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Erstes Kapitel.

In unseren schönen Thälern von Valsassina wird selten jemand krank; die Männer arbeiten in den Meiereien, die Frauen auf dem Felde, die Kinder klettern mit den Kühen auf die Berge; alle führen ein ruhiges Leben, sind mit ihrer Lage zufrieden, die sie nach und nach verbessern, ohne sich allzu sehr abzumühen; sie trinken die warme Milch ihrer Herden und das frische Wasser, welches sich schon von weitem durch das Geräusch der Kaskaden und der Bäche ankündigt, wenig Wein und gar keinen Branntwein. So wachsen sie kräftig auf, leben lange und geben dem Bezirksarzt nicht viel zu thun. Dennoch befand ich mich als solcher ganz wohl in Pasturo und kann an jene Zeit nicht zurückdenken, ohne daß sich vor meinen Augen der friedliche Horizont von Valsassina aufthut und mir die Versuchung kommt, dort meine Tage zu beschließen.

Um ihr zu widerstehen, bedenke ich, daß ich damals jung war und jetzt nicht mehr dazu aufgelegt sein würde, meinem Häuschen auf Stunden den Rücken zu kehren, einzig um es aus einer Höhe von sieben- bis achthundert Meter zu betrachten. Auch daran denke ich, daß mir auf dem Heimwege nicht meine Mariuccia mit unseren Kleinen an der Hand entgegenkommen würde, weil unsere Kleinen jetzt Frauen sind und selbst Kinder haben, und ihre arme Mutter auf dem kleinen Kirchhof von Pasturo schläft.

Ich würde nicht einmal mehr meinen jungen Freund Orazio mit seinen philosophisch-musikalischen Grillen, seinen verzwickten Phantastereien und seiner Baßgeige finden, weil ihm das Mittel, welches ich ihm einst verordnete, so ausgezeichnet bekommen ist, daß er jetzt ... Aber wenn ich erzähle, was Freund Orazio jetzt ist, wer wird dann zu wissen begehren, was er damals war? Er war ein großer Narr, mein Freund Orazio, und das sage ich nicht etwa, er sagt es selbst mit Thränen in den Augen – aber lachend, wohlverstanden; er sagt es selbst, wenn er auf das Thema von Pasturo, von der Baßgeige, von der Harmonie der Sphären und des Weltalls kommt. Zu jener Zeit also war Freund Orazio ein junger Mann von fünfundzwanzig Jahren, groß, wohlgebaut, blond, mit einem in Form zweier Kommas heruntergezogenen Schnurrbart, mit einem Wald naturkrauser, aber stets wirrer Haare – er war schön, aber, wie er sagt, er war ein Narr.

Im Gebirge geboren und aufgewachsen, hatte man ihn nach Lecco und Como geschickt, um das Gymnasium und das Lyceum durchzumachen; von dort war er in sein Thal zurückgekehrt, mit einer Fülle ungeordneter Haare, mit einer Fülle ungeordneter Kenntnisse und mit einer Baßgeige.

Dies Instrument war in den ersten Tagen das Erstaunen von Casa Brighi, von Pasturo, und von einem ausgedehnten Gebirgsdistrikt umher. Ein sehr begreifliches Staunen, denn die älteren Leute erinnerten sich zwar wohl, daß ihre Gemeinde einst einen Klarinetten- und einen Violinspieler besessen hatte, versicherten aber, daß die Baßgeige Orazios das erste so umfangreiche Instrument sei, welches seit Menschengedenken in ihren Ort gekommen. Und nun gar in Casa Brighi, wo sich die Rindviehzucht und die Bereitung von Stracchinokäse als herkömmlicher Beruf vom Vater zum Sohn vererbte, hielten die Musik und die Litteratur zum erstenmal in der Gestalt Orazios und seiner Baßgeige den Einzug – darauf durfte man schwören. Giovanni Brighi, der dicke Giovanni Brighi, welcher später der »Baßgeigen-Vater« hieß, versicherte – und man brauchte nur seine gewaltigen Hände anzusehen, um es zu glauben – er habe nie ein Instrument gehandhabt und seit lange nicht einmal eine Feder berührt; jedoch wußte er, daß sein seliger Großvater, derselbe, welcher den blühenden Erwerbszweig der Stracchinokäse von Valsassina ins Leben gerufen, mit den Musen getändelt hatte, indem er die Harmonika spielte und Sonette schrieb, von denen eines bei Gelegenheit des erzbischöflichen Besuches sogar gedruckt worden war. Andere gefährliche Beispiele gab es in der Familie nicht; aber man weiß ja, was einmal einem Geschlecht ins Blut gedrungen ist, das verliert sich nie. Die Harmonika hatte nach drei Generationen die Baßgeige erzeugt; und das Sonett auf das beglückende Kommen des Erzbischofs war die entfernte Ursache von des Großenkels Orazio überspannten Ideen.

Und in der That, woher und von wem konnte Orazio die Baßgeige spielen gelernt haben? Durch des Geschickes Macht, man kann nicht anders sagen. In einem Winkel des Hauses, wo er in Como als Kostgänger lebte, schlummerte eine vergessene Baßgeige; in dem wirren Lockenkopf des Studenten schlief eine alte Leidenschaft. Eine Maus erweckte beides, indem sie mitten in der Nacht die alten Saiten des Instruments benagte. Tags darauf wagte Orazio sich an das seltsame Beginnen, welches die Bevölkerung von Pasturo mit Verwunderung erfüllen sollte. Ich brauche nicht erst zu sagen, daß Orazio sein Instrument wie mit Zaubergewalt spielte, denn was durch Zufall oder den Umständen zum Trotz geschieht, gelingt meist wunderbar. Also der Jüngling führte den Bogen wohl; vielleicht fehlte es ihm an Methode, aber er hatte einen ausgezeichneten Strich. Als der Organist von Castello ihn nach einem Mittagmahl in Casa Brighi gehört hatte, ließ er sich zu einem so günstigen Urteil hinreißen, daß es die Widerstrebendsten zur Bewunderung bekehrt hatte. Die Baßgeige, sagte er, werde lebendig unter Orazios Hand. Weiter fehlte nichts, um seinen Ruf zu begründen.

Ein anderer hätte sich daran genügen lassen – Orazio nicht. Zu den ungekämmten Haaren, der Baßgeige, den närrischen Ideen, welche er jenen einfachen Leuten ins Gesicht schleuderte, zu seinem geringen Respekt vor dem sogar in London verehrten und verzehrten Stracchinokäse seines Heimatortes kamen in kurzem andere noch wunderlichere Dinge. Er begann z. B. mit einer Papierrolle in der einen und einem Stock in der anderen Hand auf den Bergen umherzuschweifen. Mit dem Stock tötete er die Vipern, was that er denn aber mit der Papierrolle?

Alle Tage waren ihm für diese geheimnisvollen Ausflüge recht, aber die, an welchen der Nordwind blies, mußten wohl die geeignetsten sein. Die Bergbewohner, die ihm auf den Ziegenpfaden begegneten, wie er vom Wind getrieben, mit wie zwei Flügel flatternden Rockschößen, die Mütze in die Stirn gedrückt und das Antlitz begeistert dahinschritt – sie verbreiteten eifrig, sobald sie nach Pasturo herabkamen, der junge Signor Brighi müsse wohl nicht richtig im Kopf oder vom bösen Geist besessen sein. Eines Morgens holten sie mich in aller Eile heraus, weil der »Baßgeigenmann« sich etwas zerbrochen habe, ein paar Rippen, wenn sie nicht irrten, oder einen Arm, oder ein Bein. Bei seinem Umherstreifen, mit der Nase in der Luft und ohne zu sehen, wohin er trete, war er einen Abhang hinuntergefallen; die Holzfäller hatten ihn mit Stricken heraufgezogen und ihn bis nach Pasturo geschleift, indem sie ihn auf eines jener mächtigen Reisigbündel festbanden, welche sie wie Schlitten die Berge hinuntergleiten lassen. Die Leute hatten das Bündel über die Bergwiesen gezogen, um dem armen Verletzten wenigstens die Stöße zu ersparen, und waren so vorsichtig gewesen, daß Orazio nicht einmal »O weh!« geschrien hatte. Als der junge Mann mich an seinem Bette sah, lächelte er und ließ sich befühlen; gebrochen war nichts, und sogleich lief irgend einer zur Stube hinaus, um dem Ort kund zu thun, daß der Baßgeigenmann noch ganz sei. Der Schaden beschränkte sich auf einige schmerzhafte, aber ungefährliche Quetschungen und auf die Verrenkung des einen Fußes. »Signor Orazio,« sagte ich ihm froh, »diesmal ist's Ihnen nicht gelungen, sich etwas zu zerbrechen: in zwei Wochen können Sie es wieder versuchen. Die Grigna erwartet Sie. Er lächelte, während ich mit Hilfe seines Vaters den Fuß einrichtete: jemand jedoch, welchen ich nicht sehen konnte, weil er mir nicht nur im Rücken stand, sondern das Gesicht auch gegen die Wand kehrte, weinte die ganze Zeit der Operation hindurch.

Als ich fertig war, drehte ich mich um; sie that es auch, die hübsche Weinende, Concettina, Papa Brighis Nichte, die von Mailand nach Valsassina gekommen war, um die Molkenkur zu gebrauchen – und sich in den Vetter zu verlieben.

Concettina war ein reizendes achtzehnjähriges Mädchen, klein, aber wie vom Maler entworfen, nicht mager, aber blaß: die Liebe und die Molken waren die natürlichen Heilmittel für sie; die Molken mußten nüchtern getrunken, die Liebe mußte erwidert werden. Wie man weiß, läßt die Vorsehung nichts zufällig geschehen; deshalb schien es mir auch, daß Orazios Verrenkung nicht ohne Nebenabsicht sei.

»Concettina wird eine vortreffliche Krankenwärterin sein«, dachte ich; und sie ward es in der That. Sie, die nach Valsassina gekommen war, um die frische Bergluft einzuatmen, brachte einen großen Teil des Tages in der Krankenstube zu, hörte begierig all das närrische Zeug an, welches Orazio ihr vorschwatzte, und dachte dann lange darüber nach, als habe jeder wunderliche Ausspruch des bleichen, blonden Jünglings eine geheime Bedeutung, welche zu entziffern ihr bestimmt sei.

Mehr als einmal während der Kur blieb ich und leistete dem Kranken Gesellschaft, nicht sowohl um mich an irgend einem neuen Unsinn zu ergötzen, sondern um mich an der geheimnisvollen Erregung zu freuen, welche Concettina bei jeder unergründlichen Phrase verriet. Wenn man nicht annimmt, daß sie, durch ein Verlangen oder eine Ahnung getäuscht, sich Orazios Sprache auf ihre Weise übersetzte, wie soll man sich dann die große Anziehungskraft erklären, welche diese sinnlosen Reden des Jünglings für sie hatten?

Eines Tages sagte ihr Orazio in meiner Gegenwart: »Concettina, in vierzehn Tagen bin ich geheilt – nicht wahr, Doktor? In vierzehn Tagen kann ich meine Alpensymphonie beginnen. Ich habe sie hier schon ganz fertig!« setzte er hinzu und deutete auf Stirn und Herz.

Und Concettina errötete, als habe der Vetter ihr eine Liebeserklärung gemacht. Ein andermal, wo ich auf den Zehen bis an die Thür des Zimmers geschlichen war, weil man mir sagte, mein Kranker schlafe, blieb ich auf der Schwelle stehen, um zu horchen. Orazio schlief nicht, obwohl man das Zimmer verdunkelt hatte; er sprach zu Concettina und sagte: »Wind und Wasser sind die beiden Instrumente der Natur, und man glaubt gar nicht, wie reich ihre Tonleiter ist und wie die Instrumentierung ihrer Symphonien, je nach den Baumarten und der Senkung der Wasserbetten, so unendlich verschieden ist. Hast du wohl schon auf den Ton geachtet, den der Wind hervorbringt, wenn er durch die Zweige einer Tanne streicht?«

Concettina antwortete zaghaft, daß sie darauf geachtet zu haben glaube, aber nicht ganz sicher sei.

»Nun, und woran erinnert dieser Ton?«

Concettina wagte einen Vergleich: sie sagte, es sei eine Art Gemurmel; aber Orazio schien dies entschieden zu verneinen, denn sie nahm das Murmeln zurück und schlug ein Gesumse vor.

»O nein,« sagte Orazio mit nachsichtiger Ueberlegenheit; »streicht der Wind durch Tannenzweige, so pfeift er, wenn es Sturmwind ist: er bringt ein Zischen hervor, das aus einer anderen Welt zu kommen scheint, wenn es ein unbedeutender Windhauch ist: die Tanne murmelt nicht, wie die Buche und die Ulme; sie hat nicht den Klageton der Cypresse; sie wird nicht wild wie die Platane, die bei jedem Lüftchen in Zorn gerät. In einigen Tagen,« fuhr der junge Mann fort, »bin ich wieder heil, und wenn du mir zu Gefallen auf einen nicht sehr fernen Berg kommen willst, so steigen wir zusammen hinauf; ehe ich mich daran mache, die Symphonie zu schreiben, muß ich dich etwas fragen.«

»Dem Himmel sei Dank,« dachte ich, »auch Orazio ist so weit; ich will seinem Vater die gute Nachricht bringen, der wird sich freuen.«

Aber zuvor, da ich mir dachte, wie heftig das Mädchen auf diese Worte errötet und wie reizend sie in ihrer Verwirrung sein müsse, wollte ich dies Schauspiel genießen, trat ohne weiteres in die Stube und schlug die Fensterladen zurück. Als ich mich umwendete, suchten meine Augen Concettina – sie hatte sich davongemacht.

»Die Taube ist ausgeflogen,« sagte ich zu meinem jungen Freunde.

Er lächelte mich verständnislos an, als wisse er nicht, was ich meinte, und ich wollte eine vertrauliche Mitteilung nicht erzwingen, die gewiß später kommen würde. Statt dessen suchte ich ihn geschickt auf sein Lieblingsgespräch zu bringen, und es hielt nicht schwer. Ich brauchte ihn nur zu fragen, ob er sich nicht langweile und ob es ihm nie eingefallen sei, sich zur Unterhaltung die Baßgeige ans Bett bringen zu lassen.

Er sah mir ins Gesicht, in der Furcht, daß ich mich über ihn lustig mache, dann setzte er mir ernsthaft auseinander, wie es ihm, im Bette liegend, unmöglich sei, die Baßgeige zu spielen. Aber kaum hatte er es für unmöglich erklärt, so wollte er es gleich versuchen.

»Doktor, wollen Sie mir den Gefallen thun, sie zu holen? Sie steht in der Kammer nebenan, gegen den Kleiderschrank gelehnt ... Sie müssen den Kasten öffnen und sie herausnehmen ... ja, wollen Sie?«

»Aber wenn Sie doch nicht darauf spielen können ...«

»Ich will Ihnen einen Ton zu hören geben, einen einzigen Ton.«

Ich ging in die anstoßende Kammer, wo Concettina, die wie ein verirrter Schmetterling umherflatterte, ein paar Stühle anders rückte, um mich glauben zu machen, sie habe dort etwas zu thun.

»Er ist wie ein Kind,« sagte ich, um mein Erscheinen zu erklären – »er will seine Baßgeige haben. Wir können sie ihm ja geben.«

Daß ich im Plural sprach, war für Concettina eine Aufforderung, mit mir in die Krankenstube zurückzukehren, wie sie's natürlich wünschte. Ich nahm das Instrument und trug es auf Orazios Bett; Concettina folgte. Ich bemerkte auf meines jungen Freundes Gesicht ein leichtes Erröten, womit er das Instrument zu begrüßen schien, und nichts, auch nicht ein Lächeln, auch nicht einen Blick für Concettina. Um dem Einfall des Genesenden zu willfahren, versuchte ich allerlei gewagte Stellungen, ohne eine zu finden, in der sich die Baßgeige spielen ließ; auf die beste verfiel Concettina.

»Wir wollen es einmal so machen,« sagte sie, und rückte selbst einen Sessel ans Bett, der die Geige stützen mußte. Nun brauchte Orazio sich nur aufzusetzen und ein wenig über den Bettrand zu biegen, um mit der einen Hand das Instrument umfassen und mit der anderen den Bogen ungehindert führen zu können. »Hören Sie zu, höre zu.«

Und langsam begann er den Bogen zu bewegen, indem er sich, soweit es anging, aus dem Bett lehnte, um den Finger auf die letzte Saite, nahe dem Steg, zu setzen. In dieser Stellung, den Kopf geneigt, suchte er uns dennoch anzusehen, indem er das Gesicht uns zuwendete und durch die als Schleier niederfallenden Haare ein Auge auf uns heftete.

Eine Weile vernahm man nichts; der Bogen näherte sich langsam dem Bett, Orazio verlor sich in ein schmachtendes Entzücken und schloß auch noch das eine Auge, mit welchem er sehen konnte – aber man hörte nichts. Endlich gelang es meinem Ohr, ein Summen aufzufassen, nicht stärker als eine Mücke es hervorbringen kann, aber angenehmer, vielleicht weil es mir nichts Schlimmes drohte. Dieser einzige Ton nahm allmählich an Intensität zu, bis er sich verdoppelt hatte; die Mücke war nicht mehr allein; mit ihr und um sie her summte dumpfer eine große Fliege; dann schwieg die Fliege, dann schwieg auch die Mücke, aber der Spielende verharrte in seiner Verzückung. Ich verfolgte aufmerksam den Bogen, der, beim Bettrande angelangt, sich mit derselben Langsamkeit entfernte; ich spitzte das Ohr, aber ich erlauschte nichts mehr. Für mich war die Musik schon seit einiger Zeit zu Ende, als mein junger Freund, der während seines Spiels sich fast aus dem Bett geschoben hatte, wieder hineinglitt und sich auf seine Kissen zurücklehnte, immer noch mit dem Bogen in der Hand.

»Wunderschön!« sagte ich.

»Aber was drückt es aus?« fragte mich Orazio.

Ich war im Begriff, ihm von der Mücke und der großen Fliege zu sprechen, als er mir mit der Mitteilung zuvorkam, er habe diese Musik wenige Tage vor seinem Unfall in einem reifen Getreidefeld gehört, als der Morgenwind es durchwehte.

»Aber ich kann ja nur die Parodie davon geben,« sagte er entmutigt; »um so gut wie möglich das eigentümliche Geflüster wiederzugeben, welches der Wind hervorbringt, wenn er durch die reifen Aehren streicht, um eine Vorstellung von diesem klangvollen, aber sanften Anschwellen hervorzurufen; um jenes Hinsterben, so zart, daß es kaum mehr ein Ton ist, auch nur ahnen zu lassen, dazu würde es hundert solcher Instrumente bedürfen.«

»Und hundert Künstler wie Sie,« sagte ich kopfschüttelnd, »die Sache wäre schwierig.«

»Aber denken Sie nur,« sprach er zu mir, »denke,« wendete er sich an Concettina, »welchen Effekt hundert Baßgeigen in einem großen Konzertsaal vollbringen müßten.«

Ich bemerkte ihm, daß dazu auch ein sehr ausgebildetes Publikum gehören würde, dessen Aufmerksamkeit kein Ton entginge.

»Wieso?« fragte er, »der Ton ist klar, auch wenn er ans Unhörbare grenzt.«

Vergebens war's, ihm zu widersprechen; und ich fing an zu glauben, daß mein Gehör nicht die ganze Feinheit besitze, deren dies Organ fähig ist, deren ein Distriktsarzt aber auch nicht bedarf; um so mehr, als Concettina eifrig erklärte, ihr sei der Ton von Anfang bis zu Ende vernehmlich gewesen.

»Du sollst,« sagte Orazio dankbar zu ihr, »du sollst nun erst auf dem Resegone hören! ... wir gehen einmal hinauf, nicht wahr? Du steigst ja gern auf die Berge; und ich werde auch recht vorsichtig sein. Da begegnet man Quellen bei jedem Schritt, es ist ganz anders als auf der Grigna; in jeder Felshöhle haust ein Wässerchen, jeder fallende Tropfen gibt einen besonderen Ton ... Die Molltöne herrschen in der Natur vor, aber auch an Durtönen fehlt es nicht. Nahe bei Introbbio ist ein Wasserfall, in welchem du deutlich einen Terzaccord in A dur hören kannst; am Meeresufer, bei Arenzano, bemerkte ich vor zwei Jahren, daß die Welle mit einem dumpfen Gemurmel auf den Strand lief, worin drei Töne des C dur-Accordes zu unterscheiden waren; dann glitt sie mit verändertem Klang zurück, und an einer bestimmten Stelle begann eine ganz verschiedene Musik: Das Getön der über den Sand rollenden Kiesel, weiches in einer scharf ausgeprägten Brechung des G Moll-Accordes spielte.«

Concettinas Augen blickten immer entzückter, sie heftete sie, nicht ungestraft, wie mir schien, auf des Jünglings begeistertes Antlitz; ich fragte mich, ob diese musikalische Weisheit, gesetzt, daß sie keine Ueberschwenglichkeit, keine Phantasterei sei, wenigstens dazu dienen könne, eine schöne Symphonie ins Leben zu rufen.

»Die Berge,« fuhr Orazio mit steigender Wärme fort, »könnten die Professoren des Konservatoriums vieles lehren; man muß bei einem Platzregen dort oben gewesen sein, um zu wissen, welch eine Musik das ist. Wieviel Lehrer der Harmonie und des Kontrapunktes, glauben Sie wohl, mögen sich dem unterzogen haben?«

»Einen Platzregen auf dem Gipfel der Grigna auszuhalten? Wenige.«

»Und wie viele, meinen Sie, mögen mit dem Bleistift in der Hand, auch nur vor eines der Stadtthore gehen, um die Stimmen der Flur zu behorchen? Wissen Sie, warum die Musik die ärmste unter den Künsten geblieben ist?«

»Ist sie die ärmste geblieben?« fragte ich.

Er versicherte es mir.

»Wissen Sie, warum bis heute die Musik unfähig gewesen ist, die Natur zu schildern?«

»Ist sie heutigestags nicht mehr unfähig dazu?« fragte ich.

Er verkündete mir, daß, dank den Bemühungen weniger Auserwählter, die Musik gegenwärtig zu malen beginne.

»Aber weshalb,« fragte er weiter, »hat es bis dahin nie eine Musikmalerei gegeben?«

»Vielleicht,« wagte ich schüchtern zu äußern, »weil man bisher das Bedürfnis der Musikmalerei nicht erkannte. Das musikalische Schildern ist bei den großen italienischen Mustern sehr gemäßigt, sie scheinen das Landschaftliche nur anzudeuten, damit des Hörers Seele es ausführe – wenn ich übrigens dummes Zeug rede, so entschuldigen Sie mich.«

Freund Orazio übte Nachsicht; nicht nur erzürnte er sich keineswegs, als er sah, daß ich, ein musikalischer Ignorant, von den seinigen abweichende Meinungen hatte, sondern er erlaubte mir sogar, sie auszusprechen.

»Ich habe immer geglaubt,« sagte ich, ein Herz fassend, »und ich glaube noch, daß die Musik eine geheimnisvolle Sprache der Menschenseele ist, und daß sie da anfängt, wo die anderen Künste eigentlich zu Ende sind. Ich sehe eine Skala in den Künsten: Die Skulptur drückt weniger aus als die Malerei, die Malerei weniger als die Litteratur und die Litteratur weniger als die Musik; aber innerhalb ihrer Sphäre ist jede Kunst mächtiger, als ihre Schwestern. Die Skulptur drückt weniger aus, aber sie drückt es besser aus, als die Malerei, und die Malerei besser als die Prosa und Poesie; und die Prosa und Poesie besser, als die Musik. Warum vermengen, was jeder Kunst besonders zugeteilt ist? Unsere Vorfahren machten die Musik dem Ausdruck der unklaren Gefühle, der Sehnsucht, der Begeisterung dienstbar, allem, was aus der menschlichen Seele hervordringend, keinen Pinsel, keine Feder findet, die es unbekümmert festzuhalten vermögen. Thaten sie etwa unrecht daran?«

»Sie thaten, was sie konnten,« sagte Orazio mitleidigen Tones.

»Rossini ...« wagte ich zu äußern.

Er unterbrach mich: »Rossini ist zurückgeblieben; nach ihm hat die Musik einen weiten Weg zurückgelegt: die Instrumentierung ist bereichert worden; man hat Effekte gefunden ...«

»Effekte,« sagte ich, »das heißt rhetorische Figuren der Musik, aber die Melodie, nämlich die Ideen?«

»Die Melodie!« rief Orazio aus.

Er setzte weiter nichts hinzu, aber er sprach das Wort mit so aufrichtiger Verachtung, daß ich selbst einen Augenblick dessen ganze Leere empfand und mich beschämt fühlte. Aber ich bin hartnäckig und gebe meine Ansichten nicht leicht auf. Bald faßte ich mich wieder und sprach: »Es ist recht schön, wenn die Musik sich bereichert, wenn sie es nur nicht wie der Geizige thut, sondern ihren Reichtum dann auch auszugeben versteht; was die Melodie betrifft, lieber Signor Orazio, so halte ich sie für ewig wie die Liebe und wie den Schmerz. Verlieben Sie sich, und Sie werden für Melodie empfänglich sein; und wenn Ihre Geliebte Sie einst um einen anderen verläßt, so werden Sie die Melodie noch tiefer empfinden – oder vielmehr schmerzlicher.«

Concettina, die immerfort geschwiegen hatte, errötete und erhob sich, um in der Nebenkammer nachzusehen, wo sie ein Geräusch gehört zu haben meinte.

»Bist du es?« sagte sie. »Komm herein.«

Toniotto trat ein.

Zweites Kapitel.

Toniotto war Orazios jüngerer Bruder. Er zählte achtzehn Jahre und wäre, so schien es mir, gern wenigstens zwanzig gewesen; deshalb zog er die Augenbrauen zusammen und erlaubte sich nicht, vor seinen Nebenmenschen zu lachen; deshalb hatte er freiwillig allen Vorrechten seines Alters entsagt, deshalb aß er nicht vor anderer Augen, außer bei den gemeinsamen Mahlzeiten, spielte nie und gab sich außerordentliche Mühe, steif und feierlich wie ein mitternächtliches Gespenst einherzuschreiten. Er hatte nach glücklich vollendetem Examen von seinem Vater einen kleinen Braunen und ein Paar Sporenstiefeln erlangt, und von da an traf ich ihn zu keiner Tagesstunde ungerüstet, das heißt, ohne diese Stiefeln. So hielt er den Einwohnern von Pasturo gegenüber die Würde des werdenden Mannes aufrecht.

Aber ach! Stiefeln und Sporen sind nicht alles im Leben des »Mannes«, und Toniotto war nicht glücklich. Was fehlte ihm noch? Ihm fehlten ein paar Barthaare, wenigstens einige, um so mehr, als er ein prächtiges englisches Rasiermesser besaß, mit dem man einen Kapuziner hätte rasieren können; ihm fehlte die Cigarre, ihm fehlte die Geliebte. Um endlich ungestraft rauchen zu lernen, hatte Toniotto Wunder von Heldenmut vollbracht; er hatte sich eine Schachtel türkischen Tabaks verschafft und die Geschicklichkeit erlangt, mit zwei Fingern Cigaretten zu drehen; aber er verfertigte sie mit ernsthafter Miene und die anderen rauchten sie lustig, und wenn der Unselige eine zwischen die Zähne steckte, so wurde er sogleich weiß wie ein Laken und fühlte den Boden unter den Füßen wanken.

Das Schicksal, das sich ein Vergnügen daraus machte, ihm die angerauchte Cigarre aus dem Munde zu reißen, das Schicksal, welches ihm nicht einmal einen Schnurrbart sprossen ließ, während es mehreren seiner Schulgefährten sogar schon den Kinnbart gewährte, dies feindliche Geschick hatte ihn auch noch nicht das Weib nach seinem Sinne finden lassen. Einmal hatte Toniotto in Lecco geglaubt, es in einer schönen Brünette von etwa dreißig Jahren, einer hochgewachsenen Matrone, zu entdecken; aber nur zu bald mußte er erfahren, daß sie die Gattin seines Professors der Mathematik sei. Da er meinte, das Geringste, was ein Professor thun könne, dem ein Schüler das Herz seiner Gattin raubt, sei, ihn beim Examen »springen« zu lassen, so entsagte Toniotto feig der Matrone. Als er darauf in den Ferien nach Pasturo kam, mußte er bitterer als je die große Leere in seinem Herzen und die gänzliche Hoffnungslosigkeit empfinden, sie vor dem neuen Schuljahr auszufüllen.

Zum Teil erriet ich das alles, zum Teil erfuhr ich es von ihm selbst, denn da ich gern in Gesellschaft junger Leute bin und Toniotto nur mit reiferen Männern verkehrte, so wurde es mir nicht schwer, indem ich ihm einige Prahlereien mit seiner Männlichkeit durchgehen ließ, eine vertrauliche Mitteilung zu erhaschen.

Als Toniotto, der bis in die Nebenstube auf den Zehen geschlichen war, sich durch seine Sporen verraten sah, faßte er einen dritten Entschluß, das heißt, er ließ sich auf die Fersen nieder und trat gemessen ein. Er war noch düsterer als gewöhnlich, hielt eine erloschene Cigarre zwischen den Lippen und begrüßte uns gesetzt mit einem Kopfnicken.

»Wie geht's?« fragte er seinen Bruder mit männlichem Stimmton. »Guten Tag, Doktor,« setzte er hinzu, ohne des Genesenden Antwort abzuwarten, und drückte mir die Hand mit einer Kraft, welche man selbst bei Leuten im vollsten Mannesalter selten findet.

Erst nach all diesen Beweisen einer frühen Reife ließ er sich herbei, die Augen zu Concettina zu erheben, die verstohlen Orazio anblickte. Mich dünkt, daß Toniotto seufzte, aber ich konnte dessen nicht recht gewiß werden; zuweilen, wenn eine Cigarre nicht Zug hat oder ausgegangen ist, vollziehen die Raucher nutzlose Ein- und Ausatmungen, welche sich wie Seufzer ausnehmen.

»Darf ich Ihnen eine Cigarre anbieten?« sagte der junge Mann eilig zu mir, da er bemerkte, daß ich ihn ansah.

Ich bejahte und er ließ, indem er den Tabaksbeutel aus der Tasche zog, unversehens ein halbes Brötchen herausfallen, das ihn in große Verlegenheit setzte. Jedoch drehte er die Cigarette mit zwei Fingern, suchte dabei beharrlich seiner erloschenen Luft zu geben, bot mir dann ein Streichholz dar, und ich nahm das alles mit dem größten Ernste an.

»Concettina, du erlaubst, nicht wahr?« fragte Toniotto.

Concettina erlaubte es; Orazio, dem der Cigarrendampf nicht schadete, ebenfalls – aber das harte Geschick nicht. Toniotto hatte kaum seine Cigarette an der meinigen wieder entzündet, hatte vielleicht zwei oder drei Mundvoll Dampf in die Luft geblasen, hatte nicht mehr als einmal den Rauch durch die Nase entsendet, da erbleichte er und lehnte sich an seines Bruders Bett, um nicht zu fallen.

»Es ist von der Cigarre,« sagte Concettina; »neulich abend ist dir auch unwohl davon geworden.«

Ach, Grausame! warum sagst du das? Warum erkennst du so schnell den Schaden, welchen eine halberloschene Cigarette anrichtet, und bist so unempfindlich gegen das Leuchten und die Glut der großen Feuersbrunst, die in eines »Mannes« Herzen ausgebrochen ist? Ein Blick, den Toniotto seiner Cousine zusandte, drückte dies alles verständlich aus.

Als ich selbigen Tages Papa Brighi begegnete, welcher mit seinem gewaltigen, bis über die Augen gezogenen Schlapphut aus der Meierei zurückkam, sagte ich zu ihm, nachdem ich unverletzt aus seinem Händedruck entkommen war: »Papa Brighi, wenn ich nicht der größte Esel aller Doktoren bin, so steht die Sache gut.«

»Das will sagen ...?« fragte er, indem er sich wie ein Monument mitten in der Straße aufstellte und dem Hut einen Stoß mit der Hand gab, um die breite, von zwei noch schwarzen Haarbüscheln eingefaßte Stirn freizumachen.

Ich drückte ihm meine Hoffnung aus, daß Orazio nicht lange mehr anstehen werde, sich in Concettina zu verlieben; er hörte mir ungläubig zu, biß an seinem Stockknopf und fragte mich, aus welchen Anzeichen ich das schlösse. Es waren schwache Anzeichen, die vor einer genauen Kritik nicht stichhielten, die auch mich nicht einmal überzeugt haben würden, hätte ich nicht durch meinen Wunsch nachgeholfen. Papa Brighi, der von leisen Schattierungen des Gefühls nicht viel verstand, schüttelte den Kopf und zog den Hut wieder über die Augen.

»Ich kann weder ja noch nein sagen, weil ich mich nicht darauf verstehe. Alles, was ich sagen kann, ist, daß ich meinen Sohn kenne und ihn fürs erste noch nicht zu was Rechtem für fähig halte. Ich sehe es schon kommen; kaum geheilt, wird er auf seinem verteufelten Instrument ärger als vorher kratzen, wird mit der Nase in der Luft von Berg zu Berg steigen und sich von neuem etwas ausrenken. Er ist mein seliger Großvater, wie er leibte und lebte.«

Was er da sagte, schien ihn zu betrüben, und um ihn zu trösten, suchte ich ihm einzureden, daß mit der Zeit ...

»Die heiratsfähigen Mädchen,« erwiderte er, »sind darin wie die Stracchinokäse: Sie dürfen nicht überreif werden! Und dann ist Concettina nur ein Zugvogel; sobald es kühl wird, geht sie fort, und dann gute Nacht! Gelingt es uns nicht, sie vor dem September einzufangen, so haben wir das Nachsehen. Halten Sie es für möglich, Doktor, daß die beiden sich noch bis zum September verlieben?«

»Was Concettina betrifft,« antwortete ich, »bin ich dessen gewiß.«

»Sagen Sie nicht so; es thut mir weh, Sie also reden zu hören! Wollen Sie, daß das Mädchen meinem Sohn den Hof macht?«

»Ich will gar nichts, Papa Brighi; aber möglicherweise will das Geschick, was wir nicht wollen.«

Er stand ein Weilchen in Gedanken und sagte dann mit Nachdruck: »Schlimm für ihn! Concettina hat meine Witwerschaft ein wenig erhellt, ich könnte nicht mehr ohne sie leben. Ein junges, hübsches Ding im Hause brauche ich durchaus; nie empfand ich so lebhaft dies Bedürfnis, als seit ich's wieder erprobte, und nun gar für die Winterzeit, welch ein Segen wäre sie da! Mein Sohn soll das bedenken und ein Einsehen haben, wenn nicht, so hat es sein Vater. Es ist meine Pflicht, für alle verständig zu sein; habe ich recht?«

Er begleitete diese Worte mit einem Lächeln, das mir nicht ganz unschuldig schien.

»Wie meinen Sie das?« fragte ich.

»Ich meine, wenn er sie nicht heiratet, so heirate ich sie.«

Er war darauf vorbereitet, daß ich laut lachen würde, aber ich lächelte kaum, und in einer skeptischen Weise, die mir nicht gefiel, und fragte: »Sie haben Orazio nie etwas davon gesagt?«

»Ja,« antwortete er mir ernst, nachdem er ein paarmal gehustet hatte, um Fassung zu gewinnen, »einmal habe ich versucht, das Gespräch auf das Heiraten im allgemeinen zu bringen; er hat mir geantwortet, daß er vor allem an die Kunst denken muß, daß die Kunst eifersüchtig ist und keine Nebenbuhler gestattet, daß, wer sich keinen Namen macht, ehe er heiratet, nie einen erlangt. Einen ›Namen‹, begreifen Sie das, Doktor? Er will sich einen Namen machen, als ob er nicht drei volltönende hätte: Orazio, Stanislao, Giovanni! Und was will er nur damit? Also sehen Sie wohl, daß da wenig zu hoffen ist.«

Als er mich nicht gleich zu einer Antwort bereit fand, reichte Papa Brighi mir seine Hand, eine riesige, wie sie vor Handschuhmacherläden hängen.

Als ich eine meiner Extremitäten zögernd in diesen Schraubstock legte und sie zusammendrückte, um sie widerstandsfähiger zu machen, dachte ich an die bizarre Drohung dieses Kolosses und an die arme Concettina.

Ach, arme Concettina, du Kleine, Feine!

Drittes Kapitel.

Erkläre, wer kann, meinen Naturtrieb; ich begnüge mich, ihn einzugestehen, und setze hinzu, daß ich ihn bei vielen Familienvätern meiner Bekanntschaft gefunden habe. Es ist der fast aller Verheirateten – den netten Mädchen zu einem netten Gatten zu verhelfen.

Da ich mir in den Kopf gesetzt hatte, an Concettinas Verheiratung mitzuarbeiten, und sah, daß Orazio sich noch immer nicht erklärte, so war ich eigentlich jedesmal in Angst, wenn ich Casa Brighi besuchte.

Orazio war jetzt wieder wohlauf und sein Vater hatte sich nicht getäuscht, als er voraussah, der erste Versuch, welchen jener voll seiner Gesundheit machte, werde darin bestehen, die Baßgeige zu streichen und in den Bergen umher zu wandern. Concettina, deren Seelenzustand sich immer verschlimmerte, stand um Mittag lange auf dem Altan des Hauses und suchte mit ihren Blicken den Kastanienwald zu durchdringen, welcher den Geliebten ihren Augen entzog. Wenn ich mich an ein Fenster meines Hauses stellte oder Arznei zu irgend einem Kranken trug, dann sah ich das arme Mädchen ab und zu auf dem Altan erscheinen und wieder in dem dunklen Hintergrund der Stube verschwinden, wenn Toniotto sich zu ihr gesellte.

Kurz ehe Orazio nach Hause kam, nämlich gegen die Zeit des Mittagessens, stieg Concettina mit einem Buch in der Hand in den Garten hinunter und suchte einen Laubengang auf, in welchem sie hin und her ging; aber so viel ist gewiß, daß sie mehr in ihrer eigenen Seele als in dem Buche las – das Werk eines zeitgenössischen Verfassers, welchem ich keinen Verdruß bereiten will.

Wenn Orazio nach Hause kam, war er stets von einem mitteilungsfrohen Enthusiasmus erfüllt und versetzte die Cousine in Entzücken, indem er ihr von den tausend Stimmen sprach, mit welchen die Natur zu Menschen redet, die zu hören verstehen. Dann gestand er, daß er einen Hunger habe, aber einen Hunger! ... Und Concettina lachte, als habe dies Wunder von einem Vetter das Witzigste vorgebracht. Er machte sich auf, und sie folgte ihm und vergaß sogar das offene Buch auf einem Gartensitz. Meistens erschien in dem Augenblick zwischen dem Weinlaub der wirrhaarige Kopf eines Jünglings, nicht doch, eines Mannes, der das Buch in die Hand nahm, einen Blick, tiefsinnig und schwermütig wie Hamlets, hinein warf und gemessenen Schrittes, wie die Bitterkeit seines Geschicks es nicht anders erlaubte, Concettina nachging, um ihr zu sagen ... Um ihr zu sagen, daß sie ein undankbares, ein blindes und grausames Mädchen, aber das angebetetste aller Mädchen sei. Versucht fühlte er sich dazu; nur daß der Arme, wenn er Concettina und den Bruder eingeholt hatte – den einfältigen Bruder, der nur seines Appetits gedenkend, den Herd besichtigte, ohne auf Concettina zu achten! – daß der arme Toniotto dennoch nichts weiter herausbrachte, als: »Da nimm, du hast heute wieder dein Buch im Laubengange gelassen.«

Concettina dankte errötend, was sie noch anmutiger machte, und Toniotto hatte die größte Lust, sie zu küssen und vor Liebe zu verzehren, während Orazio die Kasserollen und Tiegel einen nach dem anderen aufdeckte und die Küche mit dem Duft von Gebratenem und Geschmortem erfüllte. Bald darauf kam auch Papa Brighi, der im Vollgefühl seiner Oheimsrechte des Nichtchens beide Hände ergriff, sie zu sich heranzog, ihr fest mit einem Blick ins Gesicht sah, welcher eine geheimnisvolle Drohung barg, sie aber zum Lachen reizte: dann streckte er seine gewaltige Hand aus, die liebkosend ihr ganzes Antlitz bedeckte, schließlich pustete er wie ein Blasebalg, womit er ein schweres Seufzen andeutete.

So geschah es regelmäßig, wie ich hörte, seit zwei Wochen nach Orazios Herstellung, und eines Tages, wo Papa Brighi mich zu Tische eingeladen hatte, auch in meiner Gegenwart.

»Papa Brighi,« fragte ich meinen Wirt heimlich, ehe es zum Speisen ging. »Papa Brighi, wird denn etwas aus der Heirat?«

»Aus welcher Heirat?« entgegnete er mit verklärtem Gesicht und mit ungewohnter Zartheit die Hände auf meine Schultern legend, wie um sich einen Helfershelfer zu sichern.

»Orazios und Concettinas.«

Sogleich erlosch das Leuchten seines Gesichts, er ließ mich los und sagte, er hoffe nichts mehr.

Ich erwiderte ihm, daß ich im Gegenteil die beste Hoffnung hätte; Orazio sei nur sehr zerstreut und phantastisch und müsse wohl verliebt sein, ohne es zu wissen. Schließlich meinte ich, man müsse ihn nötigen, einen Blick in sein eigenes Herz zu thun.

»Das will sagen?« fragte Papa Brighi.

»Das will sagen, ihn beiseite nehmen und unumwunden mit ihm reden; und das kommt Ihnen zu.«

Er dachte eine Weile nach, schüttelte dann seine breiten Schultern und sagte mir, er wolle Concettina lieber selbst heiraten. Das versetzte mir fast den Atem. Ich versuchte es wenigstens mit meinem skeptischen Lächeln, sah aber, daß er darauf vorbereitet war.

Währenddessen ging Concettina an dem gewaltigen Umfang ihres Onkels vorüber und blickte ihn mit den heiteren Augen, ohne Furcht, ahnungslos an; arme Concettina! Vielleicht riet ihr ein geheimer Instinkt, ihn mitleidig zu stimmen. Aber im Gegenteil sah ich mit stillem Entsetzen Papa Brighis derbe Hände das blonde Köpfchen umfassen und hörte, seine rauhe Stimme ihr ankündigen, er werde ihr nächstens etwas sagen.

»Sage es mir doch gleich,« bat das thörichte Mädchen, aber Papa Brighi war auf seine große Narrheit noch nicht recht vorbereitet und verschanzte sich hinter einem lauten Gelächter.

Da trat Orazio ein und vermeldete zum drittenmal, daß er einen Hunger habe, einen Hunger! ... Toniotto hingegen erklärte sich für ganz appetitlos. Bei Tische jedoch that er hinreichend das Seinige; allerdings legte er dann und wann die Gabel nieder, als habe er kein Herz mehr, weiter zu essen, aber dann ermannte er sich wieder und begann von neuem, die Stückchen Fleisch und Braten mit verächtlicher Gleichgültigkeit aufzuspießen. Der unglückliche Toniotto! Niemand achtete seiner, ich allein redete ihn manchmal an, um ihn zum Essen zu ermuntern und ihm das Vergnügen zu bereiten, welches er in der Versicherung seiner Appetitlosigkeit fand. Indessen feierte Orazio einen Triumph; Concettinas Augen wichen nicht von ihm, während er ihr die soeben im Kastanienwald vernommene Musik schilderte und uns mit steigender Begeisterung den nahen Sieg der musikalischen Malerei verkündete. Sein Vater blickte auf ihn wie die Eiche auf einen dürftigen, zu ihren Füßen aufgeschossenen Sprößling blickt, schüttelte den mächtigen Kopf und brummte einige beleidigende Ausdrücke. Ich, der neben ihm saß, glaubte ein paarmal »Narr« und einmal »Schafskopf« zu vernehmen, bin dessen aber nicht gewiß.

»Doktor, werden Sie nicht böse,« bat mich Orazio, »ich weiß wohl, daß Sie anders darüber denken, aber Sie werden ja hören!«

»Wie denken Sie denn darüber?« fragte mich Papa Brighi, der zum erstenmal auf das Thema einging.

Ich gestand ohne weiteres meine Schwäche ein. »Es gefällt mir nicht,« sagte ich, »daß die Musik sich in den Kopf setzt, die Rolle der Litteratur übernehmen zu wollen.«

»Und weshalb nicht?«

»Aus demselben Grunde, weshalb mir auch die bemalten Statuen der guten antiken Zeit und die Inventariumsprosa der modernen Litteratur nicht gefallen.«

»Würde es Ihnen denn gefallen,« fragte mich Orazio ohne Bitterkeit, »wenn die frühere inhaltleere Litteratur wieder aufkäme, in der man unter dem Vorwand des Klassicismus und Idealismus nur Musik machte, und zwar schlechte Musik?«

»Das heißt, Musik machen wollte,« verbesserte ich, »aber ohne es zu erreichen. Mich dünkt,« fuhr ich fort, »es ist ein Zeichen des Verfalls, wenn man nicht von jeder Kunst zu fordern versteht, was sie zu leisten vermag, und nicht mehr

»Recht so!« seufzte Toniotto; da aber niemand auf ihn hörte, setzte er, verächtlich die Gabel niederlegend, hinzu: er habe keinen Appetit! – Uebrigens sei er meiner Meinung.

Concettina hingegen gab Orazio mit Blick und Lächeln recht. Ich aber ließ Musik und Litteratur auf sich beruhen und dachte – wie ich es gar zu gern gleich ausgesprochen hätte – daß der Zufall in einer einzigen Familie und vor meinen Augen die drei Formen des menschlichen Liebeselends vereinigt habe. Ich sagte mir: »Um die fünfundzwanzig Jahre hat man eine große Aufgabe zu erfüllen, nämlich, sich in ein holdes achtzehnjähriges Mädchen zu verlieben und sie zu heiraten. Was thut nun Orazio? Er läuft in die Berge und lauscht den Tönen der Gewässer und des Laubes, verrenkt sich die Gelenke und zerstößt sich die Rippen und die Schienbeine, um, er weiß selbst nicht zu welchem Endziel zu gelangen. Er wird nicht inne, daß das verborgene Ziel all dieser Wanderungen das Herz der Cousine ist, weiß nicht, daß der Musikleidenschaft, von welcher er besessen ist, ein anderer Name gebührt, und läuft so Gefahr, zunächst die Geliebte und weiter seine Jugend zu verlieren. Und weshalb? Einzig weil er die Jugend besitzt und die Geliebte zur Seite hat.

»Und nun sehe man Papa Brighi an. Seit fast zwanzig Jahren hat er der Liebe vergessen, um sich nur noch mit Stracchino abzugeben; und jetzt, wo er auf das verflossene Leben zurückblickt, sieht er, daß es noch etwas anderes und Besseres gibt, erscheint ihm von fern die Jugend, die Schönheit, die Anmut und die Liebe; wenn ihn niemand zurückhält, so wirft er sich dem ersten besten in sein Bereich kommenden Mägdlein in die Arme und zerdrückt sie. Arme Concettina, Kleine, Feine!

»Und dann sehe man jenen anderen da! Er ist fast noch ein Junge, die Natur hat ihm soeben ihr großes Geheimnis entdeckt, damit er sich darauf vorbereite; auf daß er stark und mutig werde, läßt sie ihn ahnen, daß neben der Liebe das Leid weilt ... Und was thut er? Zu Mittag ist er verliebt, zur Stunde der Mahlzeit ist er unglücklich.«

Aber in diesem Augenblick wurde der Puter aufgetragen, und um Papa Brighi den Willen zu thun, mußte ich den Braten anatomisch zerlegen.

»Gebt acht,« rief ich und schwang das Tranchiermesser und die große Gabel, »mit zwei scharfen Schnitten lege ich die Gelenke der Flügel bloß.«

Munteres Gelächter begleitete die ganze Operation. Nur Toniotto benutzte den ersten Augenblick des Schweigens, um uns zu erinnern, daß er keinen Appetit habe.

Viertes Kapitel.

Eines Tages ließ Papa Brighi mich eilig rufen, mit der Bitte, nach der Meierei zu gehen; er hatte sich an ein Fenster gestellt, um mich kommen zu sehen, und kaum erblickte er mich, so winkte er mir einen Gruß zu, stieg dann hinunter und kam mir entgegen. Es war niemand krank, und als Entschuldigung, daß er mich bemüht habe, sagte er: »Fühlen Sie meinen Puls, er schlägt fieberhaft, aber ich habe kein Fieber und bei mir zu Hause ist alles gesund; seien Sie nicht böse, Doktor, ich habe so viel zu thun, daß ich nicht zu Ihnen kommen konnte, und doch war keine Zeit zu verlieren.«

»Was ist denn vorgefallen?«

»Lesen Sie.«

Er reichte mir einen aus Mailand gekommenen Brief.

»Er ist von meinem Bruder,« sagte Papa Brighi, während ich die Unterschrift suchte ... »Lesen Sie.«

»Von Concettinas Vater?«

»Jawohl, von ihm ... lesen Sie.«

»Ich errate,« sagte ich, »er möchte das Mädchen nach Hause zurück haben.«

»Noch schlimmer, weit schlimmer ... lesen Sie, lesen Sie laut.«

Ich las. »Liebster Bruder. Ich bedarf Deines Rates, deshalb wende ich mich an Deine brüderliche Liebe und an Deine Einsicht.«

Ich hielt einen Augenblick inne, weil ich über dies letzte, vielsagende Wort nicht hingehen konnte, ohne einen verstohlenen Blick auf Papa Brighis mächtigen Kopf zu werfen. Aber er drang in mich: »Weiter ... lesen Sie nur ...«

»... an Deine Einsicht,« wiederholte ich, »von der ich einen Rat begehre. Nach dem Tode unseres seligen Vaters bist Du für mich mehr als ein älterer Bruder, bist mir Vater und Freund gewesen.«

Gar zu gern hätte ich die Grimasse gesehen, welche Papa Brighi hierzu machte, aber ich bezwang mich und blickte nicht vom Blatt auf.

»Es handelt sich um meine Tochter. Concettina ist in den Jahren, wo sie heiraten sollte, und man muß ernstlich daran denken, denn wir werden alt, lieber Giovanni, und können ihr nicht für immer zur Seite bleiben, um sie zu beschützen ...«

Ich holte Atem und sah Papa Brighi ins Gesicht. Er war ganz außer Fassung und vermochte kaum zu wiederholen: »Lesen Sie ...«

»Ich weiß nicht, ob Du je in meinem Bureau einen gewissen Ambrogio Nespoli gesehen hast, einen Seidenmakler, mit dem ich Geschäftsverbindungen habe; er ist nicht mehr in der ersten Jugendblüte, aber immer noch jung, vierunddreißig Jahre. Ich weiß nicht, wie ihn achtzehnjährige Mädchen beurteilen mögen; mir gefällt er ganz gut, auch meiner Rita. Er gab mir zu verstehen, daß er heiraten möchte; unsere Concettina hat er nie gesehen, aber viel Günstiges über sie gehört, und ist geneigt, sie blindlings zu nehmen, wenn sie ihn will.

»Du wirst begreifen, daß diese Art, mein Mädel zu verheiraten, mir nicht gefällt; ich habe also zu Nespoli gesagt: ›Gehen Sie nach Pasturo, stellen Sie sich unter irgend einem Vorwande meinem Bruder vor, lernen Sie erst meine Tochter kennen, über das weitere sprechen Sie später mit mir.‹

»Er hat meinen Rat angenommen und beabsichtigt, so bald wie möglich abzureisen. Nun kommt Deine Aufgabe, lieber Bruder. Es handelt sich darum, in Concettinas Herzen zu lesen, zu sehen, ob ihr diese Verbindung nicht unerwünscht scheint, nötigenfalls sie darauf vorzubereiten. Ambrogio Nespoli ist eine gute Partie, aber ich habe es gar nicht eilig damit, meine Tochter los zu werden; ein Mädchen wie Concettina kann sicherlich warten, wenn meine väterliche Eitelkeit mich nicht täuscht. Ambrogio Nespoli hat mir nicht gesagt, wann er bei Dir eintrifft; er hat mich nur gebeten, Dir seine Absichten nicht zu verraten, denn er ist ein schlauer Kerl und traut ›anderen Vermittlern‹ nicht; ich sage es Dir, wie er es gesagt hat. Rita und ich hielten es jedoch für richtig, daß Du von allem unterrichtet würdest; ich überlasse Dir, zu beurteilen, ob es gut ist, Concettina davon in Kenntnis zu setzen; ich bin der Meinung, man solle ihr nichts sagen ...«

»Auch ich!« rief ich mit Entschiedenheit aus.

»Auch ich!« wiederholte Papa Brighi; aber seine matte Stimme war nur ein schwacher Widerhall des sonst so lauten, rauhen Organs.

Papa Brighi schwieg eine Weile und schien auf das wunderliche Spielzeug niederzublicken, das er mit dreister Zuversicht für sich aufgebaut hatte. Auch ich blickte nieder, und mir war, als sähe auch ich es am Boden. – Ach, was war daraus geworden! Was konnte Papa Brighis Einsicht jetzt noch damit anfangen? Nichts, als es lachend mit ein paar Tritten auseinanderwerfen und die Trümmer im Winde zerstreuen. Und das that er.

»Da sieht man,« rief er plötzlich munter aus, »da sieht man, was acht Jahre mehr oder weniger zu sagen haben! Denn Sie müssen wissen, Doktor, ich bin nur acht Jahre älter als mein Bruder Stanislao; gewiß, er ist ein Vierziger, ist geboren Anno ... warten Sie ... nun, es thut nichts zur Sache, ich sagte ... was sagte ich doch? Ach ja, daß Stanislao mich wie seinen Vater betrachtet, während ich – beinahe, beinahe ...«

Er lachte laut.

»Beinahe sein Mädel geheiratet hätte!«

Er lachte noch lauter, dann entfuhr ihm, er wußte selbst nicht warum, der Ausruf: »Arme Concettina!« Und ich gab aus vollem Herzen zurück: »Arme Concettina!«

»Wir sind doch rechte Laffen, wir Männer,« fuhr er immer hitziger werdend fort, »und da spricht und schreibt man von der Einsicht des reifen Alters! Ein sechzehnjähriges Mädchen bringt uns, wenn sie will, zu mehr als sechzehn Thorheiten ...«

So stampfte er noch eine Weile auf sein zerbrochenes Spielwerk; dann wurde er wieder ernst und sagte mir, es sei nur sein Scherz gewesen, ich wisse ja, daß man in gewissen Jahren von solchen Narrheiten wohl spricht, aber sie nicht ausführt; jedoch ab und zu, wenn ihm wieder so ein Bruchstück seines zertrümmerten Aufbaues vor die Augen kam, stieß er es mit einem Fußtritt fort und lachte.

»Also Sie haben verstanden?« fragte er mich endlich und wurde in Wahrheit ganz und gar wieder der Stracchinokäse von Valsassina.

Ich hatte sehr gut verstanden: Ambrogio Nespoli konnte von einem Augenblick zum anderen ankommen und Concettina fortholen. Und was sollte aus Papa Brighis Haus werden ohne dessen Sonnenstrahl? Man mußte gegen diesen Makler ankämpfen, ihm den Handel verderben, ihn gar nicht bis zu Concettina dringen lassen.

Letzteres war ein Einfall Papa Brighis.

»Wenn Signor Nespoli kommt,« sagte er, »so fange ich ihn ab und gebe ihn nicht mehr frei; ich lasse ihn die Meierei, die Wiesen, die Weiden, die Kühe in Augenschein nehmen; ich vertraue ihn meinem Sohn an, damit er ihn auf die Grigna schleppt ...«

»Alles vergebens,« sagte ich. »Sie können ihm doch nicht verwehren, das Mädchen zu sehen, können Concettina nicht sagen, sie möge in ihrer Stube bleiben oder sich krank stellen, damit Signor Ambrogio sie nicht sieht und sich nicht in sie verliebt?«

»Es ist wahr,« sprach Papa Brighi entmutigt. – »Dann also?«

»Dann gibt es also kein anderes Mittel, als Orazio zu zwingen ...«

»Meinem Sohn befehlen, daß er Concettina heiratet?« rief Papa Brighi aus, »es ihm auch noch befehlen

»Das nicht,« sagte ich, »man muß ihn zwingen, sich in sie zu verlieben, und das scheint mir nicht schwer. Ich wette, sobald er Signor Ambrogio Nespolis Absichten erfährt, läßt er die Baßgeige im Stich und läuft Concettina nach, die nicht nein sagen wird.«

»Er verdient es gar nicht,« brummte Papa Brighi, »aber so steht's allerdings. Sie, Doktor, müssen mir bei der Sache eine hilfreiche Hand reichen.«

»Ich reiche sie Ihnen beide,« und lachend streckte ich sie ihm hin.

Er nahm sie und bestrafte mich nicht für meine Unvorsichtigkeit, sondern drückte sie kaum.

Fünftes Kapitel.

Als ich Papa Brighi verlassen hatte, ging ich nach dem weißen Häuschen, mit dem Vorsatz, Orazio beiseite zu nehmen und meine Versuchungskünste spielen zu lassen; noch wußte ich nicht, wie ich die Sache einleiten, welche Sprache, welchen Ton, welch Mienenspiel ich anwenden würde, und doch schritt ich hastig zu, als ob ich meinen Zaubertrank brühheiß in der Tasche trüge und er unterwegs erkalten könne. Ich legte den Weg von der Meierei nach dem Wohnhause in zwölf Minuten zurück, kam aber zu spät. Orazio hatte sich vor einer Viertelstunde mit seinem Stock und seiner Papierrolle nach den Bergen aufgemacht; niemand als Concettina und ihr Schatten, Toniotto, waren daheim.

Da ich hörte, daß Orazio einen Weg eingeschlagen hatte, welcher direkt nach der ersten Terrasse der Grigna führte, war ich ein wenig betroffen, sah dann Concettina an, die etwas Ungewöhnliches auf meinem Gesicht las; sah den Signor Ambrogio Nespoli drohend aus dem Hintergrund hervortreten und faßte einen heldenmütigen Entschluß, der mir in einem besseren Leben angerechnet werden wird.

»Signorina,« sagte ich, »wollen Sie mir den Gefallen thun, jemand nach meinem Hause zu schicken, um Mariuccia und die Kinder wissen zu lassen, daß sie mich nicht zum Frühstück erwarten dürfen, daß ich aber zum Mittag heimkommen werde?«

»Wohin gehen Sie denn?« fragte sie.

»Ich will Orazio einzuholen versuchen, ich muß ihn sprechen.«

Ich sagte diese unschuldigen Worte ohne einen Hintergedanken, und doch errötete Concettina. Toniotto erklärte, um sie zu strafen, daß er Lust hätte, mit mir zu gehen.

»Ein Spaziergang wird mir gut thun,« versicherte er gemessen, aber Concettina ermutigte ihn, mich zu begleiten, und nun blieb er.

Ich machte mich also allein auf, nahm lange und gleichförmige Schritte, wie die Bergbewohner, und begleitete sie innerlich mit einer Siegesfanfare, um die Ermüdung zu übertäuben; nach einer Viertelstunde mußte ich stehen bleiben, weil ich wie ein Blasebalg pustete. »Es wird mir gut thun.« sagte ich mir zur Ermutigung, »seit langer Zeit ist niemand in den Bergen erkrankt, und ich werde faul und meine Lungen erschlaffen; bei Tische wird meine Mariuccia sich über den Appetit wundern, welchen ich von hier oben mitbringen werde.«

Ich redete mir das ein, aber hätte ich nicht die Hoffnung gehabt, bei jeder nächsten Biegung des Weges Orazio zu sehen, so wäre ich, glaub' ich, nicht weit gekommen. Mehrmals nahm ich mir vor, nach zehn Minuten, nach einer Viertelstunde, nach einer halben Stunde innezuhalten, wenn Orazio sich nicht zeige, und dann ruhig nach Haus zu gehen; aber die zehn Minuten, die Viertelstunde, die halbe Stunde vergingen, und ich vermochte meinem Unternehmen nicht zu entsagen.

Mut und vorwärts! – Ich begegnete von Zeit zu Zeit Hirten, welche hinter ihren Kälbern her bergauf und bergab liefen; sie hatten Orazio den Augenblick zuvor gesehen, er konnte nur wenige Schritte entfernt sein, meinten sie, und halb gläubig, halb ungläubig stieg ich weiter.

Ein Förster versicherte mich, ich würde Orazio auf der ersten Terrasse finden.

»Und wie weit ist's bis zur ersten Terrasse?«

»O, nur ein paar Schritte!«

Mutig weiter! Auch die erste Terrasse machte es wie Orazio, der mir beständig ein paar Schritte voran blieb, bis ich die Hoffnung, ihn einzuholen, verloren hatte.

Als ich's am wenigsten erwartete, erblickte ich die Hütte. Nun blieb ich stehen, trocknete mir den Schweiß ab und schaute umher, um das Panorama der Gegend zu betrachten. Es war schön, aber ich hatte es mir auch sauer verdient.

Da der erklommene Punkt hoch genug war, um jener unerklärlichen Selbstgefälligkeit zu schmeicheln, welche den Bewohner der Ebene antreibt, zum Bergsteiger zu werden, und da die Augentäuschung mir diese Höhe noch bedeutender vorspiegelte, als sie war, so erwuchs in mir eine souveräne Verachtung aller tiefer gelegenen; ich verzieh es den Hügeln nicht, daß sie sich den Thalbewohnern für Berge ausgaben; dagegen war ich nachsichtig gegen die Ebene, weil sie wenigstens nichts anderes als eine Ebene sein will. Nachdem diese Flutwelle der Selbstbefriedigung vorübergerauscht war, begann die Bewunderung. Von meinem Standpunkte aus überschaute ich eine große Strecke der Valsassina mit ihrem hier und da von Pappeln- und Platanenreihen durchzogenen Weidegrün, einige auf den Hügeln zerstreute weiße Häuser, dann Pasturo mit seinem Kirchlein und seinem kleinen Friedhofe, und weiterhin Papa Brighis Meierei, welche sich wie ein Spielzeug ausnahm.

An der anderen Seite hinabsteigend, ließ ich das Auge nicht auf den unbedeutenden Gipfeln verweilen, welche im Thale schon für namhafte gelten; ich hielt mich nur als gleichberechtigt bei den schroffen Spitzen des Resegone auf, der in schräger Richtung an meinem Horizont erschien. Auf einer anderen Seite erhob sich, auch in seiner rauhen Schönheit herrlich, der Monte Campione, den ich Grignetta zu nennen pflegte, um ihn von meiner wahren und eigentlichen Grigna zu unterscheiden. Dort stand ich seit fünf Minuten unbeweglich und wiederholte, obgleich niemand mich hören konnte, daß der Anblick schön, sehr schön, wunderschön sei, und spähete, alles vergessend, nach etwas im Thalgrunde – als eine lang ausgehaltene, kräftige Stimme mich von oben her so anrief: »Doktor ... r ... r!«

»Orazio!« rief ich, mich umwendend.

Da stand er, hundert Schritte höher, hoch aufgerichtet, und stolz (wie es mir schien), auf der Spitze eines Felsstücks, und ich empfand sogleich die ganze Demütigung, tiefer zu stehen.

»Ich komme!« kündigte ich ihm an und setzte mich wie ein Schuljunge in Trab, um nur recht schnell ans Ziel zu gelangen.

»Wie in aller Welt? ...« fragte er mich, sobald ich ihm zur Seite war.

Meine Atemlosigkeit gab mir Zeit zum Nachdenken; ich entdeckte ihm nicht sofort die Ursache, welche mich auf den Berg getrieben hatte; es schien mir besser, mich mit einem gewissen Geheimnis zu umgeben, das zu durchdringen er gar nicht begierig war. Hatte er doch andere Dinge im Kopf: seine Musik, seine harmonienreiche Natur und was sonst noch; nur zu bald sah ich mich damit bedroht: »Sie sollen einmal hören!« sprach er, und das sagte mir mehr als genug.

»Warten Sie,« wehrte ich mich erschöpft, »lassen Sie mich wenigstens zu Atem kommen, lassen Sie mich etwas aufsuchen ...«

»Was denn?«

»Dort unten ... in Pasturo; ich kann mein Häuschen nicht finden, und möchte es sehen ...«

»Dann müssen Sie noch höher steigen,« sagte er, »es ist jetzt hinter jener Baumgruppe versteckt; wenn es hervorkommen soll, so müssen Sie weiter steigen. Kommen Sie, Doktor, kommen Sie und hören Sie!«

Und er ging voran, den Kopf hoch, ohne sich nur einmal umzublicken; ab und zu blieb er stehen, um zu horchen, dann schritt er weiter und winkte mir, ihm immer zu folgen. Ich stand, ohne auf ihn zu achten, zuweilen still, um ein seltenes Exemplar der Alpenflora oder die gefällige Form einer jungen, weißen Kuh zu betrachten, welche uns unbeweglich anstarrte und sobald wir vorüber waren, ihr Glöckchen erklingen ließ; ich warf auch manchen flüchtigen Blick zurück und nach unten, bis gen Pasturo; und einmal blieb ich entschieden stehen, weil ich gefunden hatte, was ich suchte.

»Jetzt sieht man es!« rief ich, und Orazio mußte Halt machen. Er hoffte, ich würde mir genügen lassen, mein Häuschen mit den leiblichen Augen anzuschauen; aber von weitem sieht man die Dinge, welche einem lieb sind, mehr mit dem Herzen an, und Orazio merkte, daß er, wenn er mir jetzt nicht auf ein paar Minuten nachgäbe, nachher nicht berechtigt wäre, mich mit seiner Musik zu quälen, und trat näher.

»Dort,« sagte er, den Cicerone spielend, »dort ist Ihr Haus ... Sehen Sie, da hinter der Kirche, ein wenig nach links ... man erkennt auch die drei Fenster ... wäre die Signora Mariuccia da, so könnte man sie prächtig sehen. Dort ist der Kirchhof und da hinten unsere Meierei; jene weißen, sich bewegenden Punkte sind die Kühe, welche auf der Weide gehen ... unser Haus sieht man nicht, es ist versteckt, aber wenn wir beim Hinabsteigen aus dem Kastanienwald treten, haben wir es so nahe vor uns, daß wir die Hühner im Hofe zählen können.«

Er glaubte mich meiner Betrachtung am besten zu entreißen, wenn er mir einzeln aufzählte, was alles wir von dieser Höhe erblicken konnten und mir das Aufsuchen erleichterte, aber als er schwieg, schaute ich noch immer hinunter.

»Weiter ist nichts zu sehen,« sagte er mit der Verständnislosigkeit eines Kretins, »was suchen Sie denn noch, Doktor?«

Nichts suchte ich; hatte ich doch mein Haus, hatte meine Herzensheimat gefunden.

Ich machte einen Versuch, ihm das auszusprechen, freilich mit geringer Hoffnung, von ihm verstanden zu werden.

»Ja, da ist es,« sagte ich, »da ist meine ganze Zukunft; wenn ich aus diesem prächtigen Grün den weißen Punkt auslösche, welchen mein Häuschen darauf bildet, so ist für mich alles fortgelöscht; oder wenigstens sind mir das Thal, die Berge, die ganze Welt dann gleichgültig.«

»Freilich,« sagte Orazio – ich blickte ihm ins Gesicht. Der Lügner! – nicht eine Silbe begriff er.

»Wenn man denkt, welch kleiner Raum eine so große Glückseligkeit einschließt! Sehen Sie, es ist ein Pünktchen, was dort so weiß schimmert, aber darin weilen drei Herzen, die mir in Liebe zugehören, drei Gedanken, die mich begleiten, drei Leben, die an meines geknüpft sind.«

Orazio wartete ergeben und begleitete jedes Wort mit einer beistimmenden Kopfbewegung; ich aber, obgleich ich wußte, daß ich vergebens sprach, fuhr fort: »Seltsam! Aus dieser Entfernung gesehen, erscheint mein Glück mir als etwas Neues, verstehe ich es besser ...«

Orazio unterbrach mich.

»Sehen Sie, sehen Sie da, Doktor ... das ist ein kreisender Hühnerweih, vielleicht hat er eine tote Ziege in einer Bergspalte entdeckt.«

Ich fuhr fort: »Wenn der Weih mir dort auf ein paar Minuten seine Flügel leihen und ich mich ihrer bedienen könnte, welchen Gebrauch, meinen Sie, würde ich davon machen?«

Orazio wußte es nicht.

»Ich würde geradeaus wie ein abgeschossener Pfeil hinunterfliegen, an die Scheiben des ersten Fensters zur Linken klopfen, wo meine Kleinen hausen, und würde ihnen zurufen: ›Liebe Kinder, geht und sagt der Mama, daß der Papa so glücklich ist!‹«

»Ich dagegen,« bemerkte Orazio, »wenn ich fliegen könnte, würde mich hoch, hoch hinaufschwingen, bis wo ich das Geräusch der Erde nicht mehr hörte; vielleicht gelänge es mir dann, einen Ton, wenigstens einen, von der Harmonie des Universums zu erhaschen.«

Dieser erhabene Wunsch machte mir den Eindruck, als würde etwas Nichtiges, Abgenutztes mitten in den Quell reinster Poesie geschleudert. Vergeblich war's, diesem Unwürdigen mein Herz zu öffnen, und doch vermochte ich noch nicht zurückzuhalten; ich sprach nur leise, wie zu mir selbst redend, um ihn zu demütigen: »Von hier aus erscheint mein Glück mir noch vollständiger, noch lachender; es hat etwas Neues, Festliches, mir weniger Vertrautes, das mich reizt; es erscheint meinem geistigen Auge so groß und ganz, daß mir fast bange wird, es löse sich von meinem Herzen ab; es spricht zu mir, als wäre es das Glück eines anderen.«

Ich schwieg.

»Doktor,« sagte Orazio, »ein paar Schritte weiter, und Sie sollen hören ...«

»Was soll ich denn hören?« entgegnete ich und wendete mich unwillig um.

»Kommen Sie, kommen Sie doch.«

Er ging voran, ich folgte.

Wir wanderten so seit einer Viertelstunde, ich die Naturschönheiten erspähend und ab und zu die frische Bergluft in tiefen Zügen einatmend, Orazio den Kopf hoch, unempfindlich für alles, außer für jeden Laut. Auf einer steinigen Stelle des Weges wendete er sich, um mir zu sagen, daß der eine meiner Stiefelabsätze mit einem etwas anderen Ton aufschlage als der zweite.

»Der rechte Absatz,« versicherte er mich, »klingt um einen Viertelton tiefer.«

»Das thut mir leid,« sagte ich.

Er empfand den Spott und begegnete ihm durch die ernsthafte Mitteilung einer kürzlich in Bezug auf die Holzschuhe der Frauenzimmer von Pasturo gemachten Entdeckung. Wie er meinte, brachte jede Frau und jedes Mädchen aus dem Thale einen verschiedenen Ton mit ihren Holzschuhen hervor, und er gestand mir, daß ihm der Gedanke gekommen sei, ein ganz eigenartiges Musikstück zu komponieren und es von der weiblichen Bevölkerung Pasturos durch Tritte und Anschlagen der Schuhe ausführen zu lassen.

Ich sah ihn an; zum Glück lachte er dabei noch.

»Wenn er dergleichen einst ohne zu lachen sagt,« dachte ich bei mir, »dann muß ich ihm kalte Douchen verordnen.«

»Hier ist es,« verkündete er mir.

Wir waren zu dem Eingang eines hohlen Felsens gelangt, in einer steinigen Gegend, wo kaum etwas niedriger Ginster wuchs.

Mit der Hand, in welcher er die Papierrolle trug, erfaßte Orazio einen meiner Finger und führte mich in die Höhle. Er sagte nichts, und ich ließ die Augen an den Sandsteinwänden umherschweifen, welche sich zu einer mächtigen Nische wölbten. Sie war so glatt, daß sie von Menschenhand ausgehöhlt schien, und eignete sich prächtig dazu, die Namen jugendlicher Bergbesteiger und bemerkenswerte Daten mit Bleistift an ihren Steinwänden aufzuzeichnen. Da waren so unversehrte zehnjährige Inschriften, daß sie wie von gestern aussahen. Ich begann eine derselben laut zu lesen: »Giovanni Anselmi und Virgina ...« Aber Orazio bat mich mit feierlichem Ernst, still zu sein.

»Auf die Stunde des Tages kommt es nicht an,« sagte er mir. »Ich fürchtete erst, daß es sich etwa mit der Tageszeit ändere, aber es bleibt sich immer gleich.«

»Was denn?«

»Die Stille; das heißt, was wir Stille nennen, was aber vielmehr ein Tönen ist. Wenn sämtliche Stimmen der Natur verstummt sind,« fuhr er fort, »dann vernimmt ein geübtes Ohr noch eine, die leise durch den endlosen Raum murmelt; es ist die erhabene Stimme des Schweigens. Ich habe Sie hier heraufgeführt, weil man hier die Stille besser als anderswo wahrnimmt; auf dem Resegone zum Beispiel sind zu viele Quellwasser; man hätte bis auf den Gipfel steigen müssen ...«

Ich hielt eine Weile an mich, dann erklärte ich ruhig, daß ich nichts hörte. Aber das machte ihn nicht irre.

»Zu zweien ist es schwieriger,« sagte er, »versuchen Sie es noch weiter, aber atmen Sie so schwach wie möglich und mit offenem Munde, sobald Sie durch die Nase Luft holen, hören Sie nichts mehr.«

»Jawohl, denn indem die Luft durch die Nasenlöcher streicht ...«

»Still! rühren Sie sich nicht, denn Ihr Jackett macht bei der leisesten Bewegung ein Geräusch. Merken Sie recht auf, und Sie werden hören.«

Es wurde mir nicht leicht, ohne zu lachen, den Mund offen zu halten, wie Orazio vorschrieb; ich versuchte es zweimal und lachte so laut, daß die Höhle widerhallte; endlich beim dritten Mal gelang es mir. Ich stand mit geöffnetem Munde da, unbeweglich, fast den Atem zurückhaltend. Aber noch drangen wirkliche Laute in mein Ohr. Eine Bergbewohnerin rief aus der Ferne: »Uuuh! Adelina ... a ... a ... a!« Und Adelina antwortete im Falsett aus noch größerer Entfernung: »Mamaaaa!« Mir schien es auch, als finge ich das Läuten einer Glocke auf, aber so verweht, daß es kaum mehr ein Klang, daß es nur eine leise Andeutung in der Luft war; dann hörte ich eine ganze Weile nichts ... das heißt nein, etwas glaubte ich zu hören, und Orazios strahlendes Gesicht verkündete mir, daß er dasselbe vernahm.

»Nun?« fragte er mich bald darauf, »haben Sie eine Art dumpfes Summen gehört?«

»Allerdings.«

»Wenn man das Ohr daran gewöhnt,« versicherte er mich, »so gelingt es einem, in das innerste Wesen desselben einzudringen. Denn sehen Sie, Doktor, während die Töne in der Natur alle einen sicheren Rhythmus, aber keine genau bestimmte Tonhöhe haben, da ihnen fast immer eine gewisse Anzahl Schwingungen fehlt, um vollkommene musikalische Töne zu geben, so ist hingegen in dieser großartigen Stimme des Schweigens der Rhythmus nicht vorhanden, oder es gelingt nicht, ihn aufzufassen, aber die Intonation ist vollkommen. Scheint Ihnen das nicht auch so?«

»Ich verstehe mich darauf nicht,« erklärte ich demütig; »aber was glauben Sie denn, daß dieses Klingen sei, welches wir vernommen haben?«

»Hier betreten wir das weite Feld der Hypothesen,« begann Orazio feierlich, »und man muß verneinend, ausscheidend vorgehen. Mir war in den Sinn gekommen, es könne das Resultat der verschiedenen Arten von Geräusch und Schall in der Natur sein; aber diese Idee verwarf ich, als ich erkannte, daß die Intensität der Stille während der Nacht keine Veränderung erleidet und mit der wechselnden Entfernung von den Geräusch erregenden Mittelpunkten weder ab- noch zunimmt. Auf der Spitze der Grigna zum Beispiel macht sich dies Klingen, anstatt schwächer zu werden, nur noch deutlicher bemerkbar.«

Er erregte mein Mitleid und meinen Aerger; ich sagte mir, das beste wäre, ihn beim Ohr zu nehmen und ihn so nach Pasturo, bis vor Concettinas Angesicht zu führen. Er aber, da ich ihn so ernsthaft anblickte, fand den Mut, mir all die verrückten Einfälle auszukramen, welche ihm durch den Kopf gegangen waren. Er brachte deren viele vor, unter anderen diesen: Jenes Klingen könne ein Geflüster von Keimen der geistigen Welt sein, kleiner in der Luft umher schwebender Seelchen. Ferner diesen anderen: Es könne ein Echo der Sphärenharmonie sein. Aber das planetarische Konzert und der Chor der ungeborenen Geisterchen hatten ihn nicht zufriedengestellt, und bei tieferem Grübeln glaubte Orazio das Richtige getroffen zu haben.

»Lassen Sie hören!«

»Dieses Ertönen,« sprach er, die Stimme dämpfend, »das, wie auch Sie, Doktor, zugestehen, unbezweifelbar vorhanden ist, dieser Klang, den man zu jeder Stunde und überall vernimmt, diese geheimnisvolle Stimme des Schweigens kann nichts anderes sein als die Schwingung, in welche die Atmosphäre durch die Umdrehung und Fortbewegung der Erdkugel versetzt wird.«

Ich gewann es über mich, ernsthaft zu bleiben; und so bekam ich auch das Weitere zu hören, nämlich daß unsere Erdkugel ungefähr in A vibriert. Orazio war noch im ersten Stadium seiner Entdeckung, er bedurfte der Ermutigung, sei es auch durch profane Geister, und fragte mich, was ich davon denke.

Und ich gab ihm meine Meinung – ohne Umschweif, ohne Schwanken, gerade heraus, unumwunden, brutal.

»Versuchen Sie einmal, sich die Ohren mit zwei Fingern zu verstopfen,« sagte ich.

Er sah mich verwundert an.

»Versuchen Sie es,« beharrte ich, und er that es.

»Was hören Sie jetzt?« fuhr ich fort, als könne er meine Worte verstehen.

Orazio erblaßte, zog die Finger aus den Ohren, steckte sie wieder hinein.

»Es ist die Cirkulation des Blutes,« setzte ich erbarmungslos hinzu, als er mich hören konnte; »es ist das Blut der Arterien, das unter dem Antrieb der linken Herzkammer aus der Pulsader am Halse tritt und in die Blutgefäße des Kopfes strömt; wenn Sie der äußeren Luft den Zugang verschließen, so ist das Klingen fast überwältigend.«

»Die Cirkulation!« stammelte Orazio und drückte von neuem die Finger in die Ohren.

»Freilich ... die Cirkulation des Blutes. Die Sphären und die ungeborenen Seelen haben nichts damit zu schaffen; es thut mir sehr leid, aber es ist nicht die Erdkugel mit ihren Schwingungen in A; es ist Ihr Blut ... lieber Herr, stecken Sie die Finger tief hinein ... drücken Sie sie fest an ... so ... recht so! Es ist das Blut eines Narren.«

Er machte sich inzwischen die Ohren wieder frei, und ich schwieg, aber vielleicht nicht so schnell, daß er nicht die letzten Worte vernommen hätte, denn er verließ eilig die Höhle, ohne etwas zu sagen, und blickte in das Thal nieder, als wolle er es sich in die Seele prägen, in der That aber, um Zeit zu der Entscheidung zu gewinnen, ob er mit mir schmollen solle.

»Es ist doch eine schöne Gegend!« rief ich aus, um ihn zu versöhnen.

Er drückte mir die Hand und sagte ohne Groll: »Wollen wir nach Haus?«

Ein lieber, guter Junge doch im Grunde!

Sechstes Kapitel.

Bis zu den Terrassen sprach er nicht mehr, und dort angelangt, eilte er, anstatt den Pfad zu verfolgen, im Schnelllauf einen grasigen, aber sehr steilen Abhang hinunter, und ich blieb oben stehen und that Einspruch dagegen.

»Verzeihen Sie,« rief er zurück, »ich war zerstreut; steigen Sie nicht da hinab, nehmen Sie den guten Weg, ich warte auf Sie.«

Damit setzte er sich auf ein Felsstück nieder und ich überließ ihn seinen gewiß heilsamen Betrachtungen, nachdem ich mich versichert hatte, daß in der Nähe kein geschwätziges Wässerchen rann und kein Wind wehte.

Unnütze Vorsicht! Die Krümmungen des Bergpfades führten mich von hinten in die Nähe meines jungen Freundes und ich fand ihn mit so fest in die Ohren gepreßten Fingern, so unbeweglich dasitzend und dem Brausen der Blutcirkulation lauschend, daß er meiner erst gewahr wurde, als ich dicht hinter ihm »Orazio!« rief.

Er wendete sich um und lächelte ohne Verlegenheit mit jener still ergebenen Freundlichkeit, welche jeden großen Sturz zu begleiten pflegt, ungefähr so, wie er mir damals zulächelte, als er sich den Fuß verrenkt hatte.

»Wir kommen nun gleich in den Kastanienwald,« sagte er zu mir.

Einfach dies, ohne mir in seiner gewohnten erregten Sprache die Stimmen anzukündigen, welche im Walde zu mir reden würden. Beim Eintritt in das Gehölz, wohinein die Sonnenstrahlen kaum drangen, ging er geradesweges auf einen großen Baum zu, unter den wir uns setzten, reichte mir die umgehängte Strohflasche hin, löste die doppelte Umhüllung von einem Stück vortrefflichen Stracchinokäses und bot mir ein Brötchen an. Ich ließ mich nicht lange bitten; der Stracchino war köstlich und ich sprach es gegen Orazio aus, der mir vollkommen beistimmte, obgleich es ihm nicht zukomme, es zu sagen, aber die Wahrheit gehe allem vor.

»Bravo, Signor Orazio! So gefallen Sie mir!«

Der Käse feierte seinen Triumph, er verschwand und seinem Ende folgten ein Paar zu Hause gemachte Salamiwürste, die ein wenig mager, aber kräftig und aller Achtung wert waren.

»So geht es auch uns,« bemerkte ich mit vollem Munde; »in dieser Welt kommt für jeden seine günstige Viertelstunde, dann kommt die Viertelstunde eines anderen, und was man gehabt hat, das hat man gehabt.«

Orazio sah mich an und verstand mich nicht. Auch war meine Rede wirklich nicht ganz durchsichtig: Ich spielte auf Concettina an.

Nach diesem kurzen Mahl machten wir uns wieder auf den Weg. Durch das dichte Baumlaub drangen helle Töne zu uns; alle wurden von dem dumpfen und taktmäßigen Schall der Art eines Holzfällers beherrscht, ihm gesellte sich der trockenere und kreischende einer Astsäge zu – aber Orazio sagte mir nicht, aus welcher Tonart sie seien, und ich fragte nicht danach; auch ein kleiner Bach rieselte neben unseren Füßen und flüsterte vergeblich, ich weiß nicht was.

Wie Orazio mir vorhergesagt hatte, waren wir unserem Daheim schon sehr nahe und zwischen zwei Bäumen hindurch zeigte sich uns plötzlich das ganze Oertchen Pasturo, die Kirche, der Friedhof, das Wirtshaus ... und mein Haus! ...

»Und meines!« rief Orazio aus.

»Ja, es ist wahr, da ist es!«

Wir konnten hineinblicken wie in ein aufgeschlagenes Buch, das Auge konnte bis in die Küche und in die Speisekammer dringen.

»Geben Sie acht!« sagte ich. »Wenn jemand am Fenster vorbeigeht, so werden wir ihn sehen.« Aber Concettina ging nicht vorüber und ich sah mich in Gedanken schon wieder zu Hause, ohne die Möglichkeit zum Aussprechen dessen gefunden zu haben, was ich für Orazio auf dem Herzen hatte. Da stand er neben mir, weit gelehriger, als ich erwartete; er lehnte an einer Pappel und blickte unverwandt auf die Fenster seines Hauses.

Damit er nicht die Geduld verlieren möchte, stellte ich ihm allerhand schwierige Aufgaben; er sollte zählen, wieviel Küchlein hinter der weißen Henne im ländlichen Höfchen einhergingen; sollte die Zahl der eingekerbten gesalzenen Liebesäpfel angeben, welche Concettina auf das Dach des Hühnerstalles gebreitet hatte, um sie in der Sonne zu trocknen ...

Der gefällige und mit schärferen Augen als die meinigen begabte Orazio löste die Aufgabe schnell und ich zählte ihm sehr sorgfältig nach, um ihn auf einem Irrtum zu ertappen.

»Der Küchlein sind neun; Liebesäpfel sind sechzig da,« sagte er.

»Lassen Sie 'mal sehen – vier ... sieben ... neun ...«

»Und sechzig Liebesäpfel,« beharrte er.

»Jawohl, neun Küchlein ... und die Aepfel – sieben und sieben sind vierzehn ... und noch sieben ...«

»Doktor!« sagte Orazio plötzlich, »sehen Sie da ...«

»Wo?«

»In dem Baumgang des Gartens ... jene beiden ...«

»Concettina ...«

»Und einen anderen ... Wer ist der andere?«

»Lassen Sie mich ihn einmal genau ansehen ...«

Ich sah ihn ganz gut. Er war es, es konnte niemand anderes sein.

»Jetzt weiß ich's,« sagte ich langsam, die Worte dehnend, »das ist Ambrogio Nespoli; richtig, Papa Brighi war ja benachrichtigt, daß er von einem Tage zum anderen zu erwarten sei ... er scheint ein Mann zu sein, der seine Ideen schleunig ausführt, ein Mensch, der keine Zeit verliert ...«

»Wer ist denn dieser Ambrogio Nespoli?« fragte Orazio mit ungewöhnlicher Neugier.

»Es ist ein Makler; er macht jahraus, jahrein Geschäfte in Seide. Von hier gesehen, scheint er ein kleiner, ein bißchen untersetzter Mann – aber die Verkürzung täuscht ...«

»Ja, klein ist er und untersetzt,« bestätigte Orazio. »Und was hat der nur in unserem Hause zu suchen?«

»Er kommt,« antwortete ich bedeutsam, wie es einer so wichtigen Mitteilung entsprach, »er kommt, um sich Concettina anzusehen und sie zu heiraten, wenn sie ihm gefällt. Es ist eine gute Partie, und Concettinas Papa wird sich freuen, sein Mädchen wohl versorgt zu wissen.«

Orazios Gesicht hatte sich entfärbt, aber das war mir noch nicht genug; denn wer hätte nicht zwischen zwanzig und fünfundzwanzig Jahren etwas wie Eifersucht empfunden, wenn ein hübsches junges Mädchen aufhörte, der Gesamtheit der männlichen Jugend zu gehören, indem sie sich durch eine Verlobung an einen einzelnen jungen oder wohl gar an einen alten Mann fesselte?

»Und Concettina?« fragte mich mein Freund.

»Concettina ist alt genug, um zu heiraten, und kann nicht unvermählt bleiben; früher oder später muß sie sich doch dazu entschließen.«

Das begehrte er nicht zu wissen, sondern nur, ob Concettina ...

»Concettina weiß von nichts, sie hat den Signor Ambrogio Nespoli noch nie gesehen, aber sie wird ihn zunächst heiraten und dann wohl lieb gewinnen.«

Instinktmäßig legte er die Hände gegen den Mund und mit der vollen Lungenkraft, welche er besaß, begann er: »Concettina – a – a! Concettina – a – a!« zu rufen.

An das Ende der Allee gelangt, wendete Concettina soeben um.

»Concettina ... a!«

Das Mädchen hörte es nicht; aber der neben ihr wandelnde Herr erhob ein wenig den Kopf und blickte suchend umher.

»Concettina ... a!« rief Orazio noch ein letztes Mal, und mit einer Hand sich an der Pappel haltend, schwenkte er sein Taschentuch.

Ein anderes Tuch wurde von unten geschwenkt, aber o weh! es war das Ambrogio Nespolis! Schlimmes Zeichen!

Wir stiegen hinab – Orazio voran, ich hinterdrein, ohne ein Wort zu sprechen. Ein halbes Kilometer vor Pasturo fanden wir Toniotto, der auf uns wartete.

»Was thust du hier?« fragte ihn Orazio.

»Ich hatte mit dem Doktor zu reden,« antwortete der Unglückliche.

»Sind Sie unwohl?« fragte ich.

»Ich bin ganz wohl.«

Er war blaß und seine zitternden Lippen hielten kaum die Cigarre.

»Die Cigarette ist dir wieder schlecht bekommen,« sagte Orazio eilig zu ihm und eilte weiter.

Der Blick, welchen der mich nun begleitende Toniotto ihm nachschickte, sprach deutlich: »Undankbarer Bruder!«

Das übrige sagte er mit gebrochener Stimme, aber ohne Seufzer noch Thränen; es war ein kleines Drama, so alt wie die Welt: Toniotto liebte, liebte wie ein dummer Junge (so sagte er selbst, und man durfte es ihm glauben), liebte seine Cousine; aber seine Cousine schwärmte für Orazio, und Orazio achtete ihrer nicht, und nun war dieser Ambrogio Nespoli von Mailand gekommen, um die Cousine zu heiraten, und Toniotto wollte, daß Concettina glücklich würde, daß Orazio, daß alle glücklich würden, wenn auch er allein nicht ...

»Und was nun?«

»Doktor,« schloß er, »Sie müssen Orazio sagen, daß er schnell macht, daß er sie heiratet, daß er sich Concettina nicht von dem da wegschnappen läßt!«

»Guter Junge!« dachte ich, sprach es aber nicht aus; statt dessen sagte ihm ein warmer Händedruck: »Großmütiger Mann!«

Siebentes Kapitel.

Papa Brighi schritt in seinem Hofe auf und ab wie eine Seele in der Verdammnis.

»Es ist zu spät,« rief er mir zu, sobald er mich erblickte; »ich fürchte, daß es zu spät ist. Wo sind meine Jungen? Wo steckt nur der Esel?«

Er meinte Orazio.

»Sie sind jetzt eben mit mir gekommen und sind gleich um das Haus herum in den Garten gegangen.«

»Zu spät,« brummte er, »Nespoli ist schon hier ... wissen Sie's?«

»Ich habe ihn vom Berge aus gesehen, auch Orazio sah ihn, und ich glaube, es war ein heilsamer Anblick für Ihren Sohn.«

»Aber er kommt zu spät!« wiederholte er und schlug sich vor die Stirn; »seit zwanzig Minuten (nach der Uhr sehend) ist Nespoli da, seit zwanzig Minuten geht er mit ihr allein im Baumgang des Gartens auf und ab, und er sieht mir aus wie einer, der geradeswegs auf sein Ziel lossteuert, er hat so etwas Sicheres, Entschlossenes!«

»Aber wie konnten Sie das zulassen ...?«

»Sie haben recht! Aber wollen Sie wissen, wie es zuging? So hat er es angefangen: Er fällt da schon um zehn Uhr morgens ins Haus; Sie waren kaum fort, stellt sich mir mit einem Empfehlungsbrief meines Bruders vor, unter dem Vorwand, die Oertlichkeiten zum Zweck der Anlage einer Spinnerei zu besichtigen. ›Ist hier reichlich Wasser vorhanden? Sind die Wege gut? Wieviel Lohn erhalten die Arbeiter?‹ Und während ich ihm nach bestem Wissen antworte, verschlingt er Concettina mit den Augen. Ich mußte ihn zum Frühstück einladen. Sie hätten ihn bei Tische sehen sollen! Orazio, der Dummkopf, lief auf den Bergen umher, und unterdessen setzte jener seinen Angriff auf unser Mädel ins Werk. Wir haben sie verteidigt so gut wir konnten, ich und Toniotto. Es geschah alles, was möglich war. Toniotto ist ein gescheiter Junge, er meint es gut mit Concettina ... so haben wir denn immerfort von ihm, von dem großen Esel gesprochen ... Aber sprich du nur, auf dem Ohr hörte der Signor Nespoli nicht. Nach dem Frühstück nahm er mich beiseite und sprach: ›Ich will Ihnen die Wahrheit sagen, ich bin wegen Ihrer Nichte hier, mit dem Papa und der Mama bin ich einig; wenn sie mich will, so heirate ich sie.‹ So hat er zu mir geredet und ich war wie gelähmt davon.«

»Sie hätten ihm sagen müssen ...« bemerkte ich.

»Das that ich ja, Doktor, ich habe gesagt, was ich konnte. Ich glaube, äußerte ich, sie hat eine heimliche Neigung ... Aber er ließ mich nicht ausreden. ›Alle jungen Mädchen‹, antwortete er mir, ›haben mit achtzehn Jahren eine mehr oder weniger geheime Neigung zu jemand, der sie dann nicht heiratet; die Hauptsache ist, daß man zur rechten Zeit kommt; wenn jener andere, wer es auch sei (er sagte ›wer es auch sei‹, weil er nicht annehmen wollte, daß Orazio gemeint sein könne), wenn jener andere bisher nur von Liebe zu ihr gesprochen hat, so ist sie mein, denn ich werde sofort vom Heiraten anfangen. Alle Mädchen möchten gern einen Mann haben.‹ So sprach er zu mir. Glauben Sie wohl, Doktor, daß Orazio schon vom Heiraten zu Concettina geredet hat?«

»Und weiter?« fragte ich, um ihn nicht durch meine Antwort zu betrüben.

»Dann nichts weiter ... Das heißt, dann sagte er: ›Dort sitzt das junge Mädchen und liest; ich bitte nur um fünf Minuten, Sie erlauben‹ – das war alles – keine Silbe weiter. Und nun führt er da schon (nach der Uhr sehend) seit zwanzig Minuten seine Sache bei ihr. Ich bin hierher gegangen, um nicht zusehen zu müssen ... es thut mir weh ...«

»Aber wir wollen einmal zusehen,« sagte ich.

Und ich zog ihn mit aller Gewalt hinter mir her.

Die Scene im Garten war ganz anders, als ich sie mir vorgestellt hatte; der Signor Nespoli, ein kleines, etwas beleibtes, aber rüstiges und lebhaftes Männchen, sah sich den Himmel an Toniottos Seite an, der mutig eine Versöhnungscigarre anblies, dabei aber immerfort durch die zusammengepreßten Zähne sprach.

Concettina saß auf einer Bank, das Gesichtchen gerötet wie eine Erdbeere; Orazio stand vor ihr, neigte sich, um ihr in die Augen zu schauen, und sprach zu ihr ...

Ich sagte laut zu Papa Brighi: »Das Wetter hellt sich auf!«

Signor Nespoli hörte es und erklärte im Gegenteil, es werde bald regnen; ihm sei, als habe er schon einen Tropfen auf die Nase bekommen.

Nun trat Papa Brighi vor.

»Dieser hier,« sagte er, indem er mich grausam beim Arm nahm (die Kräfte waren ihm wiedergekehrt), »das ist der Doktor, aber er ist auch ein Freund, ein wahrer Freund, und immer zu unserem Heil da. Und dieser Herr,« setzte er hinzu, »ist Signor Ambrogio Nespoli, Seidenmakler, ein Freund meines Bruders ... aus Mailand hergekommen, um ...«

»Um sich über die Gegend zu unterrichten,« fiel Signor Nespoli ein; »einer meiner Bekannten möchte eine Spinnerei in Valsassina anlegen; aber ich habe schon gesehen, daß es damit nichts ist; heute abend werde ich mich in Introbbio umthun ...«

»Sie reisen heute abend nach Introbbio?«

»Ich will mich gleich dahin aufmachen; ich werde dem Kutscher sagen, daß er anspanne, um abzufahren ... wer weiß, ob es nicht noch vor der Nacht regnet.«

Er fabelte nochmals von dem Tropfen, der ihm auf die Nase gefallen, und wir thaten, als glaubten wir ihm. Eine Stunde darauf reiste er ab, von unseren besten Segenswünschen begleitet, das heißt nur von den meinigen, Papa Brighis und Toniottos, denn Concettina war zurückgeblieben und Orazio hatte sie nicht allein lassen wollen.

Es war wundervoller Sonnenschein.

Achtes Kapitel.

Mich erwartete im Garten das anmutigste Schauspiel, welches die Menschheit den Augen eines Beobachters im reiferen Alter bieten kann: Ein lieblich errötetes Mädchenantlitz und, von einem schwarzen Backenbart umschlossen, das befriedigte Lächeln einer siegreichen Werbung.

Da bedurfte es keiner Auseinandersetzungen, um uns zu verständigen.

»Papa Brighi,« sagte ich und versuchte, was mit ihm fast unmöglich war, eine Umarmung, »Papa Brighi, unsere Wünsche gehen in Erfüllung ...«

Ich setzte nichts hinzu, weil ich mir gegenüber Toniotto sah, weiß wie ein Betttuch und, wie mir's schien, mit den Thränen kämpfend.

Kaum näherte ich mich ihm, so wollte er mir vorreden, daß ihm der Rauch in die Augen gedrungen sei, und warf die Cigarre fort. Seine Verschämtheit forderte Schonung und ich riet ihm ernsthaft kaltes Wasser an.

»Es gibt nichts Besseres dagegen,« sagte ich: »halten Sie die Augen im Wasser offen und spülen Sie sie tüchtig aus.«

Der Aermste nahm meinen Rat an und ging, um ungestört die Thränen ins Waschbecken rinnen zu lassen.

Eine Viertelstunde darauf wandelten wir den Baumgang auf und ab, Concettina an dem mächtigen Arm ihres künftigen Schwiegervaters, ich neben Orazio, der mir sein Herz unbefangen öffnete.

»Ich habe sie immer lieb gehabt,« sagte er (natürlich meinte er Concettina), »kaum sah ich sie, so liebte ich sie; Concettina war noch ein Kind, stellte sich vor mich hin, um mir Gedichte herzusagen, ließ dabei die schelmischen Augen nach allen Seiten schweifen, erhob bald den einen, bald den anderen Arm und machte zum Schluß ihren Knicks – und ich fühlte, daß dies süße Geschöpfchen mir gehörte und aufwuchs, um mich zu beglücken.«

Das und mehr dergleichen sprach er mir aus – der nicht viel davon hatte. In diesem Bedürfnis sich mitzuteilen, welches den höchsten Gipfel der menschlichen Glückseligkeit bezeichnet, erklärte er sich Ambrogio Nespoli dankbar, der ihn durch seine Drohung, ihm Concettina zu rauben, aus seiner liebenden Duselei gerissen habe.

Während er so sprach, drangen unwirsche Baßgeigentöne bis zu uns; sie kamen von Toniotto, der feierlich der Liebe, dem Eheglück und allem Weiteren entsagte.

Als wir abends nach dem Essen in dem großen Gemach der Casa Brighi versammelt waren, umfaßte Orazio kühn seine Baßgeige und spielte, wie er noch nie gespielt hatte. Er neigte den Kopf auf die Saiten und berührte sie fast mit den Lippen, als wolle er ihnen einflüstern, was sie Concettina sagen sollten. Und die Baßgeige sprach lange mit ihrer seelenvollsten Stimme, Cello und Violine hätten es nicht besser vermocht; sie sprach von einer nicht fernen Zeit, wo Orazio und Concettina den Bund fürs Leben schließen würden; sie erzählte von dem geheimen Bangen und dem geheimen Jubel ihrer Herzen, sie flüsterte Concettinas Lebewohl an Papa und Mama, erzählte auch von einer Reise ins Ausland, aber flüchtig und obenhin; sie sprach zuletzt von der einstigen Nachkommenschaft und zählte bis auf neun Stimmchen, ohne daß die zarte Concettina sich zu entsetzen schien.

So redete die Baßgeige; aber das Beste von dem, was sie damals sprach, kam erst später so recht zum Verständnis der Glücklichen.

Ende.

 


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