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Erstes Kapitel.

Die Vorsehung hatte ihr möglichstes gethan, um Mattia glücklich zu machen oder ihn wenigstens zufrieden zu stellen; da es ihr in siebzig Jahren nicht gelungen war, verlor sie den Mut und ließ es geschehen, daß das Unglück über ihn kam. War doch Mattia bis zu seinem achtundsiebzigsten Jahre gesund wie ein Fisch, besaß eine Lebensgefährtin, welche mit seinem Wesen innig vertraut war und ihn unendlich lieb hatte, einen gescheiten und guten Sohn, der bei der Kunstakademie Ehre einlegte; seine Malerei hatte ihn wohlhabend gemacht, er genoß die Achtung der ihm Nahestehenden, die Bewunderung der Entfernteren. Ein andrer hätte daran übergenug gehabt, Mattia nicht, denn seine Seele war von heißer Liebe zum Ruhm erfüllt.

Wenn er einen ganzen Monat von Morgen bis Abend mit der Palette in der Hand vor der Staffelei gestanden, tausendmal zurückgetreten war, um sein Werk zu beurteilen, sich ihm ebenso oft genähert hatte, bis er es mit der Nase berührte; wenn er endlich Palette und Pinsel auf die Staffelei legte und sich die Hände rieb, weil er nun abgeschlossen hatte, glaubt ihr, daß Mattia dann zufrieden war?

Mit seinem Gemälde allerdings, denn in der Nähe und aus der Ferne gesehen, hatte es das leuchtende Kolorit der Venetianer, die Idealität der guten Florentiner Zeit, die sichere Zeichnung der alten Maler, frei von den Nachlässigkeiten, welche die jüngeren in die Mode gebracht haben; ja, mit seinem Gemälde war er in der That zufrieden, nicht aber – mit der Kritik.

Nein, er war nicht zufrieden mit der albernen, der rohen Kritik, mit der Kritik, welche nichts vermag, als die Kunst auf die Marterbank zu legen. Er war nicht mit »Sincerus« zufrieden, der in der alten Zeitung im Namen einer aufs Geratewohl aus Büchern zusammengerafften und wie ein Dogma bis zum Himmel erhobenen Theorie predigte; er war mit »Novus« nicht zufrieden, der in einer andern Zeitung am ersten Donnerstag jeden Monats frischweg dummes Zeug schwatzte, den ungeduldigen jungen Künstlern die Berühmtheit zuerkannte, die alten verhöhnte.

Er wußte sehr wohl, daß Sincerus sich nie eines Gemäldes schuldig gemacht hatte und, um den Ruf eines gewichtigen Kritikers zu erlangen, sich nur aus dem Trog (Mattia sagte wirklich »Trog«) zu tränken brauchte, in welchem die Kunst zu allen Zeiten ihre Pinsel ausgewaschen hat; er wußte, daß Novus anfangs als Künstler aufgetreten war, und dann, weil er nichts erreichte, als das Gelächter seiner Mitschüler zu erregen, kühn den Beruf erkor, in den Journalen der Schrecken der ausübenden Künstler zu werden. Aber diese Betrachtungen trösteten ihn nicht. Er hätte gewünscht, daß alle Künstler, alle, die es wahrhaft sind, alle, welche die Liebe zum Schönen erfüllt, sich stolz diesem unfruchtbaren Gewerbe – Kritik genannt – gegenüber erheben und es im Chor verlachen möchten.

Hingegen geschah es damals, und dasselbe ist vielleicht noch heute der Fall, daß geniale Maler sich von dem zum Kritiker gewordenen elenden Mitschüler loben ließen. Jener Novus z. B. lobte nicht nur die neuere Kunst, sondern schmeichelte ihr schlau dadurch, daß er die alte auf alle Weise herabsetzte. So lachten denn die milchbärtigen Künstler nur noch im geheimen über ihn, ließen den Kritiker gelten und schmeichelten ihm ihrerseits, indem sie mit frecher Stirn sein Urteil, sein Lob und – dem Himmel sei es geklagt – auch seinen Rat erbaten.

Also Mattia war nun einmal nicht mit der Kritik zufrieden, ganz im Gegenteil. Er hatte sogar eine Anzahl von thörichten Auslassungen über die Kunst, von Widersprüchen, welche die Feuilletons brachten, gesammelt, und wenn sich ihm irgend Gelegenheit dazu bot, citierte er einige davon, damit unbefangene Leute sichtlich und handgreiflich des Uebels inne würden, an welchem die schönen Künste krankten.

Ein Glück, daß dieses Uebel für ihn erträglich war, dank seiner Tomasina, die seit dreißig Jahren die Mission hatte, die Malerei und die Eigenliebe ihres Gatten zu hegen und zu pflegen, ihn zu ermutigen, wenn die Kritik größeren Unsinn als je gebracht hatte, und seine gläubige Zuversicht zu stützen, damit sie ihm auf dem Wege zum Ruhme nicht verloren ginge. Und als es Mattia endlich gelungen war, trotz Sincerus und trotz Novus seiner Kunst und seinem Namen im Auslande Eingang zu verschaffen, da war es wieder Tomasina, welche ihm das Lächeln ihrer Jugendzeit entgegenbrachte, ein Lächeln, dem viele Zähne fehlten, das aber voll der alten Liebe war.

Dann war Tomasina in eine andre Welt hinübergegangen, herzlich betrübt, daß sie der großen Stimme folgen mußte, bevor sie ihrem armen Alten die Augen geschlossen, der so ruhmreich war – und so schwach, daß er die Unsterblichkeit begehrte und sich mit dem alltäglichen Lob begnügte. Denn Tomasina hatte richtig gesehen und verwechselte nicht den Ruhm, den Mattia zuweilen von fern erschaute, mit der Anerkennung, welche er täglich auf seinem Wege fand.

»Täglich« ist nur so gesagt; in Wahrheit begegnete er ihr nicht immer; denn Sincerus zwickte ihn im Feuilleton einmal in jedem Monat, denn Novus ...

»Und was kümmert dich Sincerus und was Novus?« fiel Tomasina ein. »Wenn du doch so viel Ruhm erntest, dein Ruf täglich zunimmt, wenn die Fremden, welche nach Mailand kommen, dein Atelier besuchen, dir die Hand drücken wollen und dich versichern, daß deine Bilder auch in ihrer Heimat bewundert werden.«

»Es ist wahr, es ist wahr,« gab Mattia resigniert zu. »Und sie bezahlen mich auch, und bezahlen mich gut. Aber man ist nun einmal von Fleisch und Blut, man lebt und freut sich mit dem Fleisch und Blut, das uns nahe ist. Uebrigens hast du vielleicht recht, die boshafte Kritik kann mir nicht weher thun als ein Mückenstich. Und die Wahrheit zu sagen, im Leben des Künstlers sind die Mücken nicht nutzlos; die Widersacher können ihm mehr leisten als die Freunde. Die großen Künstler hatten immer einen unschätzbaren Feind, welchem sie ihre Größe verdanken.«

Nachdem er diese von philosophischem Geist erfüllten Sätze aufgestellt hatte, wagte er sich noch philosophischer und resignierter auszusprechen, wozu aber Tomasina den Kopf schüttelte.

»Diese beiden Mücken mögen mich stechen, so viel sie wollen, ich werde sie durch meine Kunst tot machen.«

Später, als Mattia sich thränenvoll über das Bett der Freundin, der Gefährtin beugte, um ihr zu sagen, daß sie noch verweilen, ihn nicht allein lassen möchte, da drückte sie seinen ruhmgekrönten Kopf an ihren abgezehrten Busen und sprach zum letztenmal das Wort, welches ihr dreißig Jahre lang gedient hatte: »Mut«.

Als Tomasina auf den Kirchhof getragen war, hatte Mattia standhaft sein wollen, und dem Sohn, welcher ihm aus Arnheim Briefe voller Zärtlichkeit schrieb und den Kopf des »Oberst Los« von Franz Hals unkopiert lassen wollte, um zum Vater zu eilen und an dessen Seite zu weinen, antwortete Mattia mit Zuversicht, mit Kühnheit: »Ich bin stark, und ich habe die Kunst, meine Trösterin; ich werde standhalten. Du, der Du jung bist, studiere nur weiter die Technik der großen niederländischen Malerei; Du wirst ja leider in Mailand Jünglinge finden, welche nichts mehr zu bewundern vermögen und durch das ausschließliche Studium des Wahren reine Kopisten geworden sind, und kaum noch das ...«

Erst als er in seinem Atelier sein letztes großartiges Gemälde aufgestellt hatte, fühlte er sich von Entmutigung erfaßt und rief den Sohn herbei, damit er ihm zur Genesung und zu neuer Kraft verhelfe.

Dies Gemälde hatte in der That etwas von einem Akademiestück, aber es besaß die Gediegenheit der Farbe, die Sicherheit der Zeichnung, welche selbst die Neiderfülltesten Mattia nicht absprachen. Von einem lichten Hintergrund, auf dem man Skizzen berühmter Bilder erriet, hob sich eine schöne ganz nackte Gestalt ab, strahlend in ihrem zarten, unberührten Fleisch; ein Fuß ruhte auf dem Erdboden, aber das Haupt erhob sie hoch, und die forschenden Augen suchten ferne Welten. Es schien, als wolle das schöne Wesen sich eigentlich zum Himmel aufschwingen, werde aber zurückgehalten. Wodurch nur? Vielleicht durch einen Epheuzweig, der ihren zarten Fuß umrankt hatte. Ringsumher gewahrte man zahlreiche junge Künstler, die einen Marmor bearbeiteten oder an der Staffelei standen, ohne auch nur mit einem Blick sich der herrlichen nackten Gestalt zuzuwenden; einzig aus einem Winkel winkte ein silberhaariger, aber noch enthusiastischer Künstler dem holden Mädchen, daß es nicht scheiden möge!

Nun denn, das Gemälde Mattias hatte das schlimmste Mißgeschick, welches einen Künstler treffen kann: es wurde nicht verstanden.

Aber es war Schuld des Künstlers, wenn seine Idee nicht vollständig Eingang in das Gehirn des Publikums fand. Warum auch die paar Worte einer Unterschrift sparen? Warum nicht z. B. sagen: Die Kunst, welche das Fleisch vernachlässigt? Es wäre eine ungeheure Lüge gewesen, aber wenigstens hätten sehr viele daran geglaubt. Was thun die allermodernsten Künstler, wenn sie uns versichern wollen, daß sie eine Idee gehabt haben? Sie taufen den Rahmen, nichts weiter.

Setzt einen Kohlstrunk oder sonst etwas auf einen dunklen Hintergrund, verkündigt am Rahmen, daß ihr einen philosophischen Gedanken ausgedrückt habt, und die Bewunderer werden nicht fehlen.

Jawohl, denn das Publikum hat immer große Neigung für die Philosophie gehabt – ja gewiß, denn das Publikum ...

Das Publikum hatte sich bei dieser Veranlassung so gezeigt, wie es immer ist (ich sage nicht, wie es ist, Mattia nannte es »philosophisch«), aber was soll man von der Kritik des Sincerus sagen, der in diesem prächtigen nackten Wesen nichts andres gesehen hatte als »das ewige Modell«, das heißt »die Kunst, die sowohl das Fleisch wie die Seele sein kann«? Und was von der Kritik des Novus?

Nach einer schon von Apelles angewendeten List hinter dem Gemälde versteckt, hatte Mattia auch ihn mit seinem Schwanz unbärtiger Maler kommen sehen, aufmerksam hinschauen, dicht herantreten, zurücktreten, sich abermals nähern; er hatte den Mund nicht aufgethan.

»Gehe heim, Stumpfsinniger!« dies sind die authentischen Worte, welche Mattia hinter der Leinwand dachte, »grüble gehörig darüber nach, und du wirst erst rechten Blödsinn aushecken; am Donnerstag wird dein thörichtes Gewäsch gedruckt erscheinen.«

Aber der erste Donnerstag war gekommen, es war ein zweiter und ein dritter gekommen, und Novus hatte sich nicht zu einem Wort herabgelassen.

Das war die Kritik, welche den ruhmreichen Mann aus den Fugen brachte.

Wie man wohl glauben kann, lag ihm nicht so viel daran, was Novus schreiben würde; und hätte er drucken lassen, Mattia habe den Triumph des Fleisches gemalt, in Gottes Namen, aber wenigstens hätte sich sein eignes Fleisch dabei beruhigt; hingegen, da Novus schweigend verharrte, siegte das Fleisch über Mattia.

Da war es, daß er seinem Sohn Tito schrieb, er möge den »Oberst Los« im Stich lassen und nach Hause zurückkehren. Und als er ihn an seine von so viel unterdrücktem zärtlichen Gefühl, von einem neu geweckten Schmerz bestürmte Brust geschlossen, als er ihm in die guten Augen geblickt und ihn unverändert wiedergefunden hatte, da führte er ihn ins Atelier vor sein Gemälde. Er sprach kein Wort, um die ersten Eindrücke unbeeinflußt zu lassen.

Der blasse, ernste Jüngling prüfte lange wie ein alter Künstler und fiel endlich dem Vater um den Hals, der atemlos wie ein Neuling dastand.

»Ach! Also es gefällt dir? Und sage mir, du verstehst, was ich ausdrücken wollte?«

Tito mußte das Bild nochmals anschauen, dann sprach er gelassen: »Der Triumph der Idee!«

Und das war in der That der Titel des Gemäldes, welchen Mattia nicht auf ein unten am Rahmen befestigtes Kärtchen geschrieben hatte.

Er küßte den Sohn auf die Stirn, dann sprach er, indem er sich auf den Malerschemel niederließ, voll Würde: »Ja, es ist die alle Kunst beherrschende Idee; es ist die Idee, ohne welche man nichts weiter ist als ein Kopist; die Idee in völliger Nacktheit, um anzudeuten, daß sie die Wahrheit ist. Das Nackte ist hier nicht klassisch, mir scheint es nicht einmal akademisch, aber es ist schön, denn die Wahrheit muß auch schön sein, wenn sie den Künstler gewinnen soll. Betrachte die Nacktheit dieser Mädchengestalt wohl, sie ist keusch. Ihr Blick schweift über die Welt hinaus, ein Epheuzweig hält sie an einem Fuße fest, sie ist menschlich. Rings um sie her sind viele geschäftig, die, das Ideal verleugnend, sich dennoch für Künstler halten; ein einziger darunter hält den Blick auf sie gerichtet, und sein Haar ist weiß.«

»Ja, es ist schön, wunderschön,« antwortete Tito leise, »mir gefällt das schimmernde Kolorit des Fleisches: viel Bleiweiß, grünliche Tinten, wenig Mennig, wenig Zinnober; und über das Ganze eine leicht verhüllende Färbung gebreitet; ist's nicht so? Der lichte Himmel dahinter: Bleiweiß, Indigo und Mennig: dort, wo der Sternenhaufen leuchtet, wenige Pinselstriche Kobalt. Ja, es gefällt mir sehr!«

Auch diese grammatikalische Art, den »Triumph der Idee« zu loben, hatte dem ruhmvollen Künstler nicht mißbehagt, welchem es große Freude machte, dem Sohne, welcher ihn erraten hatte, die Geheimnisse seiner Palette offenbaren zu können.

*

Es waren heitere Tage, welche Vater und Sohn zusammen an der Staffelei verlebten, beide malend, jeder dann und wann herantretend, um zu prüfen, was der andre auf die Leinwand gebracht hatte. Tito begnügte sich, schweigend zu bewundern; Mattia gab, durch seine Autorität berechtigt, zuweilen einen Rat, meist sagte er »gut«, oder »sehr gut«, und wenn er »sehr gut« sagte, dann fühlte er das Bedürfnis, den jungen Künstler zu umarmen, trotz des Hindernisses der beiden Paletten und Malstöcke.

Denn dieser Jüngling von zweiundzwanzig Jahren war bereits ein Künstler. Er wußte noch nicht viel von Philosophie in seine Gemälde zu legen; er gestand offenherzig, daß ihm das Leben noch nichts andres als die Bilder der Dinge zu geben habe, aber er bemühte sich, deren geheimen Sinn zu durchdringen, »die Seele«, wie er sagte. »Für jetzt verstehe ich nichts andres zu machen,« bekannte er demütig.

In der Folge brachte er auch noch Bessres zu stande, und als er das Jahr darauf in der Brera seine »Lombardische Gegend« ausgestellt hatte, bewunderten und verwunderten sich alle Mailänder, daß einem genialen Maler ein paar Schritte vor das Thor hinaus genügt hatten, um ein Bild voll Leben und Empfindung zu finden. Tito Bondi hatte die Poesie aus einem sumpfigen Graben geschöpft, an dessen Oberfläche sicherlich im Dämmerschein die Frösche hervorkamen, um im Chor den Rosenkranz zu beten.

Mattia war froh, daß sein Sohn da begann, wohin er erst um den Preis so vieler Anstrengung gelangt war, nämlich die eingeschlummerten Leute wach zu rütteln, sie zu nötigen, daß sie das Abbild einer gleichgültigen, sogar häßlichen Natur »schön« nannten. Er war so erfreut, daß er dem Novus auch diesen unendlich oberflächlichen Ausspruch verzieh: »Ihr seht also, die Wahrheit rettet die Kunst; Tito Bondi brauchte nur bei einem Sumpf stehen zu bleiben, um eine prächtige Landschaft daraus zu machen; sein Verdienst besteht darin, daß er mit voller Treue wiedergab, was er sah.«

»Merke wohl, mein Sohn,« sagte Mattia; »du kannst das Lob des Novus annehmen, wenn du magst; ich nehme es auch an – für das, was es wert ist. Aber du weißt besser als ich, daß gerade das Gegenteil stattfindet: nicht die Wahrheit ist es, welche die Kunst verklärt, die von niemand verklärt zu werden braucht, sondern es ist die ewige Kunst, welche die Wahrheit verklärt. Und eben darin liegt das große Verdienst des Künstlers, nämlich eine liebliche Färbung über die gleichgültigen Dinge zu breiten und sie schön zu machen. Du hast einen Sumpf idealisiert, und das ist dein Ruhm. Ich weiß nicht, wie es mit den Schriftstellern ist; aber niemand soll mir ausreden, daß die Landschaftsbilder, welche sie mit der Feder darstellen, immer von ein wenig Idealität umwoben sind, auch wenn sie für ganz wahr gelten können. Deshalb geben sie uns ein Bild, geben es uns wenigstens so, wie der Autor es gesehen hat; und du weißt, daß von zehn anschauenden Personen neun etwas sehen, das jeder auf eigne Hand in den betrachteten Gegenstand gelegt hat.«

»Und der zehnte?« fragte lächelnd Tito, um ihm das Vergnügen zu gewähren, eine Witzrakete loszulassen.

»Der zehnte ist der Kopist, ist der Schreiber, welcher ein Inventar aufnimmt und sich für wahrer als alle hält, weil er gewissenhaft nichts sagt; so ist er denn allerdings nicht ideal, sondern einfach unwahr. Gedenke stets an das, was ich dir sage: Die Wahrheit ohne das Ideal ist weniger als nichts.«

Tito hatte wiederholt über diese und andre Dinge nachgedacht, welche der Vater ihm von Zeit zu Zeit sagte; er hatte schweigend darüber gegrübelt, und Mattia konnte sich einbilden, daß er ihn überzeugt habe, als er bald darauf ein angefangenes Bild erblickte, auf dem aus einem Nebelhimmel ein Mädchenkopf herausschaute, ein Köpfchen ganz Leben, ganz holdeste Verheißung. Er legte sich aufs Erraten und sagte: »Du hast meine ›Idee‹ auf deine Weise ausdrücken wollen; du verbirgst mir den Körper des göttlichen Mädchens, damit das Auge um so mehr von dem Kopfe gefesselt werde. Du hast vielleicht recht gethan. Uebrigens ist dieser Kopf wundervoll, so viel sage ich dir; aber er verspricht zu viel, und ich weiß nicht, ob er seine Versprechungen halten wird; ich fürchte, daß ›die Kunst‹, auch wenn es uns gelungen ist, sie zu erfassen und uns ihr Antlitz zuzuwenden, strenger und herber zurückweisend ist. Mir wenigstens hat sie es sehr schwer gemacht.«

Der junge Mann errötete bei diesen Worten und wagte nicht dem Vater zu gestehen, daß dieses verheißungsreiche Köpfchen nicht die Kunst, nicht das Ideal war, nicht einmal eine Idee wie irgend eine andre, sondern nur ein Mädchen, das ihm lebensvoller als alle bis dahin gesehenen Mädchen erschien und ihn die Qualen des Fegefeuers erdulden ließ, während sie ihm das Paradies zu versprechen schien.

Mattia hatte sehr wohl begriffen, daß die gesunde Malerei nichts mit dem Erröten seines Sohnes zu thun hatte, und als er wissen wollte, woran dessen Kunst kranke, trat ihm die schöne Gestalt eines achtzehnjährigen Mädchens entgegen.

Sie hieß Cesira, war eben erst im Reiche der Künstler aufgetaucht und hatte bereits viele auf die Folter gespannt, denen sie, die Stunde für zwei Lire, als Modell diente. Es hieß, sie sitze nur für den Kopf und habe sich gewaltig bitten lassen, um etwa einen Arm oder eine Schulter und wenig mehr zu entblößen; und um das wenige ihm Vergönnte anschauen zu dürfen, war der Maler zu einem förmlichen Vertrage mit ihr genötigt worden.

Vor allem hatte er reifen Alters sein und sich zu einem noch reiferen bekennen müssen. Während sie Modell stand, durfte keine lebende Seele in das Atelier dringen. Endlich hatte der Künstler bei seinem eignen kahlen Haupte geschworen, andern weniger kahlen kein Wort davon zu sagen. Aber diesem Künstler war sein Haupt nicht heilig genug, und so kam es, daß die ganze Familie der Künstler die Sache erfuhr.

Später hörte man, daß die verschämte Cesira einen Liebhaber besessen habe, und zwar keinen platonischen; in der Familie der Künstler bildete sich die Meinung, das Mädchen suche mittels der Kunst zu einer Heirat zu gelangen. Aber Tito Bondi versicherte, Cesira habe etwas andres im Sinne, denn hätte sie einen Gatten begehrt, so würden sich zehn für einen gemeldet haben. Er hätte auch hinzusetzen können, daß er selbst, der Schöpfer der »Lombardischen Gegend«, ein zweiundzwanzigjähriger Jüngling, wohlhabend, so gut wie unabhängig – denn der alte Mattia würde nichts Bedenkliches dabei gefunden haben, wenn der Sohn eine so ideale Gestalt heimführte – sich ein Wörtchen von Heirat habe entschlüpfen lassen und daß die schöne Cesira schnöde darauf geantwortet hatte.

Nachdem sie vielen den Kopf verdreht, verließ Cesira eines Tages die Familie der Künstler, um sich dem Schauspiel und der Tragödie zu widmen. Oft hatte Cesira auf diese Absicht hingedeutet, indem sie den für sie und für das Wahre schwärmenden Künstlern sagte, sie diene auch der Wahrheit und stehe deshalb Modell; aber früher oder später werde eine andre und mächtigere Wahrheit sie mit lauter Stimme rufen und dann werde sie die Malerei im Stich lassen. Und damit meinte Cesira eine Stimme von der Bühne her.

Und in der That nahm ein berühmter Schauspieldirektor das schöne Modell an, mit dem Versprechen, sie in kurzer Zeit zur »Liebhaberin« der Truppe und zu noch etwas Höherem auszubilden, wenn sie seinen Ratschlägen folge. Cesira wiederholte begeistert diese Worte, welche ihr die Eingangspforte zum Ruhm öffneten, und Tito Bondi hörte sie schweigend an. Dann stammelte er mit zitternder Stimme: »Cesira, überlegen Sie es nochmals; ich habe Sie sehr lieb, und wir könnten so glücklich sein. Ich besitze meine Kunst, und es würde die Ihrige sein, die Ihrige noch mehr als die meine, denn von Ihnen würden mir die Eingebungen kommen.«

Aber Cesira schüttelte das reizende Köpfchen.

»Ich verstehe das alles, ich bin Ihnen dankbar dafür; aber jeder ist der Träger seines eignen Geschickes.«

Tito hatte sie trockenen Auges abreisen sehen, als sie nach Rom ging; und nach Hause zurückgekehrt, gab er dem alten Mattia viel zu denken, indem er mehrere Tage lang fast weder Speise noch Pinsel anrührte.

Dann hatte die Kunst, die ewige Liebe, wieder Eingang in den Sinn des Jünglings gefunden, und die Familie der Künstler konnte glauben, daß jene Liebe hinfällig gewesen sei wie alle Verliebtheiten der Maler.

Sein Vater allein hatte sich nicht täuschen lassen; an der schweigsamen Stimmung des Sohnes, an den Bildern, welche er anfing und nicht vollendete, sah er, daß Tito noch an jenes verhängnisvolle Weib dachte; nur irrte auch er sich wie die Familie der Künstler, indem er das Beharrliche der Liebeskrankheit einem unbefriedigten Verlangen zuschrieb. Tito hätte ihm sagen können, daß Cesira, gerührt durch seine aufrichtige und starke Liebe, wie sie eine ähnliche nie auf der Bühne hoffen durfte, sein Verlangen erhört habe; daß er noch immer die theatralischen Worte nachklingen hörte, mit denen das schöne Weib sich ihm hingegeben; daß er noch den gleichgültigen, aber tragischen Ausdruck sah, womit sie das Opfer brachte; und daß er jedesmal von neuem den höllischen Aufruhr dieser Paradiesesstunde empfand.

»Ich will dich zufriedenstellen; ich thue es, damit du nicht mehr an mich denkst; ich will, daß du mich vergessen lernst.«

Das waren die Worte, welche Tito sich tausendmal wiederholte, um sich ihren Klang von neuem zurückzurufen.

Monate waren vergangen, und Cesira hatte nichts von sich hören lassen. Eines Tages kam endlich aus Buenos Ayres ein Brief der Schauspielerin; er verkündete, daß sie erste Liebhaberin geworden, daß sie jeden Abend von Beifall begrüßt werde, daß sie endlich ihr Ziel erreicht habe und glücklich sei. »Ziel erreicht« und »glücklich« waren unterstrichen. Und sie schloß so: »Nichts fehlt mir, in der That nichts mehr, denn ich bin Mutter eines lieblichen Töchterchens, und Sie sind's, der es mir geschenkt. Ich wollte es Ihnen nicht sagen, wissen Sie? weil ich Sie kenne und weil ich fürchtete, daß diese Nachricht Ihren Frieden stören möchte, während meine Zufriedenheit dadurch so erhöht wird. Jetzt habe ich mich eines Bessern besonnen und sage Ihnen, daß Sie mein Geschick zu einem strahlend schönen gemacht haben, indem Sie mir das einzige noch fehlende Glück gaben. Beunruhigen Sie sich um nichts und seien auch Sie glücklich. Ich werde meine Kleine innig lieben und habe sie Ihren Namen schon aussprechen gelehrt.«

Der arme junge Mann las zweimal, wie ein Gedankenloser; er wußte nicht recht, wonach er in dieser heiteren Mitteilung forschte, welche all seinen alten Schmerz wieder aufrührte; aber endlich fand er in einem Eckchen der vier gedrängten Briefseiten die von der ersten Liebhaberin im Feuer des Schreibens vergessenen und später – wahrscheinlich nachdem sie das Geschriebene laut deklamiert hatte – hinzugefügten Worte: »Meine Kleine heißt Bianca.«

Tito Bondis erster Gedanke war, so wie er da im Atelier stand, ohne Hut, in Hemdärmeln, geradeswegs nach Buenos Ayres zu eilen, um sein Kind abzuküssen und auch um die so schöne Mutter ans Herz zu drücken, sie zu bitten, zu beschwören, und wäre es nötig, zu zwingen, daß sie den Namen, das Heim, die Zukunft und die ganze große Liebe annehme, die er ihr bereits angeboten. Aber da die Reise ziemlich einen Monat erforderte und die Postdampfer nicht alle Tage nach La Plata abgehen, so hatte er Muße zum Ueberlegen und setzte ein knappes, aber klares Telegramm auf, das ihm die größte Wirkung zu versprechen schien:

 

»Hocherfreut erneuert Tito Antrag, beschwört eilig zurückzukehren; erwartet dich mit erstem Postdampfer. Brief folgt.«

Beim Durchlesen fand er es nötig, die Worte: »erneuert Antrag« zu streichen, weil sie den Gedanken an einen Zweifel aufkommen lassen könnten. Noch einmal lesend, strich er die Worte: »Brief folgt.« Aber als er diese Aenderungen gemacht und die Depesche abgeschickt hatte und sich doch der Einwilligung Cesiras nicht recht sicher fühlte, schrieb er.

Er umschrieb mit vielen Worten den einzigen Satz: »Das Glück, welches du mir nicht bewilligt hast und das ich nicht mehr von dir fordern würde, ist eine Notwendigkeit, eine Pflicht für uns beide geworden. Du darfst den Mann nicht zurückweisen, welcher der Vater seines Kindes sein will.«

Nachdem er diesen über die Zukunft entscheidenden Brief abgesandt hatte, mußte er sich sammeln und stellte in der Einsamkeit allerhand nutzlose Betrachtungen an. Aus ihnen ging hervor, er habe aus vielen Gründen sehr wohl gethan, daß er so geschrieben, daß er, ohne sich zu besinnen, geschrieben, daß er sofort geschrieben.

Wohlgemerkt, er war von diesen Gründen ehrlich überzeugt: weil die Pflicht allem vorgeht; weil es keine höhere Pflicht gibt als die, welche einen Vater an sein Kind bindet; weil der eigenste Instinkt der Liebe aufopfernde Hingebung ist; weil der Trieb des Blutes ...

Das »Weil« des Blutes wollte nicht einmal unserm Tito recht in den Kopf, der, wenn er sich ein Bild von der Kleinen zu machen suchte, welcher er das Dasein gegeben, niemals andre Züge fand als die so schönen der Mutter.

Den ganzen Tag über war er wie im Fieber; er sagte sich hundertmal: »Um diese Zeit hat Cesira das Telegramm erhalten, sie überdenkt ihre Angelegenheiten, spricht mit dem Schauspieldirektor, entscheidet sich, telegraphiert ihre Abreise ...«

Wenn seine Gedanken diesen Weg nahmen, fühlte sich Tito ganz glücklich, und nur deshalb warf er sich nicht seinem Vater in die Arme und vertraute ihm seine große Hoffnung an, weil der Gedanke sogleich in eine Sackgasse geriet, wo der Wunsch zunächst auf eine hohe, starke Mauer stieß: die Gleichgültigkeit der Frau, dann auf eine noch höhere und stärkere: die Eitelkeit der Schauspielerin.

Und dennoch war ihm, nachdem er ohne viel Hoffnung zwei Tage lang auf ein Telegramm gewartet hatte, klar geworden, daß seiner Depesche etwas Wesentliches fehle, und er verbesserte sie durch eine andre:

»Brauchst du Reisegeld, so telegraphiere.«

Cesira telegraphierte nicht, kam weder mit dem ersten, noch mit dem zweiten Postdampfer und schrieb auch nicht einmal. Jede Nacht träumte Tito von Cesira: er träumte sie schön und gefügig, wie sie einst gewesen war; er träumte sie liebend. Beim Erwachen begegnete er seinem rastlosen Verlangen, sie für immer zu der Seinigen zu machen. In diesen Visionen des Schlafes und des Wachens hätte er gern auch die Kleine in rosiger Färbung erscheinen sehen, sonst wäre er des Vaternamens nicht würdig gewesen; aber sie zeigte sich nur flüchtig, fast als bitte sie den gütigen Mann um Vergebung, der ihr die Barmherzigkeit anthat, sie Tochter zu nennen.

Tito wußte, daß wöchentlich ein Postdampfer nach La Plata abgeht, und da er sich nicht ergeben wollte, hatte er jedesmal einen Brief von vier gedrängten Seiten geschrieben, wobei er immer noch den Ausdruck steigerte und, in gutem Glauben übertreibend, die Qual schilderte, daß er seiner Bianca liebliches Gesichtchen sich nicht einmal vorstellen könne. Nach mehreren Monaten des Schweigens hatte er verzweifelnd angekündigt, wenn Cesira auch dies letzte Mal nicht antworte, so werde er nicht mehr schreiben, sondern selbst kommen.

Auf diese Drohung antwortete Cesira mit einem Briefe, vor welchem ihm die Arme niedersanken:

»Ich könnte die Ihrige nicht sein, weil ich einem andern angehöre, weil ich frei sein will und, was ich bisher gethan, wahrscheinlich auch ferner thun würde. Glauben Sie mir das. Ich habe nie jemand geliebt, ich vermag nicht zu lieben; einzig meine Kleine habe ich lieb und bin Ihnen dankbar, der sie mir geschenkt hat. Sie sind jung, sind Künstler: fassen Sie Neigung zu einem guten Mädchen, wie es deren so viele gibt, und Sie werden glücklich sein.«

Tito Bondi hatte sich vorgenommen, seinem Vater nichts zu sagen, bis alles abgemacht wäre. Er sprach zu sich selbst: »Ich will dies teure Träumerhaupt nicht aufregen, bis die Zeit gekommen ist.« Als er aber seine ganze Hoffnung zusammenstürzen sah, da erfaßte ihn ein solches Mitleid mit sich selbst, daß ihn nach einem Worte von dieser nie versagenden Liebe verlangte.

Mattia schüttelte den greisen Kopf und fand instinktmäßig den Weg zum Herzen des Kranken.

»Deine Krankheit kenne ich; ich weiß, wieviel Schmerzen sie bringt.«

Das war alles, aber mit diesen Worten sicherte er sich das Vertrauen. Und in der That, nun der junge Mann wußte, daß ein gleiches Leid, längst erloschen, aber noch verständlich, einst des Vaters Seele durchwühlt hatte, beeilte er sich, sein ganzes Fühlen vor ihm auszusprechen.

Als sie miteinander jenen Brief gelesen hatten, welcher keine Hoffnung übrig ließ, sagte Tito bitter: »Es ist eine Komödie,« und Mattia antwortete: »Ja, es ist eine Komödie, aber eine aufrichtige.«

Und er erklärte, was er damit meinte: »Alle schlauen Schauspieler machen es so: sie legen immer ein Teilchen Wahrheit in ihre Täuschungen. Die tüchtigsten im Komödienspiel sind diejenigen, welche zuweilen sich selbst täuschen. Zu meiner Zeit habe ich so viele Schauspielerinnen weinen sehen: du wirst es auch sehen. Was Cesira schreibt, ist die Wahrheit, und du kannst dich glücklich nennen, wenn in der Komödie, welche sie in diesem Augenblicke zu Buenos Ayres mit Gott weiß wem aufführt, die aufrichtigen Worte an dich gerichtet worden sind. Mache es wie ich: denke nicht mehr daran, wenn du kannst: aber wenn du daran denkst, sollst du zu deinem alten Freunde davon sprechen. So werden wir schneller genesen, und haben wir das Glück, daß du dich in ein gutes Mädchen verliebst ...«

Tito hatte schweigend, nur mit einer verneinenden Bewegung des Kopfes, dagegen protestiert; zuletzt hatte er den Vater unterbrochen, um in vollster Ueberzeugung zu versichern: »Sei gewiß, lieber Papa, Cesira oder eine andre wäre mir jetzt gleichgültig; aber der Gedanke, daß diese Unglückliche Mutter ist und meine Liebe verantwortlich dafür, diesem armen Kinde das Leben gegeben zu haben ...«

Mattia wurde derb und ließ ihn nicht ausreden.

»Und woher weißt du, daß dieses Kind aus deiner Schuld entsprungen ist? Schreibt dir doch die Mutter, daß sie sich nicht als gebunden betrachten würde, wenn du die Thorheit begingest, sie zu heiraten?«

»Gerade ihre Aufrichtigkeit,« stammelte Tito entmutigt, »ihre Selbstverleugnung – ihre Selbstlosigkeit ...«

Und nun zeigte sich Mattia nachsichtig; er faßte seines Sohnes Hand und sprach einfach, gelassen zu ihm, mit dem Anschein, ihn nicht einmal überreden zu wollen: »Laß uns miteinander darüber nachdenken; laß uns sehen, was die Aufrichtigkeit einer Schauspielerin wert, ob sie nicht schlimmer als eine Täuschung, sogar die kühnste Täuschung ist. Wir wollen sehen, ob mit der sogenannten Selbstverleugnung nicht die Eitelkeit etwas zu thun hat – denn mischte sie sich nur im geringsten hinein, so würden wir nicht mehr an die Selbstverleugnung glauben. Und an die Selbstlosigkeit glaube ich nun ganz und gar nicht. Wer weiß, wie vielen andern sie diese Mutterschaft aufgebunden hat, auf die sie so stolz sein will.«

»Jetzt bist du ungerecht, Papa; sie fordert nichts ...«

»Weil sie nichts bedarf; denn vielleicht erhält sie, ohne zu begehren. Wie bist du sicher, ob sie es nicht später thue, wenn sie etwas bedarf und nicht gewiß ist, es zu erhalten? Aber dann wirst du geheilt sein und kannst auch ein Almosen geben, wenn du sonst willst.«

»Ich versichere dir, daß ich geheilt bin.«

»Und blickst du deinem Gewissen auf den Grund,« sagte Mattia, »so wirst du sehen, daß der Gewissensvorwurf des Vaters keinen Einfluß auf deinen heftigen Wunsch hat.«

Er sprach es nicht aus – und es wäre auch nutzlos gewesen – daß in Titos aufgeregter Seele immer noch das Verlangen nach dieser reizenden Mutter lebte. So lebendig war es, daß er an eben dem Tage abermals einen Brief abgeschickt hatte, worin er Cesira sagte (was sagte er nicht alles in diesem Briefe von acht Seiten?), wollte sie jetzt oder jemals zurückkehren, so würden sie und ihr Kind mit offnen Armen aufgenommen werden.

Er hatte geschrieben, ohne mit jemand darüber zu sprechen; aber das wurde ihm leid, und er mochte kein Geheimnis vor seinem Vater haben, der ihm nur die paar Worte sagte: »Warten wir ab.«

Sie warteten in der That noch acht Wochen miteinander, in der Meinung, daß Cesira sich's besser überlegen werde; dann wartete Mattia nicht mehr, Tito freilich noch viele Monate. – – – – – – – – – – – – –

Mattia, der Ruhmreiche, war bei seiner schwarzen Stunde angelangt. Die Vorsehung legte ihn, indem sie sich von ihm abzuwenden schien, dem Sohne in die Arme, dem es seinerseits not that, sich von der Liebesleidenschaft loszureißen, um einer Pflicht ins Auge zu sehen. Um es kurz zu sagen: Mattia wurde von einer Lähmung befallen, zu welcher sich der schwarze Star gesellte. Mit der Zeit wurde man der Lähmung Herr, aber der Star blieb; Mattia war verurteilt, nie mehr die eignen Meisterwerke zu sehen, nie mehr die Feuilletons der Zeitungen zu lesen, welche alle übereinstimmend drucken ließen, daß der berühmte, der ehrwürdige Mattia, der Maler, welchem die Kunst so viele hochgeschätzte Bilder verdanke, nichts mehr malen würde.

In diesen Chor mischten sich auch Sincerus und Novus mit dem besten Willen und mit beinahe den gleichen Worten. Nur daß Sincerus sich begnügte, den armen Blinden »hochberühmt« zu nennen, Novus dagegen von Beiwörtern überströmte und ihn bald »berühmt«, bald »ehrwürdig« hieß, und einmal »berühmt« und »hochehrwürdig« zugleich, um die Sache abgethan zu haben.

*

Die Blindheit war ein furchtbarer Schicksalsschlag für den ruhmvollen Greis. Zwei Jahre lang zog er die namhaftesten Augenärzte zu Rate, die ihm nie mit einer Hoffnung schmeichelten, was er selbst noch immer that; er bildete sich ein und sprach es aus: eines wunderschönen Tages, während er die schwarze Wand anstarrte, welche immer vor ihm stand, werde sie ihm zu glänzen und zu leuchten beginnen, so daß er die Augen schließen müsse, bis das Lichtmeer sich gesondert habe.

»Du wirst sehen,« sprach er zu seinem Sohne, »mein Uebel ist urplötzlich gekommen, und so wird es auch vergehen.«

Er dankte den Kritikern, die, als sie ihn abgethan glaubten, inne wurden, daß man ihn wohl »hochberühmt« und »ehrwürdig« nennen dürfe, war aber überzeugt, daß sie eines Tages ihre verschwendeten Lobpreisungen wieder einstecken würden wie eine Münze, welche zum letztenmal gegolten hat, um dann für immer außer Kurs zu kommen.

»Ich will's erleben, wie sie wieder geizig werden, wenn sie mit Augen gesehen haben, daß ich noch da und noch Künstler bin.«

Tito sagte immer ja und legte sogar einigen Nachdruck in die Lüge, damit der Greis sie nach dem Klang der Stimme für Wahrheit halten könne.

Aber zwei Jahre des Harrens und Glaubens ermüden auch die kräftigsten Selbsttäuschungen. In der Nacht, welche ihn umgab, war die Vorstellung von der Zeit wie vom Raum allmählich geschwunden, und wenn Mattia jetzt in eine Zukunft blickte, so sah er nur seine ruhmvolle Vergangenheit, wie sie in der Gegenwart fortlebte. Und deshalb war er ergeben geworden.

In diesem Winter hatte er sich einen geräumigen Lehnstuhl ins Atelier stellen und so vor dessen großes Fenster rücken lassen, daß zu einer bestimmten Stunde die Sonne ihm auf die Beine schien. Dort saß er ganze Stunden schweigend; dann lächelte er plötzlich einem freundlichen Bilde zu, welches ihm im Dunkel erschien.

»Was machst du jetzt?« fragte er eines Tages seinen Sohn.

»Ich lege eben etwas Schwarz auf den Hintergrund, um die Gestalt mehr hervortreten zu lassen; ich bin beinahe fertig; noch ein Augenblickchen, und ich werde dir sagen, ob ich zufrieden bin.«

Als Mattia hörte, daß das Schwarz des Hintergrundes dem Bilde gut thue, daß die Gestalt an Eindruck gewonnen habe, stellte er irgend eine unnütze Frage, auf welche Tito, nachdem er sich vorgebeugt hatte, um den Gesichtsausdruck des Blinden besser zu sehen, einfach erwiderte: »Papa, du denkst an etwas andres.«

»Das ist nicht wahr,« sagte Mattia, aber sein Lächeln strafte die Verneinung Lügen.

»Du hast mir etwas zu sagen,« fuhr Tito fort; »sage es mir doch gleich.«

Zuerst lachte Mattia laut zu dieser entgegenkommenden Aufforderung, dann wurde er ernst und schwieg lange, während sein Sohn an der Staffelei zu arbeiten fortfuhr. Plötzlich sagte der Blinde, als setze er ein Gespräch fort: »Ich habe alles gemerkt; dein Papa kann immer noch sehen.«

»Was hast du gemerkt?« brachte Tito verlegen heraus und bückte sich instinktmäßig, um seinem Vater in die Augen zu blicken; »hast du den Gegenstand meines neuen Bildes erraten? Ich wollte schweigen, weil ich mich meiner Schwäche schämte; ja, Papa, du hast recht: jene Frau hat sich in meine Phantasie eingeprägt, und ich werde keine Ruhe finden, bis ich sie da herausgemalt habe. Du weißt, welche Qual es macht, ein Bild wiederzugeben, das sich uns innerlich zeigt und wieder verbirgt. Doch kann ich dir sagen, daß ich jetzt nur noch als Künstler verliebt bin, aber als Mensch ist es eine abgethane Sache, durchaus abgethan.«

Mattia antwortete nicht, sondern fuhr fort, geheimnisvoll zu lächeln.

»Und du glaubst es zur rechten Zeit fertig zu bringen?«

»Zu welcher Zeit?«

»Du kennst ja meinen Grundsatz: jede im Laufe des Jahres begonnene Arbeit muß am Sylvestertage beendet sein.«

»Ich hoffe,« sagte Tito; aber diese Worte und das leichte Lächeln, welches noch auf dem heiteren Gesicht des Blinden fortdauerte, brachten ihn auf einen Gedanken. Und auf einmal nahm er schweigend eine fertig zubereitete Leinwand vom Nagel und entwarf auf der Stelle mit wenigen Kohlenstrichen die ersten Linien eines gedankenvollen Kopfes, von der hohen Lehne eines altertümlichen Sessels umrahmt.

Der Blinde lauschte ein Weilchen.

»Jetzt verstehe ich's nicht mehr; ich höre das Streifen der Kohle auf frischer Leinwand; du arbeitest an einer neu eingerahmten.«

»Ja,« antwortete Tito lächelnd; »es ist ein sehr schwieriger Kopf, und wenn die Köpfe schwierig sind, so ist häufig das beste System, sie ganz fortzuwischen: aber ich verwerfe diesen nicht, denn in dem, was ich gemacht habe, ist manches Gute.«

Und es schmeichelte Mattia, zu hören, daß sein Kopf ein schwieriger sei.

»Aber wenn du besser siehst als ich,« setzte der junge Künstler nach langer Pause hinzu, »dann ist es unnütz, daß wir Komödie spielen. Sage mir die Wahrheit: Hast du keine Ahnung von dem Bilde, welches ich male?«

»Wer weiß? Vielleicht ja,« sagte der Blinde. »In der Ecke des Bildes ein altertümlicher Lehnstuhl wie dieser hier, im Lehnstuhl ein Greis mit schwierigem Kopf, dichtem weißen Bart und reichlichem weißen Haar; die Augen offen, aber sie blicken auf die irdischen Dinge nicht mehr, weil sie so viele himmlische geschaut haben. Ist's richtig so?«

»Ganz vollkommen. Zum Sylvester wird dein Porträt fertig sein.«

»Darf ich mich jetzt bewegen?«

»Jawohl; ich höre auf.«

Tito bedauerte in seinem Herzen, daß der so natürliche Gedanke, den schönen Kopf seines blinden Vaters zu malen, ihm nicht früher als dem Greise gekommen war, der vermutlich seit vielen Tagen gewissenhaft zum eignen Porträt saß. Und um sich zu strafen, kehrte er die bis dahin gemalte Cesira gegen die Wand, mit dem Vorbehalt, sie später wieder umzuwenden.

Es fehlten noch zehn Tage bis zum Sylvester, und bis dahin sollte das Porträt fertig sein, nicht gerade weil Tito den gerühmten Grundsatz des Vaters zu dem seinigen gemacht hätte, sondern weil am letzten Dezember Mattia sein vierundsiebzigstes Jahr vollendete. Nachdem er zwei ganze Tage mit Eifer gearbeitet hatte, konnte der junge Künstler sich am Weihnachtsabend von seinem Werke befriedigt erklären, und Mattia konnte frei aufatmen.

»Denn sieh, mein Sohn, du arbeitest fast zwei Monate daran.«

»Nein, Papa – das glaube ich doch nicht.«

»Ja gewiß, genau zwei Monate; rechne nur; du hast am 20. Oktober angefangen, an dem Tage, wo es so heftig regnete, und du sagtest – mir ist's, als hörte ich es noch –: ›Es strömt vom Himmel; mit unserm Spaziergang ist es nichts; setze dich ans Fenster und höre, wie der Regen an die Scheiben schlägt; unterdessen werde ich – eine neue Leinwand vornehmen.‹ Und als ich wissen wollte, was du gemacht hattest, sagtest du, es wäre dir nichts Rechtes gelungen. Seit jenem Tage hast du immerfort an der mir zugedachten Ueberraschung gearbeitet; sprich, es sei nicht wahr, wenn du kannst – siehst du? Die Vorsehung, mein Sohn, kommt uns allesamt zu Hilfe, sie gibt den Unglücklichen die Kraft, ihr Unglück zu tragen, sie gibt den Blinden das doppelte Gesicht.«

Und da Tito, der sich verpflichtet glaubte, irgend etwas zu erwidern, auf die Heilung hindeutete, an welche auch er nicht mehr glaubte, schüttelte Mattia den Kopf und lächelte ohne Bitterkeit.

»Du sprichst so, aber du glaubst es selbst nicht. Doch höre: Ihr, die ihr sehet, die ihr unbehindert umhergeht, die ihr von den Schwingen eurer Jugend getragen werdet, könnt nicht ohne Entsetzen an das Unglück eines Menschen denken, der nichts mehr sieht, der einen Stelzfuß hat, der sich vor Schwäche kaum noch fortschleppt. Aber euer Mitleid ist ein Irrtum. Die Blinden, die Krüppel, die Kranken genießen auch ihr Stück Himmel. Wenn sie sich eingewöhnt haben, so können sie ebenso glücklich sein wie Leute mit zwei guten Beinen und zwei weitblickenden Augen. Die Ergebung scheint eine sehr schwere Tugend; so schien sie mir ein ganzes Jahr lang. Aber nun ich jede Hoffnung verloren habe ...«

»Sage das nicht, Papa.«

»Warum sollte ich es nicht sagen, da diese Hoffnung, nachdem sie mir ein Jahr hindurch wohlgethan, bei ihrem Schwinden eine neue Kraft hinterläßt, die nicht mehr von mir weichen wird?«

Als er diesen Weg eingeschlagen hatte, ward der Blinde plötzlich inne, daß er bis zu seinem geheimen Wunsche vordringen könne, und ging eilig darauf zu.

»Präge es dir recht ein, daß mir nichts mehr fehlen kann; ich zehre von einer Vergangenheit, die mir niemand zu nehmen vermag; ich finde in der Erinnerung alle Quellen meines Genusses. Aber du wirst nicht glauben, daß man ohne wenigstens einen Wunsch leben kann – ich habe einen.«

»Nenne ihn mir.«

»Ja? Soll ich ihn dir sagen? Soll ich ihn dir wirklich sagen?«

Er that es nicht. Der Wunsch war, daß Tito eine Gefährtin wähle – nicht für sich allein, sondern auch für diesen Egoisten Mattia; ein Weibchen, holdselig anzusehen, das dem Sohne hülfe, weiter zu hoffen, das die resignierte Blindheit des Vaters mit Zärtlichkeit umgäbe.

Der Blinde wartete auf ein Anzeichen, welches ihm fortzufahren gestatte; und als Tito sich einen Seufzer entschlüpfen ließ, lächelte er vor sich hin und sagte nichts weiter.

Aber als hätte es so kommen sollen, hatte an jenem Tage Barbara den frechen Mut, zwei Koteletten aufzutragen, welche vom Rost in die Aschenglut geraten waren; und Tomaso ließ sich einmal wieder von seiner alten Liebe zu dem alten Wein seines alten Herrn hinreißen.

Und nun gab der Blinde seinem geheimen Wunsche Worte.

Tito hörte den väterlichen Wunsch ruhig an und antwortete nicht, küßte aber das weiße Haupt. Später begann er: »Schade, daß du nicht Klavier spielen kannst; schade, daß auch ich es nicht kann; wie gern würden wir um diese Stunde ein wenig miteinander musizieren! Aber sag einmal, wenn allabendlich ein Musiker zu uns käme, der sich eine oder ein paar Stunden an den Flügel setzte – wäre das nicht schön?«

Der Blinde zollte Beifall.

»Einer, der all die alte Musik von Cimarosa, von Rossini spielte – gewiß, das wäre schön. Wollte er auch irgend eine Novelle oder ein paar Gedichte lesen, so wäre es noch besser; aber einem Musiker oder Vorleser würde es bald langweilig werden; ich hätte mehr Vertrauen in eine Vorleserin.«

Auch Tito mußte zugeben, daß die Männer weniger geduldig als die Frauen sind, und daß eine altertümliche Lehrerin, eine alte Jungfer, eine Witwe ohne Kinder ...

»Aber warum alt, warum altertümlich?« unterbrach ihn der Blinde; »wenn die Leserin jung wäre und ihre Stimme silberhell? Wenn die Klavierspielerin munter und hübsch wäre, was fändest du dabei Schlimmes? Du denkst wohl, daß man, wenn man alt und blind ist, gleichgültig gegen Jugend und Schönheit sei? Aber man ist nicht umsonst fünfzig Jahre hindurch Künstler gewesen.«

Tito gab bereitwillig auch dies zu.

»Nun, so suche mir denn ein gescheites junges Mädchen, das sich dazu hergeben will, ein paar Stunden bei einem alten Blinden zuzubringen; es muß deren so viele geben, die auf nichts Bessres warten. Wenn du sie mir nicht schaffst, weißt du, was ich thue? Ich stelle mich ans Fenster und rufe: ›Ein hübsches Mädchen, das Klavier spielen kann und eine klare angenehme Stimme zum Vorlesen hat, findet gute Beschäftigung.‹ Ich wette, es würden viele stehen bleiben und ich hätte bald, was ich suche.«

»Fände sich dann unter den Bewerberinnen eine so gute, daß sie dir die fehlende Tochter ersetzen könnte ...«

»Nun wohl, dann ...«

»Dann könntest du sie bitten, immer im Hause zu bleiben, bis sie einen Gatten bekäme.«

Der Blinde seufzte im geheimen und sagte einfach: »Also wollen wir sie denn sofort suchen.«

An demselben Abend noch sprach Tito im Verein der Künstler die Bitte aus, daß man ihm helfen möchte, einer Verheiratung zu entgehen, indem man dem blinden Vater eine Klavierspielerin verschaffte; und ein alter Künstler, auch eine Berühmtheit dadurch, daß er viele Gemälde angefangen, ohne je eins fertig zu machen, nahm ihn beiseite.

»Ich habe zwei Töchter,« sagte er ihm; »sie sind Schülerinnen des Konservatoriums. Ich sehe, Sie wissen nicht, daß ich der Salvi bin; alle werden Ihnen sagen, wer der alte Salvi ist; Ihr Vater kennt mich vielleicht. Meine Töchter sollen zu Ihnen kommen, damit der alte Bondi wählen möge. Ich aber kann Ihnen sagen, daß sie beide vortrefflich spielen, daß Giuditta sehr schön ist, und Sofia so gut ...«

»Schicken Sie Sofia,« bat Tito schnell.

»Warum Sofia und nicht Giuditta?« fragte der alte Salvi.

»Weil die schönen Mädchen immer weniger Geduld besitzen als die andern,« antwortete der junge Mann lächelnd.

»Das Geschick hat sie beide geduldig haben wollen. Lassen Sie mich nur machen; ich schicke sie Ihnen morgen mittag.«

Sie kamen denn auch zur angegebenen Stunde; Giuditta zeigte sich zuerst in der Thür des Salons, verweilte einen Augenblick darin, um sich zu verbeugen, machte dann langsam Sofia Platz, die so unscheinbar von Person und so bescheiden war, wie die Schwester hochgewachsen, selbstgewiß und schön erschien.

Als Mattia, der sie im alten Lehnstuhl erwartete, merkte, daß die Mädchen eingetreten waren, sprach er langsam: »Entschuldigen Sie, daß ich Sie nicht zu empfangen vermag, wie ich möchte; mein Sohn, der sehen kann, wird gleich kommen; aber wenn Sie die Güte haben wollen, sich zu setzen, da sind Stühle.«

Giuditta nahm sogleich Platz, Sofia blieb stehen, obgleich die Schwester winkte, ihrem Beispiel zu folgen. Beide dankten.

Jetzt trat Tito ein.

»Da bin ich, Papa; guten Tag, meine Damen.«

Aber sein Gruß streifte die eine nur, vom ersten Augenblick an fesselte ihn die Schönheit der andern; diese hatte sich einen Augenblick erhoben und sich wieder niedergelassen, durch die bloße Bewegung des Kopfes und den Glanz der schwarzen Augen einen Zauber um sich verbreitend.

»Sie, Signorina, sind Giuditta?« stammelte der Aermste, indem er sich den Fesseln dieser erbarmungslosen Schönheit zu entwinden suchte.

»Ja, mein Herr; und dies ist meine Schwester Sofia. Der Papa schickt uns, damit Sie uns sehen; wir spielen beide, und jede von uns kann vorlesen; meine Schwester kann mehr als ich, weil sie älter ist; ich dagegen bin munterer. Aber sage doch auch du etwas, Sofia.«

»Was soll ich sagen? Wir haben tags über viel freie Zeit ...«

»Und können über so viel Zeit verfügen, wie erforderlich ist. Aber wo ist denn das Pianoforte?«

»Es wird morgen hier sein,« sprach der Blinde. »Aber zuerst sagen Sie mir: welche von Ihnen besitzt die meiste Geduld?«

»Sofia!«

»Die, welche sprach, ist ...«

»Giuditta.«

Tito schmeichelte sich, daß diese Antwort die Frage zu gunsten Sofias lösen werde, aber der Blinde dachte noch darüber nach und antwortete: »Recht so, Giuditta. Und Sie, Sofia, was sagen Sie? Sind Sie derselben Meinung?«

»Meine Schwester rühmt mich immer, und sie läßt mir niemals Zeit, Gutes von ihr zu reden.«

»Das Gute, was von mir zu erwähnen ist, kann ich selbst sagen,« versicherte Giuditta. »Ich bin lustig – das ist alles.«

Aber die kleine Unterbrechung mitten im Satz verstand Tito so: Ich bin sehr schön und kann großmütig gegen meine Schwester sein, die im Vergleich mit mir ziemlich häßlich ist.

Während seine Augen diesen Zauberbann flohen, wußte Tito nicht, wie er seinem Vater kund thun solle, daß Giuditta zu schön und zu kühn, und er zu jung und zu sehr Künstler sei, um ihr auf die Dauer zu widerstehen. Aber glücklicherweise fühlte auch der Blinde nicht den Mut zu einer sofortigen Entscheidung, und da er sich mit dem Sohne nicht beraten konnte, ersann er eine Auskunft.

»Hören Sie, meine Damen; der alte Salvi hat Sie geschickt, damit ich eine Wahl treffe; aber ich als schlauer Blinder, der ich bin, wähle Sie alle beide. Ist es Ihnen recht? Wenn Sofia nicht kommen kann, wird Giuditta es thun; und wenn einmal eine von Ihnen anders beschäftigt oder es ihr zu langweilig ist, dem invaliden Künstler vorzulesen oder vorzuspielen – dann mag sie stets ihre Schwester schicken. Wollen Sie das?«

»O gewiß!« sagte Giuditta.

»Es ist mir so lieb! und thun Sie mir den Gefallen, dem Papa zu sagen, daß der alte Bondi den Salvi kennt und sehr schätzt.«

»Dank!« antwortete Sofia mit einem leichten Zittern der Stimme aus innerer Befriedigung, was dem Blinden nicht entging.

Giuditta suchte im Spiegel gegenüber zu erspähen, ob der junge Mann wirklich so gleichgültig sei, wie er scheinen wollte.

Als die Schwestern sich entfernt hatten, blieb in Tito der Eindruck des kalten Grußes zurück, mit welchem Giuditta sich im Vorzimmer verabschiedet hatte, ihn achtlos kaum eines Blickes würdigend. Sofia hingegen hatte ein gutmütiges Lächeln für ihn gehabt, wobei sie gleiche und weiße Zähnchen zeigte, sie hatte ihn mit Augen angeblickt, nicht so feurig, wie die Giudittas, aber groß, klug und sinnig.

Eigentlich hatte er auf Sofia wenig geachtet, aber dennoch erinnerte er sich dieser Augen und dieses Lächelns, als der Blinde ihn fragte: »Nun? Was dünkt dich? Sie sind schön, nicht wahr?«

Und da die Antwort nicht sogleich erfolgte, trat ein Lächeln schelmischer Befriedigung auf Mattias Lippen.

»Willst du wissen, was ich über diese Mädchen denke?«

»Ja; laß hören, welche Vorstellung du dir von ihnen gebildet hast; ich, die Wahrheit zu sagen, habe noch nicht Zeit dazu gehabt. Beginnen wir mit Giuditta.«

»Giuditta ist schön oder glaubt es wenigstens zu sein.«

»Es ist wahr. Sie ist sehr hübsch, aber sie hält sich für wunderschön.«

»Sie ist mager – ziemlich groß, nicht? – Sie muß kleine Augen haben, die sie den Leuten ins Gesicht bohrt; und vielleicht ist sie nicht einmal lustig, wie sie sich rühmt.«

»Du hast nicht ganz unrecht,« stimmte Tito bei; aber in diesem Porträt von sehr subjektiver Auffassung forderten die wundervollen Augen Gerechtigkeit, und der junge Künstler hielt sich für gewissenhaft, indem er berichtigte: »Nur daß Giudittas Augen nicht klein sind.«

»Sie sind jedoch nicht so schön wie die Sofias ... ist das wahr?«

»Vielleicht; aber sie strahlen von Licht.«

»Sofia,« fuhr der vom Erfolg ermutigte Blinde fort, »ist kleiner, bescheidener, ernsteren Sinnes, achtsamer. Sie muß eins von den guten Kindern sein, die, während sie sich stets verbergen, jeden Tag eine neue Tugend enthüllen. Scheint dir's nicht so?«

Tito dachte darüber nach.

»Es kann wohl sein; aber ich habe sie nicht recht beobachtet.«

»Ein Zeichen, daß sie häßlich ist,« sagte Mattia; »und das thut mir leid.«

Nun bereute Tito seine Aufrichtigkeit und versicherte dem Vater, Sofia sei vielmehr ebenso schön wie Giuditta, aber ihre Schönheit sei nicht von der Art, welche augenblicklichen Eindruck macht.

*

Am folgenden Tage nach dem Mittagessen kam Sofia und spielte dem alten Herrn zwei Stunden lang Cimarosa vor. Diese heitere Musik goß Wogen von Licht in den trüben Sinn des Blinden, der bei dem Schluß jedes Stückes »bravo!« rief und in die Hände klatschte.

»Bravissimo!« sprach er endlich; »und sagen Sie mir, Signorina, klingt Ihnen nicht durch die Heiterkeit Cimarosas ein klagender Ton?«

»Alle Musik klagt,« antwortete das junge Mädchen einfach.

»Wohl möglich,« fuhr Mattia fort, nachdem er einen Augenblick über diese Worte nachgesonnen hatte; »wenn das Herz zur Schwermut vorbereitet ist, hat die Musik etwas Thränenvolles; aber ich möchte gern hören, daß meine kleine Freundin nicht zur Traurigkeit neigt.«

»Ich bin nicht sehr fröhlich, aber auch durchaus nicht traurig,« versicherte Sofia schüchtern; »ich sprach nicht von mir; ich meinte, daß die Musik nur denen heiter scheinen kann, die leichten Sinnes sind; allerdings sagt uns eine gewisse Art Musik gar nichts, aber das ist keine Musik, nur Geräusch.«

Sie sprach fließend und mit harmonischer Stimme, aber sie errötete dabei, als könne der Blinde in den ihr entschlüpften Aeußerungen vielleicht eine Affektation finden, welche sie nicht hineingelegt hatte.

Der Blinde dachte im Gegenteil: Dies schöne junge Wesen ist voll Empfindung; schade, daß Tito nicht hier geblieben ist.

Tito war nicht geblieben, weil ihm gewiß schien, daß Giuditta kommen würde, und er gar nicht ungern die Eitelkeit der Kokette demütigen, aber auch zugleich sich ihrem Zauber entziehen wollte. Denn ach! – als Tito in seinem Gehirn nachforschte, hatte er erkannt, daß eine und dieselbe Zelle eine gleich mächtige Liebe für die Kunst und für die Schönheit nähre. Als ihm nun der Blinde Sofias Kommen mitteilte und von der Schönheit, der Anmut und Güte der jungen Dame sprach, sagte sich Tito: »Ich konnte mir's denken; Giuditta wird morgen erscheinen, aber Holofernes wird seinen Kopf wahren, indem er sich nicht zu Hause finden läßt.«

Er sagte das halb als Scherz, halb als Wahrheit; denn zuweilen geneigt, sich selbst zu verspotten, übertrieb er die erotische Schwäche seines Temperamentes.

Aber tags darauf kam wieder Sofia, und nun wußte der junge Mann nicht mehr, was er denken solle. Er beschloß, unwandelbar daheim zu bleiben.

Die Schöne stellte sich auch andern Tags nicht ein, und als Tito Sofia, zaghaft grüßend, in der Thür zögern sah, empfand er instinktmäßig einen kleinen Groll, über den er sich später klar zu machen gedachte. Er war höflich gegen die unscheinbare junge Person, die sich zu entschuldigen schien, daß sie nicht, wie Giuditta, schön sei.

»Ich bin es immer wieder,« sprach sie lächelnd; »meine Schwester konnte nicht kommen.«

Der Blinde verhehlte seine Befriedigung nicht und erwiderte: »Sie sind stets willkommen, Signorina; zwischen uns besteht schon Freundschaft; später werde ich sie auch mit Ihrer Schwester schließen; aber es ist mir lieb, daß sie heute verhindert ist. So wird mein Sohn hören, wie Sie unsre alte Musik spielen.«

Damit wendete er den Kopf gegen Tito, als wollte er leise hinzufügen: Sieh dir dies Mädchen recht an; ist sie nicht wirklich schön? Beachte ihren Blick, ihr Lächeln; mit welcher sanften Stimme und mit welcher angenehmen Art sie spricht. Wenn ich fertig bin, so thu mir den Gefallen und sage auch du ihr ein freundliches Wort.

Tito verstand das alles und zögerte nicht im geringsten, dieses unschöne junge Wesen zufrieden zu stellen, das ihn um nachsichtiges Mitleid bat aus einem Paar ausdrucksvoller guter Augen, mit einem blassen Gesichtchen und einem zu großen Munde.

Er that noch mehr. Da er wußte, daß er keine Gefahr lief, blieb er ihr zur Seite, während sie die Finger über die Tasten gleiten ließ, wie um das Instrument zu wecken. Und als sie nach einigen staunenswerten Läufen, Arpeggien und Oktaven die Ouverture zum »Barbier« ankündigte, setzte sich Tito furchtlos so, daß er sie ansehen konnte. Gefahr war in der That keine. Trotz seines leicht entzündbaren Temperamentes hätte er sein lebenlang diesem Mädchen gegenübersitzen dürfen, ohne sich die Phantasie zu erregen. Der erste Gedanke, welcher ihm kam, war, sich zu fragen, wie es doch zugeht, daß eine verfehlte Linie in einem weiblichen Gesicht die ganze Empfindungsreihe ändern kann, welche es einzuflößen vermag. Indem er Sofia recht betrachtete, während sie mit gesenktem Kopfe spielte, bemerkte Tito, daß das bleiche Gesichtchen ein feines Oval hatte, daß ihre Stirn rein war, als hätten nie andre Gedanken denn die von Rossini erweckten darin Eingang gefunden; er beachtete die treuherzigen, von langen Wimpern verschleierten Augen, welche zuweilen zu den Noten aufblickten; er ward gewahr, daß sich im rundlichen Kinn ein Grübchen gebildet hatte. Und schließlich gab er zu, daß dies Köpfchen wohl noch den Kopf eines Jünglings entzünden könnte, welcher niemals wie er am lebendigen Feuer geglüht, wenn ein geschickter Pinsel die Nasenspitze feiner zu zeichnen, ein wenig von dem Munde zu verdecken im stande wäre.

Noch klangen die lauten Schlußtakte der »Barbier«-Ouverture, als der unversehrt gebliebene Tito das Geräusch durch Beifallklatschen vermehrte.

»Bravo! Bravo!« rief der Blinde, und zu seinem Sohne gewendet, setzte er hinzu: »Wie gefällt dir das?«

Tito, der mit voller Sicherheit in diese stillen Augen blicken durfte, that es so lange, daß es das junge Mädchen befangen machte.

»Sie lieben vorzugsweise solche Musik wie der ›Barbier‹, den Sie uns so reizend gespielt haben?«

Sofia war aufrichtig; auf die Gefahr, das Ideal des Blinden zu verletzen, sagte sie, daß sie mehr Geschmack an der neueren und empfindungsvolleren habe.

»Bellini also,« meinte Mattia sogleich, »oder auch Donizetti.«

»Ja, aber Bellini und Donizetti haben die menschliche Stimme singen lassen, sie bringen nicht das Klavier zum Sprechen, wie Beethoven, Chopin ...«

Und ohne sich bitten zu lassen, begann sie die Sonata appassionata, mit der sie den jungen Künstler entzückte und den alten Mann befriedigte. Als darauf das junge Mädchen, von ihrer eignen Stimmung hingerissen, den Totenmarsch von Chopin spielte, fühlte Mattia eine Thräne in seinen blinden Augen.

»Vergeben Sie,« sprach Sofia, da sie den alten Herrn so tief ergriffen sah, »vergeben Sie mir, ich glaubte nicht, Ihnen wehe zu thun.«

»Sie haben es auch nicht gethan, es freut mich sogar; die Augen dienen mir doch noch zu etwas, da ich weinen konnte.«

In diesen zwei Stunden hatte Sofia den Blinden ganz gewonnen, der sie auf die Stirn küßte.

»Das Wetter ist kalt, hüllen Sie sich gut ein, Signorina, stecken Sie die Hände in den Muff, denn bekämen Sie Frostbeulen, so könnten Sie nicht mehr spielen wie heute. Und sagen Sie – wo wohnen Sie? Wer begleitet Sie nach Hause?«

»Ich wohne wenige Schritte von hier und fürchte mich nicht vor den Leuten.«

»Wenn Sie sich auch nicht fürchten; es ist heute Sonntag, da sind immer Betrunkene auf den Straßen; wenn Sie mir's erlauben, so werde ich Sie begleiten,« sagte Tito.

»Vielen Dank, es ist nicht nötig, ich habe schon jemand, der mit mir geht.«

Sie errötete bei dem Gedanken, daß diese Worte mißverstanden werden könnten, und setzte eilig hinzu: »Mein Vetter ist da.« Auch das war nicht genug. Sie brachte das eine Wort: »Tonio« heraus. »Gute Nacht!« sprach sie dann und gab es auf, sich weiter zu rechtfertigen.

»Gute Nacht!« wiederholten Vater und Sohn.

Der alte Mann wartete, bis das Mädchen hinaus war, um zu sagen: »Sie hat einen Liebhaber! Aber das konnte man sich auch denken! Sie ist so schön!«

Tito äußerte kein Wort, und Mattia setzte für sich hinzu: »Schade!«

*

Tonio wartete wenigstens seit einer Stunde auf der Straße, die Hände in den Taschen, und schaute fragend dann und wann zum Himmel auf, der einen schönen dichten Schneefall versprach; auf der Schwelle des Bondischen Hauses stehend, stampfte er mit den Füßen, damit sie nicht erstarrten, oder er ging quer über die Straße, um sie in andrer Weise zu bewegen, verlor aber nie das Portal des Hauses aus den Augen.

Endlich erschien die Erwartete.

»Tonio! Da bin ich.«

»O, bist du es?« sprach der junge Mensch.

»Ja, ich bin's abermals.«

Sie hüllte sich in den Shawl, und Arm in Arm machten sie sich auf.

Ein Weilchen schwiegen beide. Sofia hielt den Muff vor den Mund, Tonio sann nach, wie er das Schweigen brechen könne.

»Giuditta konnte auch heute nicht kommen,« sagte das Mädchen. »Es thut mir leid.«

»Nein, es schadet nichts,« antwortete Tonio traurig. »Ja eigentlich, weißt du, ist's fast besser so; du bist so gut, zu dir kann ich reden, sie dagegen hört mich nicht an.«

»Was hast du mir Neues zu sagen?« fragte Sofia hinter dem Muff.

»Immer dasselbe; ich habe den ganzen Tag Unterricht gegeben, aber nicht einen Augenblick habe ich sie mir aus dem Sinn bringen können, immer hab' ich sie da in meinem armen Kopf gehabt, gleichgültig und schön – so schön und so gleichgültig!«

»Armer Tonio! Aber wer weiß, ob Giuditta so gleichgültig ist, wie du es dir denkst. Ein wenig lieb hat sie dich gewiß.«

»Das wohl!« versicherte der Lehrer, der sich gern diesem Glauben hingab. »Noch vorgestern sagte sie mir: ›Wenn du mir eine Lage bieten könntest, wie ich sie verlange, dann wäre mir nichts willkommener, als dir zu gehören, Tonio. Merke dir das,‹ gerade so hat sie gesagt, ›dann wäre mir nichts willkommener.‹« Aber sogleich in die alte Vertrauenslosigkeit zurückfallend, setzte er hinzu: »Gewiß, wenn ich ihr die gewünschte Lage bereiten könnte!«

Er sprach das tief traurig, aber ohne einen Schatten von Bitterkeit, als wäre es eine vom Himmel oder von der Hölle ausgemachte Sache.

»Weißt du, Sofia, was für eine Lage es ist, die deine Schwester befriedigen würde? Ich habe es sie so oft gefragt, und sie hat mir nie darauf geantwortet. Und doch, wenn sie mich nur ein bißchen liebte, wie glücklich könnten wir miteinander sein! Mit dem Zeichenunterricht den ganzen Tag über bringe ich mich durch, und wenn es die Notwendigkeit erforderte, würde ich eine Abendschule übernehmen und mich gern doppelt für sie abmühen. Und dann, hat sie nicht ihre Musik? Auch sie könnte Unterricht geben. Mir käme es so leicht vor, zu zweien glücklich zu sein. Meinst du nicht auch, Sofia?«

Die Frage war eine von denen, welche keine Antwort erwarten. Sie gingen stumm eine Strecke Wegs, dann begann Tonio wieder: »Ich werde mich doch entschließen müssen, nicht mehr daran zu denken, ihr zu sagen, daß sie ihr Glück anderswo suchen möge. Tonio wird sie nicht länger belästigen, ich versichere es dir. Gibt es doch auf der Welt so viele schöne Mädchen – und ein Mann ist so viel wert wie ein andrer.«

Sofia gestattete sich ein flüchtiges Lächeln, dann sprach sie ernsthaft: »Man muß das Glück nur zu erwarten verstehen, zuletzt kommt es immer; niemand ist dessen würdiger als du, armer Tonio!«

»Nein, bedaure mich nicht, ich will nicht der arme Tonio sein; unglücklich werde ich sein, aber stark. Du sollst es sehen; du kennst mich noch nicht, auch Giuditta weiß nicht, wie dies Herz beschaffen ist, das um sie gebettelt hat. Der Tag wird kommen, wo ich ihr entgegentreten und unerschüttert das Auge auf ihrer Schönheit ruhen lassen kann. Du wirst sehen.«

Er schwieg, damit diese Vorstellung Zeit gewinne, sich ganz in ihm auszubilden. So oft hatte er sich daran umsonst versucht, aber jetzt, wo er ihr Worte gegeben, erschien sie ihm als etwas leicht Ausführbares. Er sah sich ebenso gleichgültig wie er leidenschaftlich gewesen, ebenso sicher der eignen Kraft wie früher schwach in seiner Demütigung; er hörte schon den schwermütigen Ton der Worte, welche er sprechen würde; es waren ernste und männliche Worte, über die das schöne Geschöpf erstaunen sollte. Ohne jede Absicht, sich zu rächen, würde er vielleicht doch gerächt sein.

»Du sollst es sehen!« wiederholte er jetzt.

Die Vision dauerte fort. Nun sah Tonio Giuditta von Liebe zu ihm erfaßt und trauernd; sie sprach: »Tonio, ist es denn möglich, daß du mir nicht mehr gut bist?« und Tonio antwortete: »Mein Herz ist tot, was willst du mit einem Manne, der kein Herz mehr hat? Du bist jung und schön, gewinne einen andern lieb und du wirst glücklich sein.«

Sie waren jetzt dem von Papa Salvi bewohnten Hause gegenüber; an einem runden Fenster des fünften Stocks, über der Dachrinne, schimmerte ein Licht. Die Vision verschwand.

»Hinter ihrem Fenster ist Licht!« murmelte der junge Mann, »woran sie wohl denkt?«

»Leb wohl, Tonio,« sprach Sofia, indem sie den Muff vom Munde entfernte, »fasse Mut!«

»O ja, ja, aber sage du ihr ...«

»Was soll ich ihr sagen?« fragte Sofia, nachdem sie vergebens gewartet hatte.

»Nein, sag ihr nichts, es wird besser sein.«

Der Ausdruck strafte die Worte Lügen.

Sofia bückte sich, um durch das enge, niedrige Pförtchen zu gehen, welches sich in der geschlossenen Hausthür öffnete; sie wendete sich im Dunklen um und drückte dem Cousin die Hand.

»Mut!« wiederholte sie seufzend.

»Du wirst es sehen – du wirst sehen.«

Mehr sagte er nicht; das junge Mädchen verschwand.

Tonio ging über die Straße und blickte ein Weilchen hinauf nach dem unbeweglichen Lichte, das trübselig aus dem fünften Stockwerk niederschien; dann entfernte sich das Licht, und der Aermste dachte: »Nun ist Sofia da, nun spricht sie ihr von mir.«

Ein Schatten näherte sich dem Rundfenster, ein an die Scheibe gelegtes Gesicht schaute ins Finstere hinaus, es schien zu fragen: »Bist du dort, armer Tonio? Höre, wie dein Herz schlägt.«

Dann bewegten sich das Licht und der Schatten am Fenster abermals, sie verschwanden; das Herz des Liebenden unten in der Straße hämmerte immer noch.

»Kinder,« sprach der alte Salvi, als er sie aus ihrer Kammer eintreten sah, »das Abendessen ist bereit, und ihr sollt mir sagen, was ihr zu diesem Kohlgerichte meint.«

Giuditta beeilte sich, einen Blick in das dampfende Gefäß zu werfen, und da sie nichts als Dampf sah, fragte sie: »Was ist denn darin?«

»Kohl ist darin,« antwortete er lachend, »aber wirklich! Es sind auch viele Speckscheiben dabei und das bißchen vom Mittagessen übrig gebliebene Rindfleisch. Ich bin neugierig, wie es euch schmeckt.«

Sofia legte eilig vor, und Giuditta konnte den Papa mit dem Ausruf zufriedenstellen: »Schön! Wunderschön, aber siedend heiß!«

»Und du, Sofia, was sagst du?«

Sofia hatte dem Papa seine große Portion aufgefüllt und nahm sich jetzt die ihrige.

»Sehr gut!« sprach sie und bezeigte ihren Beifall durch Kopfnicken und Lächeln.

»Nun denn, guten Appetit!« wünschte der Alte, stolz auf seine Rolle als Koch.

Um nicht stumm zu speisen, schob der alte Salvi, der an diesem Tage guter Laune war, ab und zu Ausrufungen ein, die seinen Abkömmlingen, sich selbst und den Unsichtbaren die von jedem Löffelvoll hervorgebrachte gute Wirkung kund thun sollten.

»Dieser nahm den Weg gerade hinunter, weil er wußte, wohin er zu gehen hatte – dieser hat ein leeres Winkelchen ausgefüllt – dieser brachte einen hungrigen Nerv zum Schweigen, der sich zu laut meldete – dieser ...«

Die Mädchen lachten, um den Papa zu ermutigen, der nun eine Rätselfrage aufgab.

»Sagt 'mal: worin gleichen wir drei den Taschenspielern?«

Die Mädchen sahen sich mit erheuchelter Ratlosigkeit an.

»Nur in diesem Augenblick, oder immer?« fragte Sofia.

»In diesem Augenblick,« antwortete mit vollem Munde der Papa.

Sie sannen nach.

Giuditta sagte: »Das ist zu leicht: weil wir den Kohl verschwinden lassen.«

Papa Salvi lächelte schalkhaft.

»Du hast es beinahe getroffen.«

Und Sofia setzte hinzu: »Ihn verschwinden lassen, indem wir wie die Taschenspieler zuvor darüber hinblasen – weil er so heiß ist.«

»Und das Kunststück ist fertig. Bravo, Sofia.«

Der Alte lachte laut und lächelte dann immer noch still vor sich hin.

Als die Töchter den Papa so guter Laune sahen, waren sie gewiß, daß er heute mit seiner Malerei zufrieden gewesen. Aber noch nie hatte sich's ereignet, daß, nachdem man die Suppe, den Kohl oder den Risotto hinweggezaubert, irgend eine andre Leckerei zum Vorschein gekommen wäre. Auf dieses Taschenspielerstückchen verstand sich Papa Salvi bisher noch nicht. Heute hingegen knöpfte er das Jackett auf und zog mit vieler Schelmerei aus der inneren Tasche ein rotes Päckchen, welches er auf den Tisch legte. Die Mädchen bückten sich mehr als nötig nieder, um das Phänomen zu betrachten, und Sofia streckte, als könne sie der Neugier nicht länger widerstehen, einen Finger aus, um es zu berühren; von ihrem Beispiel ermutigt, that Giuditta das Gleiche. Sie hatten gerochen, daß es sich um Gorgonzolakäse handelte, warteten aber standhaft ab, daß der Papa die Sache in dem angeschlagenen Tone lustigen Humors zu Ende führe.

Papa Salvis Scherz bestand darin, daß er das rote Papier langsam abwickelte, worauf ein andres, blaues zum Vorschein kam, dann wieder ein rotes und abermals ein blaues, bis nach vielem Gelächter Sofia und Giuditta einstimmig erklärten, sie hätten es durchschaut, und in all diesen Hüllen stecke gar nichts! Nun entkleidete der Vater den Käse schnell seiner beiden letzten Gewänder und ganz nackt und ganz grün erschien dieser auf dem Tische.

»Wie ist dir's nur heute eingefallen, den Gorgonzolakäse mitzubringen?« forschte Giuditta.

Papa Salvi antwortete nicht, schwang aber mit geheimnisvoller Miene das Messer und zerlegte den Käse in vier Stücke, jeder Tochter reichte er eins dar, eins behielt er für sich und das letzte ließ er als gläubiger Spiritist auf dem Tische liegen, für die Unsichtbaren. Dieser letzte Anteil war der kleinste, denn nach der Doktrin des Malers Salvi sind die Unsichtbaren zwar lüstern und wollen von allem genießen, begnügen sich aber mit wenigem.

Endlich sprach er: »Ihr sollt euch nicht den Kopf zerbrechen, Nero hat mir drei Nummern angegeben, ich habe darauf gesetzt und habe gewonnen.«

»Wieviel?« fragten beide Mädchen zugleich.

»Wenig – dreißig Lire – aber sie kommen mir gelegen.«

»Die Unsichtbaren könnten freigebiger sein,« bemerkte Giuditta; »dafür daß er römischer Kaiser gewesen, ist Nero nicht großartig.«

»Wir müssen zufrieden sein, Giuditta; Nero thut das Wenige, was ihm im Jenseits zugestanden wird, wo es weder Kaiser noch Unterthanen gibt, sondern nur obere und untere Geister, die nichts Böses zufügen können.«

»Zum Glück!« fiel Giuditta ein, »sonst wäre Nero im stande, sich der Bravourstücke zu erinnern, die er auf Erden vollführte, zum Beispiel als er ...«

»Still doch!« mahnte Sofia.

In dem Augenblick vernahm man einen plötzlichen Schlag auf dem Büffett; die drei Tischgenossen sahen sich schweigend an. Dann fuhr Papa Salvi mit tiefer Stimme fort, die Augen auf den Punkt gerichtet, wo der Zorn der Unsichtbaren sich geoffenbart hatte: »Nero, wenn anders unser Freund diesen verhaßten Namen nicht etwa angenommen hat, um sich zu demütigen, Nero ist umgewandelt. Wird es ihm vergönnt, noch einmal in Körpergestalt zu erscheinen, so gibt er gewiß Beweise seiner Reue; inzwischen hat er sich Papa Salvi und euch beiden stets gütig gezeigt und wir sind ihm von ganzem Herzen dankbar.«

Der alte Künstler sprach mit honigsüßer Stimme nach dem Büffett hin, um Neros Geist wieder zu versöhnen, und als er geendet, wartete er noch einen Augenblick, um gewiß zu sein, daß er ihn beschwichtigt habe; dann sprach er in veränderter Weise und ärgerlichem Tone zu Giuditta: »Von dir kann man nun einmal kein nachsichtiges Wort erlangen, die Signorina ist immer bereit zu verdammen; bitte den Himmel, daß du nie nötig haben mögest, bemitleidet und freigesprochen zu werden.«

Giuditta ließ sich nicht aus der Fassung bringen, streckte aber den einen Arm nach ihrem Vater aus; sie hatte eine zarte Hand, neben welcher die zweifelhafte Weiße des Tischtuches einen wenig vorteilhaften Eindruck machte, und ohne im geringsten mit dem Körper näher zu rücken, bewegte sie die Finger auf dem Tische, damit der Alte sich von ihnen streicheln lasse.

Der Papa widerstand noch ein Weilchen; diese Strenge im Beurteilen der Menschen, meinte er, müsse denn doch von irgend einer andern Tugend (er sagte nicht von welcher), von irgend etwas anderm (er nannte es nicht einmal mehr Tugend), kurz, von – etwas – begleitet sein.

»Du Lieber!« sprach Giuditta. »Siehst du, ich wurde ungeduldig! Also hätten wir es wirklich jenem Geiste zu danken, daß uns eine Ambe zugefallen ist?«

»Und wem anders wolltest du Dank sagen?« fragte der Alte.

»Ich weiß nicht recht; mich dünkt, ich würde dem gleichgültigen Zufall danken.«

»Wenn du noch sagtest: der Vorsehung,« unterbrach Sofia sie.

»Für dich ist alles Vorsehung. Erkrankt ein Familienvater, so ist die Krankheit ein Werk der Vorsehung, damit die Kinder den Hunger kennen lernen. Und wenn der Vater stirbt, läßt dann wenigstens die Vorsehung ihn begraben, oder thut es die Gesellschaft?«

»Die Gesellschaft gehorcht der Vorsehung,« sagte Sofia.

»Und um ihr zu gehorchen, läßt sie die Waisen nach Brot schreien, nicht wahr?«

»Die Absichten des Unsichtbaren sind unerforschlich,« versicherte der alte Maler mit feierlicher Stimme.

Aber Giuditta schenkte ihm kein Gehör; das hübsche Mündchen hatte noch ein paar Worte zu sagen und sagte sie: »Nun ja, mit dem Geheimnis bringt ihr alles in Richtigkeit; alles Thörichte und Brutale hat der blinde und taube Zufall gethan, nicht wahr? Und wenn er es euch einmal zu Dank macht, dann meint ihr, daß er sieht und hört, und er wird zur Vorsehung.«

Papa Salvi suchte nach einer neuen Phrase, welche dies ganze arge Raisonnement über den Haufen werfen könnte, und da er sie nicht fand, wiederholte er eine, deren er sich schon oft vergebens bedient hatte: »Die Pläne des Unsichtbaren sind unerforschlich.« Dabei heftete er den Blick auf das Büffett von Fichtenholz, als fordere er Nero auf, sich ins Mittel zu legen.

Giuditta, welche des Vaters Absicht erraten hatte, hörte schweigend zu, winkte sogar der Schwester, still zu sein, und als es schien, daß das Büffett dem Alten nicht willfahren wollte, sprach sie lachend: »Nero hat anderwärts zu thun.«

Aber in dem Augenblicke knackte das Büffett laut; Papa Salvi und Sofia sahen sich mit einem flüchtigen Blick an, Giuditta schüttelte den Kopf und fuhr fort zu lachen.

Als sie wieder ernsthaft geworden, begann das hübsche Mädchen: »Laßt uns einmal sehen, wie wir diese dreißig Lire verwenden können.«

»Wir wollen sehen,« sprach Papa Salvi.

»Legen wir sie beiseite,« schlug Sofia vor, »es wird nicht an Gelegenheiten fehlen, sie zu brauchen.«

»O, allerdings. Die Gelegenheiten werden nie fehlen, es wird sogar immer mehrere geben, die sich darbieten, ohne daß wir ihnen Beachtung schenken. Im vorigen Monat zum Beispiel ging die Herbstmode zu Ende, ging auch unser Strohhut zu Ende, der durch ein Wunder bis zum Schluß des Sommers das Leben gefristet hatte, weil er schwarz war. Hätte der Hut sprechen können, so würde er damals gesagt haben, einen bessern Zeitpunkt, um ihn für den Winter in den Kleiderschrank zu verbannen, könne es nicht geben. Mir sagt er es schweigend, so oft ich ihn aufsetze, aber wer hört auf ihn?«

»Auch mir,« sprach Sofia, »flüstert er dergleichen zu; aber hier heißt es mit Recht: Wer möchte auf ihn hören? Ich gewiß nicht und auch du nicht, Giuditta, denn wir bedenken, daß der Papa so manches braucht.«

»Ich brauche gar nichts,« brummte der Alte.

»Ja, du brauchst einen weniger fettigen Hut, und in kurzem werden dir ein Paar gute Schuhe nötig sein, denn die, welche du trägst, lassen nächstens die Sohlen auf dem Pflaster. Hingegen unser Hut, mit einer neuen Feder und einem Stückchen Samt besteckt, wird keinem sagen, daß er von Stroh ist; er kann noch warten – nicht wahr, Giuditta?«

»Ja, es ist wahr, er kann uns noch ein Weilchen länger ärgern,« seufzte das Mädchen.

Papa Salvi hatte den Kopf auf die Brust gesenkt, um ein schelmisches Lächeln zu verbergen, aber die Töchter bemerkten es und Giuditta rief plötzlich händeklatschend aus: »Sage die Wahrheit, Papa, du hast eine Terne gewonnen!«

»Jesus Maria! Was kommt dir in den Sinn?« sprach schnell der Alte. »Ums Himmels willen, glaube das nicht einen Augenblick! Eine Terne! Aber wenn ich eine Terne gewonnen hätte, wißt ihr, was ich dann thäte? – Ihr könnt es euch nicht einmal denken. – Ich würde – so vieles thun. Aber wenn es das nicht ist, so ist's vielleicht etwas noch Bessres: ich habe ein Bild verkauft!«

»Ein Bild!« sagten beide Töchter zugleich.

»Das heißt eine Malerei – die erst eingerahmt werden soll. Ich habe die neapolitanische Landschaft verkauft – die mit dem Vesuv.«

»Du hast sie fertig gemacht?« fragte Giuditta.

»Es gibt keine fertigen Gemälde für einen Künstler,« erwiderte der Alte sententiös. »Ein französischer Herr hat von meinen Klecksereien gehört und wollte mein Atelier sehen. ›Ich habe kein Atelier,‹ sagte ich. ›Eine Staffelei in meiner Schlafstube, viele angefangene Gemälde, kein einziges vollendetes.‹ ›Wenn auch, ich möchte das alles sehen,‹ sagte er. Heute vormittag kam er und sah die ›Neapolitanische Campagna‹; sie gefiel ihm, und er hat sie genommen, wie sie da war, er wollte nicht einmal, daß ich die Tauben hineinmalte, die auffliegen müßten vor dem Jungen, welcher sie von dem Kornhaufen scheucht.«

»Welcher Junge?« fragte Sofia. »Ich erinnere mich seiner nicht.«

»Du erinnerst dich des halbnackten Buben nicht, der mir so viel Mühe gemacht hat?«

»Ach ja, den du erst auf einen Esel gesetzt hattest und dann in einen Pinienwipfel und endlich in die Tenne. Ja, jetzt besinne ich mich, er gefiel mir auf dem Esel so gut.«

»Auch mir gefiel er, aber mir kam in den Sinn, daß er sich noch besser nackt, wie ein kleiner Wilder von Erz, unter der neapolitanischen Sonne ausnehmen würde – und in der That macht er sich besser so, aber es hätte noch einiger Pinselstriche bedurft, um ihn verständlicher zu machen. Schade, daß der Franzose nichts davon wissen wollte.«

Papa Salvi hatte in seinem Künstlerleben vergeblich so viele Erfahrungen gemacht und hatte die sichere Zuversicht, er würde diesmal erreichen, was ihm noch nie gelungen war, nämlich ein angefangenes Bild von neuem auf die Staffelei zu setzen, ohne etwas ganz andres daraus zu machen, das später einmal vollendet werden sollte.

»Ich will es euch zeigen,« sprach er, von seiner krankhaften Regung erfaßt.

Der Schreck blitzte in den Augen beider Töchter auf, und kaum war der Papa in sein Zimmer gegangen, so sagte Giuditta zur Schwester: »Man muß ihn hindern, sein Gemälde wieder zu verderben, das ist deine Aufgabe.«

Sofia wußte nichts zu entgegnen; als der alte Salvi mit dem Bilde in der Hand zurückkam, waren beide in Verzweiflung.

»Es hilft nichts, je mehr ich es anblicke, desto klarer sehe ich die Notwendigkeit, ein wenig Licht auf das Getreide fallen zu lassen, auch würden einige Schattenstriche die Gestalt besser hervorheben – drei oder vier weiße Tüpfel genügten, um Tauben vor dem Jungen auffliegen zu lassen. Meinst du nicht auch, Sofia?«

Diese unmittelbare Herausforderung erweckte den Instinkt der Schlauheit in dem armen Mädchen, und nachdem sie das Gemälde schweigend betrachtet hatte, sprach sie wie zu sich selbst: »Ja, mir scheint es so. Dieser Arm des Knaben würde durch vertieften Schatten mehr heraustreten, durch ein paar gelbe und weiße Striche würde das Korn goldig glänzen. Aber das alles ist unausführbar, nun die Sache einmal abgemacht ist,« setzte sie mit Festigkeit hinzu.

»Weshalb unausführbar? Wenn ich mein Werk verbessern kann, wenn ich deswegen noch ein wenig länger daran arbeiten muß, was schadet das?«

»Du weißt nicht, ob es dem Käufer recht ist. Es gibt wunderliche Leute, welche die Kunst nur in den Mängeln bewundern. Das weißt du! Wenn du nun verbessertest, was dir mangelhaft scheint, und dabei vielleicht entferntest, was dem französischen Käufer als ein Vorzug gilt ...«

»Du hast recht,« erwiderte lachend der Alte. Er dachte noch ein Weilchen schweigend darüber nach und setzte dann hinzu: »Und dann habe ich auch versprochen, es ihm heute abend im Hotel Manin zuzustellen; ich werde es selbst hintragen. Helft mir die Versuchung aus den Augen bringen.«

Ah, endlich konnten sie aufatmen.

Im Nu hatten die beiden Mädchen die Leinwand in einem mächtigen Papierumschlag verborgen und diesen durch eine umgeschlungene Schnur gesichert, worauf Giuditta fragte: »Wieviel?«

»Nicht sehr viel, aber es gibt ein Hütchen für dich und eins für deine Schwester, für mich ein Paar neue Schuhe und einen neuen Hut, wenn es euch denn wirklich nötig scheint.«

»Mehr als nötig!«

»Und dann noch etwas andres; aber da man sparsam sein muß ...«

»Wieviel?« wiederholte Giuditta.

»Willst du es durchaus wissen: hundert Lire!«

Es schien ein nettes Sümmchen, wirklich sehr nett, aber keines der Mädchen sagte das, weil es jetzt Papa Salvis Sache war, eine resignierte Zufriedenheit zu äußern.

»Freilich, hundert Lire sind nicht viel,« sprach er, »wenn wir bedenken, aus welchen Goldflüssen die moderne Malerei schöpft; übrigens ist es auch meine Schuld; könnte ich mir selbst nur Genüge thun, das Publikum wäre mit weniger als nichts zufriedengestellt. Aber ich treibe Kunst und nicht ein Handwerk. Dies angefangene Bild ist wenigstens tausend Lire wert, ich könnte es in ein paar Stunden fertig machen und auch noch einen höheren Preis dafür fordern – wie es gewisse Leute thun, die ich kenne; aber dann würde es vielleicht nicht einmal mehr hundert Lire wert sein, und ich käme mir vor, als beginge ich einen Raub im eignen Hause.« Hier bekam Papa Salvi einen rhetorischen Anfall, und indem er sich stolz vor seinen beiden Töchtern aufrichtete, als stünden sie absichtlich da, um die Marionettenwelt, die gefoppte und foppende Welt darzustellen, während die armen Kinder ganz andre Dinge im Kopfe hatten, setzte er mit erhabenem Tone hinzu: »Ich werde nie zu den von der Kunst Unterhaltenen gehören, lieber mag ich ihrer Göttlichkeit meinen Obolus darbringen, auf meinen Knieen, anbetend und duldend.«

Gewöhnlich, wenn er eine jener Phrasen vom Stapel gelassen hatte, mit denen er seine Armut versüßte, wiederholte sie sich der im Grunde naive alte Künstler leise, um sie erst noch zu bewundern, und zuweilen war er dann der erste, welcher darüber in seinen grau gesprenkelten Bart hineinlächelte.

An jenem Abend, in so guter Laune, belachte er sich sofort und forderte die Mädchen auf, es ihm nachzuthun.

»›Der göttlichen Kunst auf meinen Knieen den Obolus darbringen‹ – gefällt dir das, Sofia, und auch dir, Giuditta?«

Gewiß hatten beide die Phrase sehr schön gefunden, aber sowohl Sofia wie Giuditta drückten ihre Befriedigung nur durch ein Lächeln aus.

Jedoch kaum hatte Papa Salvi sich mit dem Gemälde entfernt, um es im Hotel Manin abzuliefern, so sprach Giuditta mit Bitterkeit: »Ich muß wirklich über ihn lachen; ach, wie reizte es mich, ihm meine Meinung zu sagen. Ich wette, daß dir dasselbe eingefallen ist.«

»Mir ist gar nichts eingefallen.«

»Ich dagegen mußte an die Fabel vom Fuchs und den Weintrauben denken. ›Die von der Kunst Unterhaltenen!‹ Als ob das Geheimnis, in der Welt durchzukommen, nicht darin bestünde, von irgend jemand unterhalten zu werden!«

»O Giuditta!«

»Denke nichts Uebles von mir. Ich will nur sagen, wenn ein Mann oder ein Frauenzimmer irgend ein Kapital besitzt, Genie wie der Papa, oder Schönheit wie – wir, so ist es ihre Schuld, wenn sie nicht zu Reichtum gelangen. Neulich sprach uns der Professor von der Mechanik des Universums, er sagte, es sei etwas sehr Erhabenes, das wenige auffaßten. Ich habe es in meiner Weise aufgefaßt. Die himmlische Mechanik hat mehr als das Nötige gethan, um uns Frauen vorwärts zu bringen, wenn sie uns eine treibende Kraft mitgegeben hat, nämlich ein wenig Schönheit.«

»O Giuditta!« wiederholte Sofia.

»Du begreifst auch gar nichts!« sprach die Schöne ärgerlich. »Nun wohl, ja, ich habe gesagt ›unterhalten‹, ist dies das Wort, woran du Anstoß nimmst? Aber beruhige dich, ich will mich von einem reichen Manne unterhalten lassen, der mir nie mehr entschlüpfen kann – von meinem Gatten. Sei unbesorgt, ich bin sehr schlau, ich werde höchst tugendhaft sein.«

Sofia schüttelte den Kopf. »Ich meinte, die Schönheit sei dir verliehen, damit du geliebt werdest.«

»Gewiß! Eben dazu ...«

»Ja, aber nicht dazu allein, auch um zu lieben.«

Giuditta schüttelte den Kopf.

Sofia fuhr fort: »Wozu nutzt es dir, geliebt zu sein, wenn dein Herz nicht dadurch befriedigt wird?«

»Mein Herz begnügt sich mit wenigem, und wenn ich will, so wird es sich mit nichts begnügen. Du hingegen, habe acht, was du thust, wenn du dich verpflichtet hältst, jeden zu lieben, der dir schöne Schmeichelworte sagt.«

»Mir sagt niemand Schmeichelworte, denn ich bin nicht schön.«

»O doch, du bist auch ganz hübsch,« versicherte Giuditta nachsichtig, »du müßtest nur nicht die Augen mehr als nötig zu Boden schlagen und nicht immer so aussehen, als wolltest du zu den jungen Leuten sagen: Blickt mich nicht an, es ist nicht der Blühe wert.«

In dem guten Gesicht des jungen Mädchens blitzte die befriedigte Eitelkeit auf, aber sie erlosch gleich wieder.

»Du fragst mich nicht nach Tonio!« sagte sie, um das Gefühl abzulenken, welches Eingang bei ihr suchte.

»Richtig! Geht es Tonio gut? Armer Tonio, er will sich nicht überzeugen, daß es verlorene Zeit für ihn ist, für mich zu schwärmen.«

»Aber du, was hast du gethan, um seiner Leidenschaft die Nahrung zu entziehen? Hast du ihm gesagt, daß er dir nicht gefällt, daß du nie die Seinige sein willst?«

»Das wäre nicht die Wahrheit gewesen und hätte ihn nicht erfreut. Tonio ist ein hübscher junger Mensch – ich habe ihm gesagt, daß, wenn er eine Stellung hätte, die meine Neigungen befriedigt, ich nichts dagegen einwendete, seine Frau zu werden. Und da er diese Stellung schwerlich jemals haben wird ...«

»Du müßtest ihm aber klarer machen, wie du das meinst, sonst glaubt der Aermste, daß es hinreicht, wenn er sich zu Tode arbeitet, sich die Augen zu Grunde richtet in der abendlichen Zeichenschule, um dich endlich zu erlangen.«

»Es ist wahr. Ich werde es ihm morgen sagen. Ich werde morgen deinem Blinden Musik machen, vermutlich erwartet er mich – hat er dich nicht gefragt, warum ich noch nicht gekommen bin?«

»Nein,« antwortete Sofia, »wenn nur irgend jemand spielt, so ist er zufrieden.«

»Und der junge Mann?«

Diese Frage war schon ein ganzes Weilchen vorbereitet, und Sofia hatte sie mehr als einmal sich der Schwester auf die Lippen drängen sehen.

»Mit dem, scheint mir, ist nichts zu machen,« sprach sie lächelnd.

»Wer weiß? Hat er sich gar nicht neugierig gezeigt, zu erfahren, warum ich nicht gekommen bin? Hat er nichts gesagt?«

»Nichts, ganz und gar nichts.«

Als Giuditta zu Bette ging, dachte sie: Die arme Sofia ist in Tonio verliebt, es ist besser, daß ich ihn ihr überlasse. Wenn sie sich nur nicht auch für Tito zu erwärmen anfängt! Sie wäre es im stande. Die Liebe scheint wie dazu bestimmt, von den häßlichen Mädchen denen entgegengebracht zu werden, welche nichts davon wissen wollen.

*

Am folgenden Morgen wurde Papa Salvi von seinen Kindern gezwungen, mit ihnen in den Laden des Hutmachers gegenüber zu gehen, wo er die Wahl unter fünfzig äußerst engen Zylindern hatte, und da er schon hoffte, er werde keinen nach dem Maß seines beträchtlichen Kopfes finden, so ließ er die alte Bedeckung nicht aus den Augen, und einmal setzte er diese wieder auf, um sich im Spiegel zu sehen, wo er den Hut an den Rändern enthaart, an mehreren Stellen eingedrückt fand; er gab zu, daß sein Kopf vielleicht eine ungünstige Form habe – darin war er nicht aufrichtig – aber aufrichtig verzweifelte er daran, eine neue Kopfbedeckung zu finden.

»Es ist vergebens,« sagte er, als der Hutmacher mit zwei andern Hüten herankam. »Sie werden sehen, daß sie ebenso eng wie die übrigen sind.«

In der That war der eine noch zu eng.

Aber der Hutmacher lächelte wie ein Hutmacher, der gesunden Glauben besitzt, er zweifelte nicht im geringsten, daß sein Lager auch den umfangreichen Kopf des alten Künstlers werde bekleiden können; nur, damit Papa Salvi nicht die Geduld verliere, versicherte er ihm, daß wenige einen Kopf wie den seinen hätten.

»Die Menschen begnügen sich meist mit sehr wenig Kopf,« sagte er scherzend; »versuchen Sie diesen.«

Dieser endlich war so weit, daß er ihm bis auf die Nase fiel. Sofia und Giuditta, die dem schwierigen Unternehmen beiwohnten, lachten zusammen mit dem Papa und dem Hutmacher, und nach diesem Gelächter kehrte allen vieren das Vertrauen zurück; nur hätte Papa Salvi, als er seinen neuen »Deckel« hatte (er wollte ihm durchaus diesen Namen geben, der ihm drollig schien), gern nochmals den versucht, welcher ihm bis auf die Nase gefallen war, sagte es aber nicht.

Giuditta war die erste, welche dem Papa vorschlug, an dem Abend mit ihr zusammen zu den Bondi zu gehen.

»Wir sind ihnen doch einen Besuch schuldig, sie erwarten uns. Willst du?«

»Ja.«

Nie wäre es ihm in den Sinn gekommen, Mattia Bondi, dem berühmten Mattia Bondi, Angesicht zu Angesicht gegenüberzutreten, es sei denn, um ihm zu sagen, was er von dessen geleckter, von dessen philosophischer Malerei dachte und ganz besonders von seinem Glück; da er es nie gethan hatte, als der gefeierte Künstler gesund gewesen, fühlte er jetzt, wo jener blind war, ein Widerstreben, das er sich nicht recht erklären konnte. Wer weiß, der reiche und gefeierte alte Herr könnte ausrufen: »Auch Sie sind gekommen!« und als eine Huldigung für den Künstler ansehen, was schließlich nur eine gebotene Höflichkeit oder, um viel zu sagen, eine dem Unglück gezollte Ehrerbietung war. Allerdings hatte Papa Salvi seinen Stolz abgelegt, als er seine Töchter zur Unterhaltung für den Blinden vorschlug, aber damals hatte sich der unbemittelte Vater gedemütigt, nicht der Künstler; es dünkte ihn sogar, daß er durch diese Demütigung seiner selbst und seiner Töchter dem glücklichen Nebenbuhler mit Stolz sagte: »Siehst du, wohin die Liebe zur Kunst führt?« Und zuweilen schien es ihm, als ob in diesen Worten sein Fall so klar dargelegt sei, daß gar keine Mißdeutung Raum finden könne und daß Mattia, wenn er sein eignes Bewußtsein befragte, den Abstand sehen müsse, welcher ihn noch von dem wahren Ruhm trennte.

Diese Gedanken, diese Gespenster des Argwohns hatten sich in Papa Salvis mächtigem Kopfe jedesmal heftig bekämpft, wenn seine Töchter ihn zu bewegen suchten, zu dem blinden Herrn zu gehen.

Diesmal war Giuditta glücklicher, und der Papa sagte »ja«, bevor er es recht erwog. Auch bereute er es bei späterem Nachdenken nicht, sondern wunderte sich nur, daß er sofort zugesagt hatte. Die Töchter wunderten sich gleichfalls über diese Nachgiebigkeit, da sie sich nicht vorstellen konnten, daß eine neue Kopfbedeckung so viel Gewalt über einen harten alten Schädel habe.

Kurz, noch selbigen Tages stattete Papa Salvi dem alten Mattia einen Besuch ab. Er ging allein, denn er wollte nicht, daß eine seiner Töchter ihn begleite, so stark fühlte er sich in seinem neuen Hute (er sagte »in seiner Armut«). Salvi ging gemessenen Schrittes, und in das Atelier geführt, wo Tito, an dem Porträt seines Vaters malend, ihm den Rücken zukehrte, blieb er auf der Schwelle stehen.

Tito hatte kein Geräusch gehört und arbeitete an der Staffelei weiter; aber als der Blinde seinen schönen lichten Kopf Salvi zuwendete, war es, als ob er ihn fest ansähe.

»Störe ich?« fragte dieser möglichst unbefangen und hielt den neuen Hut wie einen Schild vor.

»Ganz und gar nicht,« antwortete Tito freudig und ging ihm entgegen, noch mit Palette, Malstock und Pinsel in der Hand. »Wie kommen wir zu der angenehmen Ueberraschung? Weißt du, wer da ist, Papa?«

»Es ist Primo Salvi.«

»Ja, ich bin's wirklich,« entgegnete Primo Salvi und drückte Tito die Hand, der, um den Gruß zu erwidern, seinen Pinsel mit den Zähnen erfaßt hatte. »Wirklich ich; verzeihen Sie mir, daß ich erst jetzt zu Ihnen komme, es wäre meine Pflicht gewesen, das früher zu thun.«

Während Mattia dem vom Geschick so zurückgesetzten Kollegen beide Hände darbot, sagte er: »Ja, ich habe Sie erwartet, aber sprechen Sie mir nicht von Pflicht, ich habe Sie erwartet, um Ihnen zu danken, um Ihnen zu sagen, daß ich mit meinen weißen Haaren mich verliebt habe. Und Ihr kleiner Schelm von Tochter ist's, die mir den Streich gespielt hat. Ich erriet gleich, daß Sie es sind, eben weil ich Sie erwartete, und auch weil seit einiger Zeit niemand mehr den blinden Künstler aufzusuchen kommt; niemand von denen, die sonst immer kamen, hingegen andre, die sich sonst nie einfanden, besuchen mich zuweilen, denn das Unglück hat wenigstens dies Gute, daß es auf der einen Seite gibt, was es auf der andern nimmt.«

Die Jahre und die Blindheit hatten Mattia mehr als nötig wortreich gemacht; denn weil er die Wirkung seiner Worte nicht auf dem Gesicht des Angeredeten las, begnügte er sich nicht, seine Ideen nur halb auszudrücken.

Ohne vieles Besinnen erwiderte Primo Salvi: »Es ist wahr, ich bin nie gekommen, eben weil so viele kamen.«

Aber kaum hatte er diese Worte ausgesprochen, so entdeckte er darin mit Erstaunen eine ganz andre Bedeutung, als er sich immer vorgestellt hatte; er wußte selbst nicht, ob er jetzt den blinden Künstler aus Großherzigkeit aufsuchte, oder weil all der kleinliche Neid, der kleine Groll, die ihm früher als erhabener Stolz erschienen, durch ein großes Unglück beschwichtigt waren. Das war eine Frage, welche er daheim, später lösen wollte, wenn es ihn gelüstete; aber einstweilen konnte er gewiß sein, daß nach Mattias Absicht dessen Worte einen harmlosen Sinn hatten und daß, wenn ein wenig Bitterkeit darin lag, sie sicherlich nicht für ihn bestimmt war.

»Vielleicht war ein wenig Stolz dabei,« bekannte Papa Salvi demütig. »Ich habe es immer gefürchtet, mit den Schmeichlern verwechselt zu werden. Ich würde aufrichtig gewesen sein, hätte gesagt, was ich dachte.«

Mattia lauschte ergeben, darauf vorbereitet, daß er eine kleine Impertinenz zu hören bekomme.

»Ich würde nicht immer mit den andern übereingestimmt haben, denn jeder hat seine eignen – Schwächen; – aber wenn ich Ihnen gesagt hätte, daß im wesentlichen – keiner Ihre Gemälde so sehr wie ich bewundert – dann würden Sie mich vielleicht mit all den andern zusammengeworfen haben.«

Von der Wendung geschmeichelt, welche diese Aeußerung in Papa Salvis Munde genommen hatte, ließ der Blinde ein Lächeln über seine Lippen schweifen, das sein glorreiches Haupt noch strahlender machte. Er antwortete langsam: »Das Lob im Munde eines Schmeichlers klang mir immer wie falsche Münze, mir gefiel die Aufrichtigkeit, wie mir auch jetzt Ihre Offenherzigkeit gefällt.«

Indem er so sprach, meinte er der Wahrheit treu zu sein, denn in der That war ihm dieser Freimut Salvis ganz recht. Auch Primo Salvi war damit zufrieden: er dachte, wenn man »Offenherzigkeit« sagt, so meint man noch nicht gerade »Ungezogenheit«, und was die Bewunderung betrifft ...

Er kam nicht dazu, seinen Gedanken auszudenken, denn der Blinde fuhr fort: »Aber Sie wissen nicht, wie oft ich mich mit Ihnen beschäftigt habe, seit Sie – erinnern Sie sich wohl? – in der Brera die Skizze einer ›Madonna, Schützerin gegen die Pest‹ ausstellten. Wissen Sie noch?«

»Ob! Ob!«

»Haben Sie die Madonna später ausgeführt?«

»Ich habe die Skizze vernichtet.«

»Schade! Ich erinnere mich, daß mir einige tiefgesenkte Wolken auffielen, die auf die Erde niederhingen wie die Geißel Gottes: seit der Zeit verlor ich Ihren Namen nicht aus dem Gesicht, und oft, sehr oft fühlte ich mich vor Ihren Gemälden festgehalten, die nie recht fertig waren, wenn ich nicht irre. Meinen Sie nicht auch?«

»Gewiß! Freilich!«

Papa Salvi mochte dies Lob, das ihm so glatt einging, nicht ablenken; aber bei einer andern Gelegenheit gedachte er kühn herauszusagen, daß für ihn jene Gemälde fertig waren, daß die wahren Künstler die Bilder anders sehen müssen als das große Publikum. Aber hätte er das gesagt, so wären sie wahrscheinlich in eine Erörterung geraten, und dann hätte der blinde Künstler keinen Balsam mehr in Papa Salvis so schmerzende Wunden gießen können. Er ließ ihn sein Werk der Barmherzigkeit vollenden, ohne ihn zu unterbrechen.

»Ja, Signor Salvi, ich wünschte immer, Sie kennen zu lernen, um Sie zu ermutigen; mir wäre das erlaubt gewesen, weil ich weit älter als Sie bin; ich hätte Ihnen gesagt, daß aus Ihren Entwürfen stets schon das Gemälde spricht. Und sagen Sie, ist es wahr, daß Sie niemals eins vollenden wollen?«

»Ja, es ist wahr,« gestand Papa Salvi: »vielleicht liebe ich die Kunst zu sehr, liebe sie so unendlich, daß ich mir nie Genüge thun kann; in meinem Gehirn habe ich so viele Bilder geschaffen, die mir schön scheinen, aber sobald ich sie voll Begeisterung auf die Leinwand gebracht habe, stehe ich ihnen unwillig gegenüber; dann vernichte ich sie, zuweilen mit dem Pinsel, zuweilen mit dem Bimsstein.«

Es war das erste Mal, daß Papa Salvi seinem Unrecht ins Gesicht sah, ohne sich gedemütigt, ja ohne sich reuig zu fühlen, denn während seiner Beichte hatte der mit so viel Ruhm bedeckte Blinde immer leise wiederholt: »Schade!«

»Schade!« sagte er nochmals.

Und Papa Salvi vollendete sein Bekenntnis: »So habe ich mein ganzes Leben verdorben.«

»Sprechen Sie nicht so ...«

»Verzeih, Papa,« sagte Tito von der Staffelei her, »wende den Kopf ein wenig – nach links – so. – Verzeihen auch Sie, Signor Salvi, daß ich weiter arbeite; die Zeit schwindet, und dieser Kopf muß zum Sylvestertag fertig sein.«

»Lassen Sie sich nicht hindern – des Papas Porträt, nicht wahr?«

»Ja; es ist ein äußerst schwieriger Kopf.«

Primo Salvi betrachtete den Blinden aufmerksam und gab Tito nach einiger Zeit recht, daß der Kopf Mattias schwierig sei.

»Was kann ich dafür?« sprach der Blinde.

»Ja, Ihr Kopf bietet große Schwierigkeiten,« bestätigte Papa Salvi; und einmal im Zuge, sich selbst zu verspotten, setzte er hinzu: »Mich dünkt, ich würde ihn wer weiß wie oft weggewischt haben.«

Man lachte diskret.

»Wollen Sie mich Ihre Arbeit sehen lassen?« fragte Salvi, und als er die Erlaubnis erhalten, stellte er sich vor die Staffelei, betrachtete Porträt und Original eine Weile und sprach: »Vortrefflich!« Nachdem er seinen Platz wieder eingenommen, setzte er hinzu: »Voller Licht! – Was sagte ich doch vorhin?«

Mattia wußte es nicht mehr.

»Wann?«

»Ich sagte, daß ich mit meinem Unbefriedigtsein, mit meiner übergroßen Liebe zur Kunst mein Leben verdorben habe – und mich dünkt, Sie wollten etwas erwidern.«

»Ach, sprechen Sie nicht so; Ihre Bilder werden von den Verständnisvollen bewundert; jeder Künstler weiß, daß ein Entwurf ein fertiges Gemälde aufwiegen kann; er weiß, daß häufig genug das fertige Gemälde der schlimmste Feind der Skizze ist – nur muß die Liebe zur Kunst mit ein wenig Demut zusammengehen; die Gemälde zu vollenden, ist eine Pflicht. Das Publikum will seinen Teil daran; und wieviel Schlimmes man ihm auch nachsagen mag, wenn die Kunst eine Mission ist, dann soll sie das Publikum nicht vergessen, das uns das – Brot, den Beifall, den Mut spendet – und sogar den Ruhm.«

Papa Salvi antwortete nicht. Er suchte in diesen ernsten, mit feierlicher Langsamkeit ausgesprochenen Worten einen ihm etwa entgangenen Sinn; und da er denselben nicht fand, schüttelte er den Kopf.

»Der Ruhm! Mit zwanzig Jahren habe auch ich ihm ins Auge gesehen; er schien mir zuzulächeln; aber jetzt habe ich gelernt, daß der Ruhm für die Malerkunst erst anfängt, wenn der Maler tot und begraben ist.«

Das Gesicht des Blinden verdüsterte sich; aber Primo Salvi suchte ihm wieder wohlzuthun: »Ich kenne jemand, der des wahren Ruhmes wert ist, aber er lebt noch und wird ihn vielleicht erst ernten, wenn er tot ist – der Himmel erhalte ihn! Vor Zeiten hatte dieser Mann seine Kämpfe zu bestehen; jetzt haben sie ihm Waffenstillstand gewährt, weil ihn Krankheit befallen hat. Hoffen wir, daß er genese und daß der Himmel seine Widersacher zu schanden mache.«

Ohne zu sprechen, reichte Mattia dem alten Salvi seine Hand, damit er sie drücke. Er hätte die Dinge in ihr wahres Licht zu stellen, wenigstens das Kriterium zu berichtigen vermocht, welches der Künstler sich irrtümlich vom Ruhm gebildet hatte, indem er Salvi mit Händen greifen ließe, daß ein Mensch unsterblich sein könne und dennoch sich's gefallen lasse, am Leben zu bleiben; aber er zog ein demütiges Schweigen vor.

Als Papa Salvi ankündigte, daß er lange genug Mattias Zeit in Anspruch genommen, bat dieser ihn, nicht so zu sprechen, er habe vielmehr ein Werk der Barmherzigkeit gethan, er möge es oft wiederholen.

»Und vergessen Sie nicht, mir heute nachmittag Fräulein Sofia zu schicken.«

Als Papa Salvi gemächlich nach Hause ging, sah er den Hutmacher in der Ladenthür stehen und konnte sich einbilden, daß in dem neuen Hute ein noch bedeutenderer, erneuerter Kopf stecke. Unterwegs dachte er ein wenig, aber nur ganz wenig, über alles nach, was er zum Trost des Blinden gesagt, über die frommen Lügen, welche ihm in den Mund gekommen waren, über die verdienstlichen Schmeicheleien, welche er dem verblendeten, aber aufrichtigen armen Greise gespendet hatte. Und um auch jeden Schatten von Reue zu verscheuchen, versicherte er seinen Töchtern gegenüber laut, daß es ihm sehr lieb sei, den berühmten Blinden besucht zu haben, der so gediegen, scharf und kritisch sei – in der Beurteilung der Gemälde andrer.

»Was haben sie dir gesagt?« fragte Giuditta.

»O, so vieles.«

Er berichtete alles so ungeordnet, wie es ihm vor die Seele trat. Aber Giuditta war noch nicht befriedigt; sie wollte eins wissen, und da der Papa es nicht erwähnte, forschte sie: »Haben sie dich nicht gefragt, warum ich noch nie anstatt Sofia gekommen bin?«

»Nein, das haben sie nicht gefragt. – Aber schließlich, was die andern auch sagen mögen, für mich ist Mattia Bondi ein großer Künstler.«

Als er später diesen Ausspruch wiederholte, verringerte er das Größenmaß Mattias, aber nicht so sehr, daß der Blinde nicht damit zufrieden sein konnte; er sagte, Bondi sei ein Künstler von hohem Wert – ein Künstler, der seine Sache verstünde. Und diesen ganzen Tag nahm er nichts weiter davon zurück.

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