ihm knickste und um einen Batzen bat: prego, gentilissimo Signorino . . . Und dann am Eissee beim Hospiz, wo noch die grünen Schollen herumschwammen, da war alles neu, da vergaß er ein wenig. Und der Vater sagte: Bravo, jetzt konjugiere mir einmal ein italienisches Verbum . . . und Heinz begann, wie er gelernt hatte, amo, ami, ama, amiamo . . . Nichts da, wetterte der Vater, prego, preghi, prega . . . Er konjugierte es geduldig durch Präsens, Perfektum und Futurum und hörte nochmals das Zigeunerkind klingeln: prego, gentilissimo Signore. Welch ein Land mußte dieses Italien des amo und prego sein! . . . Zuletzt im Hospizkapellchen, dem rissigen und feuchten, hielt ihn der alte Mönch fest am Ärmel und sagte vor einem Heiligenbild: »Sankt Gotthart! . . . Bübel, vergiß nicht, das ist ein deutsches Wort. Da unten im Süden macht die Sonne alles pflaumenweich, und so betet ein rechter Schweizer, wenn er nach Mittag zieht, zum Heiligen: steh für mich, Sankt Gotthart, daß Gott mich hart wachsen läßt, nicht wie eine welsche Pflaume, nein, wie eine eidgenössische Nuß! . . .« Daneben stand ein junges, unbärtiges Paterlein und fügte bei: »Immerhin mit einem süßen, gelben Kern . . .« »Reverende, das kommt von selbst,« zürnte der Senior und schlug den Schnee seines Bartes grimmig um sich, »wenn die Nuß hart genug ist; sonst ist auch Euer Kern faul . . .« Und Vater Landammann lächelte: Pazienza, er versteht das noch nicht! . . .« Aber er verstand recht gut und biß sich die Zähne in die Lippe, weil er nicht hart genug gewesen und schon wegen einem Flocken Süd das nordische Bäslein schier vergessen hatte.
. . . »Wollt Ihr reinweg in den Himmel stürmen?« schrie es von hinten mit erstickender Stimme.
Er gab keine Antwort mehr, rannte und träumte weiter:
Mailand . . . das Schloß . . . Musik, Gold, Tanz, Waffenspiele! Und was für schöne Menschen! Und allen gefiel sein Haar, sein Aug', seine Lippe so gut. Mit einer Feinheit und Frechheit sagten sie es ihm, die ihn zuerst in seiner milchigen Schweizerunschuld erschreckte, aber ihm bald auch wohltat. Ja, alle hatten ihn gern, und die schönen Mädchen vor allem. Wenn sie ihn bedrängten, schrieb er in seiner nordischen Not ein Briefchen an Seppeli. Es antwortete nie. Erhielt es die Briefe nicht? oder war es überhaupt so ein Vogel nur von einem Tag zum andern? Heinzens Lippen wurden immer trockener. Er bekam Durst. Vom Obwaldnerbrünnchen kann er nicht trinken, und aus den welschen Fontänen, die so laut springen und klingen, soll er auch nicht trinken. In all dem süßen Geplätscher soll er verdursten . . . Hat ihn dazu der Herrgott so schlank und eben erschaffen, mit solchem Mund und solchem Durst? . . . wahrhaftig nein . . .
Da kam die Baranghi . . . Und im Glanze dieser großen, vollen, reifen Mailänderjungfer versank der ganze Norden in Nebel und Vergessen. Nicht einmal ein blonder Scheitel oder die Turmspitze von Sankt Niklausen tauchte daraus hervor. Kindereien, bah! Einst träumte, jetzt lebt er . . .
So, jetzt ist er oben auf der Höhe. Weit hinten kriecht das Österreicherlein im Schatten herauf. Er stützt sich in den Hüften und hat fast nicht den Mut, zu den paar Hütten zu schauen, die vereinzelt am Wege zur alten Kapelle liegen. So stand er am genauen Fleck vor vierzehn Tagen, mit dem gleichen wehtuenden Gehämmer im Herzen. Als franker Hochzeiter marschierte er da auf das Kommando des Moro bergauf . . . Sonderbar, hatte er im flachen Mailand das Bergsteigen verlernt oder was war es, daß ihm der Atem so schwer wurde? Die Berge dünkten ihn zweimal höher gewachsen, die Luft machte ihn trunken, die obwaldnerischen Gesichter und Gespräche unterwegs heimelten ihn an, er fühlte sich kraftlos und halb verzaubert, bevor er nur das Seppeli sah. Wie wird er es diesmal treffen? Warum war er nicht stärker und widerstand nicht, wenn ihm der Quicker auch einen Herzogshut geschenkt hätte, dieser zweiten Reise da hinauf?
Vor vierzehn Tagen stand sie am großen Käskessi, vom Rauch umwirbelt, der von der Feuerstatt empordampfte und Dach und Wände und selbst die Menschen darin berußte. Die Funken sprühten wie Sterne um sie im schwarzen Genebel. Sie rührte mit beiden Armen den Gohn durch das Gesötte, damit es nicht zu dick werde und anbrenne. Wenn es dann einmal Blasen herauspuffte, mußte sie den Hans rufen, der draußen am Trog das Kästuch netzte und salzte und die Spalen weichte. Das kurze, lichte Haar um die kleinen Ohren, das sich nicht in die Zöpfe flechten ließ, hob und blähte sich im Widerschein der Flammen und umgoldete ihr flinkes Köpflein, so daß Heinz sogleich an die lustige Madonnina denken mußte, die der Maler Vinzentino Belli dem Moro jüngst in die Hofkapelle gemalt, aber Don Tito, der Schloßkaplan, als zu ungeistlich mit einem dichten Schleier hatte zudecken lassen. Nun kannst du sogar Käse machen, war sein erstes Wort. Sie kehrte sich um, guckte ihn kräftig an und tat einen lustigen Schrei. »Du . . .? Saperment, ich kann dir jetzt nicht die Hand geben,« rief sie weiter und stieß gewaltig im Geköche herum, daß es nicht überschwelle. Sie lachte laut in den Kessel hinein vor Überraschung und Zufriedenheit, diese arglose Bergschwalbe da, die keine Hitze kennt. Bald warf sie den dünnen Hals um und rief: »He, was kannst denn du Neues? Sag' mal, hast gut welsch gelernt? Tschingga Colazza Risotto . . .?« Und hurtig, wie alles an ihr war, kehrte sie wieder den Rücken. Er stand wie ein armer Sünder neben diesem Bergmeitschi. Wie sauber und keck war sie geblieben und wie unbeschwert hatten ihre gletschergrünen Augen ihn angeblitzt. Er setzte sich auf eine Stabelle und fühlte, daß er zu viel gewagt hatte. Alles Blut in ihm suchte gleichsam wieder die alten Ursprünge seines Lebens auf und saugte sich da fest, diese Berge, diese Luft von Fels und Gewölke, dieses Wasserrauschen allum, dieses Schneeleuchten aus den Hintergründen, die Hütte voll Heuduft und Freiheit, diese grobheimelige Sprache, diese Gesichter, dieses Feuern und Rauchen und Scheiterknistern und Leben und Lieben im leichten Hirtenkittel wie man will. Wieviel Müdigkeit, Kopfweh, Augenbrennen, Magendrücken gab es in Mailand! Wie gesund ist hier alles! Welch eine Hitze und Hetze immer dort fürs Herz. Hier redet alles von Ruhe. Wie vor drei Jahren steht der klotzige Tisch und der Banktrog noch am gleichen Platz, der Kessel hängt am gleichen schiefen Haken, das Bild vom Bischof Nikolaus klebt am gleichen Brett in der Ecke, und die Mitra ist noch blutrot, wie er sie selbst einst überstrichen hat. Und Seppeli grüßt ihn, wie wenn er nur für eine halbe Stunde zum Häuschen hinausgegangen wäre, als ob nicht das ganze Mailand dazwischen läge, das ganze, schwere, dumme Mailand!
»Gib Scheiter her,« weckte sie ihn . . . »Du Ungeschickter . . . nicht solches, das sind ja Späne! Von den Bengeln dort! weißt du nicht mehr, wie man feuert? . . . Da, jetzt halt mir den Gohn. 's ist Zeit . . . ich muß den Hans holen . . .«
Schwerfällig trottete der Bruder in den Holzschuhen herein, lachte ihn gutmütig an und machte sich dann am Käse zu schaffen. Heinz und Seppeli saßen zusammen. Sie strich ihm ein Butterbrot wie früher immer, wenn er eintrat. »Geschichten, Geschichten,« forderte sie. »Wie du alt geworden bist,« lachte sie und kehrte sein Gesicht mit beiden Händen gegen das Feuer. »Aber pfui, noch nicht einmal einen rechten Schnauzbart! Schau Hans an, und der ist doch jünger . . .!« »'s ist so Mode in Mailand,« verteidigte er sich. »Und das Haar fast wie eine Frau . . . nicht schön, Heinz, nicht schön . . .!« »'s ist Mode so in Mailand,« stotterte er wieder . . . »Sind die Mailänder so dumm?« fragte sie. »Na, die Zähn' hast noch immer vorne,« lachte sie beruhigt. »Kannst nicht mehr deutsch, he? Rede doch, wie war's dort unten? Ist's wahr, daß sie eine schneeweiße Kirche bauen wie aus Eis und Glas? Und daß der Herzog alle Tage andere Hosen anzieht und die Mädchen schon vierzehnjährig heiraten? Gibt's da schon Kinder?« fragte sie unschuldig. »Lieber Gott, und ich bin schon achtzehn!« seufzte sie munter . . . Und so ging es fort, und er merkte leicht, daß sie noch frisch und weiß und süß geblieben war wie die Butter, die sie ihm aufs Brot strich; aber auch so kühl.
Der Laubsack, auf dem sie saßen, raschelte so traulich wie die alte Zeit, und sie plauderten und neckten sich und rückten zusammen, und eine süße warme Luft legte sich mehr und mehr um ihn.
Dann mußte sie in den Stall, die Ziegen melken. Er lief mit. Dieser gemütliche Stall mit dem Gemecker der Geißen und dem Geruch warmen Tierlebens ging ihm über das ganze Sforzaschloß mit seinen Geigen und Parfüms. Laß mich, bat er plötzlich und fand sogleich den rechten Strich. Willig gaben die Tiere ihren süßen Saft. Das freute ihn unendlich. Aber da blitzte der Ring der Peppina auf an seinem Finger. Er erschrak. Doch Seppeli bewunderte das Kleinod und meinte: »Ich wette, der Reif ist vom König oder von einer schönen Tschinggin, sag' doch!« Und sie wurde nicht um ein Färblein dunkler dabei. Heinz hätte gewünscht, daß sie entsetzlich schimpfe und ihn mit Eifersucht plage. Sie aber sprang gleich auf etwas anderes über und erzählte, wie unterdessen die Mutter da oben in Niklausen lange an der Gicht krank lag und hier starb. »Schau, hier im Stall saßen wir immer zu zweit. Sie fror und fror und wollte durchaus hier in der Wärme bleiben. Gott wird meine Seele auch im Stall finden, sagte sie denen, die es übel nahmen, daß sie an einem Orte mit den Tieren zum Sterben komme. Unser Jesus Christus ist ja doch auch in einem Stall zur Welt gekommen.«
Rührend war es, wie einfach und arglos Seppeli solches erzählte. Und wie sie da saß mit frischem, zufriedenem Gesicht und ihm neidlos Wort für Wort vom Munde las, wußte er plötzlich, warum sie ihm früher und jetzt über alles ging. Wegen ihrer Einfachheit und Natürlichkeit! Sie konnte ebenso gut eine Wolke am Himmel sein oder ein blustiges Bäumchen in der Wiese, eine kummerlose Bergschwalbe oder ein Sonnenstrahl, der sich selber warm genug gab, sie konnte . . . nein, sie war, wie sie da saß, sein Vaterland, sein Obwalden, so lustig, so gemütlich, so sich selbst genug, sein Obwalden, von dem er geglaubt hatte, er brauche es nicht mehr und mit dem er sich nun inniger verwachsen fühlte als seine rechte mit der linken Hand.
Als er verwirrt wegfloh, ja wegfloh, und wieder in Luzern nach dem verdammten Österreicher spionierte, nahm er sich fest vor, nie mehr nach Sankt Niklausen zu gehen. Dieses Mädchen verdarb ihm ja alle welsche Freundschaft und wollte doch nichts andres als sein guter Kamerad sein. Ihn aber dünkte, er liebe es auf einmal so unsinnig, wie man Vater und Mutter und Heimat und Geliebte zusammen liebe, mit jenem schweren obwaldnerischen Heimweh, um dessentwillen starke Kerle, die keine Feindessichel niedermähte, wie dürre Halme in der Fremde niedersanken. So oft er von der Luzernerbucht in den Seewinkel gen Süden blickte, wo die sonderbar stillen und duftigen Heimatberge weich in den Himmel hinaufschliefen, zog es ihm das Herz zusammen. Er erkundigte sich bei den Göldli nach dem Österreicher, wollte nur noch den erwarten und auf irgendeine Art zum Teufel jagen und dann mit dem schnellsten Roß nach Mailand reiten.
Und nun steht er doch wieder da und schämt sich und quält sich und weiß nicht aus noch ein. Daß er doch diesem Affen aus Innsbruck nachgab! Himmel, Hölle, welch ein Elend!
Da steht er wieder vor der Hütte und weiß es genau, er muß hinein. Aber wie er hinauskommt, das weiß er nicht.