Gustav Theodor Fechner
Erinnerungen an die letzten Tage der Odlehre und ihres Urhebers
Gustav Theodor Fechner

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V. Nachschriftliches.

Die Person geriet in den folgenden Tagen in einen so krankhaften Zustand, daß Reichenbach sie zurückschicken mußte, und ward auch später nicht wieder reif zu Versuchen. Ich empfahl ihr bei ihrer zweiten Anwesenheit hier, wenn sich das magnetische Vermögen etwa später einmal bei ihr wieder einstellen sollte, sich bei einem Physiker oder Physiologen von Fach zu Versuchen darüber zu melden, sie könne dadurch eine berühmte Person werden; habe aber nichts mehr von ihr gehört. Nach Allem also blieben die, mit Frau Ruf angestellten, Versuche, wenn auch meines Erachtens zur Konstatirung eines temporären magnetischen Vermögens der Frau hinreichend, doch im Ganzen unvollständig, und Reichenbach hat mir bemerktermaßen keine Gelegenheit zur Vervollständigung derselben mit anderen Sensitiven geboten. Nun aber glaube ich, noch folgenden Bemerkungen darüber Raum geben zu müssen.

Am wichtigsten bleiben jedenfalls die Versuche mit dem Einfluß der Sensitiven auf die Magnetnadel. Reichenbach selbst zwar legte offenbar von vorn herein auf sie gar kein besonderes Gewicht; der Erfolg derselben war ihm unter den vielen merkwürdigen Tatsachen, wovon er sich überzeugt zu haben glaubte, nur eine mehr; also produzierte er mir auch den Versuch nur beiläufig unter anderen; und erst als er sahe, daß ich diesem Versuche vor allen anderen die größte Aufmerksamkeit schenkte, fing er seinerseits an, sich vorzugsweise dafür zu interessieren, und hat sich seitdem viel Mühe gegeben, denselben Erfolg auch bei anderen Sensitiven, deren er so viele zusammengebracht, zu konstatieren, doch umsonst. Wie ich mich zu erinnern glaube, sind selbst auf seinen Anlaß im hiesigen Spitale Versuche deshalb mit einigen nervenkranken Personen angestellt worden, ebenfalls ohne Erfolg. Auch in seinen Schriften ist nichts darüber zu finden; sei es, daß Reichenbach den Versuch bei den früher in anderer Hinsicht geprüften Sensitiven nicht angestellt oder ihn erfolglos gefunden hat. Ich fragte ihn danach, habe aber vergessen, wie die Antwort ausfiel.

Hienach kann man das magnetische Vermögen überhaupt nicht zu den Charakteren der Sensitivität in Reichenbach’s Sinne rechnen; und, wie oben bemerkt, widerspricht die Weise des Erfolgs vielmehr den von Reichenbach aufgestellten Odgesetzen, als daß sie hineinträte.

Es sind aber die, an Frau Ruf erhaltenen, magnetischen Erfolge überhaupt so unerwartet, daß, mit Rücksicht auf die bisher bewiesene Unmöglichkeit, solche bei anderen Individuen zu reproduzieren, von vorn herein jeder Zweifel an der Richtigkeit derselben erlaubt sein muß. Lag wirklich keine Täuschung dabei vor? Daß Reichenbach selbst nicht täuschen wollte, wird jeder zugeben, der sich im persönlichen Verkehr mit ihm oder aus seinen Schriften überzeugt hat, daß er viel zu eingenommen von der Realität der von ihm vorgebrachten Tatsachen war, um noch Kunststücke zur Unterstützung ihrer Glaubwürdigkeit nötig zu halten; und daß auch die Sensitive für sich selbst nicht täuschen wollte, ließ sich schon daraus schließen, daß sie sich überall nur als passives Werkzeug Reichenbach’s bei den Versuchen darstellte und vielmehr ein negatives als positives Interesse daran verriet, wie aus den obigen Angaben hervorgeht. Aber selbst wenn man bei ihm oder ihr die Absicht der Täuschung voraussetzen wollte, so wüßte ich absolut nicht, wie eine solche Täuschung bei den vorgenommenen Abänderungen des Versuches hätte Stich halten können, und weise auch in dieser Beziehung auf die gemachten Angaben darüber zurück. Hätten die Versuche noch fortgesetzt werden können, so hätten sich wohl noch andere Kontrollversuche anstellen lassen, und würden angestellt worden sein; ich gestehe aber wenigstens für mich selbst schon durch das, was ich darüber habe mitteilen können, überzeugt zu sein. Es ließe sich an Halluzinationen von meiner Seite denken, und ich selbst fragte mich wiederholt, ob ich recht sehe, aber Professor Erdmann, den ich nach seinem Dahinscheiden leider nicht mehr als Zeugen anrufen kann, müßte dieselben geteilt haben.

Dabei gebe ich unbedingt zu, daß mit einem, nur an einem einzigen Individuum, nur an ein paar Tagen, nur von zwei unkontrollierten Beobachtern gemachten, Versuche für die Wissenschaft nichts weiter gewonnen ist, als die Aufmerksamkeit auf den beobachteten Fall zu lenken und zur Aufsuchung bestätigender Fälle anzuregen. Mehr hätte es sagen wollen, wenn statt unserer zwei die Kommission der Männer, deren Mitbeteiligung ich von vorn herein gewünscht hatte, als namentlich Hankel, Ludwig, Rüte, die beiden Webers, und die mir, nachdem sich so viel Tatsächliches vorlegen ließ, nicht länger würde versagt worden sein, noch Zeuge der magnetischen Erfolge hätten sein können.

Daß diese Erfolge an sich unmöglich seien, wird man nicht a priori behaupten wollen, da ja nach den berühmten Untersuchungen von Dubios elektrische EIementarströmchen im lebendigen Nerven schon vorhanden sind, und es bekanntlich nur einer geeigneten Form und Anordnung solcher Strömchen bedarf, um die Erscheinungen des Magnetismus zu geben. In normalen Nervenzuständen haben sie, nach dem tatsächlichen Fehlen dieser Erscheinungen, eine solche Form und Anordnung nicht; aber unsere Nervenphysik ist noch weit davon entfernt, versichern zu können, daß sie eine Solche nicht in abnormen Nervenzuständen annehmen können. Mit einem unicum freilich, wie es sich hier vorlegen ließ, ist sein zulänglicher Beweis für die Verwirklichung einer solchen Möglichkeit zu führen; vielmehr was einmal erfolgt ist, muß auch wieder erfolgen können. Nun ist mir aber bei den vorigen Versuchen ins Gedächtnis gekommen, daß wirklich schon eine frühere Angabe in dieser Hinsicht vorliegt. In einer ziemlich umfänglichen Schrift nämlich, welche über eine Dresdener Somnambule Namens Kachler erschienen ist (Mitteil. aus dem magnet. Schlafleben der Somnambule Auguste K. in Dresden, von Bär und Kohlschütter, 1843), mir aber gegenwärtig nicht mehr zur Hand ist, fand ich unter anderen Merkwürdigkeiten, die von ihr erwähnt werden, auch berichtet, daß sie mit dem Finger eine ablenkende Wirkung auf die Magnetnadel zu äußern vermocht. Der Versuch schien mir, als ich ihn las, so beschrieben, daß sein Einwand gegen ihn unmittelbar auf der Hand lag; doch war er nicht ins Detail verfolgt, und so gab ich damals nichts auf ihn.

Nun aber möchte ich doch an solche, welche sich mit Somnambulismus oder Spiritismus befassen, die Einladung richten, nicht zu versäumen, ihre Versuchssubjekte auf das betreffende Vermögen zu prüfen, da rücksichtslos auf das, was man übrigens von jenen Zuständen denken mag, die abnorme Beschaffenheit der Nervenreizbarkeit solcher Individuen am leichtesten ein Gelingen hoffen lassen dürfte, wie sich schon an der Kachler bewiesen hat; nur würde im Fall des Gelingens ein Physiker oder Physiologe von Fach davon in Kenntnis zu setzen sein, wie ich schon der Frau Ruf empfahl, teils um den Fall sicher zu konstatiren – denn auf bloße Angaben von Laien würde man in der exakten Wissenschaft wenig geben – teils eine genauere Untersuchung darauf zu richten. Gewiß würde es den Vertretern jener Gebiete dadurch besser als bisher gelingen, die Aufmerksamkeit exakter Forscher auf ihr Versuchsfeld zu lenken. Übrigens würde es mir lieb sein, sollten wirklich irgendwo Versuche in dieser Richtung angestellt werden, von dem Erfolge derselben, wäre es auch ein negativer, Notiz zu erhalten, um vielleicht später einmal etwas darüber zusammenzustellen.

In Rücksicht des Vorhandenseins elektrischer Strömchen im Nerven ließ sich daran denken, daß eine Gliedmaße, z. B. ein Finger, dadurch künstlich magnetisch gemacht werden könnte, daß man ihn in eine Rolle aus Multiplikatordraht steckt, und einen elektrischen Strom durch diese Rolle leitet, wobei natürlich der Magnetismus, den die Rolle selbst durch diese Strömung annimmt, durch Entgegensetzung einer gleichen, von demselben Strome durchlaufenen, Rolle ohne Finger zur anderen Seite des Magnetpols, auf den man die Wirkung des armierten Fingers versucht, kompensiert werden muß. Dieser Versuch ist auf meine Anregung und unter meiner Beteiligung mit aller Sorgfalt, doch ganz negativem Resultate, im hiesigen physikalischen Laboratorium angestellt worden, nachdem Professor Hankel die Güte gehabt, die Vorrichtung dazu mit Spiegel-apparat und Fernrohr zur genaueren Bestimmung auch der kleinsten ablenkenden Wirkung herzustellen, so wie er auch die Anstellung des Versuches beaufsichtigt hat. Die vom Strom durchlaufene Rolle wirkte kräftig genug, daß ein ganz schwacher Eisendraht darin eine, mehrere Skalenteile betragende, Ablenkung bewirkte, der hineingesteckte Finger verschiedener Personen aber gab keine Spur davon.

Freilich kann man bemerken, daß ein magnetischer Zustand, wie er sich bei der Ruf zeigte, unstreitig von einer demgemäßen Disposition des ganzen Körpers oder wenigstens der Hauptteile des Nervensystems abhängig gedacht werden muß und der Magnetismus des Fingers nur als ein Ausläufer oder Symptom davon angesehen werden kann. Also hätte zu einem entscheidenden Versuche der ganze Körper oder wenigstens ein großer Teil desselben von einer Spirale umgeben sein müssen, was den Versuch sehr umständlich gemacht und seine genaue Anstellung erschwert haben würde. Aber eine Spur von Wirkung hätte sich doch auch mit einem bloßen Finger erwarten lassen und so ist das Fehlschlagen damit jedenfalls nicht ermutigend für eine Wiederholung des Verfahrens in größerem Maßstabe.

Was die, unter dem 4. Juli von 2) bis 6) gehenden Versuche anlangt, welche nicht wiederholt worden sind, so habe ich kein Gewicht darauf gelegt, "weil ihr Erfolg auf Zufall beruhen könnte". In der Tat ist dies bei jedem einzelnen für sich genommen sehr denkbar und überhaupt möglich, doch offen gesagt für das ausnahmslose Zutreffen aller hinter einander wenig wahrscheinlich; nämlich die (äußere) Wahrscheinlichkeit davon nur  . Und diese Unwahrscheinlichkeit steigert sich durch die Betrachtung, daß Reichenbach mir nicht diese Versuche mit so großem Zutrauen vorgeführt haben würde, wenn sie nicht schon vorher bei ihm selbst zugetroffen wären. Namentlich scheint der letzte Versuch, mit dem Auffinden des Schlüssels unter einem Tuche, ein gewöhnliches Probestück Reichenbach’s zu sein; indem er mir schon früher einmal (6. August 1866; in Erwiederung auf eine, ihm von mir gemachte Bemerkung Folgendes Schrieb: "Zu der Verdeckung der Pole gegenüber den Sensitiven stimme ich sehr gerne zu. Die Wirkung wird durch Papier, Leinwand u. s. w. nur wenig geschwächt. Ich habe solche Versuche den Berliner Herren vorgezeigt. Ich versteckte einfach nur einen Schlüssel, wo also nicht einmal Pole vorhanden waren, unter Leinwand. Eine gut sensitive Person, mit der flachen Hand darüber hinschwebend, gab jedesmal die Stelle genau an, wo das Metall unter der Leinwand lag. Es ist unfaßlich, wie Mitscherlich, Rieß, Poggendorff mit Gleichgültigkeit über eine Erscheinung von so hoher physikalischer Bedeutung weggehen konnten. Es ist dies im Wesentlichen derselbe Versuch, den ich Berzelius mit in Papier gewickelten Stoffen vorgezeigt hatte. Aber diese Prüfungen, von denen sie fürchten, daß ich sie noch nicht angestellt habe, habe ich viele hundertmal im Finstern vorgenommen" u. s. w.

Wenn die Berliner Herren mit Gleichgültigkeit über jenen Versuch weggegangen sind; könnte es wohl gewesen sein, weil, wenn man solche Versuche nicht selbst von vorn herein in die Hand nimmt, nicht alles dazu selbst veranstaltet, man nie ganz sicher sein kann, daß nicht etwas von Taschenspielerei oder in unkontrollierbaren Umständen liegende Täuschung mit unterläuft, indem dem Versuchssubjekte ein leitendes Zeichen bekannt sein kann, was dem, äußerlich zu dem Versuche hinzutretenden, Beobachter unbekannt ist; überhaupt Versuche der Art kein Gewicht haben, wenn sich ihr Erfolg nicht unter abgeänderten Umständen bewährt. Jedenfalls würde ich selbst solchen Versuchen erst volles Vertrauen schenken, wenn ich die Apparate dazu selbst mitgebracht, ja größter Sicherheit halber bei jedem Versuche die Anordnung so getroffen hätte, wie ich es bei den Versuchen mit dem Hufeisenmagneten gehalten, daß ich nicht einmal mit meiner Vorstellung des zu erwartenden Ausschlages die Sensitive influieren könnte, da ich nach meinem Prinzip, im Unglauben so vorsichtig zu sein als im Glauben, der so oft gehörten Behauptung, daß Somnambule in solcher Weise von ihrem Magnetiseur influiert werden können, trotz der eminenten Unwahrscheinlichkeit, die ihr zukommt, doch so weit Beachtung schenke, um jene Vorsicht in Übertragung von Somnambulen auf Sensitive daraus abzuleiten. Reichenbach selbst erzählte mir einmal, wovon ich die Glaubwürdigkeit dahinstelle, in einer somnambulistischen oder spiritistischen Sitzung in London, der er beigewohnt, habe die Somnambule oder das sogenannte Medium ihm Dinge gesagt, die absolut nur er habe wissen können, als er aber nach Zufall eine Karte aus einem Spiel gezogen und unter den Tisch gehalten, ohne selbst zu wissen, welche es sei, habe sie die Frage danach nicht beantworten können. Daß Sensitive schwarze Erbsen von gelben, einen blauen Knaul von einem gelben, nach Einhüllung in Papier, durch das Gefühl sollten unterscheiden können, bleibt jedenfalls so unwahrscheinlich wie möglich, und kann durch die vorigen Versuche durchaus nicht als erwiesen gelten; doch glaubte ich, es Reichenbach schuldig zu sein, das mit seinen Annahmen Zutreffende in den Versuchen eben so wenig als das Nichtzutreffende zu verschweigen.

Ich habe früherhin immer Anstand genommen, die vorigen Versuche überhaupt zu veröffentlichen, da sie ihrer Natur nach nur Zweifeln exakter Forscher begegnen können. Als ich indes kürzlich zufällige Veranlassung hatte, in die Notizen darüber zurückzublicken, schien es mir doch, wie ich Eingangs sagte, schade, daß der Pendelversuch und der magnetische Versuch ganz verloren bleiben sollten, und vielleicht kann der letztere noch für die Zukunft positive Frucht tragen. Eine, nicht lebensmagnetische sondern physikalisch magnetische, Eigenschaft am menschlichen Körper, wenn auch nur unter ganz besondern Bedingungen wiederholt konstatieren zu können, wäre in der Tat für die Wissenschaft von Wichtigkeit, und sollte es einmal gelingen, so würde man immerhin der Odlehre dankbar dafür zu sein haben, daß sie auf den Weg dazu geführt hat.


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