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Kam Frau Eva von Prackwitz in diesen Wochen auf das Büro, um mit Herrn von Studmann die Wirtschaft zu besprechen, so vergaß Studmann nie, mit einem raschen, ernsten Aufblick zu fragen: Und Ihr Herr Gemahl? Was schreibt Prackwitz –?
Meistens bewegte Frau Eva dann verneinend ihre schönen, vollen Schultern, die sich in immer reizvolleren, leichteren Blusen verbargen (schien es Studmann). Manchmal aber sagte sie auch: Wieder eine Postkarte! Es geht ihm gut. Er hat jetzt sein fünfhundertstes Karnickel geschossen!
Ausgezeichnet! pflegte Herr von Studmann dann zu sagen. Und nun sprechen sie nicht weiter vom Rittmeister, sie sprechen von der Ernte, von der Arbeit. Sie sind beide zufrieden mit ihren Erfolgen, aber sie sind auch zufrieden mit einander. Was für zweckmäßig gehalten wurde, das wurde ohne langes Reden beschlossen und auch ausgeführt. Stellte sich dann hinterher heraus, daß es doch nicht zweckmäßig gewesen war, so wurde nicht lange bedauert, sondern geändert, verbessert, anderes erprobt.
Es kamen natürlich immer Fehler vor, große wie kleine. Es war nicht leicht für Herrn von Studmann, einen so großen, ihm ganz neuartigen Betrieb in der eiligsten Arbeitszeit zu übernehmen und zu leiten. Oft mußte er in einer Minute die schwierigsten Entscheidungen treffen. Es half kein Zögern: die Brücke zum Außenschlag 5 war zusammengebrochen, 20 Gespanne, 80 Leute standen tatenlos herum, sahen tiefsinnig das in den Graben gesunkene Erntefuder an, rekelten sich schon im Schatten und sprachen: da kannste nichts bei machen!
Herr von Studmann machte was dabei. In einer Minute sausten die Boten ab zum Hof, in fünf Minuten waren Hacken, Spaten, Schaufeln auf dem Felde. Eine Viertelstunde später war schon ein Damm durch den Graben gelegt, nach zwanzig Minuten kam ein Fuhrwerk aus dem Wald mit Knüppeln – es war noch keine halbe Stunde vergangen, so fuhren die Erntefuder wieder von Außenschlag 5 auf den Hof ...
Das ist ein Kerl! sagten die Leute.
Von dem möchte man direkt ein Kind haben! sagte die Hartigen bewundernd, obwohl sie jetzt Feldarbeit statt Büroreinigung machen mußte.
Das möchste wohl, Frieda! lachten die andern beifällig. Der ist eine andere Nummer als dein Negermeier!
Ja, Herr von Studmann machte sich recht gut, aber er hatte auch gute Hilfe. Es war ein wahres Wunder, wie der alte, eingeschüchterte, demütige Leutevogt Kowalewski auftaute, wie mancher vorzügliche Ratschlag, aus alter Erfahrung geboren, seinem Kopf entsprang! Bei den Leuten blieb er ja immer ein bißchen weich und lasch, aber da war es nun wieder erstaunlich anzusehen, wie der junge Pagel schwitzend, aber quicklebendig auf seinem Rad heranspritzte, mit den dollsten Weibern die unanständigsten Witze riß, aber genau sagte: Bis hierher kommt ihr bis Mittag – und bis dorthin zu Feierabend!
Wenn sie zeterten, das sei unmöglich, das Junkerchen möge es doch halbwege machen, sie seien doch bloße schwache Weibsen und kein solcher Kraftkerl wie er, so verspottete er sie, sie trauten sich doch wohl noch jeden Mann zu, und wenn man auf ihre Mäuler höre, sei der Knabe doch noch nicht geboren, der sie müde mache. Nun sollten sie es einmal beweisen!
Unter ihrem brüllenden Lachen fuhr das Junkerchen wieder ab, aber am Abend waren sie so weit, wie er gezeigt hatte. Oder vielleicht sogar ein Stückchen weiter, und das vergaß er nie festzustellen, lobend oder besser noch mit einem derben Witz. Er gefiel ihnen allen, besonders, da keine auf eine andere seinetwegen eifersüchtig sein konnte.
Der paßt in die Welt! sagten sie. Der kriegt mal 'ne feine Frau – nicht so einen Besen wie dich!
Na, und du –?! Dich Dreckhaufen kehre ich noch immer weg!
Als sie erfuhren, was er gewesen war – und mit ihrer wachen Neugier bekamen sie natürlich alles heraus, da hatten sie ihn erst Fähnrich genannt, dann den Fahnenjunker, dann den Junker, dann das Junkerchen. Und da er oft mit Fräulein Violet aufs Feld kam, so war es ihnen ganz so, als wären die beiden Besitzerssohn und -tochter. – Denn daß sie kein Liebespaar waren, das hatten die Frauen schnell weg.
Ja, Weio war in ihrer Verlassenheit Wolfgang Pagels ständige Begleiterin geworden. Ihre Mutter hatte wenig Zeit für sie, die Mutter war ja auch viel auf dem Feld. Frau Eva hatte ihre ganze Jugend in Neulohe verlebt, früher war sie mit ihrem Vater, dem alten Geheimrat, oft aufs Feld gefahren. Sie hatte gehört, was der Alte vor sich hin brabbelte, sie hatte gesehen, worauf er achtete. Sie wunderte sich, wieviel davon in ihr haftengeblieben war, sie hätte es nicht geglaubt. War sie mit dem Rittmeister aufs Feld gekommen und hatte etwas gesehen, so durfte sie es doch nicht gesehen haben, denn der Rittmeister hatte gleich gesagt: Davon verstehst du nichts. Kümmere dich bitte nicht um meine Wirtschaft. Und war sofort ärgerlich geworden.
Herr von Studmann wurde nie ärgerlich. Aufmerksam hörte er ihren Berichten zu, er ermutigte sie noch. Er sagte zu ihren Vorschlägen: Ausgezeichnet! und wenn er dann manchmal doch nicht das tat, was sie vorgeschlagen hatte, so begründete er seine abweichende Meinung so ausführlich und gut, daß sie ihm recht geben, aber auch rasch ein bißchen gähnen mußte. Herr von Studmann war sicher ein sehr zuverlässiger, ein tüchtiger Mann, aber er war ein bißchen umständlich. Es war nicht auszudenken, wie er es anstellen würde, wenn er ihr eines Tages seine Liebe erklären, begründen, motivieren, auseinandersetzen würde, sein Verhalten dem Freund gegenüber entschuldigen, erläutern würde, seine Forderungen für die Zukunft präzisieren würde. Nicht auszudenken war es! Herr von Studmann war bei aller Tüchtigkeit für einen Flirt das Untüchtigste von der Welt. Aber Frau Eva mußte zugeben, daß seine Art, bei einer nüchternen Kalkulation der Futtermittelmischung für den Kuhstall den Blick versonnen von ihrer Fußspitze bis zu ihrem Mund gehen zu lassen, dann ähemm! zu sagen und von neuem anzufangen, ihre Reize hatte.
Langsam, aber sicher, dachte Frau Eva. Sie hatte keine Eile, von Hast und Überstürzung hatte sie erst einmal genug. Übrigens bestanden wahrscheinlich gar keine festen Pläne und Absichten, die ruhige, achtungsvolle Verehrung Herrn von Studmanns tat ihr einfach gut: nach der Sturzflut von Unruhe, Streit, Hast der letzten Jahre ließ sie sich zufrieden von dem ruhigen Strom der Zuverlässigkeit und Ordnung, der von Studmann ausging, schaukeln und wiegen.
Aber es ist einzusehen, daß eine so vielseitig beschäftigte Mutter nicht genug Zeit für ihre Tochter haben konnte. Zuerst hatte Frau Eva noch den Versuch gemacht, Violet auf ihren Fahrten über das Feld, bei ihren Gängen zum Büro mit sich zu nehmen. Aber das hatte sich bald gegeben. Bei engerem, längerem Zusammensein hatte sich herausgestellt, daß das Verhältnis zwischen Mutter und Tochter eine ernstliche Trübung erfahren hatte. Mit Besorgnis sah Frau Eva, daß Weio gereizt alles ablehnte, was von ihr kam. Sagte sie, das Wetter sei heute so schön, so fand Violet es drückend; schlug sie vor, Violet solle doch einmal wieder baden gehen, so fand Violet Baden öde. Es war nichts zu machen, es war ein Widerstand da, eine Kampfstellung, etwas wie ernstliche Feindschaft.
›Vielleicht habe ich ihr wirklich Unrecht getan‹, überlegte Frau von Prackwitz. ›Vielleicht war da gar nichts – irgendeine harmlose Jungmädchengeschichte –, von irgendeinem Fremden hat man ja wirklich nichts mehr gehört. Und sie ist nun tödlich in ihrer Mädchenehre gekränkt. Nun, dann ist es das beste, ich erzwinge nichts, sondern lasse ihr Zeit. – Eines Tages wird sie doch wieder zu mir kommen.‹
Weio hatte also ihre Freiheit zurück, von Stubenarrest war nicht mehr die Rede. Aber was sollte sie nun mit sich anfangen? Wie leer dieses Leben geworden war! Sie konnte doch nicht ewig so weiter warten! Bei dem Gedanken, ein, zwei, drei Jahre zu warten – und vielleicht vergeblich zu warten, schauderte sie. ›Dann lieber noch ...‹ dachte sie. Aber sie wußte nicht, was lieber noch. Tod, der erste beste – sie wußte es nicht. Es mußte nur etwas geschehen! Aber es geschah nichts, rein gar nichts!
In den ersten Tagen ihrer wiedergewonnenen Freiheit war sie an all die alten Plätze gelaufen, wo sie mit Fritz gewesen war. Halbe Tage war sie im Wald auf und ab gegangen, dort, wo sie ihn einmal getroffen hatte. Die Stellen waren noch da, wo sie im Gras gelegen hatten, sie erinnerte sich an jede einzelne ... Es war, als habe sich das Gras eben erst wieder aufgerichtet, als sei das Moospolster eben erst wieder glatt geworden – aber er kam nicht mehr. Manchmal schien es, als sei er nie mehr gewesen als ein Traum!
Sie war auch in den Schwarzen Grund gegangen, nach langem Suchen hatte sie die geschickt verborgene Stelle gefunden, wo die Waffen vergraben waren. Lange ging sie dort auf und ab, er mußte doch einmal kommen und nachsehen, ob das Geheimnis noch unverletzt war – er kam nicht!
Manchmal traf sie auf ihren Wegen im Wald den alten Förster Kniebusch. Er schüttete ihr sein Herz aus. Nun hatten sie ihn dem Wilddieb Bäumer gegenübergestellt, der Lump mußte Wind bekommen haben von den Prahlereien des Försters. Er, der nicht einen Augenblick bei Bewußtsein gewesen war, nach seinem Sturz vom Rade, behauptete frech, der Förster habe ihn vom Rad geworfen, mit dem Kopf viele Male auf den Steinen gestoßen, ihn totschlagen, umbringen wollen! Sie hatten den alten Mann hart angefahren, sie hatten ihm gesagt, nur sein Alter schütze ihn vor sofortiger Haft. Von dem gewilderten Rehbock war nicht die Rede, erst sollte einmal der Totschlagversuch an dem Bäumer verhandelt werden! Und unterdessen lebte dieser Wilddieb wie ein Fürst im Krankenhaus, er hatte sein gutes Essen, fürsorgliche Pflege, ein Sonderzimmer, allerdings mit Gittern vor den Fenstern – es war ihm in seinem Leben noch nicht so gut gegangen, dem Lump, dem infamen!
Gelangweilt hörte Violet dies Gejammer an. Der Förster mußte ja selber wissen, was er von dem Gerede über einen Heldenkampf mit dem Wilderer Bäumer verantworten konnte! Sie hört erst wieder hin, wie der Förster berichtet, daß er auch den kleinen Inspektor Meier in Frankfurt getroffen hat. Doch der kleine Meier ist gar kein kleiner Mann mehr, er scheint ein großer Mann geworden zu sein, er hat Geld, viel Geld!
Der Förster schildert ausführlich, wie der Herr Meier gekleidet war, seine Eleganz, die kostbaren Ringe an seinen Fingern, eine goldene Uhr mit Sprungdeckel! Aber der kleine Herr Meier ist nicht hochmütig geworden, er hat den Förster zu einem Abendessen eingeladen, in ein feines Weinlokal. Es hat Rheinwein gegeben, und nachher Sekt, der zum Schluß mit rotem Burgunder gefärbt wurde, ›Türkenblut‹ hat der kleine Meier das genannt! Der Förster leckt sich die Lippen bei dem Gedanken an diese Schlemmerei.
Noch ein Schieber mehr! sagt Weio verächtlich. Dafür paßt der Negermeier ausgezeichnet! Und Sie haben ihm natürlich zum Dank für die Sauferei alles erzählt, was in Neulohe vorgeht?
Der Förster protestiert rot und aufgeregt gegen diesen Verdacht. Er hat nicht einmal erzählt, daß der Rittmeister nicht mehr hier ist, gar nichts hat er erzählt. Und im übrigen haben sie von ganz andern Dingen geredet ...
Von was haben Sie denn geredet? fragt Weio streitlustig. Aber das kann der Förster so genau nicht sagen. Betrunken sind Sie gewesen, Kniebusch! stellt Weio fest. Sie wissen überhaupt nicht mehr, was Sie geredet haben. – Na, Weidmannsheil!
Weidmannsdank! stammelt der Förster, und Violet geht allein weiter.
Der Förster langweilt sie mit seinem elenden Gewäsch, der Wald langweilt sie, die Großmutter mit ihren frommen Sprüchen langweilt sie. Der Großvater ist ewig geheimnisvoll verreist oder steckt beim Schulzen Haase oder ist schweigsam, nachdenklich und langweilig. Dem Diener Räder aber geht sie aus dem Weg, sie hat nicht einmal gefragt, wo er mit ihrem Brief geblieben ist. (Aber sie schließt jetzt, tags wie nachts, trotz des erstaunten Protestes der Mama, ihr Zimmer ab.) Ach, alles langweilt sie, ekelt sie ... Ganz erstaunt fragt sich Violet, was sie denn eigentlich früher den ganzen Tag angefangen hat, ehe der Fritz kam? Sie grübelt, sie weiß es nicht. Alles ist schal und leer – alles ist langweilig.
Als einziges bleibt Wolfgang Pagel. Ihn müßte sie eigentlich noch mehr hassen als die Mutter, aber bei ihm ist es ihr ganz gleichgültig, wie er über sie denkt, was er ihr sagt, wenn er sie auslacht. Es ist, als habe sie gar keine Scham vor ihm, als sei er eine Art Bruder.
Die beiden haben einen unglaublichen Ton miteinander, die Großmutter im Schloß würde auf der Stelle in Ohnmacht sinken, wenn sie ihre Enkelin, für die sie den Lüstling Wolfgang von Goethe reinigt, mit dem jungen Pagel reden hörte.
Nicht diese zärtlichen Berührungen, gnädiges Fräulein, konnte Pagel sagen. Ich sehe schon, Sie haben heute wieder ihren gewendeten Tag, bei dem das Innere sich nach außen kehrt. Schwarze Ringe um die Augen, aber bedenken Sie, ich bin nur ein schwacher, hinfälliger Mann ...
Bei diesem Ton konnte Violet nicht ganz mit. Sie hing sich in seinen Arm, drückte ihn sehr und sagte: Grade schön! Sie könnten ruhig mal ein bißchen nett zu mir sein. Sie brauchen nicht alles für Ihre Petra aufsparen.
Auf zusparen! korrigierte Pagel mit Studmännischer Pedanterie. Sie könnten vielleicht einmal den Versuch machen, gelegentlich Deutsch zu lernen –?!
Oh, er konnte sie ärgern, reizen, peinigen bis aufs Blut! Er hielt sie sich vom Leib, zu Küssen kam es nicht wieder, da paßte er auf. Manchmal lief sie, Tränen der Wut in den Augen, mit hochroten Backen von ihm fort. Sie schwor, daß er ein Feigling, ein Lump, ein Schlappschwanz sei, daß sie nie wieder ein Wort mit ihm reden würde ...
Am nächsten Morgen stand sie vor der Bürotür und wartete schon auf ihn.
Na, wieder in Gnaden? grinste er. Ich schwöre Ihnen, Violet, ich bin heute noch feiger, noch lumpiger, noch schlappschwänziger aufgelegt.
Wenn mein Fritz wiederkommt, rief sie mit blitzenden Augen, erzähle ich ihm, wie Sie mich behandelt haben. Dann fordert er Sie und schießt Sie über den Haufen. Da freue ich mich aber!
Pagel lachte nur.
Denken Sie, ich tu's nicht –? Ich tu's bestimmt! rief sie, schon wieder wütend.
Imstande sind Sie dazu, lachte er. Das weiß ich schon lange, daß Sie eigentlich ein ganz kaltes Aas sind und daß die ganze Welt Ihretwegen gerne verrecken kann, wenn Sie nur kriegen, was Sie haben wollen.
Sie sollen verrecken! schrie sie.
Ja. Ja. Aber nicht jetzt, jetzt muß ich erst mal in die Pferdeställe. Die Senta hat heute nacht gefohlt – kommen Sie mit?
Natürlich kam sie mit. Vor Rührung und Zärtlichkeit beinahe fassungslos stand sie vor dem kleinen, hochbeinigen Geschöpf mit dem großen Kopf. Sie flüsterte aufgeregt: Ist es nicht süß? Könnte man es nicht auffressen?! Ach, es ist himmlisch!
Mit einem tiefinneren Vergnügen sah Wolfgang seine Violet von der Seite an. ›Und so was würde mich mit dem gleichen Vergnügen im Dreck liegen lassen, Herzschuß. Oder lieber noch Bauchschuß, daß ich ihr noch ein bißchen was vorjammere. Nee, da ist Peter mir doch hunderttausendmal lieber! Du taugst nichts, außen hoppheh, aber innen faul! Ich habe nie was für die mulmigen Äpfel über gehabt!‹
Aber so ruhig und sicher sich Wolfgang Pagel sonst vor ihr fühlte, wie überlegen er seine kleine, gierige Violet anschaute, mit einem konnte sie ihn doch in eine fast sinnlose Wut bringen: wenn sie sich körperlich vor ihm gehen ließ. Drängte sie sich an ihn, markierte sie halb ironisch Zärtlichkeit und Leidenschaft, nun gut, es mochte hingehen, es war nicht angenehm, aber es war zu ertragen. (Obwohl die Rolle des Joseph vor der Potiphar immer etwas Lächerliches hat.) Sie war nun einmal wach gemacht worden, sie hatte nicht gelernt, sich zusammenzunehmen, sich etwas zu versagen.
Aber wenn sie mitten auf einem Weg durch die Felder nachlässig überlegen zu ihm sagte: Gehen Sie einen Schritt voraus, Pagel. Ich muß mal aufs Töpfchen; wenn sie sich beim Baden mit einer Ungeniertheit vor ihm auszog, als sei er ihre Großmutter – dann kam ein wilder Zorn über ihn. Am liebsten hätte er sie geschlagen, er beschimpfte sie maßlos, zitternd vor Erregung.
Verdammt noch mal, Sie sind doch keine Hure! schrie er.
Und wenn schon! sagte sie und sah ihn spöttisch, amüsiert an. Sie hätten ja doch keinen Bedarf.
Oder aber: Wie Sie wieder angeben! Ich denke, Sie sind in festen Händen? Warum regt Sie denn so was auf?
Verrottet! Verfault! Verdorben bis ins Mark! schrie er. Da ist kein Fleck an Ihnen, der nicht Dreck ist!
Flecken sind meistens Dreck! erklärte sie kühl.
Es war vielleicht nicht einmal die Beleidigung seiner Männlichkeit, die ihn so maßlos aufbrachte, trotzdem solche Dinge jeden Mann, und noch dazu einen dreiundzwanzigjährigen, empören müssen. Es war vielleicht viel stärker noch eine ihn plötzlich überkommende panische Angst: wohin gleitet sie ab? Gibt sie sich schon ganz verloren? Will sie bewußt in den Dreck? Ist dieser Fünfzehnjährigen schon alles zum Ekel?
Jeder anständige Mensch fühlt sich ein wenig für seine Mitmenschen verantwortlich –: nur die Bösen lassen ihre Brüder ohne Warnung in den Sumpf laufen. Pagel fühlte sich für seine tägliche Gefährtin Violet mit verantwortlich. War sein Zorn verraucht, versuchte er mit ihr zu reden, zu warnen. Aber es war unmöglich, ihr näherzukommen. Sie heuchelte ein völliges Unverständnis, sie saß in einem Stacheldrahtverhau alberner, landläufiger Redensarten: Alle Menschen sind so – man muß gemein sein, sonst wird man bloß schlecht behandelt. Oder aber: Finden Sie es etwa anständig, wie Herr Studmann vor Mama blazt, grade wo Papa erst abgereist ist – und ich soll anständiger sein?! So dumm! – Oder: Sie erzählen mir auch nicht, was Sie alles mit Ihrem Fräulein Petra aufgestellt haben, ehe Sie zerplatzt sind! Sehr anständig werden Sie da auch nicht gewesen sein. Da brauchten Sie nicht grade bei mir mit der Anständigkeit anzufangen – wenn ich auch bloß ein Mädchen vom Lande bin. – Oh, sie konnte teufelsschlau sein! Mit einem plötzlichen Übergang: Ist es wahr, das es in Berlin Lokale gibt, wo die Mädchen ganz nackt tanzen? Und da sind Sie drin gewesen? Na also! Und Sie wollen mir hier erzählen, Sie fallen in Ohnmacht, wenn Sie mal ein Stückchen von mir sehen?! Sie sind ja lächerlich!
Es war nichts zu machen, sie wollte einfach nicht. Hundertmal war Wolfgang Pagel drauf und dran, mit Herrn von Studmann oder der gnädigen Frau über das Mädchen Violet zu sprechen. Wenn er es doch nicht tat, so schwieg er nicht aus irgendeinem albernen Gefühl lebemännischer Diskretion, sondern viel eher, weil er sich sagte: Was sollen die Alten dabei machen, wenn sie auf mich Jungen schon nicht hört?! Mit Strafen und Predigten wird so was bloß schlimmer. – Vielleicht muß ich reden, wenn sie mal ausreißen will oder hier etwas passiert, aber solange alles seinen alten Trott geht, passiert ihr schon nichts. Mir irgendeinem von den Bengeln hier läßt sie sich bestimmt nicht ein – dafür fühlt sie sich viel zu sehr als großmächtige Erbin und möchte nichts von ihrem Nimbus als künftige Besitzerin einbüßen. Und wenn dieser Lebejüngling, der Herr Leutnant Fritz, wieder auftauchen sollte, so erfahre ich es sofort. Dann werde ich mir diesen Knaben einmal vorknöpfen und ihm meine Ansicht auf den Buckel schreiben, daß er das Wiederkommen in diese glücklichen Gefilde für immer vergißt ...
Pagel reckte und streckte sich. Er scheute sich nicht vor einer Prügelei mit dem längsten Laban des Dorfes. Das Vierteljahr Landleben hatte ihn in die Breite wachsen lassen, er fühlte sich für jeden Leutnant kräftig genug und für jeden Abenteurer hinreichend ausgekocht.
Na, wen möchten Sie denn jetzt umarmen? fragte Weio spöttisch.
Ihren Leutnant Fritz! sagte Pagel überraschend. Er sprang aufs Rad. Tjüs, gnädiges Fräulein. Heute früh wird es nichts mit unserm Spaziergang, ich muß zu meinen Husaren! Aber vielleicht um eins –?
Damit war er weg.
Komm doch zu uns herein, Violet! rief Frau Eva, die vom Bürofenster aus den Abschied der beiden beobachtet hatte, und der das enttäuschte Gesicht Weios leid tat. Ich fahre in einer Viertelstunde in die Stadt, Lohngeld holen. Komm mit – wir essen bei Kipferling Torte mit Schlagsahne.
Och! machte Weio unentschlossen und schob die Unterlippe vor. Ich weiß nicht, Mama. – Nein, danke schön, Schlagsahne macht auch bloß dick ...
Und sie ging rasch, um nicht wieder zurückgerufen zu werden, in den Park hinein.
Manchmal mache ich mir doch rechte Sorge, sagte Frau von Prackwitz.
Ja? fragte von Studmann höflich. Er saß über den Lohnlisten – obwohl er den Zahlen längst nicht alle Nullen gab, die ihnen zukamen, konnte keine Spalte den Reichtum fassen.
Sie ist so unentschlossen, so lasch. Es steckt kein Leben in ihr ...
Ein ziemlich kritisches Alter für junge Mädchen, nicht wahr? schlug Herr von Studmann vor.
Vielleicht ist es wirklich nur das, sagte Frau Eva bereitwillig. Was soll auch sonst dahinterstecken? Sie dachte nach, dann sagte sie vorsichtig: Sie ist eigentlich nur noch mit dem jungen Pagel zusammen, und der Ton zwischen den beiden scheint mir kräftig. Sie haben da keine Bedenken –?
Ich – Bedenken?
Studmann sah ein wenig zerstreut von seinen Lohnlisten auf. Wenn man für das Anschreiben des Bruttolohnes schon die Krankenkassenspalte zu Hilfe nehmen mußte, dann mußte man für die Kassenbeiträge die Invaliditätsspalte nehmen. Die Invaliditätsspalte war zu eng, man nahm die Lohnsteuerspalte dazu – und nun erwies sich, daß das Lohnbuch viel zu schmal war. Man hätte eine Art Atlas als Lohnliste haben müssen mit sämtlichen Längengraden des Erdballs ... Verdammte Zucht! Und stimmen tat gar nichts. Mit strengem, unmutigem Gesicht sah der ordentliche Herr von Studmann seine unordentlichen Lohnlisten an.
Herr von Studmann! flötete die gnädige Frau mit jener Taubensanftheit, die jeden Mann zusammenschrecken läßt, als hätte er einen elektrischen Schlag bekommen. Ich fragte Sie eben, ob Sie nicht Bedenken wegen des jungen Pagel hätten –?
Studmann fuhr zusammen, ganz wie es sich gehörte.
Oh, Pardon, gnädige Frau, ich bitte tausendmal um Entschuldigung! Ich war hier ganz in meine elenden Lohnlisten vertieft. Es wird immer schlimmer, ich kriege sie nicht mehr stimmend. Und ich sehe ein: es hat keinen Sinn mehr, sich damit zu quälen. Ich schlage vor, wir zahlen jetzt nur noch runde Summen, zum Beispiel für jeden verheirateten Mann einen Milliardenschein. Wir legen zwar etwas drauf, aber ich sehe keinen andern Weg.
Er sah Frau Eva gedankenvoll besorgt an.
Einverstanden, sagte sie friedlich. Und wenn Sie sich nun noch, nachdem die Geldfragen geregelt sind, mit meinen Besorgnissen als Mutter beschäftigen würden? Mit meinen Bedenken wegen des jungen Pagel –?
Herr von Studmann wurde sehr rot. Gnädige Frau, ich bin ein schrecklicher Esel. Wenn ich mich in etwas verrannt habe, ist gar nichts mit mir anzufangen. Ich will es Ihnen erklären ...
Nein, bitte nicht, lieber Studmann! rief Frau Eva verzweifelt. Ich möchte keine Erklärungen, sondern eine Antwort! – Manchmal, meinte sie nachdenklich, haben Sie doch eine verblüffende Ähnlichkeit mit Achim, so sehr Sie beide Gegensätze sind. Bei ihm kriege ich aus Hast, bei Ihnen aus Gründlichkeit keine Antwort. Das Ergebnis bleibt für mich: Ich weiß noch immer nicht, ob ich mir wegen des Herrn Pagel Sorgen machen muß.
Bestimmt nicht, erklärte Herr von Studmann eilig und schuldbewußt. Ganz abgesehen davon, daß Pagel ein völlig zuverlässiger Ehrenmann ist, er ist auch ganz ungefährlich – bestimmt!
Ich weiß nicht, sagte Frau Eva zweifelnd, er ist doch sehr jung. Und er ist gewissermaßen jetzt völlig auf der Höhe, er sieht die letzten Wochen richtig strahlend aus. Ich merke das, da wird es ein junges Mädchen doch auch merken?
Nicht wahr? fragte Herr von Studmann vergnügt. Er hat sich mächtig rausgemacht. Ich bin ganz stolz auf meinen Erfolg! Als er aus Berlin kam, war er ein Wrack, krank, unlustig, faul – fast verdorben. Und jetzt? Sogar die Zuchthäusler strahlen, wenn sie ihn zu sehen kriegen.
Und meine Violet auch! sagte die gnädige Frau trocken. Sie führen nicht grade einen Beweis für die Ungefährlichkeit des jungen Mannes ...
Aber, gnädige Frau! rief Herr von Studmann vorwurfsvoll. Er ist doch verliebt! So vergnügt und aufgeräumt und mit allem zufrieden ist doch nur ein Verliebter! Das muß man doch sehen – das sehe doch sogar ich vertrockneter Zahlenmensch. (Er wurde wiederum rot, aber nur wenig, unter ihrem leicht spöttischen Blick.) Als er hierher kam, hat er gedacht, die Sache wäre aus. Irgend etwas war ihm passiert, er war finster, ohne Leben. Nein, ich habe ihn nach nichts gefragt, ich wollte nicht. Ich halte Gerede über Liebe für unheilvoll, weil ...
Die gnädige Frau räusperte sich mahnend.
Aber seit einiger Zeit hat sich die Sache wohl wieder eingerenkt, er bekommt und schreibt Briefe, er ist munter wie ein Vogel, er arbeitet mit Lust – er möchte die ganze Welt umarmen!
Aber bitte nicht meine Weio! rief Frau Eva von Prackwitz mit Entschiedenheit.
Jawohl, Herr von Studmann hatte recht gesehen: Wolfgang Pagel schrieb und bekam wieder Briefe. Und Herr von Studmann hatte auch darin recht: Wolfgangs neue Lebenslust, seine wiedererwachte Tatkraft hing mit diesen Briefen zusammen, obwohl noch nicht eine Zeile von Petra gekommen, an Petra geschrieben worden war. Trotzdem fröhlich. Trotzdem tatenlustig. Trotzdem alle Welt umarmend. Trotzdem geduldig mit dem Kinde Violet.
Als die alte Minna den ersten Brief des jungen Herrn vom Briefträger in Empfang genommen, als sie die Schrift erkannt, als sie den Absender gelesen hatte, da flogen ihr die Glieder so, daß sie sich erst einmal still auf den Stuhl in der Diele setzen mußte.
Und da wurde sie ganz ruhig und nachdenksam.
›Ich darf die alte Frau nicht so erschrecken‹, dachte sie. ›Sie ißt nichts mehr, sie trinkt nichts mehr, sie tut nichs mehr, sie sitzt immer nur da und denkt nach. Und wenn sie meint, ich merke es nicht, zieht sie den Zettel aus der Tasche, den er ihr damals hingelegt hat, als er die Sachen heimlich wegholte, auf dem er geschrieben hat, daß er jetzt richtig arbeiten will und daß er nicht eher schreibt, bis er wieder zurecht ist. – Und nun hat er geschrieben!‹
Sie sah den Brief prüfend, mißtrauisch an.
›Aber vielleicht steht doch wieder was Dummes drin, was sie aufregt und noch unglücklicher macht!‹ Minna wurde immer zweifelhafter. ›Und vielleicht will er wieder nur Geld, und sitzt irgendwo fest ...‹ Sie drehte den Brief um, aber auf der Rückseite waren bloß die Freimarken. Sie drehte ihn wieder um. ›Die Schrift ist ganz ordentlich, Wolfi hat schon schlimmer geschrieben. Und auch Tinte, nicht bloß Blei. Nicht so eilig hingekliert, er hat sich Zeit gelassen. Es steht vielleicht doch etwas Gutes darin ...‹
Minna war eine Weile entschlossen gewesen, den Brief heimlich zu öffnen, und wenn gar zu schlimm, von sich aus zu beantworten. Wolfi war ja auch so etwas wie ihr Kind, sie hätte es getan, aber –: ›aber wenn es eine Freude ist, soll sie auch zuerst die Freude haben. Ach, es wird schon nichts Schlimmes sein!‹
Und damit war sie von ihrem Stuhl aufgestanden, Ruhe und Entschlossenheit waren bei ihr eingekehrt. Sie legte den Brief so unter die Zeitung, daß nichts von ihm zu sehen war, und als die gnädige Frau sich unlustig und trübe an den Kaffeetisch gesetzt hatte, verließ Minna gegen alle Gewohnheit ihren Plauderposten unter der Tür, brummelte was von ›Markthalle‹ und verschwand, taub für die Rufe ihrer Herrin. Sie rannte wirklich in die Markthalle auf dem Magdeburger Platz und erstand dort für 900 Millionen Mark eine Bachforelle – da würde die gnädige Frau heute mittag endlich wieder mit Appetit essen!
Sie würde es wirklich! Das sah Minna sofort, als sie die Wohnungstür aufschloß. Die Gnädige stand schon auf der Lauer, und ihre Augen funkelten, wie sie in den letzten acht Wochen nicht mehr gefunkelt hatten!
Alte Gans! begrüßte sie ihre Getreueste. Mußt du wirklich weglaufen, daß ich mit keinem Menschen ein Wort reden kann –?! Jawohl, der junge Herr hat geschrieben, er ist jetzt auf dem Lande, auf einem großen Gut, so etwas wie Lehrling. Aber er hat ziemlich viel Verantwortung, ich verstehe nichts davon – das mußt du selber lesen, der Brief liegt auf dem Kaffeetisch. Es geht ihm gut, und er läßt dich grüßen, und es ist wahrhaftig der erste Brief seit ich weiß nicht wie lange, wo er kein Wort von Geld schreibt. Und bei der Entwertung könnte ich es ihm nicht mal übelnehmen, selbst wenn er das Geld von dem Bild noch hätte, wäre es nichts mehr wert! Er scheibt mächtig fidel, so fidel hat er noch nie geschrieben; es muß da eine Masse komische Menschen geben, aber er scheint mit allen gut auszukommen. Nun, du wirst es ja selbst lesen, Minna, warum soll ich dir das alles erzählen? Dabeibleiben bei der Landwirtschaft will er aber doch nicht, soviel Spaß es ihm macht; er schreibt, es ist so eine Art Sanatorium. Mir soll es recht sein, und wenn er wirklich Taxichauffeur wird, ich rede ihm nicht mehr rein. – Aber antworten tu ich ihm nicht, das kommt natürlich gar nicht in Frage, ich habe nicht vergessen, wie Sie mir gesagt haben, ich habe ihm alles zu leicht gemacht. – Und dabei sind Sie's gewesen, die ihm immer die Bonbons zugesteckt hat, wenn er mal brüllte, Sie alte Superkluge! Ich hab gedacht, Sie antworten ihm erst einmal, und dann werden wir ja sehen, ob er gleich wieder schmollt und beleidigt ist. Dann ist es noch nichts mit dem Gesundwerden. Und, Minna, er möchte auch gern, daß wir eine Erkundigung einziehen. – Es ist mir nicht recht, nein, es ist mir gar nicht recht, aber ich rede ihm nicht wieder rein, und so können Sie sich heute nachmittag frei nehmen und mal hören. Und heute abend schreiben Sie ihm sofort; wenn der Brief heute noch in den Kasten kommt, hat er ihn morgen. Aber vielleicht ist da Landbestellung, dann wird es einen Tag später. Übrigens, einen Gruß könnte ich vielleicht doch drunterschreiben ...
Gnä' Frau, sagte Minna und sah mit gefährlich blitzenden Augen den Frühstückstisch an, den Brief aber gar nicht. Denn allmählich hatte sie ihre immer weiterredende Herrin mit sich aus dem Vorplatz über den Flur ins Speisezimmer gezogen. Gnä' Frau – und wenn Sie sich jetzt nicht sofort hinsetzen und nicht Ihr Ei und mindestens zwei Schrippen essen, dann lese ich den Brief nicht und dann schreibe ich auch keine Antwort heute abend ... Das ist doch nun wirklich die reine Unvernunft: erst essen Sie aus Kummer nichts, und dann essen Sie aus Freude nichts, und dann verlangen Sie noch, daß Wolfgang ein ruhiger, vernünftiger Mensch ist ...
Hör auf, du redest einen ja tot, Minna! befahl die gnädige Frau. Lies jetzt den Brief, ich esse ja schon ...
Aber obwohl Frau Pagel wirklich gut zum Frühstück aß und auch mittags der Neunhundert-Millionen-Forelle alle Ehre antat, an diesem Tage wurde die Antwort an Wolfgang Pagel noch nicht geschrieben.
So leicht war die erbetene Auskunft nicht einzuziehen, so leicht war die Spur aus der Georgenkirchstraße in die Fruchtstraße nicht zu finden.
Minna mußte auf ihrer Irrfahrt durch die Meldeämter Berlins noch manchen Weg machen, noch manche Stunde geduldig auf Auskunft warten, fragen und sich fragen lassen, hierhin und dorthin geschickt werden, bis sie schließlich doch recht verwundert vor dem großen Plankenzaun stand, auf dem, neben den üblichen Kreidemalereien der Kinder: ›Wer dies liest, ist dohf‹, in großen weißen Buchstaben gemalt stand: ›Emil Krupaß Wwe., Produktenhof‹.
›Hier?!‹ fragte sich Minna zweifelhaft und ein bißchen verzweifelt. ›Da haben sie mich doch bestimmt wieder falsch geschickt!‹ Und sie spähte ärgerlich durch das Tor auf den großen Hof, der mit seinen Bergen aus rostigem, altem Eisen, seinen verschmutzten Flaschenbatterien und den alten, geplatzten Matratzenhaufen wirklich nicht sehr einladend aussah.
Obacht! schrie ein junger Bengel und rasselte mit seinem Hundegespann haarscharf an ihr vorüber auf den Hof. Zögernd folgte ihm Minna. Aber auf ihre Frage in einem Schuppen nach Fräulein Ledig wurde ihr ganz bereitwillig geantwortet: Ist bei den Lumpen. Da hinten – die schwarze Baracke!
Minna ging schon williger, erwägend: ›Das arme Ding! Sie wird auch ihre Not haben, ihr bißchen Lebensunterhalt sich zusammenzurackern.‹
Minna fand, es sah fürchterlich dreckig aus in der alten Baracke, und noch fürchterlicher stank es. Mit einem Wohlgefühl dachte sie an ihre hübsche, saubere Küche, und wenn die Petra wirklich hier drinnen steckte, tat sie ihr noch dreimal so leid!
Fräulein Ledig! schrie Minna in das graue Dunkel, in dem Gestalten hockten und Staub wirbelte, und sie mußte husten.
Ja? fragte eine Stimme.
Und dann kam es auf die hustende Minna zu, und es hatte einen blau-grünen Mantel an und sah komisch verändert aus, aber oben darauf saß das alte, liebe, klare, einfache Gesicht.
Gott, Petra, Kind, bist du's denn wirklich? sagte Minna und starrte sie an, was sie nur starren konnte.
Minna! rief Petra erstaunt und erfreut. Hast du mich also wirklich gefunden?!
(Und beide merkten es gar nicht, daß sie sich plötzlich Du nannten, Was sie nie zuvor getan hatten. Aber das ist eben so: es gibt Menschen, die merken erst, wenn sie sich lange nicht gesehen haben, beim Wiedersehen, wie gern sie sich haben.)
Petra! rief Minna und fiel natürlich sofort mit der Tür ins Haus. Wie siehst du denn aus?! Du bist doch nicht –?
Doch! lächelte Petra.
Wann –? schrie Minna fast.
Ich denke, zu Anfang Dezember, antwortete Petra, wieder lächelnd.
Aber das muß ich dem Wolfi auf der Stelle schreiben!
Das wirst du dem Wolf unter gar keinen Umständen schreiben!
Petra! sagte Minna flehend. Du bist doch nicht etwa böse mit ihm?
Petra lächelte nur.
Du bist doch nicht etwa nachtragend?! Das hätte ich nie von dir gedacht!
Sie sahen sich eine Weile schweigend an, in der staubigen Lumpenbaracke. Ritsch, ratsch sortierten die Weiber die Lumpen. Sie sahen einander prüfend ins Gesicht, als müßten sie erkennen, wie sehr sich ein jedes verändert.
Komm doch raus aus der schlechten Luft, Petra, bat Minna. Hier können wir doch nicht reden!
Ist er draußen –? fragte Petra langsam, mit großen Augen. Sie dachte daran, was die Mutter Krupaß einmal gesagt hatte, daß sie laufen würde, wenn er auf der andern Straßenseite stünde. Sie wollte partout nicht laufen.
Minna sah Petra prüfend an; plötzlich wußte sie, es war gar nicht gleichgültig, was sie für eine Schwiegertochter bekamen. Viel Kummer vertrug die alte Frau bestimmt nicht mehr.
Sollen wir hier stehen und Wurzeln schlagen in dem Dreck und Mief?! rief sie, mit dem Fuß aufstampfend. Wenn er draußen ist, wird er dich schon nicht beißen.
Petra wurde erschreckend blaß, man sah es selbst in der dunklen Kabache. Aber sie sagte entschlossen: Wenn er draußen ist, geh ich nicht raus. Das habe ich versprochen!
So, du gehst nicht raus?! schimpfte Minna. Das wird ja immer schöner! Du gehst nicht zu dem Vater von deinem Kind?! Wem versprichst du denn solche Sachen –?
Ach, sei bloß still, Minna! schalt Petra, und jetzt stampfte sie mit dem Fuß auf. Warum schickt er dich denn?! Ich dachte, er wäre ein bißchen anders geworden. Aber so ist er immer gewesen: wenn ihm was unangenehm war, ließ er es andere tun.
Du mußt dich nicht so aufregen, Petra, riet Minna. Das kann ihm nicht gut sein.
Ich rege mich nicht die Spur auf! rief Petra und wurde immer zorniger. Aber soll man sich da nicht ärgern, wenn er nie und nichts lernt und sich überhaupt nicht ändert?! Und nun ist er also wieder bei euch untergekrochen?! Alles genauso, wie es die Krupaß vorausgesagt hat!
Die Krupaß –? fragte Minna eifersüchtig. Ist das die Witwe, die draußen am Zaun angeschrieben steht? Erzählst du der die Geschichten von unserm Wolfi? Das hätte ich nie von dir gedacht, Petra!
Einen Menschen muß man haben, mit dem man sprechen kann! sagte Petra entschieden. Auf euch konnte ich nicht warten. – Was macht er denn jetzt? Und sie deutete mit dem Kopf nach draußen.
Also hast du richtig Angst vor ihm und willst ihn gar nicht sehen? fragte Minna, entsetzlich böse. Wo er doch der Vater von deinem Kind ist!
Aber plötzlich war es, als hätte ein Gedanke allen Zweifel, alle Angst und Sorge der Petra aus dem Gesicht gewischt. Die alten, klaren Züge traten wieder hervor, in der bittersten Not bei der Pottmadamm hatte Minna diese Züge nie böse oder weinerlich gesehen. Und es war auch der alte Klang in der Stimme, jawohl, aus ihren Worten läutete wieder das alte Erz, es erklangen die alten Glocken Vertrauen, Liebe, Geduld.
Petra faßte ruhig der Minna zuckende Hand zwischen die ihren und fragte: Du kennst ihn doch auch, alte Minna, und du hast ihn sogar groß wachsen sehen, und du weißt, daß man ihm nicht böse sein kann, wenn man ihn kommen sieht, und wenn er so lacht und seine Witze mit uns armen Weiberchen macht ... Daß einem das Herz dann gleich fortfliegt und daß man immerzu glücklich ist und an nichts mehr denkt, was er einem vielleicht mal angetan hat ...
Das weiß Gott! sagte Minna.
Aber, Minna, jetzt wird er doch ein Vater sein müssen und an andere denken. Es soll doch nicht nur sein, daß alle strahlen, wenn er da ist, sondern er soll Sorgen mit tragen helfen und arbeiten und auch einmal ein ärgerliches Gesicht vertragen, ohne gleich für einen halben Tag auszureißen. Und die Krupaß hat recht, und hundertmal hab ich es in diesen Wochen gedacht: er muß erst einmal ein Mann werden, ehe er ein Vater sein kann. Jetzt ist er doch bloß unser aller verzogenes Kind ...
Da hast du recht, Petra, das weiß Gott, stimmte Minna zu.
Und wenn ich noch hier mit dir stehe und abwechselnd am ganzen Leib heiß und kalt werde, so ist es doch nicht, weil ich auf ihn böse bin oder ihm etwas nachtrage oder ihn strafen will! Wenn er hier reinkäme, Minna, und gäbe mir die Hand und lächelte mich an auf seine alte Art – ach, ich weiß mir ja gar nichts Besseres, als ihm um den Hals zu fliegen. Ich wäre ja so glücklich! Aber, Minna, sagte Petra sehr ernsthaft, es darf doch nicht sein, ich habe es doch jetzt eingesehen, ich darf es ihm doch nicht immer wieder so leichtmachen! In der ersten Stunde wäre es wunderschön, aber schon in der nächsten Stunde dächte ich: soll denn mein Kind solch einen verwöhnten Liebling zum Vater haben, vor dem ich keinen rechten Respekt habe?! Nein, Minna, und tausendmal nein! Und wenn ich hier einen Tag und eine Nacht in der Lumpenbaracke sitzen soll, und wenn ich auch von hier wieder fortlaufen soll, fortlaufen vor ihm und vor meiner eigenen Schwäche –: ich habe es der Krupaß und mir fest versprochen: er soll erst etwas sein. Und wenn es nur ein ganz bißchen ist; und vor einem halben Jahr will ich ihn überhaupt nicht wiedersehen ...
Sie hielt einen Augenblick inne, dachte nach und sagte traurig: Aber nun ist er ja doch wieder bei euch alten Frauen untergekrochen, der junge Mensch!
Aber nein, Peterchen! rief die alte Minna sehr vergnügt. Was bildest du dir denn ein?! Gar nicht ist er das!
Jetzt lügst du aber, Minna, sagte Petra und löste ihren Arm aus dem der andern. Du hast es doch selber gesagt!
Gar nichts habe ich davon gesagt! Nein, komm jetzt nur mit raus. Ich habe genug von eurem Gestank und Staub ...
Ich gehe nicht heraus. Ich gehe nicht zu ihm! rief Petra und wehrte sich kräftig.
Aber er steht ja gar nicht draußen! Das bildest du dir doch nur ein!
Du hast es selbst gesagt, Minna – bitte, laß uns hierbleiben!
Ich hab gesagt, ich will ihm schreiben, daß du ein Kindchen erwartest –: Wie kann ich ihm denn schreiben müssen, wenn er draußen steht! Du hast dir alles bloß eingeredet, Petra, weil du die Angst hast, die Angst vor deinem eigenen Herzen und die Angst um das Kind. Und weil du Angst hast, darum ist alles gut. Und jetzt soll mir nur einer kommen, die Gnädige oder sonst einer, und ein Wort über dich sprechen – ich weiß Bescheid! Und ich bin froh, daß du so geredet hast, denn nun weiß ich auch, was ich ihm schreiben muß, nicht zu viel und nicht zu wenig. Aber jetzt laß dir eine Stunde freigeben und komm mit mir, es wird ja hier in eurer Gegend so etwas geben wie ein Café, und du erzählst mir alles, und ich erzähle dir alles. Den Brief von ihm habe ich meiner Gnädigen auch für dich stibitzt, und sie hat kein Wort gesagt, trotzdem sie es gut gesehen hat. Aber du mußt ihn mir wiedergeben, du kannst ihn dir ja schnell abschreiben – wo gehen wir also hin? Und bekommst du auch frei?
Ach, Minna! sagte Petra übermütig. Wie soll ich denn nicht freibekommen –? Ich gebe mir ja selber frei! Denn alles, was du hier siehst, und sie trat mit Minna auf die Schwelle des Schuppens, alles, die Lumpen und das Papier und das Alteisen und die Flaschen – das steht unter meinem Kommando, und die Leute, die hier arbeiten, natürlich auch. Herr Randolf, sagte sie freundlich zu einem alten Mann mit Seehundsbart, ich gehe mit meiner Freundin ein bißchen rauf zu mir. Wenn was Besonderes ist, brauchen Sie mich nur zu rufen.
Wat soll denn Besonderes sind, Frollein? fragte der alte Mann kollerig. Jlooben Sie, die rollen uns hier heute nachmittag noch Wilhelm seine Krone an –?! Legen Sie sich man ruhig lang. Wenn ick wäre wie Sie, ick steckte mir nich 'nen halben Nachmittag bei die Lumpen!
Na schön, Herr Randolf, sagte Petra vergnügt. Es ist auch mein erster Besuch in dem Vierteljahr.
Und damit gingen die beiden hinauf in die kleine Wohnung der Mutter Krupaß, und sie setzten sich hin und redeten und erzählten. Und nach einer Weile legte sich Petra dann wirklich lang, aber sie redeten und erzählten weiter. Als aber die Zeit für Minna gekommen war, heimzugehen, um ihrer Gnädigen das Abendessen zu machen, wurde Minna verwegen, und sie tat, was sie seit urdenklichen Zeiten nicht getan hatte: sie ging ans Telefon und sagte an, sie käme nicht, und der Schlüssel zur Speisekammer liege im rechten Fach vom Küchenbüfett hinter den Löffeln, und der Schlüssel zum rechten Fach stecke in der Tasche von ihrer blauen Schürze, die bei den Geschirrhandtüchern hänge. Und ehe Frau Pagel diese klare Weisung noch ganz erfaßt hatte, hängte Minna schon ab: Denn sonst quetscht sie mich ja doch schon am Telefon aus, und sie kann auch mal warten. Und nun erzähle mir weiter von deiner Mutter Krupaß – klaut Hemdenknöpfe und hat doch ein gutes Herz. So was steht auch nicht im Katechismus und in der Bibel. Wie lange hat sie, sagst du –?
Vier Monate – und das paßt grade, als hätten die's auf dem Gericht gewußt. Denn Anfang Dezember komme ich zu liegen, und Ende November kommt sie heraus. Sie hat's auch gleich angenommen, ihr Anwalt, der Herr Killich, hat gesagt, sie soll froh sein. Aber ein Jammer ist es doch, wenn so 'ne alte Frau vor den Richtern steht, ich hab's mit angesehen. Und der Richter hat sie auch mächtig runtergeputzt, und sie hat immerzu geweint, ganz wie ein Kind, die alte Frau ...
Es war wirklich halb elf Uhr nachts geworden, ehe Minna nach Haus kam. Sie hatte wohl das Licht im Zimmer ihrer Gnädigen gesehen, aber sie dachte ›Warte du man!‹ und schlich leise in ihre Kammer. Aber doch nicht leise genug für die Ohren von Frau Pagel. Denn die rief ganz lebhaft durch die Tür: Sind Sie das, Minna? Na, Gott sei Dank, ich dachte schon, Sie legten sich auf Ihre alten Tage noch aufs Nachtleben.
Das wird wohl so sein, gnä' Frau, sagte Minna brav. Und dann ganz scheinheilig: Haben gnädige Frau sonst noch Wünsche?
I du falsche Katze! rief die gnädige Frau entrüstet. Tust du so, als wenn du nicht wüßtest, was mich juckt?! Was hast du ausgerichtet –?
Ach, nichts Besonderes, sagte Minna gelangweilt. Bloß, daß gnä' Frau demnächst Großmutter werden!
Und damit fuhr Minna mit einer Geschwindigkeit, die man dem alten, knochigen Besen nie zugetraut hätte, in ihre Küche, und von der Küche in ihre Kammer, und die Kammertür schloß sie so geräuschvoll, daß klarwurde: heute abend war die Sprechstunde aus!
I du Donner! sagte die alte Gnädige, rieb sich energisch die Nase und sah träumerisch die Teppichstelle an, auf der eben noch ihr Hausdrache gestanden. Kommst du mir so?! Großmutter! Eben noch verwaiste Frau ohne allen Anhang, und nun plötzlich Großmutter ... Nein, die Arznei schlucken wir noch nicht, wenn du sie mir auch noch so gerissen eingibst, du alter, rachgieriger Teufel, du!
Damit schüttelte Frau Pagel ihre Faust in dem leeren Flur und zog sich zurück in ihre Gemächer. Schlecht bekommen aber mußte ihr die Nachricht doch nicht sein, denn sie schlief so fest und so rasch ein, daß sie nicht mehr hörte, wie die Minna noch einmal aus dem Hause schlich, einen Brief in der Hand, den sie sogar noch ganz bis zum Postamt trug – und es war doch nun schon nach Mitternacht!
Und dieser Brief wurde der Anfang jenes Briefwechsels mit Neulohe, der aus Wolfgang Pagel einen jungen Mann machte, der, nach Herrn Studmanns Worten, die Welt zu umarmen schien, und das, obwohl nicht eine Zeile von Petra Ledig dabei war –!
Wenn Wolfgang Pagel allein zu den Zuchthäuslern radelte, und wenn Violet von Prackwitz sich ohne Widerspruch darein fügte, obwohl ihr ein Vormittag mit dem jungen Mann lieber gewesen wäre, so waltete hier ein höherer Wille, dem alle in Neulohe sich zu fügen hatten: der des Oberwachtmeisters Marofke. Dieser lächerliche, kleine, eitle Mann mit Spitzbauch machte nicht nur die Gesichter seiner Zuchthäusler griesgrämig. Wenn er mit irgendeinem seiner nie aufhörenden Wünsche das Gutsbüro betrat, stöhnte Frau von Prackwitz: Ach du lieber Gott!, und Herr von Studmann legte seine Stirn in ärgerliche Falten. Die Kollegen, die Wachtmeister und Hilfswachtmeister, schimpften über den Kollegen – aber leise; die Mädchen in der Küche schimpften über den ›eingebildeten Hanswurst‹ – und sehr laut.
Immer hatte Marofke Ausstellungen, ewig war ihm etwas nicht recht. Jetzt war das Hammelfleisch im Essen für die Gefangenen zu fett, nun war das Schweinefleisch zu spärlich. Seit drei Wochen hatte es keine Erbsen gegeben, aber zweimal in der Woche war Weißkohl gekocht worden. Die Leute kamen nicht rechtzeitig von der Arbeit, und das Essen war nicht rechtzeitig fertig. Dies Fenster mußte zugemauert werden: die Gefangenen konnten sonst in ein Zimmer sehen, das Mädchen bewohnten. Es war unzulässig, daß das Klo neben der Schnitterkaserne auch von Leuten aus dem Dorf benutzt wurde, zum Beispiel von Frauenzimmern. Es war ebenso unzulässig, daß sich Frauen in der Nähe der arbeitenden Kolonne sehen ließen, das konnte die Leute aufregen.
Es riß nicht ab, es hörte nie auf! Dabei machte dieser infame Speckjäger sich selbst das Leben verdammt leicht. Die Überwachung der Kolonne überließ er meistens seinen Untergebenen, den vier Wachtmeistern. Er saß fast den ganzen Tag in seiner Kaserne, füllte mit wichtigtuerischer, eitler Miene Listen aus oder schrieb Berichte an die Zuchthausverwaltung, oder er schritt ruhelos in den Räumen der Kaserne umher, riß jedes Bett auseinander, durchsuchte es. Ein Löffelstiel, aus dem ein Gefangener sich einen Pfeifenreiniger gemacht hatte, rief sein intensivstes Nachdenken hervor: was sollte nun dieses wohl wieder bedeuten? Gewiß, ein Pfeifenkratzer, aber wer sich einen Pfeifenkratzer macht, kann sich auch einen Dietrich machen! Und er revidierte alle Schlösser, die Gitterstäbe und die Stellen, an denen die Gitterstäbe in der Wand fest saßen. Dann strich er zum Klo-Häuschen, hob die Klappen hinten hoch und prüfte, ob nur Klopapier oder ob vielleicht doch zerrissene Fetzen eines Briefes da unten lagen.
Aber die meiste Zeit saß er auf der Bank vor der Schnitterkaserne, mitten in der Sonne, drehte die Daumen über dem fetten Bauch, hatte die Augen halb geschlossen und dachte nach. Die Leute, die ihn da so behaglich-verschlafen sitzen sahen, lachten verächtlich über ihn. Denn auf dem Lande ist es eine Schande für einen gesunden Mann, in der Erntezeit faul dazusitzen. Jeder wird gebraucht, es gibt nie genug Arme.
Aber es muß zugegeben werden, daß der Herr Oberwachtmeister Marofke nicht irgendwie träumerisch versonnen in der Sonne saß: er dachte wirklich nach. Er dachte ununterbrochen über seine fünfzig Gefangenen nach. Er erinnerte sich ihrer Vorstrafen, ihrer Straftaten, ihres Alters, ihrer Beziehungen zur Welt, ihrer Reststrafen. Mann für Mann prüfte er ihre Charaktere, er dachte an Vorkommnisse im Zuchthaus, winzige Ereignisse, die aber doch grell zeigten, wessen ein Mann fähig war. Wenn die Leute aßen, ruhten, plauderten, schliefen, beobachtete er sie ununterbrochen. Er achtete darauf, wer mit wem redete, auf Freundschaften, auf Abneigungen. Und als Ergebnis seiner Überlegungen und Beobachtungen gab es ständig Verlegungen, Feinde wurden zusammengebracht, Freundschaften auseinandergerissen. Die einander widerlich waren, mußten in den Betten nebeneinander schlafen. Marofke änderte die Tischrunde ständig, er bestimmte, wer neben wem gehen durfte, wer allein arbeiten mußte, wen die Beamten ständig im Auge zu behalten hatten.
Die Gefangenen haßten ihren Marofke wie die Pest; die Beamten, denen er endlose Scherereien machte, fluchten hinter seinem Rücken über ihn. Bei dem geringsten Widerspruch lief Marofke krebsrot an, sein dicker Bauch wackelte, es zitterten seine hängenden Hamsterbacken, er schrie: Ich mache Sie verantwortlich, Wachtmeister! Sie haben einen Eid geschworen, Ihre Pflicht zu tun!
Studmann sagte geekelt: Es gibt eben solche Meckerköppe! Am besten läßt man sie laufen! Denen würde sogar der liebe Gott nichts recht machen!
Pagel sah Herrn von Studmann an und widersprach: Nein! Diesmal irren Sie sich. Das ist ein ganz schlauer Fuchs. Und tüchtig!
Ich bitte Sie, Pagel! hatte Studmann ärgerlich gesagt. Haben Sie den Mann schon je regelrecht Dienst tun sehen wie seine Kollegen? Jawohl, in der Sonne sitzen und sich neue Meckereien ausdenken, das kann er! Leider habe ich dem Kerl nichts zu befehlen, er untersteht nur der Zuchthausverwaltung, aber Sie können sicher sein: wäre ich sein Vorgesetzter, ich brächte das fette Kind ein bißchen auf den Trab!
Sehr tüchtig, hatte Pagel unbeirrt gesagt. Und schlau. Und fleißig. Nun, Sie werden es noch einsehen.
Jawohl, Wolfgang Pagel war der einzige, der an die Meriten dieses unausstehlichen Hanswurstes glaubte, und daher kam es wohl auch, daß die beiden sich gut vertrugen, ja, der meckrige Marofke hatte einen richtigen Affen an dem jungen Pagel gefressen.
Auch an diesem Morgen war Pagel, ehe er auf das Feld hinausfuhr, bei der Schnitterkaserne vom Rad gestiegen und hatte dem Oberwachtmeister einen kleinen Besuch abgestattet. Herr Marofke war für solche Höflichkeiten sehr empfänglich.
Er saß an seinem Tisch, hatte einen dunkelroten Kopf und starrte auf einen Brief, den ihm wohl eben der Postbote gebracht hatte. Pagel warf nur einen Blick auf den Kleinen, er sah, es saß Sturm in der Wolke, er fragte harmlos: Na, was Neues im Westen, Ober?
Der Kleine sprang so plötzlich auf die Füße, daß der Stuhl krachend umfiel. Klatschend schlug er auf den Brief, er rief: Jawohl, Neues! Aber nichts Gutes! Abgelehnt, Fähnrich, mein Antrag auf Ablösung ist abgelehnt!
Wollten Sie denn weg von uns? rief Pagel erstaunt. Davon weiß ich ja gar nichts!
Ich weg? Unsinn! Ich werde mich doch nicht von so einem schwierigen Posten ablösen lassen! Ich ein Drückeberger? Nee, Fähnrich, nie gewesen – die Leute können über mich reden, soviel sie wollen! Nein, sagte er ruhiger, Ihnen kann ich es ja erzählen, Sie halten dicht. Ich hatte beantragt, fünf Leute abzulösen, weil sie mir nicht mehr sicher scheinen. Und die Bürofatzken lehnen es mir ab – mein Antrag sei nicht begründet! Die brauchen erst einen totgeschlagenen Beamten auf ihrem Büro – dann haben sie ihre Begründung, dann sind sie froh! – Affen!!
Aber es ist doch alles ganz ruhig und friedlich, sagte Pagel beruhigend. Mir ist nicht das geringste aufgefallen. Oder hat sich heute nacht was ereignet?
Bei Ihnen muß sich auch erst etwas ereignen, knurrte der Oberwachtmeister mürrisch. Wenn sich in einem Zuchthauskommando was ereignet, junger Mann, dann ist es auch schon zu spät. Aber Ihnen nehme ich es nicht übel, Sie haben keine Erfahrung, und Sie verstehen nichts von Zuchthäuslern ... Nicht einmal meine Kollegen sehen etwas, sie haben ja erst heute früh wieder gesagt, bei mir piept es – lieber bei mir piepen, als eine Nachteule sein, die bei Tage nichts sieht!
Aber was in aller Welt ist denn los? fragte Pagel, erstaunt über soviel Ingrimm. Was haben Sie denn gefunden, Herr Oberwachtmeister –?
Nichts! sagte der Oberwachtmeister dumpf. Keinen Zettel, keinen Dietrich, kein Geld, keine Waffe – nichts, was auf Flucht oder Aufruhr hindeutet. Aber doch stinkt es! Ich rieche es seit Tagen, ich merke doch so was, es ist mulmig, irgend etwas geht vor ...
Aber warum denn? Woran merken Sie das –?!
Ich bin über fünfundzwanzig Jahre im Zuchthaus, gestand Herr Marofke und fand nichts dabei. Im Gegenteil! – Ich kenne meine Leute. Mir sind in meiner ganzen Dienstzeit drei Mann ausgerissen. Bei zweien hatte ich keine Schuld, und beim dritten war ich erst ein halbes Jahr im Dienst, da weiß man noch nichts. Aber heute weiß ich was, und ich schwöre Ihnen: die fünf haben was vor, und ehe ich sie nicht aus meinem Kommando raus habe, ist mein Kommando nicht sauber!
Welche fünf denn? fragte Pagel. Er hatte den Eindruck, der Oberwachtmeister bildete sich was ein.
Ich habe beantragt, folgende Leute abzulösen, sagte Marofke feierlich: Liebschner, Kosegarten, Matzke, Wendt, Holdrian ...
Aber das sind doch grade unsere umgänglichsten, intelligentesten, anstelligsten Leute! rief Pagel erstaunt. Bis auf den alten Wendt – der ist ein bißchen doof.
Den haben sie nur mit drin als Sicherheitsventil. Den lassen sie hochgehen, wenn Gefahr am Mann ist. Der Wendt ist gewissermaßen deren Reugeld, aber die andern vier ... Er seufzte. Ich habe alles versucht, sie auseinander zu bringen. Ich habe sie verlegt, keiner schläft mehr in einem Zimmer mit den andern, ich lasse sie nicht zusammensitzen. Ich zieh den einen vor und behandle den andern schlecht. Das macht sie sonst wütend – aber nein, kaum drehe ich den Rücken, stecken sie wieder zusammen, tuscheln miteinander ...
Vielleicht mögen sie sich einfach leiden? schlug Pagel vor. Haben Freundschaft geschlossen –?
Im Zuchthaus gibt es keine Freundschaften, erklärte der Oberwachtmeister. Im Zuchthaus ist immer einer des andern Feind. Wenn da zweie zusammenhalten, sind sie Verschwörer – für einen bestimmten Zweck. Nein, es stinkt, Fähnrich, wenn ich Ihnen das sage, ich, der Oberwachtmeister Marofke, so können Sie mir das glauben!
Eine Weile waren sie stumm. Ich fahre jetzt raus zu den Leuten, sagte Pagel schließlich, um fortzukommen. Ich werde meine Augen aufhalten, vielleicht sehe ich was.
Ach, was wollen Sie denn sehen! sagte der Oberwachtmeister wegwerfend. Das sind doch ausgekochte Jungen – die bringen noch einen alten Kriminalkommissar ins Schwitzen. Ehe Sie was sehen, liegen Sie schon da mit einem Loch im Schädel. Nein, sagte er nachdenklich, ich habe mir das überlegt. Wo die jetzt meinen Antrag abgelehnt haben, gehe ich aufs Ganze. Ich mache heute mittag einen Aufruhr, ich streue ihnen Salz ins Essen, richtig, wörtlich, ich versalze denen ihren Fraß so, daß sie ihn nicht runterkriegen. Und dann zwinge ich sie zu essen und reize sie und bedrohe sie, bis sie meutern, und dann habe ich einen Grund, dann greife ich mir meine fünf heraus und schicke sie als Meuterer zurück. Das kostet sie dann noch ein, zwei Jahre Zusatzstrafe!
Er kicherte höhnisch.
Verdammt! rief Pagel erschreckt. Das kann aber schiefgehen: fünf Mann gegen fünfzig in der engen Bude!
Fahnenjunker! sagte der Oberwachtmeister und kam dem jungen Pagel gar nicht mehr lächerlich vor, wenn Sie bestimmt wissen, es will Sie jemand von hinten anspringen, was tun Sie? Sie drehen sich um und springen den Kerl an! Ich bin so, ich laß mich lieber von vorne als von hinten totschlagen.
Ich werde heute mittag mit meiner Knarre rüberkommen! sagte Pagel eifrig.
Das werden Sie hübsch bleiben lassen! knurrte der Oberwachtmeister. Bei so 'ner Sache kann ich keinen unerfahrenen Hasen brauchen, eine Minute, und der nächste Ganove hat Ihre Knarre und dann: Leb wohl, mein Vaterland! – Nee, fahren Sie jetzt man los, ich muß über meine Tischordnung nachdenken, daß ich die lautesten Schreier direkt bei meinem Gummiknüppel zu sitzen habe ...
Von der festen Überzeugung eines Mannes geht ein Fluidum aus, das auch den Gegner beeinflußt. Sehr nachdenklich fuhr Wolfgang Pagel die nun schon so bekannten Wege zum Außenschlag 9 hinaus, auf dem die Kartoffelernte in Gang war. Von Zeit zu Zeit kam ihm ein Kastenwagen voller Kartoffeln entgegen, dann sprang er vom Rad und erkundigte sich bei dem Knecht, wie die Kartoffeln lohnten. Ehe er sich aber wieder aufs Rad schwang, fragte er noch beiläufig: Alles in Ordnung draußen? Aber was sollte eigentlich solche Frage? Natürlich war alles in Ordnung draußen, der Pferdeknecht brummelte auch nur etwas Unverständliches zur Antwort.
Pagel fuhr weiter. Man soll sich von Gespenstersehern nicht anstecken lassen!
Es war ein schöner Herbsttag Ausgangs September. Ein wenig frisch, der Ostwind – aber in der Sonne und im Windschutz noch recht behaglich warm. Pagel hatte jetzt völligen Windschutz, er fuhr durch Wald; Außenschlag 9, der entfernteste von allen Schlägen des Gutes, stieß mit einer Längs- und einer Schmalseite an Wald. Die andere Schmalseite grenzte schon an Birnbaumer Feld. Leise mit der Kette schnurrend, sonst ganz lautlos, fuhr das Rad über die Waldwege. Natürlich war draußen alles in Ordnung, aber Pagel mußte zugeben, daß Außenschlag 9, ein halbes Dutzend Kilometer vom Gutshof, im Wald versteckt, weit ab von jeder andern Ortschaft, eine treffliche Gelegenheit für unerlaubte Unternehmungen der Zuchthäusler abgeben konnte.
Unwillkürlich trat er die Pedale kräftiger, und bremste gleich wieder, über sich selbst lächelnd. Er wollte sich doch nicht anstecken lassen. Seit einer Woche arbeiteten die Zuchthäusler schon draußen, und es war nichts passiert! Also war es Unsinn, schneller zu treten, nur um fünf Minuten eher draußen zu sein: wenn in sechs Arbeitstagen nichts passiert war, würde nicht gerade in diesen fünf Minuten sich etwas ereignen.
Pagel versuchte sich vorzustellen, wie überhaupt etwas geschehen konnte. In vier Abteilungen zu je zwölf und dreizehn Mann arbeiteten die Zuchthäusler auf dem freien Feld, zehn Schritt hinter jeder Gruppe stand ein Wachtmeister, den geladenen Karabiner in der Hand. Vor ihm, immer unter seinen Augen, lagen auf den Knien die Leute. Nicht einmal aufstehen durfte ein Mann, ohne den Beamten zu fragen. Ehe einer auch nur drei Schritt weiter war, würde ihm die Kugel im Leib sitzen. Denn es wurde sofort ohne Warnung scharf geschossen, das wußten sie. Gewiß, theoretisch gab es die Möglichkeit, daß sich zwei oder drei opferten, um den andern die Freiheit zu verschaffen. Wenn der Wachtmeister sich leer geschossen hatte, konnten bis zum nächsten Laden, bis zum Hochreißen der Pistole die andern laufen. Aber praktisch gab es solchen Opfermut bei Zuchthäuslern nicht, hier dachte jeder bestimmt nur an sich und war bereit, alle zu opfern, nur nicht sich selbst.
Nein, hier draußen würde sich bestimmt nichts ereignen, eher noch in der Kaserne. Marofke spielte ein gefährliches Spiel heute mittag, Pagel schwor sich, mit der Knarre wenigstens am Fenster draußen zu stehen. Und vielleicht wagte Marofke dieses Spiel für nichts, für Einbildungen, für Gespenster ...
Langsam fährt Pagel weiter, während des Fahrens denkt er nach. Was ihn von vielen jungen Leuten und den meisten alten unterscheidet, ist dieses Nachdenken, ein selbständiges, beharrliches Nachdenken, eine Suche nach Verstehen. Er war nicht für die gebahnten Straßen der andern, er wollte seinen eigenen Weg. Alle in Neulohe hielten den Oberwachtmeister Marofke für einen faulen, eingebildeten, albernen Affen. Das beeinflußte Wolfgang Pagel nicht, er war völlig anderer Ansicht. Und wenn Marofke sagte, es war etwas nicht in Ordnung mit seinen Leuten, so war es töricht, einfach zu antworten: Das ist Quatsch!, so schwach die Begründung auch sein mochte, die Marofke für seine Ansicht hatte.
In einem Punkt hatte der Oberwachtmeister jedenfalls recht: er, der Pagel, verstand nichts von Zuchthäuslern, aber er, der Marofke, verstand sehr viel von ihnen. Wenn Pagel mit den Leuten sprach, so waren sie sehr nett zu ihm, sie machten Späßchen, treuherzig erzählten sie von ihren Leiden im ›Bunker‹ und in der Welt draußen. Auf ihn machten sie einen harmlosen, ein bißchen zu freundlichen Eindruck. Aber falsch mußte dieser Eindruck sein, das war bei einigem Überlegen sofort einzusehen, sie konnten gar nicht harmlos und freundlich sein.
Lassen Sie sich bloß nicht die Augen verblenden, Pagel! hatte Marofke nicht umsonst zehnmal zu ihm gesagt. Vergessen Sie nicht, sie sind Zuchthäusler geworden, weil sie etwas Schuftiges getan haben. Und einmal Schuft immer Schuft. Im Gefängnis kann mancher dazwischen sitzen, der aus Not, aus Eifersucht gehandelt hat – wer im Zuchthaus sitzt, hat immer was Gemeines getan!
Ja, und sie taten dabei harmlos. Der Oberwachtmeister hatte recht: dieser Harmlosigkeit durfte man nicht trauen. Darin unterschied sich eben Marofke von den andern Beamten: er schlief nicht ein, sein Argwohn war immer wach. Er vergaß nicht eine Minute, daß in einer schließlich und endlich ganz unzureichend gesicherten Schnitterkaserne fünfzig schwere Verbrecher saßen und daß diese fünfzig losgebrochen eine unendliche Summe Unglück für ihre Mitmenschen bedeuten konnten.
Aber sie kommen ja doch in einem Monat, in drei Monaten, in einem halben Jahr raus! hatte Pagel eingewendet.
Natürlich – dann aber kommen sie mit einer polizeilichen Abmeldung, in Zivilkluft, mit ein bißchen Geld für den Anfang raus. Wenn sie aber ausreißen, ist gleich ihre erste Straftat, sich Zivilkleidung zu besorgen: Diebstahl, Einbruch, Überfall ... Sie können nirgendwo angemeldet wohnen, sie müssen bei Verbrechern unterkriechen oder bei Huren, die nichts umsonst tun – Also müssen sie sich Geld verschaffen: Diebstahl, Betrug, Hochstapelei, Einbruch, Überfall ... Verstehen Sie nun, was das für ein Unterschied ist: Entlassung oder Ausreißen?!
Geht in Ordnung! sagte Pagel.
Der Mann Marofke hatte recht, und die andern hatten unrecht, sie hatten auch darin unrecht, wenn sie behaupteten, Marofke drücke sich vom Dienst, weil er daheim blieb. (Der Rittmeister hatte ja gleich gesagt, Marofke sei ein Drückeberger.) Aber Pagel sah wohl, was für eine stumpfsinnige, gleichgültige Beschäftigung man aus dem Stehen hinter der Kolonne machen konnte. Verdammt noch mal! Marofke war nicht stumpfsinnig, er zergrübelte sich den Kopf, ein paarmal hatte er schon gestöhnt: Ach, Fähnrich, wenn ich doch erst wieder heil mit meinen fünfzig Husaren daheim wäre! Erst freut man sich auf das Kommando, die frische Luft, das Essen, das man der Frau spart – und nun zähle ich schon immer: noch sechs Wochen, noch fünf Wochen und sechs Tage, und so weiter und so weiter, und womöglich kriegen wir eure Kartoffeln bis zum 1. November gar nicht raus!
Und da sind dann noch die Rüben! hatte Pagel heimtückisch gesagt.
Aber es war nicht richtig gewesen, zu dem Mann heimtückisch zu sein. Er war kein Angsthase, das bewies sein Vorhaben für heute mittag. Dazu gehörte schon eine ziemliche Portion Entschluß und Courage. Vielleicht piepte es wirklich ein bißchen bei ihm, fünfundzwanzig Jahre Zuchthausdienst konnten einen Mann wohl etwas verdreht machen. Aber Pagel war sich dessen nicht ganz sicher. Er fand, dieser Oberwachtmeister Marofke beobachtete scharf, dachte klar. Er nahm sich vor, heute auf dem Feld die Augen gewaltig aufzutun und festzustellen, ob diese Beobachtungen richtig oder falsch seien.
Worauf ihn die Ereignisse binnen fünf Minuten darüber belehren sollten, was seine Beobachtungen wert waren und was Laienhilfe bei Zuchthäuslern nützte.
Er lehnte sein Rad gegen einen Straßenbaum am Feld, nebenbei gesagt, auch etwas, was ihm der Oberwachtmeister streng untersagt hatte. Denn das ohne Aufsicht stehende Rad konnte die Flucht eines Mannes begünstigen – aber für diesmal hatte die Leichtfertigkeit des jungen Pagel keine weiteren Folgen. Er ging die Kartoffeldämme entlang quer über Feld auf das Kommando zu. Die Leute arbeiteten in einer langen Kolonne nebeneinander, auf den Knien weiterrutschend, am Aushacken und Einsammeln der Kartoffeln. Vier Mann gingen aufrecht hin und her, sie schütteten die vollen Körbe in Säcke und gaben sie entleert den Buddlern zurück. Die vier Beamten standen hinter der Kette, in der etwas gleichgültigen Pose von Leuten, die Tag für Tag zehn Stunden lang ein Ereignis fürchten müssen, das doch nie eintritt. Zwei von den Wachtmeistern hielten ihre Karabiner unter dem Arm, zwei hatten sie umgehängt – das war auch von Marofke verboten, und darum fiel es Pagel auf. Die Leute sammelten gerade von einer Hügelkuppe in eine Mulde hinab, die von älteren Fichtenschonungen begrenzt war. Die Mulde war verunkrautet, dazu war das Kraut hier, wo sich alles Wasser gesammelt hatte, noch halb grün, es buddelte sich schlecht.
Das riefen die Leute auch sofort Pagel zu: Das ist Mist hier, Herr Inspektor! – Man kommt gar nicht voran! – Die Kartoffeln sind hier noch ganz grün. – Bloß, daß Sie Tabak an uns sparen!
Pagel hatte zur Belebung des Fleißes eingeführt, daß für ein bestimmtes Zentnerergebnis eine Tabakzulage gegeben wurde.
Nun, wir wollen mal sehen, was sich machen läßt, rief Pagel vertröstend und ging auf den nächsten Beamten zu. Er grüßte und stellte ihm gleich wieder die Frage, die ihm heute stets auf der Zunge lag: Alles in Ordnung?
Natürlich, antwortete der junge Hilfswachtmeister gelangweilt. Was soll denn nicht in Ordnung sein?
Ich frage ja nur ... Es buddelt sich hier schlecht?
Marofke hat Ihnen wohl einen Floh ins Ohr gesetzt? Bei dem piept's ja! Immer meckern und stänkern! So wie dies Kommando hat es keines: Essen in Ordnung, Baracke in Ordnung, Rauchen in Ordnung – aber er kann keine Ruhe halten. Man kann es auch übertreiben!
Was übertreiben –?
Herr Wachtmeister! rief ein Gefangener in das Gespräch. Darf ich mal austreten?
Der Wachtmeister warf einen gelangweilten Blick auf ihn, dann auf die Reihe. Los, Kosegarten!
Der Gefangene warf einen vergnügt-vertraulichen Blick auf Pagel, trat hinter die Reihe und knöpfte grinsend seine Hosen ab. Dann hockte er sich hin, die Augen weiter auf Pagel gerichtet, der eine halbe Drehung machte, um diesen Anblick nicht ständig vor Augen zu haben.
Wieso übertreiben –? fragte der Hilfswachtmeister. Weil Marofke sich beim Direktor anschmieren will! Er hat geschworen, er bringt jeden Mann fünfundzwanzig Pfund schwerer wieder nach Meienburg. Und wenn wir das Gut arm fressen! hat er gestern erst wieder gesagt. Ich schimpf immer weiter übers Essen, die können gar nicht gut genug kochen!
Pagel hatte keine Zeit mehr, auf diese Denunziation zu antworten. Das Gesicht des Hilfswachtmeisters veränderte sich in einem plötzlichen Schreck – Halt! brüllte er und riß den Karabiner von der Schulter ...
Pagel fuhr herum, grade sah er noch den Gefangenen Kosegarten, der eben sein Geschäft verrichtet hatte, in die Fichten springen ...
Aus dem Weg! brüllte ihn der Wachtmeister an und schlug Pagel mit dem Karabinerlauf hart vor die Brust.
Nicht schießen, Herr Wachtmeister! brüllten zwei, drei Stimmen. Wir holen ihn ...
Einen Augenblick nur zögerte der Wachtmeister – und zwei, drei weitere Gestalten verschwanden in den Fichten.
Steht! schrie der Wachtmeister und schoß.
Der Knall, trocken und gar nicht laut, klang lächerlich gering gegen den Tumult der Gefangenen. Jetzt wurde auch oben geschossen.
Antreten zu Vieren! brüllten Stimmen.
Pagel sah einen fünften Mann gegen die Fichten laufen, er setzte ihm nach.
Bleiben Sie stehen, Sie Dummkopf! Ich kann ja nicht schießen! brüllte der Beamte.
Pagel zögerte, warf sich hin, über ihm pfiffen die Kugeln. Man hörte es in den Fichten klatschen.
Fünf Minuten später waren die Leute zum Abmarsch aufgestellt, gezählt und die Namen der Fehlenden ermittelt. Es fehlten fünf Mann. Ihre Namen lauteten: Liebschner, Kosegarten, Matzke, Wendt, Holdrian.
Großer, weiser Marofke! dachte Pagel und schämte sich kräftig der eigenen Torheit. (Wie oft hatte ihm Marofke verboten, mit den Beamten während der Wache ein Gespräch anzufangen! Wie schafsdumm war es von ihm, einem Ausreißer nachzulaufen, nachdem ihm schon zwei Gefangene demonstriert hatten, wie gut solch Nachlaufen eine Flucht deckte!)
Die Gefangenen schwirrten vor Aufregung, schwatzten – oder waren ganz finster und wortlos, die Aufseher erregt, bärbeißig, wütend.
Sie, Herr Pagel, sausen Sie mal mit D-Zug-Geschwindigkeit aufs Gut und erzählen Sie Marofke die Scheiße. Gott, wird der platzen, Gott, wird der uns beschimpfen! Und er hat recht gehabt – wir sind alle Idioten gegen ihn, na, mit dem Arbeitskommando ist's nun vorbei – heute nachmittag geht's heim nach Meienburg. Sagen Sie dem Marofke, wir kommen erst in gut zwei Stunden. Ich lasse außen rum marschieren, über die offenen Felder. Jetzt mit den Jungen durch den Wald, das riskiere ich nicht, also los!
Pagel schwang sich auf sein Rad und sauste in den Wald. Während er die Schneisen entlangraste, dachte er: O Gott, was wird Marofke sagen?! Die Jungens hätten's jetzt verdammt einfach, mich vom Rad zu hauen! Ach, Marofke, hätt ich doch richtig aufgepaßt ...
In den nächsten drei, vier Stunden surrte und schwirrte es in Neulohe wie in einem Bienenhaus vor dem Ausflug der Königin. Nur, daß hier schon ausgeflogen war – und von keiner Königin!
Dachte ich es mir doch! hatte der Oberwachtmeister Marofke nur gerufen und war auf das Büro gestürzt, um die Zuchthausverwaltung anzurufen, gefolgt von dem atemlosen Pagel, dem der Schweiß lief.
Hätten Sie sich ein bißchen mehr um Ihre Leute gekümmert! sagte von Studmann ärgerlich.
Aber der kleine, eitle, eingebildete Marofke ließ sich keine Zeit zu einer Richtigstellung, Rechtfertigung. Heute müssen wir sie kriegen, ehe sie aus dem Wald raus sind, oder wir kriegen sie gar nicht! hatte er zu Pagel gesagt und telefonierte schon mit der Direktion, nicht einmal zu einem Triumph seiner Besserwisserei ließ er sich Zeit.
Pagel flüsterte mit Studmann, während der Beamte telefonierte – mit Staunen bemerkte er, daß ihm am wichtigsten die Rechtfertigung des kleinen Marofke vor Studmann erschien. Davon flüsterte er. Der kleine Marofke dachte entgegengesetzt, er hatte nur zwei Ideen: den Rest seines Kommandos rasch und ohne weiteren Abgang nach Meienburg zurückzuführen und die Ausreißer möglichst schnell wieder einzufangen.
Es war deutlich zu hören, daß Marofke eine fürchterliche telefonische Abreibung erhielt, aber er zuckte nicht, er sprach kein Wort von seinem abgelehnten Gesuch. Was soll jetzt geschehen? war sein einziges Interesse.
Das ist doch ein Kerl! sagte Pagel zu von Studmann.
Aber Studmann murrte nur: Wenn er ein Kerl wäre, hätte er die Leute nicht erst ausreißen lassen!
Oberwachtmeister Marofke hing ab.
Herr von Studmann! meldete er militärisch und sehr kalt. Das Arbeitskommando Neulohe wird heute noch abgelöst. Wachtmeister zum Abtransport der Leute kommen sofort aus Meienburg. Ich bitte zu – sagen wir: zu drei Uhr zwei Gespanne für die Abfuhr der Sachen bereit zu halten. Ich selbst fahre jetzt dem Kommando entgegen und bringe es in die Kaserne.
Sie persönlich? – Nein, wirklich! rief Herr von Studmann bitter. Und was wird aus unsern Kartoffeln?! Er sah schlimme Folgen voraus, er war bitter.
Aber Marofke beachtete den Stich gar nicht.
Ich bitte Sie, Herr von Studmann, sich mit dem Förster und vielleicht dem Besitzer von der Forst in Verbindung zu setzen. In der nächsten halben Stunde muß aus den Forstkarten genau festgestellt werden, wo sich die Leute etwa befinden. Wann sind sie ausgerissen, genau, Herr Pagel?
Zehn Uhr dreißig etwa!
Also, Ort ist bekannt, ein Plan wird ausgearbeitet – soweit können sie gekommen sein, da können sie sich versteckt haben. Es wird Gendarmerie kommen, fünfzig Mann, hundert, Militär vielleicht – es wird noch vor Abend ein Kesseltreiben geben ...
Hübsch! sagte Herr von Studmann.
Ich selbst bin so schnell wie möglich wieder hier. Sie, Pagel, gehen jetzt sofort ins Schloß, rufen von da die Polizeidirektion in Frankfurt an, Sie werden von ihr Weisungen bekommen. Nachher werden Sie wohl alle Gendarmeriestationen in der Nähe anrufen müssen ... Die Grenze nach Polen muß gesichert werden, der Weg nach Berlin gesperrt. – Dieser Apparat hier bleibt für eingehende Anrufe frei, es wird nicht von diesem Apparat aus telefoniert, sagen Sie das auf dem Postamt ...
Mein Gott! rief von Studmann, nun doch von der Energie des kleinen Mannes angesteckt. Ist es denn wirklich so gefährlich?
Vier Mann sind verhältnismäßig ungefährlich! sagte der Oberwachtmeister. Zuhälter, Hochstapler, Betrüger – . Aber einer ist dabei, Matzke, dem kommt es auch nicht auf einen Mord an, wenn er bloß Zivilsachen und Geld kriegt ... Los, meine Herren, an die Arbeit ...
Und er schoß aus dem Büro wie eine Rakete.
Los, Pagel! rief auch Studmann. Schicken Sie mir den alten Herrn!
Pagel lief durch den Park. Von der Seite kam Fräulein Violet, sagte etwas, er rief ihr zu: Zuchthäusler ausgerissen! Und lief weiter. Er drängte den öffnenden alten Elias zur Seite, er kam in Gang, seine Langsamkeit verschwand, er lief an den Apparat in der Diele: Halloh, halloh, Amt – die Polizeidirektion in Frankfurt/Oder. Dringend! Dringend!! Nein, sofort! Ich bleibe am Apparat ...
In den Türen zur Diele erschienen Gesichter, erschrockene, erstaunte. Zwei Stubenmädchen warfen sich einen Blick zu – Warum sehen sich die denn so komisch an? – dachte Pagel flüchtig. Nun erschien Violet auf der Diele, sie lief auf Pagel zu: Was ist los, Herr Pagel? Die Zuchthäusler –?
Geräuschvoll öffnete sich die Tür von des Geheimrats Zimmer: Wer brüllt denn hier in meinem Haus?! In meinem Haus brüll ick alleene!
Herr Geheimrat, bitte sofort auf das Büro! Fünf Zuchthäusler sind entflohen ...
Ein Mädchen oben lachte hysterisch.
Und darum soll ich auf euer Büro?! Der Geheimrat strahlte. Meint ihr, die kommen, um mich auf euerm Büro anzusehen? Aber ich habe es ja gleich gesagt: nehmt euch vernünftige Menschen! Nun kann ich jeden Abend meiner Frau mit 'nem Revolver unters Bett leuchten ...
Hier spricht die Gutsverwaltung Neulohe, sprach Pagel in den Apparat. Neu-lo-he! Ich melde im Auftrag der Zuchthausdirektion Meienburg ...
Geht in Ordnung! sagte eine gleichmütige Stimme am Ende der Strippe. Wir wissen schon von Meienburg her Bescheid. Wer spricht denn da? Der Inspektor? Na also, ihr macht ja schöne Zicken da! Könnt ihr nicht ein bißchen besser aufpassen?! Na, hören Sie zu. Sie hängen jetzt ab, ich sage unterdes Ihrem Amt Bescheid, und wenn's wieder klingelt, gibt Ihnen Ihr Amt nacheinander alle Gendarmeriestationen in Ihrer Gegend. Denen sagen Sie bloß an: fünf Zuchthäusler ausgerissen, alle Mann sofort nach Neulohe – aber mit Karacho! So, das besorgen Sie möglichst schnell, wir haben hier schon alle Apparate voll hängen, die Grenze, keine zwanzig Kilometer ab ...
Der Geheimrat war mit seiner Enkelin doch auf das Gutsbüro gegangen. Der junge Pagel stand am Apparat und telefonierte. Durch das Haus liefen die Mädchen wie kopflos, manchmal blieb eine rascher atmend bei Pagel stehen, sah ihn an und las die immer gleichlautende Meldung von seinen Lippen. ›Was Frauenzimmer für verrückte Gesichter machen können‹, dachte Pagel, auch er recht erregt, ›wenn sie einen Schrecken bekommen! Ein bißchen aufgeregt und ein bißchen unglücklich. – Oben weint die gnädige Frau? – Sie hat schon Angst um ihr bißchen Leben!‹
Und er hatte, indem er immer wieder neu dieselbe alte Alarmnachricht durchgab, Gelegenheit, zu hören, wie verschieden die Menschen darauf reagierten:
Donnerwetter!
Ach nee?
Und ich habe gerade Reißen im Bein!
Wie kommt denn Neulohe zu Zuchthäuslern?
Ist 'ne Prämie ausgesetzt?
So was, so was, na ja, heute ist Freitag!
Ausgerechnet, wo meine Frau mir ein Huhn gebraten hat.
Da kann ja jeder kommen und sagen, er ruft im Auftrag der Polizeidirektion an! Wer sind Sie denn überhaupt?!
Was meinen Sie, Inspektor, Stiefel? Oder kann ich in langer Hose kommen?
Fünfe ist bitter!
Und das fürchterliche Wort: Jetzt lebt der noch und weiß von nichts, den sie vielleicht schon in zehn Minuten umlegen!
Etwas Grausiges stieg aus diesen Worten auf, Schuld und Mitschuld ... Und während Wolfgang immer weiter telefonierte, dachte er an das, was er in dieser Sache verfehlt hatte. Es war nicht viel, Kleinigkeiten, kein vernünftiger Mensch konnte ihm, dem Unerfahrenen, einen Vorwurf machen, da soviel Erfahrene versagt hatten. Kleinigkeiten hatte er falsch gemacht ... Aber Wolfgang Pagel, der noch vor einem Vierteljahr so bereit gewesen war, sich alle eigenen Sünden zu vergeben, ja, bei dem es gar keiner Vergebung bedurft hatte, Wolfgang Pagel dachte jetzt anders über diese Dinge. Nein, er dachte nicht, er fühlte anders. War es die Arbeit draußen oder das Erleben der letzten Zeit, war es das Wort in Minnas Briefen von dem Mannwerden – es war gleichgültig, ob andere noch mehr gesündigt hatten, er wollte sich nichts vorzuwerfen haben – nicht einmal wenig.
Die Gendarmerieposten reißen nicht ab, immer wieder klingelt der Apparat, immer wieder die Meldung, immer wieder die Ausrufe des Ärgers, der Überraschung, der Bereitschaft. Und dabei sieht er sie, die fünf; fünf Männer in Zuchthaustracht. Sie hocken versteckt wie Wild in den Wäldern zwischen Neulohe und Birnbaum, sie haben kein Geld, keine Waffe, keine übermäßige Intelligenz. Aber sie haben eines, was sie von den andern Menschen unterscheidet: sie haben die Hemmungslosigkeit, zu tun, was sie wollen.
Wolfgang Pagel denkt daran, daß es eine Zeit gab, nicht lange her, da er stolz von sich dachte: mich bindet nichts; ich kann tun, was ich will; ich bin frei ...
Jawohl, Wolfgang Pagel, jetzt verstehst du es: du warst frei, hemmungslos zu sein wie ein Tier! Das Menschentum liegt nicht darin, zu tun, was man will. Sondern zu tun, was man muß.
Und während Wolfgang weiter und immer weiter meldet, dreißigmal, fünfzigmal, siebzigmal, sieht er die gesunde Lebenskraft ausholen, zum Schlag gegen die kranke. Plötzlich kommen ihm die Witze über des Teufels Husaren so schal vor, so frech ihr Zuchthäuslerlied! Er sieht die fünfzig, die hundert Gendarmen auf ihre Räder steigen, auf vielen Wegen streben sie alle einem Ziel zu: Neulohe. Er sieht die Beamten auf der Polizeidirektion in Frankfurt, auf Dutzenden von Polizeistationen klingeln jetzt die Telefone, die Morseapparate klappern. In den Zollämtern der Grenzwachen setzen die Beamten die Mützen auf, sie schnallen besonders sorgfältig um, sie sehen ihre Pistolen nach: der Tod geht um!
Der Tod geht um! Fünf Menschen, entschlossen zu allem – und in einer Zeit, die sich über nichts einig zu sein scheint, in der alles zerfressen, verfault, zusammenstürzt, in dieser Zeit ist das Leben sich doch noch immer gegen den Tod einig! Das Leben ist es, das alle Straßen verstellt, überall seine Augen hat. In den Zufahrtsstraßen der großen Städte stehen jetzt die Polizisten und mustern jeden Passanten – ein Halstuch, eine Hose können verräterisch sein! Die Elendsquartiere, die Winkel, in denen das Verbrechen haust, werden schärfer bewacht als je. In den kleinen Städten gehen die Polizisten die Wege hinter den Häusern, dort, wo sie sich nach den Gärten, nach den Hofplätzen öffnen. Die Wanderer auf den Landstraßen, die Kutscher der Wagen, die Chauffeure der Lastautos werden gewarnt. Ein ganzer Landstrich, von der polnischen Grenze bis nach Berlin hin, kommt in Bewegung. Schon arbeiten in den Druckereien die Schnellpressen, aus denen die Steckbriefe hervorgleiten, die Aufrufe, Signalements, die heute nachmittag noch an die Säulen, an die Wände geklebt werden. Über den Strafakten der Liebschner, Kosegarten, Matzke, Wendt, Holdrian sitzen die Beamten; aus dem Bericht über vergangene Straftaten suchen sie den Hinweis auf mögliche neue. Sie prüfen die Blätter, aus den alten suchen sie die neuen Spuren zu erraten: Wo kann er sich hingewandt haben? Wer ist seine Freundschaft? Von wem bekam er während der Haftzeit Briefe?
Es ist vielleicht nicht mehr das Leben in seiner alten Gewalt und Frische, zuviel wurde in den vergangenen Jahren zerstört, das Leben selbst wurde krank – es ist vielleicht manches nur Gewohnheit von früher her in dem, was nun geschieht. Die Maschine knarrt, stöhnt, ächzt – aber sie läuft noch, sie holt noch einmal aus, sie faßt zu – wird sie erfassen?
Wie lange hatte Wolfgang Pagel am Telefon gestanden? Eine Stunde? Zwei Stunden? Er wußte es nicht. Als er aber aus dem Schloß zum Beamtenhaus hinüberging, sah er schon die ersten Wirkungen seiner Telefonate mit Augen: an der Wand des Beamtenhauses lehnten Räder über Räder, die Landjäger standen in Gruppen vor der Tür, auf den Wegen. Sie rauchten, sie redeten, ein paar lachten. Und immer neue kamen an, mit Halloh oder einem abwartenden Stillschweigen begrüßt, Witze wurden gerissen.
Drinnen im Büro fand Pagel die Leute ernster. Karten lagen auf dem Tisch, die gnädige Frau, der alte Geheimrat, Herr von Studmann sahen gespannt darauf. Ein Oberlandjägermeister zeigte mit dem Finger. Marofke stand am Fenster, er sah bleich und verfallen aus, sichtlich war es ihm nicht gut ergangen.
Die polnische Grenze, Polen scheidet ganz aus, sagte der Oberlandjägermeister. Keiner von den fünfen kann nach den bisherigen Ermittlungen Polnisch, außerdem ist Polen kein Arbeitsfeld für Verbrecher solchen Schlages. Für mich ist sicher, daß sie nur die Absicht haben, sich möglichst schnell nach Berlin durchzuschlagen. Natürlich in Nachtmärschen auf Nebenwegen. Es sind – bis auf einen – Zuhälter, Betrüger, Hochstapler – solche Kerle lockt nur Berlin ...
Aber ... fing Oberwachtmeister Marofke an.
Ich bitte mich nicht zu unterbrechen! sagte der Oberlandjägermeister scharf. Zweifelsohne werden die Leute sich bis zur Nacht im Wald versteckt halten. Mit einem Teil meiner Mannschaften werde ich versuchen, die Kerle da zu fangen – obwohl ich das für ziemlich aussichtslos halte, die Wälder sind zu groß. Unser Hauptaugenmerk müssen wir nachts auf die Nebenstraßen und die abgelegenen Dörfer richten. Auf ihnen werden sie versuchen, vorwärtszukommen; in ihnen sich Zivilsachen und Essen besorgen ... Vielleicht fassen wir sie schon diese Nacht. In dieser Nacht sind sie hier noch in der Nähe ...
Erzählen Sie das bloß meiner Frau nicht, Verehrtester! rief der Geheimrat.
Wenn irgendein Punkt zwischen hier und Berlin vollkommen sicher vor den Brüdern ist, so ist es Neulohe, erklärte der Oberlandjägermeister lächelnd. – Das ist ohne Frage. Hier, wo wir unser Hauptquartier haben. – Nein, die kleinen abseitigen Dörfer, für die wird es schlecht, aber wir werden für Bewachung sorgen. Die allein liegenden Höfe – aber wir werden sie warnen. Und wenn wir die fünf auch nicht zu sehen kriegen, ungefähr wissen wir doch immer, wo sie sind. Ich rechne mit sechzig Kilometer Nachtmarsch im Durchschnitt, in der ersten Nacht weniger, dann etwas mehr. Müssen sie sich mit Essenbesorgen aufhalten, wird es wieder weniger. Ich nehme an, sie werden in der ersten Nacht, statt westlich zu marschieren, nach Norden gehen, um diesem unruhigen Bezirk auszuweichen. Allerdings liegt da wieder Meienburg ... Ein Gedanke kam ihm. Er sah Marofke an, er fragte: Wissen Sie, ob einer von den fünfen in Meienburg Verbindungen hat: Verwandte, eine Braut, Freunde?
Nein! sagte der Oberwachtmeister.
Was heißt Nein?! tadelte der Oberlandjägermeister scharf. Wissen Sie es nicht oder haben die Leute keine Verbindungen?
Die Leute haben keine Verbindungen, sagte der Oberwachtmeister böse.
Soweit Ihnen das bekannt ist, natürlich, spottete der Oberlandjägermeister. Ihnen ist ja nicht sehr viel bekannt, nicht wahr? – Also dann danke! Wir brauchen Sie hier nicht mehr, Herr Oberwachtmeister; lassen Sie mir noch Meldung machen, ehe Sie mit Ihrem Kommando abmarschieren.
Zu Befehl! sagte der Oberwachtmeister, legte die Hand an die Mütze und ging aus dem Büro.
Alle sahen ihm nach, aber keiner sagte ihm ein Wort zum Abschied – auch Herr von Studmann nicht. Wolfgang sah von einem Gesicht zum andern. Der Geheimrat fing an zu brummen: Ach, wie bald, ach wie bald schwindet Schönheit und Gestalt ...
Der Oberlandjägermeister lächelte wohlwollend.
Die gnädige Frau sagte: Er hat mir von Anfang an einen unangenehmen Eindruck gemacht ...
Herr von Studmann meinte: Unser Herr Pagel ist anderer Ansicht ...
Einen Augenblick Entschuldigung, sagte Pagel und ging rasch aus dem Büro.
Der Oberwachtmeister Marofke war durch die versammelten Landjäger gegangen, mit seinem lächerlichen Spitzbauch, seinen dünnen Beinchen in tadellos gebügelten Hosen, mit seinem gesträubten Katerschnurrbart und seinen rötlich-violetten Hamsterbäckchen. Der Oberwachtmeister sah nicht rechts noch links, er blickte starr vor sich hin – bei jedem Schritt erzitterten seine Bäckchen, so fest setzte er die Füße auf. Aber wenn Herr Marofke auch nichts sah, seine Ohren konnte er nicht verschließen, sie hörten, wie ein Landjäger erstaunt frage: Was ist denn das für einer?
Na, Mensch! Der hat sie doch türmen lassen!
Ach so! Wegen dem können wir jetzt nachts im Wald rumliegen!
Marofke ging grade, ohne eine Miene zu verziehen, auf die Schnitterkaserne zu. Er setzte sich nieder auf die Bank, auf der er so oft zum Ärger der Neuloher Bevölkerung gesessen hatte, er sah wieder starr vor sich hin.
Drinnen in der Kaserne war der Lärm des Einpackens und Aufbrechens; ärgerlich, gereizt schalten die Wachtmeister; zornig, wütend antworteten die Gefangenen – Marofke stand nicht auf. Er wußte, es konnte nichts fehlen, keine Decke war gegen Tabak vertauscht worden, kein Laken zu Lunte versengt, kein Spaten auf dem Feld vergessen. Es war alles in bester Ordnung, nur fünf Mann waren abgängig. Und wenn sie selbst heute noch wieder eingefangen wurden (woran Marofke nicht glaubte), das Odium würde auf ihm haftenbleiben: ihm waren fünf Mann weggelaufen, seinetwegen war ein Kommando aufgelöst worden. Das wusch ihm keiner wieder ab!
Ja doch, jawohl, da war sein Bericht an die Zuchthausverwaltung. Er hatte Scharfblick bewiesen, er hatte um die Ablösung gerade dieser fünf gebeten – aber auch das würde ihn nicht rein waschen! Grade die Schreibhengste auf dem Büro, die seinen Antrag abgelehnt hatten, würden alles tun, um dieser Eingabe Gewicht zu nehmen. Sie war ja völlig unbegründet, auf solche Eingabe konnte man keine Rückschickung verfügen, die Leute hätten sich mit vollem Recht beschwert! Und wenn der Herr Marofke den Leuten wirklich so sehr mißtraute, so hätte er ihnen nicht von der Pelle gehen dürfen, er hätte Tag und Nacht neben ihnen stehen müssen, sie nicht einem unerfahrenen Hilfswachtmeister anvertrauen dürfen – ach, hundert Stricke würden ihm gedreht werden! Die Kollegen mochten ihn nicht, sie würden alle Schuld auf ihn schieben – und dann dazu noch der Bericht von der Gutsverwaltung hier, vom Oberlandjägermeister –!
Er war nun so lange im Beruf, der Oberwachtmeister Marofke, er wußte, pensionieren würden sie ihn wegen dieser Sache nicht können, aber sie würden ihn nicht befördern! Er hatte mit dieser Beförderung zum Herbst gerechnet, Michaeli schied der Hauptwachtmeister Krebs aus, er hatte mit diesem Posten gerechnet, er hätte ihn haben müssen! Es war nicht die liebe Eitelkeit, es war nicht nur der verständliche Ehrgeiz, höher zu kommen, der ihn diese Beförderung hatte ersehnen lassen, es war noch etwas anderes. Er hatte ein Mädchen daheim, eine Tochter, ein etwas altjüngferliches Geschöpf mit Brille, das er sehr liebte. Dieses Mädchen wäre für sein Leben gerne Lehrerin geworden – von einem Hauptwachtmeistergehalt hätte er sie vielleicht aufs Seminar schicken können, jetzt würde sie Kochen lernen müssen und Mamsell werden! Lächerlich und zum Kotzen war dies Leben, weil ein junger Bursche einen Wachtmeister im Dienst anquatschte, liefen fünf Mann weg – und darum konnte er seiner Tochter ihren Lebenswunsch nicht erfüllen!
Der Oberwachtmeister sieht auf. Neben ihn auf die Bank hat sich der junge Pagel gesetzt. Er streckt ihm mit einem Lächeln das Zigarettenetui hin und sagt dabei: Idioten!
Marofke möchte die Zigarette zurückweisen. Aber es tut ihm ja doch gut, daß ihm dieser junge Mensch vom Büro her nachgegangen ist, daß er sich vor aller Leute Augen zu dem in Ungnade Gefallenen auf die Bank setzt und mit ihm rauchen will. Er meint's ja gut, sagt er sich und nimmt dankend eine Zigarette. Er kann ja nicht wissen, was für Folgen seine Dummheit hat. Alle machen Dummheiten.
Ich werde dafür sorgen, Ober, sagt Pagel, daß ich den Bericht an Ihre Direktion mache. Und der soll aussehen, daß Sie zufrieden sind!
Schön von Ihnen, dankt Marofke. Aber es lohnt nicht, daß Sie sich darum Ihre Stellung hier verderben, weil's mir nämlich nicht viel helfen wird – Aber passen Sie auf, was ich Ihnen jetzt sage. Ich sage es Ihnen allein, die andern wollen ja nicht auf mich hören. – Was der Landjägermeister gesagt hat, haben Sie verstanden?
Ich war ja nur einen Augenblick drin, aber was er gesagt hat, das hat mir eingeleuchtet, Ober, antwortet Pagel.
Schön. Aber mir hat's nicht eingeleuchtet. Und warum nicht? Weil es Sachen sind, die man sich so ausdenkt, wenn man die Leute nicht kennt. Es stimmte, wenn nur der Wendt und der Holdrian von der Tour wären. Die sind doof genug, die machen ein halbes Dutzend schwere Einbrüche und womöglich noch Raubüberfälle, bloß wegen dem bißchen Essen und Kleidern unterwegs. Und wenn sie wirklich nach Berlin kommen, dann haben sie schon für sechs, acht Jahre Zuchthaus ausgefressen, bloß um hinzukommen. Aber sie kommen nicht so weit, denn jeder Einbruch ist eine Spur ...
Und wie machen sie's denn?
Es sind eben der Matzke und der Liebschner und der Kosegarten dabei. Das sind helle Jungen, die überlegen sich ein bißchen, was sie tun. Die sagen sich immer: es muß sich lohnen, was wir anfangen. Die machen keinen Einbruch in ein Bauernhaus für mindestens ein Jahr Zeit, um nachher 'ne olle Manchesterjacke von einem Knecht zu finden, die sie sich nie auf den Leib ziehen würden.
Aber sie müssen sich doch Zivil besorgen! sagte Pagel. In der Tracht kommen sie doch nicht weit!
Richtig, Pagel, sagte Marofke und legte den Finger mit der alten, so eitel aussehenden Überlegenheit an die Nase. Und da sie schlau sind und sich das selber sagen, und da sie vorsichtig sind und Zivil nicht stehlen wollen, so folgt daraus –?
Pagel sah den kleinen Mann an und wußte noch immer nicht, was daraus folgte.
Es wird ihnen einer Zivil besorgen, erklärte Marofke milde, sie haben Helfershelfer hier in Neulohe, einen oder mehrere. Glauben Sie mir, so ausgekochte Jungen wie der Kosegarten und der Liebschner, die reißen nicht aus ohne Vorbereitung. Das ist eine verabredete Sache, und weil ich nicht gemerkt habe, wie sie es verabredet haben (denn sie haben es hier verabredet, durch Brief oder Zeichen; in Meienburg haben sie es doch nicht verabreden können!), weil ich doof gewesen bin, deswegen geschieht's mir schließlich ganz recht, wenn alle über mich schimpfen ...
Aber Herr Oberwachtmeister, wie sollen sie denn hier unter unser aller Auge –? Und wer soll sich denn hier in Neulohe dazu hergegeben haben –?!
Der Oberwachtmeister bewegte unnachahmlich die Schultern. Ach, Fähnrich, was wissen Sie, wie schlau ein Mensch ist, der seine Freiheit wiederhaben will -?! Sie denken den lieben langen Tag an hundert verschiedene Dinge, so ein Mann denkt von morgens bis abends und die Hälfte der Nacht nur eines: wie komme ich raus? Und da wollen Sie was von unsern Augen reden?! Wir sehen gar nichts. Wenn er raus zur Arbeit geht, und er dreht sich 'ne Zigarette und sein Tabak ist grade alle, und er schmeißt das Tabakpapier vor Ihren Augen in den Dreck. Sie gehen mit den Leuten weiter. Aber nach drei Minuten kommt der, der gemeint ist, und er hebt das Papier auf und liest, was darauf gekritzelt ist ... Und vielleicht ist noch nicht mal was darauf gekritzelt, es ist bloß so und so gefaltet, und das bedeutet dann das und das ...
Aber Herr Oberwachtmeister, ich finde, das klingt so unwahrscheinlich ...
Unwahrscheinlich ist gar nichts, bei denen nicht, sagte Marofke und war in seinem Fahrwasser. Bedenken Sie mal so 'n Zuchthaus, Pagel, Eisen und Glas und Zement, Schlösser und Riegel, und nochmals Schlösser und Riegel, und Ketten gibt es auch noch. Und Mauern und Tore und dreifache Kontrolle und Posten draußen und Posten drinnen – und glauben Sie mir, es gibt kein einziges Zuchthaus in der ganzen Welt, das wirklich vollkommen dicht ist! So ein riesengroßer Apparat und so ein einzelner Mensch, mitten drinnen in Eisen und Stein! Und doch erfahren wir immer wieder: es ist ein Brief rausgegangen, den hat keiner gesehen, und es ist Geld oder eine Stahlfeile reingekommen, keiner weiß den Weg. Und wenn so was in einem Zuchthaus möglich ist, mit all seinem Apparat, da soll es nicht hier draußen auf unsern ungeschützten Arbeitskommandos möglich sein – vor unsern sehenden Augen?!
Aber, Ober, sagte Pagel, das mag ja sein, daß sie einen Brief schreiben können. Aber dann muß doch einer hier sein, der mit ihnen unter einer Decke steckt, der den Brief auch lesen will!
Und warum soll denn keiner hier sein, Pagel?! rief Marofke. Was wissen Sie denn?! Und was weiß ich denn?! Hier braucht ja nur einer bei euch zu wohnen, der mit einem von meinen Jungens im Felde zusammen gewesen ist. Die brauchen sich ja nur anzusehen, und meiner sagt mit einem Blick: Hilf mir, Kamerad! – schon sind sie im Komplott! Einer von hier kann doch einmal in Untersuchungshaft gesessen haben, und mein Husar hat in der Zelle daneben seine Untersuchungshaft abgerissen, und sie haben sich damals Nacht für Nacht durchs Zellenfenster das Herz ausgeschüttet – schon ist der Schade geschehen. – Aber das alles braucht nicht zu sein, das war ein Zufall – und ein Zufall braucht nicht zu sein. Aber die Weiber sind kein Zufall, die Weiber sind immer und überall dabei ...
Was für Weiber –? fragte Pagel verblüfft.
Was für Weiber, Pagel? Alle Weiber! Das heißt, ich meine natürlich nicht alle Weiber. Aber überall sitzt so 'ne Sorte, die ist scharf auf solche Kerls, wie manche Männer auf Wildfleisch, wenn es recht stinkerig ist. Und die bilden sich ein, so 'n ausgeruhter Zuchthäusler ist mehr als ein anderer Mann, ist gewissermaßen raffinierter, Sie verstehen mich schon. Und solche Weiber tun alles, um einen Zuchthäusler für sich und ins Bett zu kriegen; Gefangenenbefreiung und das, da denken die doch nicht daran, davon haben sie noch nie gehört ...
Aber Herr Oberwachtmeister! wandte Pagel wiederum ein, solche Weiber gibt's vielleicht in Berlin, aber doch nicht hier bei uns auf dem Lande!
Woher wissen Sie das denn, junger Mann? sagte Marofke unendlich überlegen, was es hier für Sachen gibt und was für Weiber?! Nee, Fähnrich, Sie sind ein netter Kerl, Sie sind der einzige, der hier anständig zu mir war, aber Sie sind mir noch zu dünn! Sie denken immer: es ist alles halb so schlimm, und es wird nischt so heiß gegessen, wie's gekocht wird. Aber, Manning, Manning, das sollten Sie doch heute früh begriffen haben, daß manches noch viel heißer gegessen wird!
Pagel machte ein unbehagliches Gesicht. Es heißt davon: ein Gesicht wie von einer Katze, wenn's donnert. Für Pagel donnerte es jetzt und recht unbehaglich.
Ich habe Ihnen heute früh alles von meinen Gedanken erzählt, sagte der Marofke seufzend. Ich habe nicht geglaubt, daß Sie mir viel helfen könnten. Aber ich habe gedacht, er wird ein bißchen die Augen aufhalten, der junge Mann. Die Augen haben Sie ja nicht gerade aufgehalten. Fahnenjunker, das Eiserne Kreuz hätten Sie im Felde nicht dafür gekriegt ... Na, ist ja schon gut, ich weiß auch, wie einem jungen Mann zumute ist. Aber nun tun Sie mir einen Gefallen – machen Sie die nächsten Tage wirklich ein bißchen die Augen auf! Die ganzen Landjäger, so groß sie tun, ich glaube nicht, daß sie meine fünfe fangen ... Und dann sind Sie hier, und es wäre doch ganz schön, wenn Sie in ein paar Tagen der Direktion schreiben könnten: hier sind die fünf, und der Marofke hat uns gesagt, wie wir sie fassen ... Was meinen Sie dazu?
Gerne, Ober! sagte Pagel bereitwillig. Und was soll ich nun also Ihrer Ansicht nach tun –?
Mensch! sagte der Marofke und schnellte hoch von seiner Bank. Haben Sie denn Watte in den Ohren? Haben Sie denn keine Verstehste? Ich habe Ihnen doch alles gesagt! Die Augen sollen Sie aufmachen, weiter gar nichts! Sonst wird nischt von Ihnen verlangt! Sie sollen nicht Detektiv spielen, Sie sollen nicht in die Ecken kriechen, nicht mal schlau sollen Sie sein – bloß die Augen sollen Sie aufmachen!
Na, schön, Ober, sagte Pagel und stand auch auf. Ich werde sehen, was sich machen läßt ...
Sie wissen Bescheid! sagte Marofke eilig. Ich glaube daran, die Leute haben Helfershelfer im Dorf, einen oder mehrere, wahrscheinlich Mädchen, aber das muß nicht sein. Solange hier rum alles voll Polizei ist, halten sie sich versteckt, im Wald, im Dorf, was weiß ich! Sie sollen die Augen haben! Und wenn's ein bißchen ruhiger geworden ist, in drei, vier Tagen, dann fahren die Brüder ab, richtig mit der Bahn und fein in Zivil ...
Ich werde aufpassen! versprach Pagel.
Tun Sie das aber auch! bat Marofke. Aufpassen ist schwerer, als man denkt. Und da ist noch eins, was Sie wissen müssen. Das sind die Sachen, die die Leute auf dem Leibe haben –
Ja –? fragte Pagel.
Die sind nämlich Staatseigentum! Und jeder Gefangene weiß, daß er wegen Unterschlagung belangt wird, wenn er nur ein Stück von den Sachen wegbringt. Da kann ein Halstuch, das fehlt, ein halbes Jahr Zuchthaus kosten. Darum, wenn so ausgekochte Jungen türmen, sehen sie, daß ihre Sachen möglichst rasch ins Zuchthaus zurückkommen. Meistens schicken sie sie mit der Post, dann gebe ich Ihnen Bescheid. Aber wenn hier nur ein Stück auftaucht, dann müssen Sie aufpassen wie ein Schießhund! Denken Sie nicht, es ist hier von mir was liegen geblieben, von mir bleibt nichts liegen! Und wenn es nur eine graue Gefängnissocke mit rotem Rand ist, dann stinkt was! Wissen Sie überhaupt, wie unsere Hemden aussehen? Und die Halstücher –? Kommen Sie, ich zeige sie Ihnen ...
Aber er kam nicht mehr dazu, der Herr Oberwachtmeister Marofke, seinen Freund Pagel in die Geheimnisse der Anstaltswäsche einzuführen. Die Dorfstraße hinunter fuhr es Klingling auf zehn Rädern, und neun Wachtmeister des Strafanstaltsdienstes saßen darauf, alle umgeschnallt. Die Gummiknüppel schaukelten, und die Gesichter waren schweißnaß. Vorne aber fuhr ein dicker, faltiger Mann, in einem dicken, faltigen schwarzen Anzug, sein Bauch lag fast auf der Lenkstange, und er hatte ein weißes, strenges, fettes Gesicht mit buschigen, dunklen Brauen und einem schneeweißen Bart.
Als der Oberwachtmeister diesen drohenden, weiß-schwarzen Koloß sah, richtete er die Augen starr auf ihn. Er vergaß alles um sich, eingerechnet den jungen Pagel, und murmelte tief bestürzt: Der Herr Arbeitsinspektor selbst!
Pagel sah den Dicken schnaufend vom Rad steigen; ein diensteifriger Wachtmeister hielt es dem Inspektor, der sich die Stirn vom Schweiß trocknete, ohne seinen Marofke zu sehen.
Herr Inspektor! sagte Marofke flehend und hielt die Hand noch immer am Mützenschild. Ich melde Arbeitskommando 5 Neulohe, ein Oberwachtmeister, vier Wachtmeister – fünfundvierzig Mann ...
Wo ist hier das Gutsbüro, Jüngling? fragte der Elefant fern und fremd. Wollen Sie mir bitte den Weg zeigen. – Was Sie angeht, Marofke, der Inspektor sah nicht Marofke, er sah interessiert die Giebelwand der Kaserne an, auf der das Steinkreuz sich mit einem etwas helleren Rot abhob ... Was Sie angeht, Marofke, so werden Sie wohl noch lernen, daß Sie nichts mehr zu melden haben. Er sah immer noch die Wand an, dachte nach. Dann, gleichgültig im Ton, fern, fremd, sehr weiß, sehr faltig, sehr fett: Sie werden jetzt sofort feststellen, Marofke, ob das Schuhwerk der Gefangenen nach Vorschrift geschmiert und ob es ordnungsgemäß geschnürt ist, also Doppelschleifen, keine Knoten!
Einer der wartenden Wachtmeister lachte höhnisch auf.
Oberwachtmeister Marofke, der kleine, eitle Dickwanst sagte weiß, aber sich zusammenreißend: Zu Befehl, Herr Inspektor! und entschwand um die Kasernenecke.
Vor dem Inspektor zum Büro hergehend, dachte Pagel mit Erbitterung über diesen kleinen Mann nach, der getreten wurde von allen, obwohl er sich die meiste Mühe gegeben, die schwersten Sorgen gemacht hatte. Er dachte daran, daß ihm selbst kein Mensch einen Vorwurf gemacht, daß ihm eben noch auf dem Büro alle zugelächelt hatten, obwohl er Fehler genug begangen hatte. Er schwor sich, die Augen wirklich aufzumachen und Herrn Marofke, biete sich nur irgendeine Gelegenheit, wieder zu rehabilitieren. Aber er verstand, wie schwer es bei aller Tüchtigkeit einem so lächerlich aussehenden Mann sein mußte, etwas zu gelten. Es genügte bei weitem nicht nur Tüchtigkeit, viel wichtiger war es, tüchtig auszusehen.
Und das hier also ist das Büro, sagte der Arbeitsinspektor milde. Ich danke Ihnen, junger Mann. Wer sind Sie?
Ein Freund von Herrn Marofke, antwortete Pagel grob.
Aber der dicke Mann war nicht zu erschrecken. Ich meinte mehr Ihren Beruf, sagte er unverändert freundlich.
Lehrling! antwortete Pagel wütend.
Sieh da! Sieh da! strahlte der Dicke erfreut. Da passen Sie freilich zu Marofke. Lehrling! Der muß auch noch viel lernen.
Er legte die Hand auf die Klinke, nickte Pagel noch einmal zu und verschwand.
Wolfgang Pagel aber hatte wiederum eine Lehre, nämlich die, daß man seinen Ärger nicht an Leuten auslassen soll, die solcher Ärger freut.
Eine halbe Stunde später war das Arbeitskommando 5 aus Neulohe abgerückt, und wieder eine Viertelstunde später waren auch die Gendarmen ausgezogen auf ihre Treibjagd durch die Wälder. Von den Fenstern des Büros hatten alle vier: der Geheimrat, der Oberleutnant, der junge Pagel und Frau von Prackwitz den Ausmarsch angesehen, er hatte keine Ähnlichkeit mit der Ankunft der Husaren gehabt. Kein Lied war gesungen, kein Gesicht hatte gelächelt, mit gesenkten Köpfen, die Gesichter verbissen, die Schuhe im Staub der Straße schleifend, waren sie fortgezogen. Dieses hohle Schlürfen auf dem Weg hatte etwas so Verzweifeltes gehabt, ein böser Rhythmus, ein ›Wir sind die Feinde dieser Erde‹ – so hatte es geklungen, für Wolfgang.
Sicher hatten die Leute an ihre entflohenen Leidensgefährten gedacht, glühender Neid hatte sie erfüllt, wenn sie an die Freiheit dieser fünf dachten, die nun in den Wäldern hausten, während sie unter dem Geleit schußbereiter Karabiner wieder in ihre steinernen Einzelzellen zurückkehren mußten – sie bestraft, weil jene entflohen waren. Ihnen war der Anblick der Felderweite genommen, eines lachenden Mädchengesichtes, eines Hasen, der die Kartoffelfurche entlanghoppelt – eingetauscht gegen die gelbgraue Öde der Zellenwände, weil fünf andere in der Freiheit herumliefen.
Vor dem Zug aber ging der Oberwachtmeister Marofke; rechts hatte er ein Rad zu führen, links hatte er ein Rad zu führen – nicht einmal bewachen durfte er seine Leute noch. Hinter dem Zug schritt schwer und schwarzweiß, mit strubbligen Augenbrauen, auf Elefantenfüßen der Inspektor, ganz allein, das weiße, fette Gesicht ausdruckslos erhoben. In seinem Mund glänzten weiße, starke Zähne. Auf einem Stein am Wegrand hatte Weio gestanden und den vorübergehenden Zug gemustert. Pagel war böse gewesen, daß sie dort stand.
Dann hatte der Geheimrat mit einem Blick auf seine Enkelin zu der Tochter gesagt: Übrigens würde ich dir empfehlen, die nächsten Nächte doch lieber nicht allein mit eurem dusseligen Räder in der Villa zu schlafen. Unsern klugen Oberlandjägermeister in allen Ehren, aber sicher ist sicher.
Vielleicht würde einer der Herren –? sagte Frau von Prackwitz und sah abwechselnd Pagel und Studmann an.
Obwohl Marofke ausdrücklich vor allem Detektivspiel gewarnt hatte, wollte Pagel in den nächsten Nächten lieber frei sein, ein bißchen herumzustöbern, ein wenig umherzuhorchen – kurz, die Augen aufzuhalten, wie ihm gesagt worden war. Er sah darum keinen an, sondern zum Fenster hinaus – aber die Zuchthäusler waren endgültig fort, und die Schnitterkaserne sah wie ein roter, leerer Kasten aus.
Ich bin gerne bereit, bei Ihnen zu schlafen, sagte von Studmann – und wurde entsetzlich rot.
Der alte Geheimrat meckerte einmal auf und sah auch zum Fenster hinaus. Pagel, die Augen starr auf der Kaserne, bewegte die Schultern; die Ungeschicklichkeiten der Geschickten sind stets am allerschlimmsten. Wenn ein formvollendeter Mann wie Herr von Studmann ausrutschte, schämten sich alle, die es sahen.
Also, das ist abgemacht. Schönen Dank, Herr von Studmann, sagte Frau von Prackwitz mit ihrer vollen, ruhigen Stimme.
Einen Haufen Geld wird es euch kosten, die Schnitterkaserne wieder in den alten Stand zu setzen, erklärte der alte Geheimrat, die Augen immer noch aus dem Fenster. All diese Gittergeschichten und Riegel müssen wieder weg, die Tür aufgebrochen – und das alles möglichst bald.
Vielleicht könnte man das Haus vorläufig so lassen? fragte Studmann vorsichtig. Es wäre doch schade, wenn man alles rausrisse und müßte es im nächsten Jahr wieder einmauern.
Im nächsten Jahre –? Nach Neulohe kommt nie wieder so ein Kommando! verkündete der Geheimrat entschlossen. Ich habe jetzt genug von den Angstzuständen deiner Mutter, Eva. Na, ich will jetzt mal rauf und nach ihr sehen, die vielen grünen Landjägerröcke werden ihr gut getan haben! So ein Aufstand – aber was wird mit euern Kartoffeln, frage ich mich immerzu.
Mit diesem letzten Kanonenschlag verließ der Geheimrat das Büro. Für das Rotwerden Herrn von Studmanns, für die kurze, nur ihm merkbare Verlegenheit der Tochter, für das betont gleichgültige aus dem Fensterstarren des jungen Pagel hatte der eifersüchtige Vater sich hinreichend gerächt.
Ja, was wird mit unsern Kartoffeln –? fragte auch Frau Eva und sah Herrn von Studmann zweifelnd an.
Ich denke, das wird keine großen Schwierigkeiten machen, erklärte Studmann eilig, froh, ein Thema gefunden zu haben. Arbeitslosigkeit und Hunger werden immer größer. Wenn wir in der Kreisstadt bekanntmachen, daß wir Kartoffeln buddeln lassen, daß wir keinen Barlohn geben, sondern vom Zentner gebuddelter Kartoffeln zehn oder fünfzehn Pfund in natura, werden wir genug Leute kriegen. Wir müssen eben jeden Morgen zwei, drei, vier Gespanne in die Stadt schicken und die Leute holen lassen, wir müssen sie abends zurückfahren – aber es wird gehen.
Umständlich – teuer, seufzte die gnädige Frau. Ach, wenn diese Zuchthäusler ...
Immer billiger, als wenn uns die Kartoffeln einfrieren. Sie, Pagel, werden dann auch nicht mehr Freiherr und Baron sein. Sie werden den ganzen Tag auf dem Feld stehen und Zählmarken ausgeben müssen, für jeden Zentner eine Marke ...
Gott zum Gruß! sagte Pagel ergeben und überlegte ärgerlich, daß er sich dann seinem Augenaufreißen nicht mehr würde widmen können.
Ich muß morgen doch verreisen, fuhr Herr von Studmann fort. Ich werde dabei auch diese Sache in Gang setzen. Inserat im Kreisblatt – Besprechung mit dem Arbeitsamt.
Sie wollen verreisen? fragte die gnädige Frau. Jetzt grade, wo die Zuchthäusler ...
Sie war sehr ärgerlich.
Nur schnell einen Tag nach Frankfurt, tröstete Herr von Studmann. Wir haben heute nämlich den Neunundzwanzigsten.
Frau von Prackwitz verstand nicht. Übermorgen ist die Pacht fällig, gnädige Frau! sagte Herr von Studmann mit Nachdruck. Ich habe etwas vorverhandelt, aber nun wird es höchste Zeit, daß ich das Geld heranschaffe. Der Dollar steht auf hundertsechzig Millionen Mark, wir müssen eine ungeheure Summe auftreiben, jedenfalls eine ungeheure Menge Papier ...
Die Pacht! Die Pacht! Jetzt, wo die Zuchthäusler hier frei im Lande herumlaufen! rief Frau Eva ungeduldig. Hat mein Vater denn gemahnt –?
Herr Geheimrat hat nichts gesagt, aber ...
Ich bin überzeugt, meinem Vater würde es gar nicht recht sein, wenn Sie grade jetzt losfahren. Sie haben doch eine Art Wachtdienst bei uns übernommen ... Sie lächelte.
Ich würde bis zum Abend zurück sein. Meiner Ansicht nach muß die Pacht auf die Minute bezahlt werden. Es ist das auch ein Ehrenpunkt von mir ...
Aber Herr von Studmann! Papa verliert doch nichts, wenn er die Pacht eine Woche später bekommt, zum dann geltenden Dollarkurs. Ich werde mit Papa reden ...
Ich glaube nicht, daß der alte Herr mit sich reden lassen wird. Sie haben eben erst gehört, daß er die sofortige Instandsetzung der Schnitterkaserne forderte.
Es kann jetzt jede Stunde soviel passieren! bat Frau von Prackwitz förmlich. Wirklich, Herr von Studmann, lassen Sie mich nicht gerade jetzt hier allein ... Ich habe ein so ungemütliches Gefühl ...
Gnädige Frau! sagte Herr von Studmann fast verlegen. Einen Augenblick sah er zu dem schweigend aus dem Fenster schauenden Pagel, aber gleich vergaß er ihn wieder. Ich würde so gerne Ja sagen, aber verstehen Sie doch, ich möchte Herrn Geheimrat nicht um einen Aufschub in der Pachtzahlung bitten. Es ist wirklich eine Ehrensache für mich. Ich habe die Wirtschaft von Prackwitz übernommen, ich bin ihm verantwortlich. Wir können zahlen, ich habe alles genau überlegt, es würde ja eine Blamage für mich sein. Man muß doch genau sein im Leben, exakt ...
Blamage! Genau! rief Frau von Prackwitz sehr ärgerlich. Ich sage Ihnen doch, meinem Vater ist es egal, wann wir zahlen. Leiser: Jetzt, wo mein Mann weg ist. Es kam ihm doch nur darauf an, meinen Mann zu ärgern. Ich sage Ihnen, wenn ich an die Villa denke, und allein die ganze Nacht mit der Weio und den törichten Mädchen und dem noch törichteren Räder, fünfhundert Meter bis ans nächste Dorfhaus ... Ach, es ist nicht das! rief sie plötzlich, ärgerlich, gereizt, überrascht, einen ganz andern Studmann kennenzulernen, ernstlich etwas von den Schattenseiten der Pedanterie und Verläßlichkeit zu erfahren. Ich habe ein ungemütliches Gefühl, und ich möchte die nächsten Tage nicht ganz allein sein ...
Aber Sie haben wirklich nichts zu fürchten, gnädige Frau! erklärte Studmann mit jener beharrlichen Sanftheit, die einen erregten Menschen wahnsinnig machen konnte. Auch der Oberlandjägermeister meint, daß die Leute aus der hiesigen Gegend fort sind. – Und schließlich bleibt Vertrag Vertrag, grade unter Verwandten. Man muß ihn korrekt erfüllen, ich stehe schließlich mit meiner Person dafür ein. Prackwitz würde mir mit Recht vorwerfen ...
Der Herr Rittmeister! sagte Pagel mit halber Stimme am Fenster. Er fährt eben auf den Hof!
Wer? fragte Studmann verblüfft.
Mein Mann? rief Frau von Prackwitz. Ich denke, er schießt sein fünfhundertstes Kaninchen!
Es ist nicht möglich! sprach von Studmann und sah doch schon den Rittmeister aus dem Auto steigen.
Ich habe schon seit heute früh dieses unruhige Gefühl ... meinte Frau von Prackwitz.
Dachte ich es mir doch! sagte der Rittmeister, trat in das Büro und schüttelte den drei Überraschten strahlend die Hände. Wieder einmal der Große Rat versammelt zur Besprechung jener völlig unlösbaren Fragen, die mein Freund Studmann dann schließlich doch löst! Großartig! Ganz wie ich gedacht habe, alles beim alten. Studmann, ich bitte dich, zieh kein Gesicht. Ich soll dir übrigens von deinem dir noch unbekannten Freund Schröck bestellen, daß du nach wie vor der richtige Mann für ihn bist. Ich tauge nur zum Karnickelschießen. – Aber Kinder, sagt, was machen denn die vielen Laubfrösche hier in Neulohe? Eine ganze Abteilung sah ich, wie sie auf den Wald losmarschierte. Der Herr Schwiegervater will doch nicht etwa seine Wilddiebe gefangennehmen lassen?! Unsern guten Kniebusch traf ich übrigens heute früh in Frankfurt auf dem Bahnhof, völlig zerschmettert, er hat heute Termin in Sachen Bäumer ... Um den alten Knopp hat sich also auch keiner von euch richtig gekümmert, einschließlich meines hochverehrten Herrn Schwiegervaters. Das hätte man ihm sicher ersparen können! Na, jetzt werde ich mich wieder in die Wirtschaft knien! Und die Gendarmen? Zuchthäusler sind euch weggelaufen? Das Kommando ist aufgelöst?
Der Rittmeister lachte herzlich, er warf sich in einen Stuhl und lachte immer mehr, je mehr er die überraschten, verlegenen Gesichter der andern betrachtete.
Aber Kinder, Kinder – dafür hättet ihr mich doch nicht wegzuschicken brauchen, solche Dummheiten hätte ich auch allein fertiggebracht! Großartig! Und die Schwiegermama bebbert natürlich wieder? Und der junge Herr Pagel geht nicht mal auf die Treibjagd mit? Na, Pagel, wenn ich Ihr Chef wäre, Sie müßten mir sofort raus. Das ist Ehrensache, einer vom Gut muß doch mindestens dabei sein. Sonst heißt es gleich, wir hätten Angst ...
Jawohl, Herr Rittmeister! sagte Pagel. Ich gehe schon! Und ging.
Na also! rief der Rittmeister strahlend. Den hätten wir raus! Der junge Bursche braucht hier auch nicht ewig tatenlos herumzustehen, schließlich ist er hier in Lohn und Brot. – So, Kinder, und nun erzählt mir alles, was ihr auf dem Herzen habt. Ihr habt keine Ahnung, wie frisch und ausgeruht und erholt ich bin. Jeden Tag ein Fichtennadelbad und zehn Stunden Schlaf – das erfrischt! – Also raus, Studmann, mit dem Schlimmsten: was macht die Pachtzahlung –?
Ich hole das Geld morgen aus Frankfurt, sagte Studmann, ohne jeden Blick auf die gnädige Frau.
Komisch, plötzlich war es dem Herrn von Studmann doch wieder nicht recht, daß er recht bekommen hatte mit seiner Reise.
Wenn gegen Abend der Milchwagen von Rittergut Neulohe wieder auf den Hof zurückkommen und der Milchkutscher die Posttasche auf dem Büro abgeben wird, dann wird Herr von Studmann in dieser Tasche auch einen Brief des Geheimrats Schröck finden, der einiges Licht auf die plötzliche Rückkunft des Rittmeisters Joachim von Prackwitz wirft.
Sehr geehrter Herr von Studmann, liest Studmann in diesem Brief des bärbeißigen und etwas wilden Behandlers der menschlichen Nerven- und Gemütsleiden. Gleichzeitig mit diesem Brief wird Ihr Freund Prackwitz wieder bei Ihnen eintreffen, der mein Freund nicht geworden ist. Der Besuch des Herrn von Prackwitz wird mir immer angenehm sein – als zahlender Patient. Um aber Irrtümern vorzubeugen, möchte ich Ihnen schon heute bemerken, daß so labile, zu Depressions- und Erregungszuständen neigende Psychopathen wie der Herr Rittmeister von Prackwitz, mit starkem Geltungsdrang, aber schwacher Intelligenz nicht eigentlich heilbar sind – zumal nicht im Alter unseres Patienten. In den meisten Fällen wird es sich darum handeln, solchen Menschen den Drang zu einer harmlosen Beschäftigung beizubringen, wie etwa Briefmarkensammeln, schwarze Rosen züchten, Fremdwörter-Verdeutschungen erfinden – dann richten sie keinen Schaden an und werden sogar ganz erträglich.
Ich hatte Herrn von Prackwitz schon nahe beim fünfhundertsten Kaninchen und winkte sehr stark mit dem Rekord des tausendsten, als ihn – hol ihn der Teufel! – die Idee anfiel, er müsse jetzt meine Kranken heilen, und ich mache alles falsch. Er ging los mit aller Unternehmungslust der Ahnungslosen! Eine russische Fürstin, die seit acht Jahren bei mir weilt, die sich seit diesen acht Jahren schwanger glaubt, und die seit acht Jahren einen Teich im Park umrundet, weil sie des Glaubens lebt, wenn sie zehnmal an einem Vormittag um diesen Teich herumginge, dann würde sie niederkommen – diese ausgezeichnet zahlende und völlig zufriedene Patientin von zweieinhalb Zentnern Lebendgewicht hat er tatsächlich zehnmal um den Teich geschleppt, worauf sie zwar nicht nieder-, aber einen Herz- und Gemütskollaps bekam. Eine bildhübsche Schizophrene bat er um eine Locke, worauf sich das Mädchen ratzekahl geschoren hat – und der Besuch ihrer Angehörigen steht in Aussicht. Einen leider anomal veranlagten Herrn, der ihm Anträge machte, hat er mit Faustschlägen von seiner falschen Veranlagung zu heilen versucht. Dem auch Ihnen bekannten Reichsfreiherrn Baron von Bergen hat er in seiner Harmlosigkeit eine neue Flucht ermöglicht – kurz, Herr von Prackwitz hat mich Patienten gekostet, die monatlich etwa dreitausend Goldmark wert sind. So spreche ich: bis hierher und nicht weiter! Ich habe ihm klargemacht, daß seine Anwesenheit in Neulohe zum 1. Oktober absolut notwendig ist (ich kenne natürlich alle seine Sorgen), und er hat dies auch eingesehen.
Wenn Sie, sehr verehrter Herr Studmann, Umstände durch seine Rückkunft haben sollten, so freue ich mich aufrichtig darüber. Denn ich nehme an, daß Sie dann um so eher zu mir kommen werden. Ihr usw. usw. –
Na also! sagte Herr von Studmann seufzend, zündete langsam ein Streichholz an und ließ den Brief über dem Ofenblech in Flammen aufgehen. So ist er denn also wieder hier, um uns über den 1. Oktober fortzuhelfen. Es wird schon gehen, wenigstens scheint er jetzt nicht mehr so reizbar. Wenn er nur nicht zu schlimme Dummheiten macht –! Starker Geltungsdrang, aber geringe Intelligenz – bitter, doch ich werde es schon schaffen!
Herr von Studmann sollte sich irren. Herr von Prackwitz hatte an diesem Tage einige nicht wiedergutzumachende Dummheiten bereits hinter sich.
Als der Rittmeister von Prackwitz am Morgen dieses Tages mit aller Hast der letzten Minute in ein Abteil des Zuges Berlin-Frankfurt/Oder gestiegen war, hatte ihn eine Stimme sehr unwirsch empfangen: Bitte um Entschuldigung, alles besetzt.
Obwohl dieser Ausruf eine faustdicke Lüge war, denn von den acht Sitzplätzen des nun schon in Fahrt befindlichen Abteils waren nur zwei besetzt, war der Rittmeister nicht wegen dieser Lüge so rot geworden. Sondern er starrte erkennend in das Gesicht des so unhöflichen Ausrufers, machte dann eine Handbewegung und sagte lächelnd: O nein, mein Herr Leutnant, von überall lasse ich mich nicht so leicht fortweisen wie aus meinem eigenen Wald!
Auch der Leutnant wurde auffallend rot, und auch er antwortete mit einer Anspielung auf das damalige Erlebnis: Aus dem Wald Ihres Herrn Schwiegervaters, nicht wahr, Herr Rittmeister?
Dabei lächelten sich nun beide an, beiden stand recht lebhaft die Szene im Schwarzen Grund vor Augen, der Pfiff des Postens, dann die scharfe Zurückweisung des Leutnants. Beide Herren kamen sich recht klug und ihrem Gegenüber sehr überlegen vor, der Leutnant, weil er dem Vater das Verhältnis zur Tochter verborgen hatte, der Rittmeister, weil er trotz aller Barschheit des Leutnants das heimliche Vergraben von Waffen erfahren hatte.
Die nächsten Sätze der beiden waren bemerkenswert. Der Leutnant sagte harmlos-freundlich: Dem Fräulein Tochter geht es gut?
Danke, antwortete der Rittmeister. Er dachte, mit Speck fängt man Mäuse, und fuhr fort: Im Schwarzen Grund ist alles in Ordnung?
Danke, sagte der Leutnant trocken.
Das Gespräch war zu Ende. Jeder der beiden Klugen glaubte erfahren zu haben, was er wissen wollte, der Leutnant, daß die Tochter nicht geschwatzt hatte, der Rittmeister, daß die Waffen noch im Wald lagen. Unwillkürlich sahen die beiden nun zu dem dritten Mann im Abteil hinüber, der schweigend, mit einer Zeitung beschäftigt, in seiner Ecke gesessen hatte. Der dritte Mann ließ die Zeitung sinken und hob den Blick.
Wenn dieser Mann auch, übrigens genau wie der Leutnant, Zivil trug, so verriet doch sein ganzes Gesicht, die Art, wie er sich hielt, einen ständig vom Uniformtragen gestrafften Körper. Trotzdem er in einem viel zu weiten Sakko steckte, sah man ihm sofort den Offizier an – es hätte gar nicht des an einem breiten schwarzen Band hängenden Einglases und des Hohenzollern im Knopfloch bedurft. Der Herr hob einen schweren, langsamen, durch endlose Erfahrung vorsichtig gewordenen Blick zu den beiden. Das sehr weiße, dünnhäutige Gesicht schien ohne Zwischenlage von Fleisch auf den Knochen aufzusitzen. Das spärlich gewordene, aber noch immer blaßblonde Haar war in langen Strähnen vorsichtig über den Kopf gelegt, trotzdem schimmerte die weiße Haut pergamenten hindurch. Am stärksten fiel an diesem nur notdürftig verkleideten Totenkopf der Mund auf, ein Mund ohne Lippen, wie ein schmaler Strich, dem Schlitz eines Automateneinwurfs vergleichbar – ein Mund, der alle Bitterkeiten geschmeckt zu haben schien.
Den Mann muß ich schon gesehen haben! schoß es dem Rittmeister durch den Kopf, und er überschlug im Geist rasch die Bildseiten der illustrierten Blätter, die ihm in den letzten Wochen vor Augen gekommen waren.
Der verkleidete Offizier hatte mit einer dünnfingrigen, leicht zitternden Kinderhand das Einglas zum Auge geführt. Einen Moment fühlte sich der Rittmeister angesehen, er wollte sich schon vorstellen, als der Blick weiterging zu dem jungen Leutnant.
Herr Rittergutspächter von Prackwitz-Neulohe, Rittmeister a. D., meldete der Leutnant eilig. Man spürte, welchen Ruck ihm dieser Blick gegeben hatte.
Angenehm, sagte der andere, nannte aber seinerseits keinen Namen, was den Rittmeister gar nicht störte. Denn er wußte ja, es war eigentlich seine Pflicht, diesen hohen Offizier zu kennen. Das Einglas fiel aus dem Auge, die Mumie sagte: Aber setzen wir uns doch! Gute Ernte gehabt –?
Der Rittmeister wie der Leutnant setzten sich dem Sitzenden gegenüber; es war, als müßte man diesen kalten, leblosen Blick immer auf sich spüren, als würde er erst dann ganz unerträglich, wenn er einen ansehen konnte, und man wußte es nicht.
Doch, die Ernte ist nicht ganz schlecht, antwortete der Rittmeister mit jener unter Landwirten üblichen Vorsicht, die das Lob einer Ernte zur Herausforderung des Himmels machte. Und er setzte hinzu: Ich war die letzten Wochen nicht in Neulohe.
Herr von Prackwitz ist der Schwiegersohn Herrn von Teschows, erklärte der Leutnant.
Begreiflich, sagte das Gespenst rätselhaft. Es blieb unbegreiflich, worauf sich dieses ›Begreiflich‹ bezog, ob auf die Abwesenheit von Neulohe oder auf das verwandtschaftliche Verhältnis. Oder auch auf die Ernte.
Der Leutnant, dessen Name – dem Rittmeister fiel es eben ein – auch noch nicht genannt worden war, half wieder: Herr von Prackwitz ist der Pächter seines Schwiegervaters.
Tüchtiger Mann, sagte der Mann mit dem Einglas. Hat mich die letzte Zeit ein paarmal besucht. Sie wissen davon –?
Der Rittmeister wußte nichts davon. Er konnte sich nicht denken, was sein lodener Schwiegervater mit diesem pergamentenen Militär zu tun haben sollte.
Ich habe keine Ahnung, sagte er verwirrt. Wie gesagt, ich war verreist.
Tüchtig, knarrte der andere wieder. Gehört zu den Leuten, die immer erst zahlen wollen, wenn sie die Ware in der Hand halten – verwandtschaftliche Gefühle verletzt?
Aber nein! protestierte der Rittmeister. Ich habe auch ständig Schwierigkeiten ...
Wer mitfahren will, verkündete der Offizier mit einer ganz unbegreiflichen, durch kein Wort der Unterhaltung gerechtfertigten Bitterkeit, muß Karte vorher lösen. Weiß vielleicht nicht mal, wohin die Reise geht – verstanden?
Der Rittmeister hatte nicht verstanden, aber er nickte tiefsinnig mit dem Kopf ...
Der Fremde, auf dessen Namen er nicht kam, sah den Leutnant an. Der Leutnant erwiderte den Blick, aber ohne ein Zeichen der Bejahung ...
Stelle mir vor, sagte der Offizier trotzdem, Sie haben ein Auto ...
Ich habe keines, erklärte der Rittmeister. Aber ich will mir eins kaufen ...
Heute? Morgen?
Jedenfalls in allernächster Zeit ...
Heute oder morgen, sonst hat's keinen Sinn, sagte der Offizier mit Hartnäckigkeit, griff aber schon wieder nach seiner Zeitung.
Ich weiß nicht, meinte der Rittmeister zögernd. – Sollte dieser Einglasmann Vertreter einer Autofabrik sein? – Eine immerhin erhebliche Summe ... Ich weiß nicht, ob das Geld ...
Geld –?! rief der andere verächtlich und knitterte sehr mit der Zeitung. Seit wann bezahlt man für Autos Geld –? Wechsel! Und er verschwand hinter seiner Zeitung.
Diesmal half der junge Leutnant nicht wieder ein. Er saß mit einem ablehnenden Gesicht in einer Ecke und starrte so gefesselt in den Rauch der Zigarette, daß der Rittmeister sich in das andere Ende des Abteils zurückzog und auf die eigenen Zeitungen besann, mit denen er nun auch kräftig zu knittern anfing. Zu einem richtigen Lesen kam er aber nicht, er mußte immer weiter über die rätselhaften Reden des Offiziers nachdenken, über diese orakelhaften Sprüche vom tüchtigen, zu tüchtigen Schwiegervater, von der Fahrkarte, die man vorher bezahlen muß, und von dem Auto, das man nicht bezahlen soll ... Ein recht lebhafter Ärger faßte den Rittmeister schon wieder trotz seiner langwöchigen Sanatoriumsruhe; wenn er daran dachte, wie der junge Mann ihn im Wald behandelt hatte, fand er, dieser Fall war noch gar nicht bereinigt, und wenn er dazurechnete, wie ihn der pergamentene Mann heute behandelt hatte, so fand er wiederum, es mußte irgend etwas geschehen ...
Die beiden dort drüben fingen miteinander zu flüstern an; der Rittmeister fand Flüstern unfein, besonders, da sie natürlich über ihn flüsterten. Schließlich war er kein dummer Junge, sondern ein verdienter Offizier und erfolgreicher Landwirt. Wenn man vor Damen solche Dinge nicht bespricht, so flüstert man erst recht nicht vor älteren Herren! Der Rittmeister hatte gut eingeheizt, er versetzte seiner Zeitung einen kräftigen Schlag, trotzdem es die Deutsche Tageszeitung und kein Asphaltblatt war. Die beiden Herren sahen hoch, der Streit konnte beginnen – da fuhr der Zug langsamer. Schon waren sie in Frankfurt, der Rittmeister mußte hinaus, umsteigen – man sollte auch seinen Zorn schneller in Gang setzen.
Sie steigen aus, Herr Rittmeister? fragte der Leutnant höflich und angelte nach des Rittmeisters Koffer.
Ich steige um! rief der Rittmeister zornig. Bitte, bemühen Sie sich nicht!
Trotzdem turnte der Leutnant den Koffer aus dem Netz auf die Bank.
Ich bin beauftragt, Ihnen mitzuteilen, sagte er dabei leise und sah den Rittmeister nicht an, daß wir übermorgen, am 1. Oktober, eine Art Kameradschaftstreffen in Ostade haben. Bitte morgens sechs Uhr. In Uniform. Etwaige Waffen sind mitzubringen.
Jetzt sah er den Rittmeister an, der Rittmeister war überwältigt. Er war so überwältigt, daß er Zu Befehl! sagte.
Gepäckträger! rief der Leutnant aus dem Abteilfenster und beschäftigte sich mit des Rittmeisters Gepäck. Nun, wo es interessant wurde, mußte der Rittmeister aus dem Zug.
Er sah den Herrn in der Ecke an, der Herr in der Ecke hatte die Beine weit von sich gestreckt, das Einglas baumelte am Band, die Augen waren geschlossen, er schien zu schlafen. Unentschlossen, aber respektvoll stieg der Rittmeister über die schlafenden Beine fort, er murmelte: Guten Morgen!
Aber mit Auto, verstanden?! murmelte die Mumie und schlief schon wieder.
Der Rittmeister stand halb betäubt auf dem Bahnsteig; der Gepäckträger erkundigte sich zu drittenmal, wohin er das Gepäck denn tragen solle. Erst meinte der Rittmeister nach Neulohe, dann nach Ostade.
Ach, nach Ostade wollen Sie fahren, sagte der Gepäckträger. Da sind Sie aber falsch, da hätten Sie die Landsberger Strecke fahren müssen.
Nein, nein! rief der Rittmeister ungeduldig. Ich will ein Auto haben! Gibt's hier Autos zu kaufen?
Hier –? fragte der Gepäckträger und sah erst den Rittmeister und dann den Bahnsteig an. Hier?!!
Ja, hier in Frankfurt!
Aber natürlich gibt's hier Autos zu kaufen, Herr, sagte der Gepäckträger beruhigend. Das können Sie hier alles haben. Das machen sie meistens so, die Berliner kommen mit'm Zug hierher und kaufen sich in Frankfurt ihre Autos ...
Der Rittmeister ließ den Mann reden, er ging ihm sogar nach. Alles war ihm klargeworden: er hatte den Offizier gesehen, der ihm hundertmal beschrieben worden war, den er aber nie zu Gesicht bekommen hatte: den Major Rückert, der den großen Putsch gegen die Regierung vorhatte. Übermorgen früh um sechs sollte es losgehen, in Ostade, und der Rittmeister sollte mit dabei sein, in einem Auto!
Der Schwiegervater war ein zu tüchtiger Mann, er wollte erst den Putsch und den Erfolg des Putsches sehen, ehe er sich seine Fahrkarte kaufte. Der Rittmeister war nicht so geschäftstüchtig, er würde sich sofort das Auto kaufen, auf Wechsel! Es war nicht geschäftstüchtig, aber es war richtig!
Willenlos ließ sich der Rittmeister von seinem Gepäckträger in den Wartesaal führen, gedankenvoll setzte er sich hin, gab dem Mann Geld und bestellte sich einen Kaffee. Was ihn jetzt beschäftigte, war nicht mehr der Putsch mit dem Major Rückert und dem unhöflichen Leutnant. Diese Sache war abgemacht und erledigt, er würde übermorgen um sechs Uhr in Ostade sein. Das würde schon klappen, darüber gab es überhaupt keinen Gedanken, er war ja nicht der übervorsichtige, listenreiche Geheimrat Horst-Heinz von Teschow, er war der Rittmeister von Prackwitz! Und wenn dem ein Kamerad sagte: Mach mit! so machte er mit, ohne Fragerei. Er hatte wenig gehört, aber er hatte genug gehört, Reichswehr und Schwarze Reichswehr machten mit, altes und junges Militär also – und es ging gegen die Regierung, die das Schweinegeld druckte, den Ruhrkampf aufgegeben hatte und sich mit den Franzosen ›einigen‹ wollte – über alle diese Dinge brauchte man nicht nachzudenken, sie waren in Ordnung!
Worüber der Rittmeister nachdachte, während er gedankenverloren in seinem Kaffee rührte, das war sein Auto! Natürlich war es schon ›sein‹ Auto, obwohl er noch nicht einmal wußte, wie es aussehen sollte. Aber er hatte sich schon zu lange ein Auto gewünscht! Es war nur immer kein Geld dafür da gewesen – und jetzt war ja eigentlich auch kein Geld da, im Gegenteil, er fuhr nach Neulohe, um zu dem schwierigen Pachtzahlungstermin am 1. Oktober, also übermorgen, zur Stelle zu sein. Der Rittmeister war wie ein Kind: wenn ein Kind es zehnmal fertiggebracht hat, sich nicht die Schuhe und Strümpfe auszuziehen und im Wasser zu planschen, dann braucht beim elftenmal der Junge von nebenan nur zu sagen: Ach, heute ist's doch warm! – schon ist das Kind barbeinig und planscht, gegen alle Verbote. Der Major hatte gesagt, der Rittmeister müsse sich ein Auto kaufen; das Geld war noch immer knapp, es war knapper als je, das Auto sollte sofort ein gefährliches Abenteuer bestehen – aber an all das dachte der Rittmeister gar nicht. Er dachte nicht einmal mehr an den Putsch und die zu stürzende Regierung, er dachte nur daran, daß er sich nun ein Auto kaufen durfte! Dieser Putsch war eine großartige Sache, er verschaffte ihm ein Auto!
Der Rittmeister ging in Gedanken alle Wagen seiner Freunde und Bekannten durch, er schwankte zwischen Mercedes und Horch. Die billigeren Wagen kamen nicht in Frage; wenn man schon einen Wagen hat, darf man nicht so einen haben wie irgendein Landarzt. Der Wagen muß schon nach etwas aussehen, und wenn man doch einmal auf Kredit kauft, kommt es auf ein bißchen mehr oder weniger nicht an ... Nein, auch das Auto war nicht schwierig, schwierig war nur, wo er so schnell einen Chauffeur herbekam, einen Chauffeur, der anständig fahren konnte und der hinter dem Steuer wiederum auch nach etwas aussah, sonst saß man ja doch nur mit halbem Vergnügen auf den Polstern! Schnell mußte es gehen, denn in zwei, drei Stunden spätestens wollte er im eigenen Wagen unterwegs nach Neulohe sein ... Und dann war da die Sache mit der Garage – wo richtete man in Neulohe am schlauesten eine Garage ein, recht nahe bei der Villa?
Der Rittmeister ist vollständig in seine Gedanken versponnen. Er ähnelt außerordentlich jenem Rittmeister, der vor einigen Monaten am Spieltisch eines verbotenen Klubs saß und der vor lauter Eifer, nur ja keinen Einsatz zu versäumen, nicht dazu kam, die Spielregeln zu lernen. Der Rittmeister kennt das Spiel wieder einmal nicht, aber er setzt feste, immer weiter, über seine Kräfte – man könnte ja so 'ne Wellblechgarage kaufen, aber die Dinger sehen rein nach gar nichts aus ...
Ach, Herr Rittmeister! sagt die flehende Stimme am Nebentisch des Wartesaals nun schon zum drittenmal.
Nanu! fährt der Rittmeister aus seinen Plänen und Träumen hoch und starrt den Förster Kniebusch, der da in seiner Galauniform hinter einem kleinen Hellen sitzt, überrascht an. Was machen Sie denn hier in Frankfurt, Kniebusch?
Aber ich habe doch Termin, Herr Rittmeister! sagt der Förster vorwurfsvoll. In meiner Sache mit dem Bäumer!
Na also! nickt der Rittmeister anerkennend. Gut, daß der Lump endlich verknackt wird! Was glauben Sie denn, wird er abkriegen?
Aber, Herr Rittmeister! fleht der Förster förmlich. Ich bin doch der Angeklagte! Mich wollen sie doch verdonnern! Ich soll ihn doch körperlich verletzt haben!
Ist diese Schweinerei denn noch immer nicht erledigt?! sagt der Rittmeister verblüfft. Darüber hat mir Herr von Studmann kein Wort geschrieben! Setzen Sie sich an meinen Tisch und erzählen Sie mir mal die Sache. Die Karre scheint ja schön verfahren, aber vielleicht komme ich grade noch zur rechten Zeit, um sie aus dem Dreck zu ziehen!
Vielen, vielen tausend Dank, Herr Rittmeister! atmet der Förster auf. Ich habe doch immer zu meiner Frau gesagt, wenn der Herr Rittmeister nur da wäre, der würde mich schon raushauen!
Und nachdem der Förster so nicht unwirksam den alten Soldatengeist seines Herrn angerufen hat, transportiert er vorsichtig die schale Neige seines Bierchens an den rittmeisterlichen Tisch und schüttet langsam und mit viel Wehklagen sein Herz aus. Und der Rittmeister hört zu; mit dem gleichen Elan, mit dem er sich vorher auf das Auto stürzte, stürzt er sich jetzt auf die Strafsache Kniebusch. Er läßt es nicht an bitteren Bemerkungen darüber fehlen, wie doch alles selbst bei den verläßlichsten Leuten liegenbleibt, wenn er nicht da ist; wie er eben alles selber tun muß! Er schimpft auf die Rechtsverdreher, die Wilddiebe, die scheiß-rot-gelbe Republik, den Dollar und die Sozis – er vergißt aber auch nicht, den Förster Kniebusch recht deutlich darauf aufmerksam zu machen, daß sein Arbeitgeber ja eigentlich der Geheimrat von Teschow ist und daß ihn, den Rittmeister, die Sache eigentlich einen Dreck angeht.
Hören Sie, Kniebusch! sagt er schließlich. Um halb elf haben Sie Termin? – Ich habe ja eigentlich noch viel vor – ich will mir nämlich ein Auto kaufen, und einen Chauffeur muß ich auch noch engagieren ...
Ein Auto! ruft der Förster. Da wird sich die gnädige Frau aber freuen!
Der Rittmeister ist sich dessen nicht so sicher, er geht nicht näher auf diesen Punkt ein. Ich gehe also jetzt mit Ihnen aufs Amtsgericht und werde den Herren mal ganz gründlich meine Meinung sagen. Die Sache ist in zehn Minuten erledigt, verlassen Sie sich darauf, Kniebusch. Man muß das alles nur im richtigen Licht darstellen, und überhaupt müssen die Verfolgungen des Großgrundbesitzes jetzt endlich aufhören! Na, übermorgen wird sich das alles ändern, Sie werden staunen, Kniebusch ...
Der Kniebusch horcht mit gespitzten Ohren.
Aber der Rittmeister bricht kurz ab. Und direkt danach kauf ich mir die Karre, Chauffeur her, anständiger Chauffeur ist beim Kauf Bedingung, und dann nehme ich Sie mit nach Neulohe, sparen Sie noch das Reisegeld, Kniebusch!
Kniebusch dankt überschwenglich, er ist entzückt von diesem Programm, und die Bedenken, die er etwa noch bei sich hegt, daß die Sache vor Gericht vielleicht trotz des rittmeisterlichen Eingreifens nicht so glatt abgehen wird, verschweigt er weise.
Der Rittmeister hat es jetzt eilig, er steuert mit seinen langen Beinen so eilig durch die Stadt Frankfurt, als brächte ihn jeder Schritt seinem ersehnten Auto näher. Der Förster Kniebusch trabt prustend einen halben Schritt hinterher.
So ist es, als sie zum Amtsgericht kommen, noch eine Viertelstunde zu früh. Trotzdem dringt der Rittmeister zu dem auf der Ladung bezeichneten Sitzungszimmer vor, sie klopfen, sie lauschen, sie öffnen vorsichtig die Tür: staubig, öde, leer liegt der Raum. Sie fangen einen Gerichtsdiener ab, sie zeigen ihm die Ladung, der sieht von einem zum andern ...
Sind Sie das –? fragt er den Rittmeister.
Heftig protestiert der. Dies ist ihm wieder nicht recht, so gerne er sich der Sache auch annimmt.
So – Sie sind das! Na, da warten Sie man noch ein bißchen. Das wird wohl noch ein bißchen dauern. – Die Sache wird aufgerufen.
Seufzend setzt sich der Rittmeister mit dem Förster auf eine jener Bänke, auf denen kein Mensch ruhig sitzen kann, liege es nun an ihrer Bauart, liege es am Ort ihrer Aufstellung. Der Gang ist öde und leer, er wirkt schmuddelig, obwohl er nicht schmuddelig ist. Manchmal kommen Leute, ihre Schritte hallen von den Steinwänden, dem Steinboden, den Steindecken wider, so vorsichtig sie auch gehen. Kurzsichtig beugen sie ihre Köpfe in dem grauen Tageslicht zu den Nummern an den Türen, sie entschließen sich zu klopfen, sie horchen lange, ehe sie eintreten.
Der Rittmeister starrt wütend ein Schild an der Wand gegenüber an, auf dem Schild steht untereinander ›Rauchen verboten! Spucken verboten!‹ Unter dem Schild steht ein Spucknapf. Der Rittmeister könnte jetzt draußen in Frankfurt herumlaufen und ein herrliches Auto erwerben, Probefahrten machen, statt dessen sitzt er hier auf diesem öden Gang, aus purer Gutmütigkeit, ihn geht diese Sache eigentlich gar nichts an!
Er sieht seufzend auf die Uhr. Was das alles dauert! ruft er ärgerlich. Es ist aber erst fünf Minuten vor halb elf.
Der Förster fühlt die Unruhe seines Begleiters, es kommt ihm sehr darauf an, ihn festzuhalten. Zudem hat er über das nachgedacht, was der Rittmeister angedeutet hat, so sagt er vorsichtig: Die Waffen liegen noch immer im Schwarzen Grund.
Pssst! macht der Rittmeister so laut, daß ein Herr ganz am Ende des Ganges zusammenfährt und sich fragend umdreht. Der Rittmeister wartet, bis der Herr in seinem Zimmer verschwunden ist, dann fragt er leise: Woher wissen Sie denn das, Kniebusch?
Ich hab gestern nachmittag noch mal nachgesehen, flüstert der immer neugierige Förster. Man will doch auch wissen, was im eigenen Wald los ist, Herr Rittmeister.
So, sagt der Rittmeister überlegen. Und wenn sie heute noch daliegen, übermorgen liegen sie nicht mehr da.
Der Förster denkt nach, das Wort ›übermorgen‹ hat er jetzt schon zum zweitenmal vom Rittmeister gehört. Er fragt vorsichtig: Kaufen Herr Rittmeister darum ein Auto?
Der Rittmeister ist mit einem wichtigen Mann im D-Zug gefahren, mit dem Führer eines Putsches, er weiß eine brandneue Neuigkeit. Es kränkt ihn sehr, daß der Förster ebensoviel wissen will wie er selber. Was wissen Sie denn von der Geschichte, Herr Kniebusch? fragt er sehr ungnädig.
Ach, eigentlich nichts, Herr Rittmeister, sagt der Förster entschuldigend. Er merkt, daß er etwas falsch gemacht hat, und seine volle Mitwisserschaft möchte er ja auch nicht eingestehen, so lange er nicht weiß, woher der Wind weht. Bloß, die Leute im Dorf reden so viel. Daß bald was losgehen soll, davon reden sie schon lange, aber vom Tag und von der Stunde weiß keiner was. Das weiß wohl nur der Herr Rittmeister!
Ich habe nichts gesagt, stellt der Rittmeister fest, der sich doch geschmeichelt fühlt. Wie kommen denn die Leute im Dorf auf solche Ideen –?
Ach ... sagt der Förster. Man weiß ja nicht, ob man davon reden darf.
Mit mir schon, sagt der Rittmeister.
Da ist doch dieser Leutnant ... Herr Rittmeister kennen ihn doch auch, der so unhöflich zu Herrn Rittmeister war ... Der ist ein paarmal im Dorf gewesen und hat mit den Leuten geredet.
So! sagt der Rittmeister und ist sehr geärgert, daß der Leutnant mit den Leuten und wohl auch mit dem Förster geredet hat und nicht mit ihm. Aber das will er sich nicht merken lassen. Nun, ich will Ihnen sagen, Kniebusch, daß ich eben mit diesem Leutnant von Berlin hergefahren bin ...
Von Berlin! ruft der Förster.
Sie sind auch nicht sehr helle, Kniebusch, sagt der Rittmeister herablassend. Sie haben nicht mal gemerkt, daß diese Unhöflichkeit eine verabredete Sache war, weil wir keine Sicherheit vor Lauschern hatten ...
Nein –! ruft der Förster überwältigt.
Ja, mein lieber Kniebusch, erklärt der Rittmeister abschließend. Und da Sie's morgen doch erfahren werden, kann ich Ihnen ja auch verraten, daß übermorgen um sechs Uhr morgens Kameradschaftstreffen in Ostade ist. – Wir nennen so was Kameradschaftstreffen!
Ich sage es ja, murmelt der Förster. Man kommt aus der Unruhe nicht heraus ...
Aber Sie geben mir jetzt auf der Stelle Ihr Ehrenwort, daß Sie keinem Menschen ein Wort davon sagen.
Selbstverständlich, Herr Rittmeister, mein heiliges Ehrenwort! Wie könnte ich –?
Die beiden schütteln sich die Hände. Schon ist es dem Rittmeister nicht recht, daß er geschwatzt hat, und grade zu Kniebusch. Aber schließlich hat er ja nichts gesagt, was der Mann nicht schon gewußt hat. Oder fast nichts. Der Förster ist doch ein Mitverschworener!
Aber ein ungemütliches Schweigen herrscht zwischen den beiden.
Grade zur rechten Zeit kommt ein junger Mann den Gang entlang, so ein richtiger Dandy mit Stöckchen und Schiebermütze, so ein Bursche, dem man auf der Stelle drei Jahre Militärdienst wünschen möchte. Er tippt mit dem Stöckchen gegen seinen Mützenschirm und sagt: 'schuldigen Sie! Wo tritt man denn hier aus der Kirche aus?
Was –?! schreit der Rittmeister fast.
Wo man austritt aus der Kirche – das muß hier sein.
Ja, wozu wollen Sie denn aus der Kirche austreten –? ruft der Rittmeister, empört über solche Wünsche eines kaum trocken gewordenen Jünglings. Und Rauchen ist hier übrigens auch verboten!
Da haben Sie aber Schwein gehabt, Chef! sagt der Jüngling herablassend und schlendert den Gang weiter. Er verschwindet in einer Tür, die Zigarette ganz ungeniert im Maul.
Lümmels gibt das heute! ruft der Rittmeister empört. Aus der Kirche austreten! Zigaretten rauchen! Das möchten die!
Der Rittmeister wurde immer aufgeregter, wütende Blicke schoß er auf das Verbotschild an der Wand: wenn es nur ihn bedrohte und solche Schnösel nicht, taugte es nichts.
Hören Sie mal, Sie! rief er den Gerichtsdiener an, der grade wieder einmal im Gang gespensterte. Wann geht denn das hier los bei Ihnen –?!
Ich habe Ihnen doch gesagt, es wird noch ein bißchen dauern! sagte der Diener gekränkt.
Aber um halb elf sollte es losgehen, und jetzt ist es bald elf!
Ich habe Ihnen doch gesagt, die Sache wird aufgerufen.
Sie können die Leute hier nicht stundenlang warten lassen! erbitterte sich der Rittmeister immer mehr. Meine Zeit ist kostbar ...
Na ja, ich weiß doch nicht, sagte der Gerichtsdiener unentschlossen und rückte an seiner Dienstmütze. Mir haben sie noch nichts Bestimmtes gesagt, vielleicht ... Zeigen Sie mir doch mal Ihre Ladung.
Ich bin gar nicht geladen! rief der Rittmeister gekränkt. Ich komme doch nur so mit.
Ach so! sagte der Gerichtsdiener, nun seinerseits ärgerlich. Sie sind gar nicht geladen, aber mich schreien Sie hier an. Gehen Sie doch nach Haus, wenn Sie nicht warten können! Das wird ja immer schöner!
Und kopfschüttelnd schusselte er weiter den Gang entlang.
Die beiden sahen ihm nach.
Wissen Sie was! sagte der Rittmeister plötzlich und faßte den Förster sehr freundschaftlich am Arm. Eigentlich hat der Mann ganz recht. Was soll ich hier noch länger sitzen und warten? Er sagt doch, es kann noch 'ne ganze Weile dauern.
Aber Herr Rittmeister! rief der alte Mann und faßte nun seinerseits seinen Herrn flehentlich an. Sie werden mich doch jetzt nicht im Stich lassen! Ich war ja so glücklich, daß ich den Herrn Rittmeister getroffen hatte, und der Herr Rittmeister wollten mich doch auch heraushauen –!
Natürlich wollte ich das, Kniebusch! sagte der Rittmeister mit all der Herzlichkeit, die ein schlechtes Gewissen verleiht. An mir liegt's doch nicht! Ich bin doch gleich mitgegangen und gerne!
Ach, Herr Rittmeister, warten Sie doch noch ein bißchen! bettelte der Förster. Vielleicht ist es gleich soweit, und es wäre doch so gut ...
Aber Kniebusch! rief der Rittmeister vorwurfsvoll. Sie wissen doch, um was es geht! Ich bin hier in Frankfurt doch nicht zu meinem Vergnügen! Ich muß das Auto rechtzeitig besorgen, Sie wissen ja ...
Aber Herr Rittmeister ...!
Nein, jetzt müssen Sie sich zusammennehmen, Kniebusch! erklärte der Rittmeister energisch und befreite seinen Arm von des Försters Hand, die immer noch flehend darauf lag. Mann, altgedienter Unteroffizier – und hat Angst vor ein paar klugscheißenden Schwarzröcken. Ich sage Ihnen, Kniebusch, wenn jetzt in dieser Minute die Sache aufgerufen würde, ich ginge doch! Es ist Ihnen nur gut, der Gefahr mal wieder ins Auge zu sehen. Sie sind ja viel zu weich geworden, Mann!
Damit nickte der Herr von Prackwitz dem Förster Kniebusch kurz, aber nicht unfreundlich zu und ging den Gang hinab. Er bog ein in die Treppenhalle und verschwand.
Kniebusch aber sank auf die Armesünderbank, barg den Kopf in den Händen und dachte verzweifelt: So sind sie alle, die großen Herren! Viel Versprechungen und alles Wind. Ich habe ihm doch genau gesagt, um was es hier für mich geht, daß ich vielleicht sogar ins Gefängnis komme –! Aber nein, er kann es nicht abwarten, er muß sich sein Auto kaufen! Als ob er das nicht noch heute nachmittag oder morgen früh kaufen könnte! Und für solche Leute riskiert man nun alle Tage seine heilen Knochen und eine Kugel! Ich werde es ihm aber auch nicht vergessen!
Na, ist er weg, dein langer Bullerjahn? fragt eine freche Stimme den Förster Kniebusch. Und als der ganz verdattert hoch sah, stand ein kleiner Kerl vor ihm, scheußlich anzusehen, mit Kugelaugen hinter einer Eulenbrille und mit Wulstlippen. Aber herrlich angezogen in einem kurzen Sportpelz mit Knickerbockers, schottischen Strümpfen und Haferlschuhen!
Was willst du denn hier auf dem Gericht, Meier? fragt der Förster erstaunt. Und den kleinen ehemaligen Feldinspektor musternd, sagte er neidisch: Gott, Meier, wie machst du das bloß?! Jedesmal, wo man dich trifft, bist du feiner in Schale, und unsereiner weiß bald nicht mehr, wo er das Geld zum Stiefelbesohlen hernehmen soll!
Tjaha! grinste Meier. Köpfchen! Köpfchen!
Er schlug mit der flachen Hand gegen seinen Birnenschädel, daß es klatschte. Heute liegt das Geld doch auf der Straße! Brauchst du was, Kniebusch? Ich kann dir mit ein paar Millionen oder Milliarden gerne aushelfen.
Ach, Geld ...! jammerte der Förster. Hilfe hätte ich gebraucht. Ich habe doch heute meinen Termin, ich habe dir doch von meiner Sache mit Bäumer erzählt ...
Na, Mensch, das weiß ich doch alles! sagte der kleine Negermeier und legte seine ringeglitzernde Hand dem Förster auf die Schulter. Deswegen bin ich doch hier. Ich hab's doch angeschlagen gesehen, schon gestern in der Halle: Strafsache gegen Kniebusch, Privatförster aus Neulohe, Zimmer 18 ... Ich habe gedacht, vor hast du nichts, kannst du dem alten Genossen mal in die Seite treten ... Ich hätte auch aussagen können, was du für ein tüchtiger Beamter bist ...
Du bist eben doch ein anständiger Kerl, Meier, meint der Förster gerührt. Das hätte ich nie gedacht, daß du um meinetwillen aufs Gericht gehst.
Was ist denn weiter dabei, Kniebusch? sagt der kleine Meier selbstgefällig. Aber jetzt bin ich natürlich abgemeldet, wo du so große Leute wie den Herrn Rittmeister von Prackwitz als Zeugen anschleifst!
Aber der hat mich doch sitzenlassen, Meier! jammerte der Förster. Der hat keine Zeit, einen Augenblick zu warten, weil meine Sache noch nicht gleich drankommt. Der will sich durchaus noch in dieser Stunde ein Auto kaufen!
Siehste, wie das Geld auf der Straße liegt, Kniebusch! sagt der kleine Meier und kneift die Augen ein. Jetzt hat sogar der Rittmeister schon Geld, sich ein Auto zu kaufen ...
Ob er Geld hat, das weiß ich nicht, glaube ich auch nicht, sagt der Förster wieder. Oder die haben ihm in Berlin Geld dafür gegeben, das wäre möglich ...
Welche in Berlin –?
Na, die – du weißt doch noch: damals mit dem Leutnant, wie du die Kiefernkuscheln angesteckt hast.
Ach, die Sache –! Meier grinst verächtlich. Das ist doch alles Quatsch, Kniebusch, da gibt kein Mensch 'ne Papiermark dafür.
Sag das nicht, Meier, du wirst sehen, schon in den nächsten Tagen! Aber ich sage nichts, ich habe mein Ehrenwort gegeben ... ich sage nichts!
Sollste auch nicht, Kniebusch! Kein Wort! ruft Meier. Trotzdem ich es nicht nett von dir finde, wo du weißt, daß ich auch streng deutschnational bin und lieber heute als morgen gegen die roten Brüder marschiere ...
Ich habe mein heiliges Ehrenwort gegeben, beharrt der Förster. Sei nicht böse, Meier.
I wo, Kniebusch! Was werde ich böse sein, lacht Meier. Ich lade dich jetzt sogar zu einem Mittagessen ein, du weißt schon, wie damals: Rheinwein, Sekt, Türkenblut ... Komm, alter Knabe!
Und er hakt den Förster unter und will ihn mit sich ziehen.
Aber Meier! ruft der Förster ganz erschrocken. Ich habe doch meine Sache ...!
Komm, komm! beharrt Meier. Deine Sache? Wegen deiner Sache kannst du dir ruhig die Nase begießen, grade wegen deiner Sache! Er sieht den Förster triumphierend an. Ja, du altes Sumpfhuhn, du! Da staunst du! Wenn ich nun so unkameradschaftlich wäre wie du, da hielte ich die Fresse und dächte, laß ihn doch sitzen, den Raben, aber ich bin anders. Komm, Kniebusch, einen saufen –!
Aber Meier ...
Deine Sache fällt aus, Kniebusch, hat sich vernebelt. Deine Sache ist in die Luft gegangen, Kniebusch, deine Sache ist ausgerissen!
Mensch, Meier! Der Förster schluchzt beinahe.
Heute morgen um neun ist der Bäumer ausgerissen, Kniebusch ...!
Meier, Meierchen, du bist der beste Kerl von der Welt, du bist mein einziger Freund! Die großen Tränen laufen dem Förster über die Backen in seinen Bart, er schluchzt so sehr, daß Meier ihm kräftig auf den Rücken haut. Ist es auch wirklich wahr, Meier?!
Wo ich's mit eigenen Augen gesehen habe, Kniebusch! Das ist ein schlauer Hund, der Bäumer! Immer hat er den Todkranken gespielt, mit 'nem Krankenwagen wollten sie ihn zum Termin fahren, und wie sie mit der Trage aus dem Krankenhaus rauskommen – nicht mal angeschnallt hatten sie ihn, so krank war der arme Mann –, da macht er seinen Satz, die Pfleger fliegen hin mit der Trage, er in den Krankenhausgarten, Geschrei, Gejachter ... Ich hab auch immer mitgejachtert, immer nach der falschen Seite, weil ich gedacht habe: besser für meinen Freund Kniebusch, sie kriegen ihn nicht ...
Meier –!
Es ist natürlich 'ne bestellte Sache gewesen. Der Bäumer hat ja Besuch im Krankenhaus gehabt noch und noch. Ein Auto hat schon auf der andern Seite gewartet – husch die Lerche! Weg!
Meier, Mensch, das vergeß ich dir nicht! Von mir kannst du verlangen, was du willst.
Gar nichts verlange ich. Mir brauchst du gar nichts zu erzählen. Nur Mittag essen sollst du mit mir.
Alles erzähle ich dir – die andern lassen mich sitzen, nur du hilfst mir. Was willst du denn wissen?
Gar nichts will ich wissen. Wenn du mich um Rat fragen willst oder Sorgen hast wegen dem Putsch, dann zu! Ich helf dir immer gerne. Aber sonst – von mir aus!
Meier unterbricht sich. Überlegen sagt der Dreikäsehoch zum Gerichtsdiener: Hören Sie mal, was machen Sie denn für Geschichten?! Lassen den alten Herrn hier über 'ne Stunde warten und wissen genau, der Hauptbelastungszeuge ist stiftengegangen!
Ja, mein Herr, sagt der Gerichtsdiener. Das geht nicht so schnell bei uns. Offiziell ist der Termin noch, offiziell ist uns von dem Verschwinden des einen Zeugen noch nichts bekannt ...
Aber Sie wissen's doch?
Wissen tun wir das schon lange! Die Richter sind doch auch schon wieder weggegangen.
Na, hören Sie, Männecken! sagt der kleine Meier (und der Förster ist ganz hingerissen, wie der kleine Kerl mit einem Gerichtsbeamten umspringt). Da könnte doch mein Freund nun auch losgehen und sich vor Freude ein bißchen die Neese begießen ...
Von uns aus! sagt der Gerichtsdiener. Wenn ich keinen Dienst hätte, ginge ich sogar mit.
Also gehen Sie nach dem Dienst! sagt Meier wie ein Fürst und holt aus der Tasche seines Sportpelzes eine Kugel zerknitterter Scheine. Er zieht einen aus dem Ball, drückt ihn dem Gerichtsdiener in die Hand, sagt vornehm: Mahlzeit! – Also komm, Kniebusch! Und geht mit Kniebusch ab.
Kniebusch folgt begeistert seinem Freund, dem einzigen Menschen, dem er hier auf der Welt wirklich vertrauen kann.
Willst du das Auto nicht zurückschicken? fragte Frau Eva, als die beiden vom Büro zur Villa hinübergingen.
Das Auto hielt auf dem Hof, der Chauffeur stand rauchend daneben.
Der Rittmeister zögerte einen Augenblick, angesichts der eigenen Frau war es nicht ganz leicht, den Kauf zu beichten. Es würde ein endloses Geschwätz geben.
Ich behalte den Wagen hier – erst einmal ein paar Tage, setzte er lächelnd beim Zusammenfahren seiner Frau hinzu. Übermorgen entscheidet sich allerlei – auch für uns. Finger! sagt der Rittmeister zum Chauffeur. Fahren Sie uns zur Villa. – Ich weiß noch nicht recht, wo wir den Wagen die nächsten Tage unterbringen – das wird sich schon finden. Sie wohnen erst einmal bei uns, der Diener wird Ihnen Bescheid sagen.
Sehr wohl, Herr Rittmeister! antwortete der Chauffeur Finger und hielt der gnädigen Frau die Tür auf.
Frau von Prackwitz sah das glänzend lackierte, weichledrige Ungeheuer mit einer Mischung von Abwehr, Angst und Ärger an. Ich verstehe das nicht, murmelte sie und stieg ein. Sie drückte sich nicht in eine Ecke, nein, sie saß kerzengrade, obwohl die Kissen zum Anlehnen, Einsinken verlockten.
Der Wagen heulte auf und fuhr sanft wie eine Wiege zwischen den Leutehäusern durch. Da alle Mann wegen des Abzugs der Zuchthäusler, wegen des Ausrückens der Gendarmen auf den Beinen waren, sah jedermann den Wagen, den lächelnden Rittmeister, die steil aufgerichtete gnädige Frau mit einer Falte zwischen den Augenbrauen. Frau Eva hatte im Rücken das unerträgliche Gefühl, daß auch alle Fenster im Schloß besetzt waren.
›Ich hätte nie in dieses Teufelsdings steigen sollen!‹ dachte sie erbittert. ›Achim hat wieder eine Dummheit gemacht. Nun denken die Eltern, ich bin mit ihm einverstanden.‹
Die Wochen der Trennung, der Umgang mit Studmann hatten gewirkt: auch Frau von Prackwitz hatte sich gewandelt. Früher hatte sie bei jeder Übereilung ihres Mannes gedacht: wie vertusche ich das? Heute dachte sie: keiner soll glauben, ich bin einverstanden!
Gefällt dir der Wagen, Eva? fragte der Rittmeister lächelnd.
Willst du mir nicht bitte erklären, Achim, sagte sie hitzig, was dies heißen soll?! Ist dieser Wagen –?
Der Rittmeister tippte dem Chauffeur mit einem Finger auf den Rücken: fetzt gradeaus – ja, das helle Haus vorne rechts ... Dann: Nachher! – Es ist ein Horchwagen, merkst du, wie sanft er fährt? Er braucht nur zwanzig Liter Brennstoff auf hundert Kilometer, nein, dreißig ... das habe ich nun doch vergessen, es ist aber auch egal ...
Der Wagen fuhr hupend bei der Villa vor.
Hier muß eine Auffahrt hin, sagte der Rittmeister gedankenverloren.
Was?! fuhr Frau Eva hoch. Für die paar Tage! Ich denke, du hast den Wagen nur für ein paar Tage gemietet.
Aus dem Hause kam Violet gelaufen.
O Papa, Papa! Bist du wieder da?! Sie umfing ihren Vater, er konnte gar nicht schnell genug aus dem Auto kommen. Hast du das Auto gekauft? Ist das schneidig! Wie heißt es? Wie schnell kann man damit fahren? Hast du auch Fahren gelernt! Laß mich mal sitzen, Mama ...
Siehst du! sprach der Rittmeister vorwurfsvoll zu seiner Frau. Das nenne ich Freude! – Violet, sei so gut, bringe Herrn Finger zu Hubert. Er soll vorläufig das kleine Fremdenzimmer im Giebel haben. – Der Wagen kann erst einmal hier stehenbleiben. – Bitte, Eva.
Also, Achim, sagte Frau Eva und war wirklich erregt. Erkläre mir nun bitte, was dies alles heißen soll ... Sie setzte sich und sah ihn unmutig an.
Je schlechter das Gewissen des Rittmeisters war, um so liebenswürdiger konnte er sein. Er, der nicht ein gereiztes, auch nur hastiges Wort in seiner Umgebung ertragen mochte, war jetzt die Sanftmut selbst bei der üblen Laune seiner Frau. Aber grade dies machte den Fall für Eva um so bedenklicher.
Was das heißen soll? fragte er lächelnd. Übrigens haben wir uns noch gar nicht richtig guten Tag gesagt, Eva. Im Büro starrte dich ewig der Schulmeister an.
Herr von Studmann! Ja, er sieht mich gerne an, und er ist nie unhöflich. Er schreit auch nicht ... Evas Augen funkelten gefährlich.
Der Rittmeister hielt es für besser, im Moment nicht auf einer zärtlichen Begrüßung des wiedervereinten Ehepaares zu bestehen. Ich schreie jetzt auch gar nicht mehr, sagte er lächelnd. Ich habe seit Wochen nicht mehr geschrien. Ich habe mich überhaupt glänzend erholt ...
Und warum kommst du so plötzlich?
Ja, siehst du, Eva, sagte der Rittmeister. Ich ahnte ja nicht, daß ich dich hier stören würde. Mir fiel plötzlich ein, daß der 1. Oktober ja immerhin ein wichtiger Tag ist; ich dachte, ihr könntet mich vielleicht hier brauchen –?
Es klang sehr liebenswürdig und sehr bescheiden, aber grade darum mißfiel es der Frau.
Keinerlei Ankündigung – sagte Frau Eva. Du hast dich sehr plötzlich auf diesen 1. Oktober besonnen –?
Ach, weißt du, sagte er, ein wenig ärgerlich. Ich bin ja nie sehr für Schreiben gewesen, und dann gab es da einen kleinen Ärger ... Dieser Baron von Bergen, du erinnerst dich, der Studmann reingelegt hat, nun gut, er hat mich auch eingeseift. – Nicht schlimm, ein paar Mark. Aber er riß aus damit, und der Sanitätsrat regte sich schrecklich darüber auf ...
Und da besannst du dich auf den 1. Oktober, ich verstehe, sagte Frau von Prackwitz trocken.
Der Rittmeister machte eine wütende Bewegung.
Rasch stand sie auf, sie faßte ihn an den Aufschlägen seines Rockes, sie schüttelte ihn sanft.
Ach, Achim, Achim! rief sie traurig. Wenn du dir doch nur nicht immer selbst etwas vormachen wolltest! Das geht nun schon so viele Jahre, und immer denke ich: jetzt hat er was gelernt, jetzt wird er anders – und ewig, ewig ist es dasselbe!
Was mache ich mir denn vor? fragte er verdrießlich. Bitte, Eva, laß meinen Rock los. Er ist ganz frisch gebügelt.
Verzeih ... Was du dir vormachst –? Nun, Achim, du bist dort einfach weggeschickt worden, wegen irgendeiner Torheit oder Unüberlegtheit. Und weil es dir peinlich war, mir das zu gestehen, und weil dir im Zug hierher eingefallen ist, daß am 1. Oktober die Pacht fällig wird – darum machst du dir und mir nun blauen Dunst vor ...
Wenn du's so auslegst, sagte er gekränkt. Also, bitte, ich bin dort weggeschickt worden und bin nun hier. Oder soll ich nicht hier sein –?
Aber Achim, wenn es nicht so ist, sage doch ein Wort! Wie denkst du dir denn deine Hilfe? Willst du das Geld beschaffen? Hast du irgendwelche Pläne? Du weißt doch, daß Papa zur Bedingung gemacht hat, daß du erst einmal längere Zeit wegbleibst, und du kommst ohne jede Ankündigung hier an – wir konnten die Eltern nicht einmal vorbereiten ...
An die Gefühle meines Schwiegervaters habe ich allerdings nicht gedacht. Ich dachte einfach, du würdest dich freuen ...
Aber Achim! rief sie verzweifelt. Sei doch kein Kind! Worüber soll ich mich denn freuen? Wir sind doch keine jungverheirateten Leutchen mehr, daß ich schon strahle, wenn ich dich nur sehe –!
Nein, wahrhaftig, das tust du nicht!
Wir kämpfen doch hier um die Pachtung. Die Pachtung ist ja das einzige, das uns ein bißchen Einkommen sichert, wie wir es gewohnt sind! Was sollen wir denn anfangen, wenn wir sie verlieren? Ich habe nichts gelernt, und ich kann nichts – und du ...
Ich kann natürlich auch nichts! sagte der Rittmeister bitter. Was ist nur in dich gefahren, Eva –?! Du bist vollkommen verändert! Schön, ich bin etwas voreilig zurückgekommen, es war vielleicht unbesonnen. Nun gut, aber ist das ein Anlaß, mir zu sagen, daß ich nichts gelernt habe und nichts kann?!
Du vergißt das Auto vor der Tür, Achim! rief sie. Du weißt, wir sitzen in Geldnot bis da, aber vor der Tür steht ein funkelnagelneues Auto, das sicher zehntausend Goldmark gekostet hat –
Siebzehn, Eva! Siebzehntausend!
Gut, also siebzehntausend. Es ist so weit, daß ich sage, es ist ganz gleich, ob es zehntausend oder siebzehntausend gekostet hat. Wir können beides nicht bezahlen. Was ist also mit dem Auto, Achim?
Mit dem Auto ist alles in Ordnung, Eva, erklärte der Rittmeister.
Die Nähe der schlimmsten Gefahr gab ihm seine Ruhe wieder. Er wünschte nicht wieder eine Szene. Er wollte sich nicht wieder unangenehme Dinge sagen lassen, er hatte das Recht zu tun, was er tat. Ein Ehemann, dem seine Frau zwanzig Jahre lang den Willen getan hat, wird nie begreifen, warum sie nun plötzlich nicht mehr so will wie er. Die Frau, die zwanzig Jahre geschwiegen, gelächelt, verziehen, geduldet hat, ist in seinen Augen eine Rebellin, wenn sie die Geduld verliert und im einundzwanzigsten Jahr reden, klagen, anklagen, Rechtfertigung will. Sie ist eine Empörerin, gegen die jede Kriegslist erlaubt ist. Zwanzig Jahre Duldung geben ihr nur das Recht, auch im einundzwanzigsten Jahr duldsam zu sein ...
Und dann hatte es der Rittmeister so einfach. Sein beweglicher Geist, sein grenzenloser Optimismus ließen ihn die Dinge im rosigsten Licht sehen. Er brauchte ja nicht einmal eine unwahre Darstellung dieses Autokaufs zu geben, um seine Frau ins Unrecht zu setzen, er brauchte nur zu sagen, wie dieser Autokauf etwa zustande gekommen sein konnte. Eine Frau versteht von diesen Dingen doch nichts.
Mit dem Auto ist alles in Ordnung, Eva, sagte er darum. Ich darf eigentlich noch nicht davon reden, aber ich kann dir sagen, ich habe das Auto gewissermaßen auf höhere Weisung gekauft.
Auf höhere Weisung? Was heißt das?
Nun, im Auftrag, für jemand anders. Kurz gesagt: für die Militärbehörde.
Frau von Prackwitz sah ihren Mann grübelnd an. Ihr untrüglicher Wirklichkeitssinn, die unbestechliche Waffe der Frau, sagte ihr, daß hier etwas nicht stimmte.
Für die Militärbehörde? fragte sie nachdenklich. Warum kauft sich denn die Militärbehörde ihre Autos nicht selbst?
Mein liebes Kind, erklärte der Rittmeister überlegen, das Militär ist heute durch tausend Dinge gebunden. Durch die Schwatzbude in Berlin, die ihm keine Gelder bewilligen will. Durch den Versailler Vertrag. Durch die Schnüffelkommission. Durch hundert Spione. Es muß leider heimlich tun, was es für unerläßlich hält.
Frau von Prackwitz sah ihren Mann scharf an. So ist der Wagen also von der Militärbehörde bezahlt worden? fragte sie.
Der Rittmeister hätte gerne Ja gesagt, aber er wußte, daß eine Anzahlung von fünftausend Goldmark für den 2. Oktober ausbedungen war. Doch wagte er einiges. Das nicht, sagte er. Aber ich werde das Geld zurückbekommen.
So? sagte sie. Und da das Militär heimlich vorgehen muß, gibt es wahrscheinlich auch keine schriftliche Abmachung deswegen?
Es war das Schlimme bei dem Rittmeister, daß er aller Dinge, also auch seiner Lügen, so rasch überdrüssig wurde. Es war alles so langweilig, so umständlich. Ich habe einen dienstlichen Befehl, sagte er ärgerlich. Und ich bin gottlob noch so weit Offizier, daß ich bedenkenlos ausführe, was mir ein Vorgesetzter sagt.
Aber du bist kein Offizier, Achim! rief sie verzweifelt aus. Du bist ein Privatmann, und wenn du als Privatmann einen Wagen kaufst, stehst du mit deinem ganzen Privatvermögen dafür ein!
Höre zu, Eva, sprach der Rittmeister, entschlossen, dieser Fragerei endlich ein Ende zu machen. Ich darf eigentlich nicht davon reden, aber ich will dir alles sagen. Am 1. Oktober, übermorgen, wird die jetzige Regierung gestürzt – von der Reichswehr und anderen militärischen Verbänden. Alles ist vorbereitet. Ich habe den dienstlichen Befehl bekommen, mich am 1. Oktober morgens um sechs Uhr in Ostade einzufinden – mit einem Kraftwagen, mit diesem Kraftwagen!
Es wäre schön! sagte sie, eine andere Regierung! Nicht mehr dieser Dreck, in den man immer tiefer gerät. Sehr schön wäre das! Einen Augenblick saß sie so, dann: Aber ...
Nein, bitte, Eva, sagte er entschieden. Nun kein Aber, du weißt, um was es geht. Die Sache ist erledigt.
Und Herr von Studmann? fragte sie plötzlich. Er ist doch auch Offizier! Weiß er denn nichts davon?
Das ist mir nicht bekannt, sagte der Rittmeister steif. Ich weiß nicht, nach welchen Prinzipien die Herren aufgefordert wurden.
Bestimmt weiß er nichts davon, überlegt sie. Und Papa –? Einer der reichsten Leute im Kreise? Ist der auch nicht aufgefordert?
Von deinem Herrn Papa wurde geredet, berichtete der Rittmeister bissig. Leider recht abfällig. Er ist wohl wieder mal der ganz Schlaue gewesen – er will erst den Erfolg sehen, ehe er mitmacht.
Papa ist vorsichtig, überlegte Frau von Prackwitz nachdenklich. Und von einem plötzlichen Gedanken erfaßt: Und wenn der Putsch mißlingt? Was wird dann? Wer bezahlt dann deinen Wagen?
Er wird nicht mißlingen!
Aber er kann doch mißlingen, beharrte sie. Der Kapp-Putsch ist auch mißlungen. Bedenke: siebzehntausend Mark!
Er mißlingt aber nicht!
Möglich ist es doch! Wir wären ruiniert.
Dann würde ich den Wagen zurückgeben.
Und wenn er beschlagnahmt wird? Oder zerschossen? Siebzehntausend Mark!
Wenn ich ein Auto kaufe, sagte der Rittmeister gekränkt, redest du immer von siebzehntausend Mark. Aber wenn dein lieber Vater Unsummen von uns verlangt, die uns einfach ruinieren, dann sagst du: wir müssen unbedingt zahlen!
Aber Achim! Pacht zahlen muß doch sein, ein Auto braucht nicht zu sein!
Es ist mir dienstlich befohlen! Er war hartnäckig wie ein Maulesel.
Ich verstehe das alles nicht, grübelte sie. Du kommst doch grade erst aus dem Sanatorium. Hast doch nur an deine Kaninchenjagd gedacht. Und plötzlich, plötzlich erzählst du von Putsch und Autokauf ...
Sie sah ihn nachdenklich an. Immer wieder warnte sie ihr Instinkt, es stimmte etwas nicht.
Er wurde rot unter ihrem Blick. Hastig beugte er sich vor, nahm eine Zigarette aus seinem Etui. Indem er sie anzündete, sagte er: Entschuldige, davon verstehst du nichts. Die Sache ist lange vorbereitet, schon vor meiner Abreise wußte ich davon.
Aber Achim, bat sie, sage das doch nicht! Du hättest mir unbedingt davon gesprochen!
Ich war zum Schweigen verpflichtet.
Ich glaube es dir nicht! rief sie. Diese ganze Geschichte ist plötzlich gekommen. Hättest du keinen Streit mit Geheimrat Schröck gehabt, du säßest noch dort und schössest deine Kaninchen, und von Putsch, Autokauf und alldem wäre nicht die Rede.
Ich möchte nicht noch einmal hören, sagte der Rittmeister drohend, daß du mir etwas nicht glaubst, daß ich also ein Lügner bin! – Im übrigen kann ich dir beweisen, was ich sagte. Erkundige dich bei dem Förster, ob nicht ein ganz Teil Männer in Neulohe nur auf den Ruf loszubrechen warten. Frage Violet, ob nicht ein recht erhebliches Waffenlager in deines Vaters Forst verborgen liegt.
Violet weiß auch davon?! rief sie, tödlich verletzt. Und das nennt ihr Vertrauen, das soll eine Familie sein?! Ich rackere mich hier ab, ich demütige mich; vor Papa, ich rechne und sorge, ich ertrage alles, ich vertusche eure Dummheiten – und ihr habt Geheimnisse vor mir?! Ihr macht Komplotte hinter meinem Rücken, macht Schulden, gefährdet alles, spielt um unsere Existenz, und ich darf nichts wissen?!
Eva, ich bitte dich –! rief er erschrocken von der Wirkung seiner Worte. Er streckte ihr die Hand hin.
Sie sah ihn mit funkelnden Augen an. Nein, mein Freund! rief sie zornig. Das war nun doch zu kräftig! Kniebusch, ein greisenhafter Schwätzer; Violet, ein unmündiges, unreifes Mädchen, im Komplott mit dir – aber mir gegenüber berufst du dich auf Schweigepflicht. Ich darf nichts wissen, das Vertrauen, das du den beiden schenkst, bin ich nicht wert ...
Ich bitte dich, Eva! rief er beschwörend. Laß dir doch sagen ...
Nein! zürnte sie. Du sollst mir nichts sagen! Ich danke für deine Geständnisse – hinterher! Das kenne ich nun schon unsere ganze Ehe lang. Ich bin dieser Dinge so müde! Ich will nicht mehr! Versteh doch, rief sie zornig und stampfte mit dem Fuß auf. Ich will nicht mehr!! Das habe ich nun hundertmal gehört, die Bitten um Verzeihung, die Schwüre, dich zusammenzunehmen, die liebenswürdigen Worte – nein, danke!
Sie wandte sich zur Tür.
Eva, sagte er und ging ihr schnell nach. Ich verstehe deine Aufregung nicht. Er kämpfte mit sich. Dann, nach schwerem Entschluß: Meinethalben – ich schicke das Auto noch diese Stunde nach Frankfurt zurück.
Das Auto! rief sie verächtlich. Was geht mich das Auto an!
Aber du hast doch eben selber gesagt –! Sei doch bitte einmal logisch, Eva!
Du hast noch nicht einmal verstanden, von was wir reden! Wir reden nicht von Autos, wir reden von Vertrauen! Von Vertrauen, das du seit zwanzig Jahren als etwas ganz Selbstverständliches verlangst, und das du nie zu mir hast ...
Also, Eva, sagte er, bitte, sage mir jetzt präzis, was du eigentlich von mir willst. Ich habe dir schon erklärt, daß ich bereit bin, das Auto sofort nach Frankfurt zurückzuschicken, trotzdem ja eigentlich eine dienstliche Anordnung ... Ich wüßte wirklich nicht, wie ich es rechtfertigen sollte ...
Er verwirrte sich schon wieder, wieder wurde er schwach.
Sie sah ihn mit kalten, bösen Augen an. Plötzlich, in einer, in dieser Minute sah sie den Mann, an dessen Seite sie fast ein Vierteljahrhundert gelebt hatte, wie er wirklich war: schwach, ohne jeden Halt, unbeherrscht, töricht, jedem Einfluß preisgegeben, ein Schwätzer ... Er ist nicht immer so gewesen! klang es in ihr. Nein, er war anders gewesen, aber damals waren die Zeiten anders gewesen. Er hatte im Glück gesessen, das Leben hatte gelächelt, es hatte keine Schwierigkeiten gegeben, es war so leicht gewesen, nur die guten Seiten zu zeigen! Selbst im Kriege noch: er hatte Vorgesetzte gehabt, die ihm gesagt hatten, was er zu tun hatte, eine Dienstordnung – Es war die Uniform mit all ihrem Drum und Dran gewesen, die ihn aufrecht gehalten hatte. – Als er die auszog, sackte er zusammen. Es erwies sich, daß er nichts in sich hatte, nichts, keinen Kern, nichts, das ihm Widerstandskraft gab, keinen Glauben, kein Ziel. – Ohne Stern ging er in einer irren Zeit sofort irre ...
Aber während all dies blitzschnell durch ihren Kopf zog, in einem Ansehen des altbekannten Gesichtes, dieses Gesichtes, in das sie häufiger geschaut hatte als in jedes andere Menschengesicht, erhob sich eine Stimme in ihr, leise, feierlich, anklagend: Dein Werk! Dein Kind! Deine Schuld!
Alle Frauen, die sich ihren Männern ganz opfern, die ihnen alles abnehmen, alles verzeihen, alles dulden – erleben einmal diese Stunde: ihr Werk kehrt sich gegen sie. Das Geschöpf wendet sich gegen den Schöpfer, sanftes Gewährenlassen und Güte werden zur Schuld.
Sie hörte ihn weitersprechen, aber sie achtete kaum noch auf seine Worte. Sie sah, wie die Lippen sich öffneten und schlössen, sie sah die Linien, die Falten des Gesichtes kommen und gehen: es war einst glatt gewesen, da sie zum erstenmal hineingeschaut hatte; neben ihr, bei ihr, mit ihr, durch sie war es das Gesicht geworden, das es nun war.
Seine Stimme klang lauter an ihr Ohr; sie verstand wieder, was er sagte.
Du redest immer von Vertrauen, erklärte er vorwurfsvoll. Ich habe doch wahrhaftig Vertrauen genug bewiesen. Seit Wochen habe ich dich hier allein gelassen, ich habe dir das ganze Gut anvertraut. Schließlich bin doch ich der Pächter ...
Plötzlich lächelte sie. Ja, ja, du bist der Pächter, Achim! spottete sie leise. Du bist der Herr, und du hast deine arme, schwache Frau sich ganz allein überlassen ... Reden wir im Augenblick nicht weiter von der Sache. Laß meinethalben auch das Auto noch hier, man muß alles bedenken. Ich möchte diese Dinge noch gründlich mit Herrn von Studmann besprechen, vielleicht auch bei Papa einmal auf den Busch klopfen ...
Wieder falsch! Immer wieder verkehrt gemacht! Sobald sie sanfter wurde, wurde er härter.
Ich möchte keinesfalls, sagte er, schon ärgerlich, daß Studmann von diesen Dingen erfährt. Wenn er nicht aufgefordert wurde, so wird das schon seine Ursache haben. Und was deinen Papa angeht ...
Nun gut, lenkte sie ein, lassen wir den Papa. Aber Herr von Studmann muß Bescheid wissen. Er ist der einzige, der eine Übersicht über unsere Geldverhältnisse hat, der sagen kann, ob wir den Wagen vielleicht doch bezahlen können ...
Verstehst du mich nicht, Eva?! rief er zornig. Ich lehne Studmann als Begutachter meiner Maßnahmen ab. Er ist nicht mein Kindermädchen!
Es ist nötig, ihn zu fragen, beharrte sie. Wenn der Putsch mißlingt ...
Höre! rief der Rittmeister zornig. Ich verbiete dir, ein Wort mit Studmann über die Sache zu sprechen! Ich verbiete es dir!
Und mit welchem Recht sprichst du Verbote gegen mich aus? Warum soll ich tun, was du für richtig hältst, da du doch alles, alles falsch machst? Gewiß werde ich mit Herrn von Studmann reden ...
Du hast bei deinem Freund Studmann eine Hartnäckigkeit ... sagte er argwöhnisch.
Ist er denn nicht auch dein Freund –?
Ein Klugschnacker ist er, ein Besserwisser! Ein ewiges Kindermädchen! rief er zornig. Wenn du ein Wort mit ihm von dieser Sache sprichst, werfe ich ihn dieselbe Stunde hinaus! Er machte sich ganz starr, er rief: Wir wollen doch sehen, wer hier der Herr ist!
Lange, lange sah sie ihn mit stillem weißem Gesicht an.
Wieder wurde er unsicher unter diesem Blick. Sei doch vernünftig, Eva, bat er. Sieh endlich ein, daß ich recht habe!
Kein Wort von ihr. Dann plötzlich drehte sie sich rasch um, im Fortgehen sagte sie: Gut, mein Freund, ich werde Studmann nichts sagen. Ich werde überhaupt nichts mehr sagen.
Ehe er ihr antworten konnte, war er allein. –
Er sah unzufrieden um sich. Ein Gefühl der Leere war nach diesem langen Streit in ihm geblieben, etwas Unbefriedigtes. Er hatte seinen Willen bekommen, aber das freute ihn diesmal nicht. Er wollte es abschütteln: es war nichts, ein endloser Schwall Worte, Streitereien um gar nichts, warum denn –? Weil er ein Auto gekauft hatte! Wenn er über zwanzigtausend Goldmark Pacht zahlen konnte, konnte er sich auch ein Auto leisten. Es gab Bauern, die hatten einen Wagen! In Birnbaum war ein Bauer, der hatte ein Auto und einen Motorpflug! Es gab einen Bauern, der hatte fünfundzwanzig Nähmaschinen auf der Scheunendiele stehen, bloß um sein Geld anzulegen! Sachwerte!!!
Und er hatte sich nicht einmal den Wagen um seines Vergnügens willen gekauft; hätte Major Rückert es ihm nicht befohlen, hätte er nie daran gedacht. Er hatte es um der guten Sache willen getan! Aber sie verstand das nicht. Sie wollte es nicht verstehen. Sie hatte in ihrem Toilettentisch ein Fach, mindestens einen Meter lang, vierzig Zentimeter tief, ganz voller Strümpfe. Aber alle Augenblicke kaufte sie sich neue Strümpfe! Dafür sollte immer Geld da sein! Er hatte jetzt durch Wochen kaum einen Pfennig ausgegeben – nur die paar Patronen, die er für die Karnickel gebraucht, und der tägliche Wein, den er zu Tisch gehabt hatte – aber bei seiner ersten Ausgabe erhob sie ein Geschrei!
Leise und melodisch rief vor der Tür das Auto, sein Auto, sein so glänzend lackierter Horch! Froh über die Ablenkung fuhr der Rittmeister von Prackwitz mit seinem Kopf aus dem Fenster. Seine Tochter Violet saß am Steuer und spielte mit dem Druckknopf der Hupe. Willst du das mal lassen, Weio! rief er. Du machst die Pferde scheu!
Der Wagen ist knorke, Papa! Du bist doch der Allerbeste. Es ist sicher der schönste Wagen im ganzen Kreis!
Er ist auch schön teuer! flüsterte der Rittmeister, indem er den Kopf zum oberen Stockwerk verdrehte.
Weio kniff lachend die Augen zu. Keine Angst, Papa! Mama ist auf den Hof gegangen. Sicher wieder mal ins Büro!
Ins Büro? So! ärgerte sich der Rittmeister.
Wie teuer, Papa –? fragte Weio wieder.
Schrecklich! – Siebzehn.
Siebzehnhundert? – finde ich nicht viel, für so 'nen Klassewagen!
Aber Weio! Siebzehntausend!
Na, Papa, dafür haben wir auch den schönsten Wagen im Kreis!
Nicht wahr? Das sage ich auch! Wenn man was kauft, soll man auch was Anständiges kaufen!
Mama ist wohl nicht ganz einverstanden?
Noch nicht ganz! Aber warte man, wenn sie erst einmal darin spazierenfährt, wird sie auch ein anderes Gesicht machen.
Du, Papa –
Ja? Was denn?
Wann darf ich mal drin fahren? Heute noch –?
Ach –! Beide Kinder hatten gleich viel Lust. Die Kindermädchen waren nicht da, saßen auf dem Büro.
Ich weiß was, Papa! Wenn wir schnell mal durch die Forst führen? Da treiben doch die Gendarmen nach den Zuchthäuslern durch. Vielleicht erwischen wir die Kerls. So leise und schnell wie unser Wagen ist! Und dann könnten wir schnell mal in Birnbaum guten Tag sagen. Onkel Egon und die Vettern platzen vor Neid.
Ich weiß nicht, meinte der Rittmeister bedenklich. Die Mama will vielleicht mit?
Ach, die Mama, die sitzt viel lieber auf dem Büro!
So –? Was macht denn der Chauffeur jetzt –?
Der ißt in der Küche. Aber er muß gleich fertig sein. Soll ich ihn rufen?
Schön! – Hör noch mal, Weio. Rate, wen ich heute in der Bahn getroffen habe?
Wen denn? Wie soll ich das denn raten, Papa? Der ganze Kreis kann dringesessen haben! Onkel Egon –?
I wo! Den würde ich dir doch nicht zum Raten aufgeben! – Nein, unsern Leutnant!
Wen –??? Violet wurde dunkelrot. Sie senkte den Kopf. In der Verwirrung drückte sie auf den Hupenknopf, daß das Auto laut aufbrüllte.
Laß, bitte, den Krach, Weio! – Du weißt doch, den Leutnant, Violet, der damals so unhöflich war ... Geflüstert: Den mit den Waffen ...
Ach so, den! flüsterte Violet. Sie hielt noch immer den Kopf gesenkt, sie spielte mit dem Steuerrad. Ich dachte, du meintest jemand von unsern Bekannten ...
Nein, das Rauhbein von damals! Du weißt doch noch: in Gegenwart von jungen Damen spricht man nicht von solchen Sachen! Der Rittmeister lachte, wurde aber sofort wieder ernst. Alles was recht ist, Weio, er scheint ein ziemlich wichtiges Tier zu sein, so jung er noch ist, mächtig tüchtig.
Ganz leise: Ja, Papa –?
Im Grunde ist er schuld daran, daß ich den Wagen gekauft habe. Ganz leise, sehr geheimnisvoll: Violet, die haben eine ganz große Sache vor – und dein Papa wird mitmachen ...
Es war in zwölf Stunden erst das dritte Mal, daß der Rittmeister von Prackwitz das Geheimnis ausplauderte; darum machte es ihm noch immer Spaß.
Gegen die Sozis, Papa?
Die Regierung wird gestürzt, mein Kind. (Dies sehr feierlich.) Übermorgen am 1. Oktober fahre ich dazu mit diesem Wagen nach Ostade!
Und der Leutnant –?
Welcher Leutnant? Ach, der Leutnant! Nun, der macht natürlich auch mit.
Wird es denn Kämpfe geben, Papa?
Sehr möglich. Höchstwahrscheinlich. – Nein, Violet, du hast doch keine Angst?! Eine Offizierstochter! Ich habe den Weltkrieg überstanden, da werden mir solche kleinen Straßenkämpfe doch nichts tun!
Nein, Papa ...
Na, also! Kopf hoch, Violet! Wer nichts wagt, gewinnt nichts! – Und jetzt wird der Chauffeur ja mit seinem Essen fertig sein. Rufe ihn. Wir wollen zurück sein, ehe es ganz dunkel ist.
Er sah seine Tochter aus dem Wagen steigen und langsam, mit gesenktem Kopf, nachdenklich in das Haus gehen. Die liebt mich wirklich, dachte er stolz. Wie sie zusammenfuhr, als sie hörte, daß es Kämpfe geben würde. Aber sie nimmt sich fabelhaft zusammen!
Der Rittmeister dachte dies nicht aus Freude über die Liebe seiner Tochter, er dachte es nur, um solche Liebe in Gedanken seiner Frau vorzuhalten, die nicht einen Augenblick an die Gefahren, in die er sich begab, gedacht hatte, sondern nur an Autokäufe, wirtschaftliche Schwierigkeiten, Pachtzahlungen, Vertrauensfragen ...
Und während der Rittmeister stolz auf solche Liebe der Tochter, die noch seinen Wert würdigt, sich zur Fahrt zurechtmacht, steht Weio wie gelähmt auf der kleinen Diele, nur den einen Gedanken im Herzen: Übermorgen! Wir haben uns nicht wiedergesehen, und er kann fallen. Übermorgen!
Frau Eva von Prackwitz war nach dem Streit mit ihrem Mann zuerst ganz gedankenlos in ihr Zimmer hinaufgegangen. Ihr war gewesen, als müßte sie weinen. Sie sah sich im Spiegel, der über dem Waschbecken hing: eine nicht mehr ganz junge, aber noch recht gut aussehende Frau mit ein klein wenig vorstehenden Basedowaugen, die jetzt einen starren Ausdruck hatten. Ihr war, als sei alles Leben aus ihr gewichen, sie fror vor Kälte, das Herz drinnen in der Brust war tot wie ein Stein ...
Dann vergaß sie, daß sie vor einem Spiegel stand und sich ansah ...
Wo ist der Wert? fragte es wieder in ihr. Es muß doch irgend etwas dagewesen sein, um dessenwillen ich ihn geliebt habe! Was habe ich denn gesehen –?! Eine so lange Zeit!
Eine endlose Zahl von Bildern schwirrte vorüber, Erinnerungen an ehemals, als sie geheiratet hatten. Der junge Leutnant; der Oberleutnant; ein Ruf aus dem Garten; sein reizend-törichtes Verhalten bei der Geburt von Violet; die erste angesäuselte Heimkehr vom Liebesmahl; ein Sommerfest in der kleinen Garnison – sie hatten Stellung und Ruf gefährdet, als ein übermächtiges, ganz plötzliches Liebesverlangen die beiden Eheleute im Gäste durchwimmelten Park vereinte –; die Entdeckung seiner ersten grauen Haare – er fing schon mit seinem dreißigsten Jahr an, grau zu werden, ein Geheimnis, das sie allein wußte; seine Liebelei mit der Armgard von Burkhard; wie er ihr einen Korb Delikatessen von Borchardt mitbrachte, und sie wußte plötzlich, nun war endgültig vorbei, worüber sie so viel geweint hatte.
Tausend Erinnerungen, hastig vorüberschwirrend, helle und dunkle, aber alle in ein fahles, unheilvolles graues Licht getaucht. Wenn die Liebe gegangen ist, und dem Menschen sind plötzlich die Augen geöffnet ... er sieht den ehemals Geliebten so, wie ihn die andern sehen, einen Menschen wie alle, einen aus dem Dutzend, ohne sonderliche Vorzüge ... und er sieht diesen Durchschnittsmenschen dann mit dem unbarmherzigen Auge der Ehefrau, die zwei Jahrzehnte an seiner Seite gelebt hat, die jedes Wort im voraus weiß, das er sprechen wird, der jede Kleinigkeit, jede Schwäche vertraut ist – dann, ja, dann erhebt sich die ratlose Frage: Warum? Wo ist der Wert? Warum habe ich so viel ertragen, gutgemacht, verziehen – was steckt denn in ihm, daß ich solche Opfer brachte?
Keine Antwort – die Gestalt, der die Liebe allein Atem und Leben gab, ist ohne die Liebe leblos geworden, eine skurrile Figur, aus Mätzchen, Schrullen, Unarten, eine unerträgliche Marionette, alle ihre Schnüre kennen wir!
Frau Eva hört auf der Treppe das Geräusch von Schuhen, erwachend fährt sie zusammen. Sie hört zwei Männer miteinander reden; es ist wohl Hubert, der mit dem Chauffeur aus dem Giebelzimmer nach unten geht. Der Chauffeur, das kostbare Auto! Einen Augenblick überkommt es Eva, die Tochter ihres Vaters zu sein, listig und klug ...
Laß ihn doch loswirtschaften! denkt sie, er will ja der Herr sein, er wird sehen, wie weit er ohne mich und – Studmann kommt! Das Geld für das Auto, die Pacht ... Ich werde Studmann sagen, er soll morgen nicht fahren, kein Geld beschaffen, auch wegen Leuten für die Kartoffelernte nichts veranlassen. – Er wird ja sehen, wie er sich in einer Woche rettungslos festgefahren hat! Ich bin es wirklich müde, immer wieder die Erlaubnis von ihm zu erbetteln, das Richtige tun zu dürfen ... Dieser Putsch, der ihn jetzt ganz erfüllt, der ist ja auch bloß ein Abenteuer, Papa nicht dabei, Studmann nicht dabei, mein Bruder nicht dabei – ihn haben sie im letzten Augenblick rumgeredet! Er wird ja sehen ...
Aber das kommt und geht. Sie sieht ihr Gesicht im Spiegel so nahe: es liegt ein Zug von Rechthaberei um den Mund, den sie nicht mag. Jetzt glänzen ihre Augen, aber auch diesen Glanz mag sie nicht: so leuchten die Feuer der Schadenfreude.
Nein! sagt sie entschlossen, so nicht. Das will ich nicht. Ist alles wirklich zu Ende, wie es mir jetzt scheint, dann bricht es auch ohne mein Zutun zusammen. Ich will weiter alles tun, was ich kann. Viel ist es nicht mehr, es ist kein Eifer mehr darin, keine Liebe, es ist bloß Pflicht. Aber ich bin immer so anständig gewesen, wie ich konnte. Etwas Ernstes habe ich mir nicht vorzuwerfen, alle diese Jahre ...
Sie sieht sich noch einmal prüfend an. Ihr Gesicht hat einen gespannten Ausdruck, die Haut um die Augen sieht dünn aus, mit tausend Fältchen, ausgetrocknet. Sie greift entschlossen nach dem Cremetopf und fettet ihr Gesicht ein. Während sie die Haut leicht mit den Fingerspitzen massiert, denkt sie: Es ist noch nicht alles für mich vorbei. Ich bin in meinen besten Jahren. Wenn ich mich nicht so gehenlasse und mit dem Essen mehr aufpasse, kann ich leicht fünfzehn oder zwanzig Pfund abnehmen – dann habe ich gerade die richtige Figur ...
Fünf Minuten später sitzt Frau Eva von Prackwitz bei Herrn Studmann auf dem Büro. Von Studmann hat natürlich nicht die geringste Witterung dafür, wie der Gutsherrin grade zumute ist. Frau Eva, die in einer Viertelstunde entdeckt hat, daß sie ihren Mann nicht mehr liebt, die beschlossen hat, daß sie unter allen Umständen anständig bleiben will, die sich aber doch noch ein ganz hoffnungsfrohes Leben zugebilligt hat – Frau Eva muß einen langen, gründlichen Vortrag darüber anhören, wie Herr von Studmann das Geld für die Pachtzahlung übermorgen aufzubringen gedenkt.
›Alter Schulmeister!‹ denkt sie bei sich, aber sie denkt es nicht ohne Sympathie. Frau Eva ist kein junges Mädchen mehr, sie kennt die Männer (denn wenn man einen Mann ›richtig‹ kennt, kennt man alle Männer), sie weiß, daß Männer von einer verblüffenden Ahnungslosigkeit sind. Eine Frau kann an ihrer Seite vor Verlangen nach Zärtlichkeit umkommen, sie werden ihr lang und umständlich auseinandersetzen, daß sie einen neuen Anzug brauchen, warum sie einen neuen Anzug brauchen, welche Farbe der neue Anzug haben muß ... Und plötzlich werden sie ganz überrascht und ein bißchen gekränkt sagen: Hörst du überhaupt zu? Was hast du bloß? Ist dir nicht wohl? Du siehst so komisch aus!
Frau Eva hat die Beine übergeschlagen. Da die Röcke zur Zeit recht kurz sind, hat sie Gelegenheit, während des Studmannschen Vortrags ihre Beine zu betrachten. Sie findet, ihre Beine sehen noch ausgezeichnet aus; nein, wenn sie abnimmt, möchte sie an den Hüften und hintenherum abnehmen – aber natürlich nimmt man immer grade dort ab, wo es nicht so erwünscht ist.
Derartige Gedanken scheinen magnetisch zu sein: plötzlich merken die beiden, daß keiner mehr spricht.
Wie war das, Herr von Studmann –? fragt Frau Eva und lacht. Entschuldigen Sie, ich war mit meinen Gedanken ganz woanders.
Sie zieht ihre Beine soviel wie möglich unter den Rock zurück.
Herr von Studmann ist völlig bereit, zu verzeihen, da auch seine Gedanken entlaufen waren. Er nimmt hastig seinen Vortrag wieder auf. Es stellt sich nun heraus, daß in der Stadt Frankfurt an der Oder ein wahnsinniger Mensch lebt, der bereit ist, morgen den ganzen Pachtbetrag in schönsten Scheinen zur Verfügung zu stellen, wenn sich die Gutsverwaltung Neulohe verpflichtet, ihm im Dezember dafür tausend Zentner Roggen zu liefern.
Aber der Mann ist ja wahnsinnig! ruft Frau von Prackwitz verblüfft aus. Er kann doch morgen dreitausend Zentner für sein Geld haben!
Das habe er zuerst auch gemeint, gibt Herr von Studmann zu. Aber die Sache sei doch die, daß der Mann, ein reicher Fischhändler übrigens, seine dreitausend Zentner Korn morgen oder in einer Woche wieder nur in Papiergeld umtauschen könnte. Jeder aber fliehe heute das Papiergeld, suche es in einer Ware anzulegen, deren Wert beständig sei, und so sei dieser Mann wohl auf das Korn geraten.
Aber wie kann er wissen, daß es im Dezember anders sein wird? rief Frau von Prackwitz.
Das kann er natürlich nicht wissen. Er hofft es, er glaubt es, er spekuliert darauf. Es hat in Berlin vor einiger Zeit Verhandlungen gegeben, eine neue Währung soll geschaffen werden. Schließlich kann es ja nicht ewig so weitergehen mit dem Abrutschen der Mark. Man streitet sich über Roggengeld oder Goldgeld. Der Mann denkt wohl, wir haben im Dezember die neue Währung.
Und würde das etwas für uns ändern?
So weit ich voraussehen kann, nicht. Wir würden immer nur tausend Zentner Roggen zu liefern haben.
Also tun wir es doch! sagte Frau von Prackwitz. Günstiger können wir von diesem Alb doch überhaupt nicht loskommen.
Vielleicht fragen wir doch erst noch Prackwitz? schlug Studmann vor.
Ja, gerne. Wenn Sie es meinen? Nur – warum? Sie haben doch die Vollmacht!
Es ist wie mit den Frauen des Teufels. In diesem Moment waren bestimmt keine Beine im Gespräch, es wurde von Geschäften, Pacht, Währung geredet, aber doch: wie Frau Eva die Notwendigkeit, den Gatten zu befragen, zweifelhaft machte, kam von neuem etwas Dunkles, Verhaltenes in das nüchterne Gespräch. Es klang wahrhaftig ein wenig so, als rede man, geradeheraus gesagt, von einem Sterbenden.
Leise sagte Herr von Studmann: Ja, gewiß. Nur, Sie übernehmen beide die Verpflichtung zur Lieferung im – Dezember.
Ja – und? Sie verstand nicht.
Im Dezember! Sie müssen unter allen Umständen im Dezember liefern. Tausend Zentner Korn. Unter allen Umständen, gut zwei Monate noch.
Frau von Prackwitz klopfte sich eine Zigarette auf dem Dosendeckel zurecht. Sie hatte eine kleine Falte zwischen den Augenbrauen. Nun schlug sie die Beine in der bequemsten Weise übereinander, aber sie dachte nicht daran. Auch Herr von Studmann sah es jetzt nicht.
Sie verstehen, gnädige Frau, erklärte Studmann nach einer Pause. Es würde eine persönliche Verpflichtung des Ehepaares von Prackwitz sein, nicht der Gutsverwaltung Neulohe. Sie würden die tausend Zentner Korn liefern müssen, wenn – wo Sie auch wären.
Wiederum eine Pause, eine lange Pause.
Dann bewegte sich Frau von Prackwitz, sie sagte lebhaft: Schließen Sie ab, Herr von Studmann. Schließen Sie auf diese Gefahr hin ab. Sie schloß die Augen, sie war eine schöne, volle weiße Frau, sie zog sich in sich zusammen. Sie war wie eine Katze, eine Katze, die sich wohl fühlt, eine Katze auf der Mäusejagd. Sie sagte lächelnd: Wenn wir bis Dezember die Pachtung verlieren, wird mein Vater mich nicht sitzenlassen. Ich werde dann die Pachtung übernehmen und die tausend Zentner liefern ...
Studmann sitzt hölzern da. Eine unerhörte Kunde ist an sein Ohr gedrungen – diese Frauen!
Frau von Prackwitz lächelt. Sie lächelt nicht etwa Herrn von Studmann an, sondern irgend etwas Imaginäres zwischen Ofen und Gesetzregal. Sie sagt und streckt ihm die Hand hin: Und ich rechne darauf, daß Sie mich dann auch nicht sitzenlassen, Herr von Studmann?
Studmann starrt die Hand fassungslos an. Es ist eine volle, aber sehr weiße Frauenhand mit ein wenig zuviel Ringen. Ihm ist ganz, als habe er einen Schlag vor den Kopf bekommen. Was hat sie gesagt? Unmöglich, sie kann es nicht so gemeint haben! Er ist ein Esel ...
Esel! sagt sie mit einer tiefen, vollen, warmen Stimme. Einen Augenblick berührt die Hand seine Lippen. Er fühlt ihre frische Weichheit, er spürt den Duft, nicht nur von einem Parfüm, nein, von etwas Lebendigem, Blühendem, das sich immer wieder füllen will. Er sieht auf, sehr rot. Er müßte ja überlegen, es ist eine schwierige Lage. Prackwitz immerhin sein langjähriger Freund ...
Er begegnet ihrem Blick, der in einer Mischung von überlegenem Spott und Zärtlichkeit auf ihm liegt ...
Liebe, gnädige Frau ... sagt er verwirrt.
Ja, richtig, lächelt sie, was ich Sie schon immer fragen wollte: wie ist eigentlich Ihr Vorname?
Mein Vorname? Ja, das ist so eine Sache ... ich mache eigentlich keinen Gebrauch davon. Ich heiße nämlich Etzel ...
Etzel –? Etzel –?! War das nicht –?
Richtig! erläuterte er eilig. Attila oder Etzel, ein Hunnenfürst, der mit seinen Mongolenscharen raubend und mordend in Europa einbrach. Etwa vierhundertfünfzig nach Christi Geburt. Schlacht auf den Katalaunischen Gefilden. ›Wildheit war ihm ebenso eigen wie Würde und Ernst!‹ Aber, wie gesagt, ich mache keinen Gebrauch davon. Es ist so eine Familientradition.
Nein, Etzel ist völlig unmöglich, Papa hatte ja seinen Ganter Attila genannt, sagt sie. Und wie nannten Sie Ihre Freunde? Prackwitz sagt immer nur Studmann.
Wie alle andern auch. Er seufzt. Ich eigne mich wohl nicht für familiären Umgang. Er wird etwas rot. Manchmal hieß ich noch das Kindermädchen. Und beim Regiment wurde ich Muttchen genannt.
Studmann, Kindermädchen, Muttchen ... Sie schüttelte ärgerlich den Kopf. Sie sind wirklich ein unmöglicher Mensch, Herr von Studmann, nein, ich muß etwas anderes finden ...
Aber liebe, gnädige Frau! ruft Herr von Studmann begeistert aus. Meinen Sie es denn wirklich? Ich bin doch so ein langweiliger Kerl, ein Pedant, ein Umstandskommissar – und Sie ...
Still, mahnt sie und schüttelt den Kopf. Abwarten! Vergessen Sie nicht, Herr von Studmann, ich habe Sie vorläufig nur nach Ihrem Vornamen gefragt ... sonst nichts. Sie macht eine Pause. Sie stützt den Kopf in die Hand, leise klingeln die Armbänder. Sie seufzt. Sie macht den entzückendsten Ansatz zum Gähnen. Sie ist völlig die Katze, die sich putzt, streckt, alles tut und nur nicht den Spatz ansieht, den sie gleich verschlingen wird. Und dann wäre da noch das Auto ...
Welches Auto –? Er ist schon wieder verwirrt, ihre Übergänge sind heute für einen nüchtern denkenden Mann zu plötzlich.
Sie deutet mit dem Finger aus dem Fenster, aber draußen steht kein Auto.
Trotzdem hat er verstanden. Ach so, das Auto! Was ist damit?
Sie hat jetzt einen kalten, gezwungenen Ton, als sie sagt: Er hat es gekauft.
Ja? Er überlegt. Wie teuer?
Siebzehntausend.
Studmann macht eine Gebärde der Verzweiflung.
Völlig ausgeschlossen! flüstert er dann.
Und auf Stottern?
Auch dann!
Hören Sie, Herr von Studmann, sagt sie lebhafter, aber immer noch in dem kalten, ein wenig bösen Ton. Sie fahren morgen unter allen Umständen nach Frankfurt und besorgen das Pachtgeld, aber nicht mehr.
Jawohl.
Was Ihnen auch gesagt wird: Sie fahren und holen nur das. Das ist ausgemacht?
Bestimmt!
Sie händigen Herrn von Prackwitz morgen abend das Geld zur Bezahlung der Pacht aus – Verstehen Sie, Herr von Prackwitz soll das Geld meinem Vater selber geben. Sie verstehen ...?
Jawohl.
Warten Sie. Prackwitz hat übermorgen eine kleine Reise vor. Nun, das ist nicht unsere Sache. Er kann das Geld morgen abend übergeben. Sie verstehen mich –?
Nicht ganz, aber ...
Schön, schön. Wenn Sie sich nur an das halten, was ich Ihnen sage ... Herr von Prackwitz bekommt rechtzeitig das Geld zur Pachtzahlung, das genügt. Sie lassen sich vielleicht eine kleine Quittung geben –?
Wenn Sie es wünschen, sagt Herr von Studmann zögernd. Prackwitz und ich haben sonst nicht ...
Natürlich sonst nicht. Aber jetzt! sagt sie scharf. Sie steht auf. Sie gibt ihm ihre Hand. Sie ist wieder ganz die Herrin von Neulohe. Also dann auf Wiedersehen, Herr von Studmann. Ich sehe Sie nun wohl erst nach Ihrer Frankfurter Reise. Gute Geschäfte.
Verbindlichsten Dank, sagt Studmann. Er sieht ihr etwas verzweifelt nach. Man müßte doch Klarheit haben, Bestimmtes besprechen, aber nein, nichts! Etzel und ein Handkuß! So macht man doch so etwas nicht!
Kopfschüttelnd setzt sich Studmann an die Abfassung eines Inserates: Leute zum Kartoffelbuddeln sucht ...
Draußen weht der Septemberwind. Er fängt schon an, welke Blätter abzureißen, mit sich zu tragen.
Es ist Herbst, der Winter steht vor der Tür, spricht etwas in Frau Eva. Aber sie richtet sich straffer auf. Der Wind drückt die Kleider gegen ihren Leib, sie fühlt seine frische Kühle auf der Haut, sie geht ihm entgegen. Nein, es ist nicht für alle Herbst, nur für das, das sterbend reif ist. Sie fühlt sich noch jung. Sie geht dem Wind entgegen. Sie hat eine Probe bestellt, eine Art Gericht, sie pfuscht dem Schicksal ins Handwerk: wird Herr von Prackwitz die Pacht bezahlen? Ja oder nein? Darauf kommt es nun an!
Geruhsam und bester Stimmung geht Pagel dem Wald zu, in den Wald hinein, den Gendarmen nach, auf den Zuchthäuslerfang. Ein Rittmeister von Prackwitz konnte ihm die Laune lange nicht mehr verderben. Was für ein Kind, solch ein Mann, ein törichtes, unüberlegtes Kind! Da kam er von seiner Reise zurück, mit einem krachneuen Auto, und das erste war, daß er dem jungen Mann den Herrn zeigte! Der junge Mann machte sich nichts daraus, er ging gerne in den Wald; es lag ihm nichts daran, auf dem gleichen Büro mit solchem Brötchengeber zu sitzen. Es gefiel ihm sogar besser im Wald!
Eine ulkige Kruke, solch Chef! Gröbste einen Mann an, der doch jeden Augenblick den Finger heben, auf das Auto zeigen und fragen konnte: Na – und meine zweitausend Goldmark?
Nicht, daß man das grade täte! Studmann würde schon dafür sorgen, daß man eines Tages zu seinem Geld kam, wenn man es brauchte. Es hatte einmal eine Zeit gegeben, da hatte man zum Rittmeister gesagt: Ach, lassen Sie doch diesen Kram! Ich will das Geld ja gar nicht wiederhaben!
Damals war der Rittmeister rot angelaufen und hatte sehr erregt von ›Ehrenschulden‹ gesprochen. Zeit war seitdem ins Land gegangen, einiges hatte sich geändert, man hatte Briefe geschrieben und empfangen. Jetzt dachte man über Geld sehr anders, seitdem man von einem kleinen monatlichen, gnädigst vom Rittmeister bewilligten (obwohl man ja eigentlich noch gar nichts leistete), seitdem man also von einem jämmerlichen Taschengeld Briefmarken und Schuhsohlen, Wäsche weißer Kragen und Zigaretten bezahlen mußte. Jetzt wäre einem eine kleine Abschlagszahlung manchmal ganz zu paß gekommen. Aber hätte man jetzt einen Ton davon geäußert, so wäre der Rittmeister wiederum rot angelaufen und hätte erregt gerufen: Aber Pagel, Mensch, Sie wissen doch, wie meine Finanzen grade jetzt stehen!
Trotzdem hielt ein nagelneues Auto vor der Tür! Trotzdem wurde man wie ein dummer Junge in den Wald geschickt. Wahrhaftig, putzige Kruke!
Pagel schlendert unter diesen Gedanken immer weiter durch den Wald. Er hat keine Ahnung, in welchem Jagen die Gendarmen treiben. Er war nicht dabei, als das auf dem Büro besprochen wurde. Aber wenn er sich nur auf den Kartoffelschlag zuhält, wird er sie schon finden!
Vorläufig geht er also weiter und denkt nach. Ganz gemütlich und zufrieden. Es wäre wirklich falsch, zu glauben, er habe einen Ärger auf den Rittmeister. Nicht die Spur! Die Menschen sind so, wie sie sind. Die närrischen Menschen geben einen ausgezeichneten Hintergrund für Petra ab. Je närrischer die andern sind, um so klarer hebt sich dies Mädchen von ihnen ab. Mit einem Gefühl tiefverbundener Zärtlichkeit denkt Wolfgang an seinen Peter. Dies Gefühl wird immer stärker. Es ist nicht soviel Sehnsucht und Verlangen darin wie Freude, seit er von Minna erfahren hat, daß er Vater werden wird. Es ist ein seltsames Gefühl. Es ist eine verdammte Zeit, ein Vierteljahr noch, genau 94 Tage, bis sie ihm erlaubt, zu ihr zu kommen! Mittlerweile denkt er darüber nach, was sie alles schon gemeinsam erlebt haben, wie das war und was dann geschah. Eine gute Sache! Aber auch komisch! Als er mit Petra zusammen lebte, da hat er eigentlich wenig an sie gedacht, da drehte sich alles um das Spiel. Nun er in Neulohe wohnt, lebt er eigentlich hauptsächlich bei der Pottmadamm. Komisch! Ob wohl einmal eine Zeit im Leben kommt, wo man das Gefühl hat, Erleben und Dabeisein fallen zusammen –? Wo man spürt: jetzt bist du so glücklich, wie du in deinem ganzen Leben nicht wieder sein kannst? In der Sekunde des Erlebens! Nicht so, daß man erst hinterher entdeckt: damals war ich glücklich! Wie wir einst so glücklich waren –? Nicht so!
Komisch und gefährlich! Pagel flötet nachdenklich vor sich hin. Einen Augenblick lang überlegt er, ob es gut für den Fang von Zuchthäuslern im Wald ist, wenn man dabei flötet? Ob sie vor seinem Flöten ausreißen oder ob sie eine Attacke auf ihn machen werden, sein Geld, seine Kleidung, seine Pistole zu erobern?! Das Gesicht Marofkes mit den zitternden Hängebacken erscheint einen Augenblick. Aber dann denkt er trotzig: ›Laß die Brüder nur kommen!‹ Er umfaßt den Kolben seiner Pistole in der Hosentasche und flötet lauter.
Jawohl, es ist komisch und gefährlich, immerzu nur an die Liebste zu denken, sie mit allen andern zu vergleichen – und nur zu ihrem Vorteil! Pagel fragt sich wieder einmal, ob das Bild, das er sich jetzt von Peter macht, überhaupt noch stimmt? So ganz in Gold, das geht doch auch nicht! Sie muß auch Fehler haben, und wenn er sucht, findet er sehr wohl welche. Da ist zum Beispiel ihre Neigung, stumm zu werden, wenn ihr etwas nicht paßt, wenn etwas sie ärgert. Er fragt sie, was ihr ist? Ihr ist nichts. Aber er sieht doch, sie hat etwas! Hat er was falsch gemacht? Nein, ihr ist bestimmt nichts. Eine Viertelstunde muß man auf sie einreden, man kann rasend dabei werden, tobsüchtig von ihrem ewigen Nichts, man sieht es doch! – Nun schön, da hätten wir einen Fehler. Übrigens wird er ihn ihr abgewöhnen. Ein Mädchen wie Peter darf überhaupt keine Fehler haben. Mit ihm ist es eine andere Sache, er ist so fehlerhaft, daß es das Anfangen mit Ausbessern nicht verlohnt ...
Pagel ist in Gedanken weiter und weiter gegangen. Längst ist er über den Kartoffelschlag hinaus, er dringt in immer fernere, fremdere Bezirke des Waldes vor. Von den Zuchthäuslern hat er nichts gesehen und von den Gendarmen hat er auch nichts gesehen. Nicht einmal einen Laut hat er von ihnen gehört. Aber er geht trotzdem weiter, er beschließt bei sich, einen netten Spaziergang zu machen, statt sich diesem albernen Treiben anzuschließen. Denn es muß albern sein, entscheidet Pagel, selbst auf die Gefahr hin, dem großen Oberlandjägermeister zu nahe zu treten, falls dieses Treiben dessen Erfindung sein sollte. Wälder über Wälder, stundenauf, stundenab, verwachsene Dickungen, Schonungen aus Tausenden von kleinen, sperrigen Fichten, anderthalb Mann hoch, einen Mann hoch, über Hunderte von Morgen hin, Tannenschluchten, so dunkel, daß man am hellerlichten Tage kaum seine Hand vor Augen sehen kann – und in dieser Wildnis soll man fünf Männer finden, gewitzte, zu allem entschlossene Männer, die ihren ganzen Witz auf den einen Punkt konzentrieren werden, sich nicht finden zu lassen! Unsinn! Barer Unsinn – hier im Wald sieht man erst, wie unmöglich die Durchführung einer solchen Aufgabe ist. Pagel wird schön allein weiter gehen, statt mit denen zwischen Dornen und Wacholder herumzukriechen!
Also geht er schön allein weiter, und wie er um die nächste Ecke geht, sagt er Hoppla! und ist nicht mehr allein. Denn da kommt ein kleiner Mann im Gehpelz auf ihn zugegangen, das heißt, zugegangen ist nicht ganz das richtige Wort. Das Männlein hat eine Art Triller im Gehen, ein Stakkato; jetzt geht es grade und finster auf Pagel zu, und nun – hupf, mein Madel – jodelt es ein bißchen mit den Beinen.
Verdammte Wurzeln! sagt es zu laut und geht finster und grade weiter. Aber da war keine Wurzel. Einen Schritt vor Pagel bleibt das Kerlchen stehen, mit einem so plötzlichen Ruck, daß es fast gefallen wäre.
Grade hält Wolfgang es noch fest. Hoppla, Herr Meier! sagt er freundlich. Der Deutsche sagt nicht Cognac, er sagt Weinbrand.
Negermeier betrachtet seinen Nachfolger im Dienst mit kleinen, geröteten Augen. Plötzlich erleuchtet sie der Schein des Erkennens, mit einem breiten, frechen Grinsen kräht er: Ach, Sie sind das! Ich dachte schon ... Na laß, ich hab 'nen Zacken ... Haben Sie nich mein Auto irgendwo gesehen?
Was?! fragt Pagel, und ein Verdacht steigt in ihm auf. Haben Sie jetzt auch ein Auto, Herr Meier? Was machen Sie denn mit einem Auto heute in unserer Forst?
Sagen Sie jetzt auch ›unsere‹ Forst? lacht Meier, das ist hier jetzt wohl so Mode! Der Förster sagt: meine Forst, der Rittmeister sagt: meine Wälder, die gnädige Frau geht mal ein bißchen in ihrem Wald spazieren, die Weio geht auf Anstand zu ihrer Jagdkanzel, und wem er wirklich gehört, der olle Geheimrat, der redet immer nur von ein paar Kiefernkuscheln!
Meier lacht, und aus Höflichkeit lacht Pagel mit, aber die Anwesenheit dieser Leuchte der Landwirtschaft grade heute hier in der Forst bleibt ihm weiter verdächtig. Wo haben Sie denn Ihren Wagen stehenlassen, Herr Meier? fragt er.
Wenn ich Hornochse das bloß noch wüßte! ruft Meier und schlägt sich mit der Hand vor den Kopf. Da rauf zu steht er also nicht? Pagel schüttelt den Kopf. Na, denn wollen wir mal hierauf gehen.
Meier scheint es als selbstverständlich anzusehen, daß ihn Wolfgang begleitet, und dies zerstreut ja ein wenig den Verdacht Pagels, daß Meier ein Bundesgenosse der entsprungenen Zuchthäusler sein könnte.
Meier bummelt jetzt ganz gemütlich und auch ziemlich senkrecht neben Pagel her. Und dabei brabbelt er weiter, anscheinend froh, daß er einen Zuhörer gefunden hat.
Wissen Sie, ich hab nämlich 'nen Zacken! Ich hab da mit 'nem Freund was gefeiert; eigentlich ein Freund is er nich, aber er denkt, es is es, na, laß das Kind die Bulette. Und dann bin ich hier raus, ich weiß nicht mehr, wie das hieß, es war hier wo, aber ich komm noch drauf. Ich hab ein wunderbares Ortsgedächtnis ...
Stimmt!
Jetzt gehen wir hier die Schneise links rauf. Ihren Namen weiß ich auch nicht mehr, man lernt zu viele Leute im Leben kennen, und nun grade die letzten Wochen, man muß sich doch erst einarbeiten, aber gut ist mein Namengedächtnis, das sagt der Oberst auch immer ...
Was für 'n Oberst? Sind Sie denn jetzt beim Militär?
Ein wacher, argwöhnischer, nicht die Spur betrunkener Blick trifft Pagel. ›Der ist nicht so knille, wie es scheint‹, denkt Pagel. Achtung!
Aber es ist nur ein Augenblick, Meier lacht schon wieder und sagt schlagfertig: Sind Sie denn beim Militär und sagen doch zu Ihrem Chef Rittmeister?! Hat sich 'nen feinen Wagen gekauft, das Aas, habe ihn heute in Frankfurt Probe brausen sehen, nobel muß die Welt zugrunde gehen. Was macht denn die kleine Weio?
Hier scheint Ihr Wagen auch nicht zu stehen.
Ziehen Sie bloß kein Gesicht, dann muß ich nur lachen! Sie sind wohl auch abgehängt, ist der Leutnant immer noch der erste? Jottedoch, so 'n Kind! Muß Liebe schön sein. Na, in einem ganz andern Ton, drohend: jetzt wird der Herr Leutnant abgehängt, dem wird einiges sauer aufstoßen! Der soll sich auch lieber die Brust waschen, der wird erschossen!
Sie sind wohl mächtig eifersüchtig, Herr Meier? erkundigt sich Pagel freundlich. Das war wohl wegen des Leutnants, daß Sie damals in der Nacht so geschrien haben? Den Durchschlag Ihrer Briefabschrift habe ich übrigens im Kreisblatt gefunden.
Ach, die dußlige Briefabschrift! Die dürfen Sie sich von meinswegen sauer kochen. Mit solchen Kleinigkeiten geben wir uns jetzt nicht mehr ab. Jetzt haben wir andere Kisten! Na ja, davon versteht so 'n junger Mensch vom Lande nichts. Sie haben keine Ahnung, was ich für Geld verdiene!
Aber das sieht man doch, Herr Meier!
Nicht wahr? Sehen Sie mal die Ringe, alle echt, schöne Steine. Ich hab einen Bekannten, da kriege ich sie zum halben Preis. Und wo ich überhaupt nur in Devisen zahle ...
Wiederum brach er plötzlich ab, wiederum mit dem tiefen, argwöhnischen Seitenblick. Aber Pagel hatte das verräterische Wort überhört, Pagel spürte auf einer andern Spur.
Ist das aber nicht ein bißchen gefährlich, Herr Meier? fragt Pagel. Hier so ganz alleine mit soviel Schmuck und Geld im Wald spazierenzugehen? Es kann Ihnen doch mal was passieren!
I wo! lacht Meier verächtlich. Was soll mir denn passieren? Mir ist noch nie was passiert! Haben Sie 'ne Ahnung, Mensch, was ich schon alles erlebt habe – und mir ist noch nie was passiert. Hier, sagt er und stampft mit dem Fuß auf den Waldboden, hier, in diesem Wald ist mal einer hinter mir hergegangen, eine Viertelstunde lang, immer den Revolver an meiner Birne – und hat mich totschießen wollen. Na, hat er mich totgeschossen –?
Dolle Dinge erleben Sie! lacht Pagel etwas ungemütlich. Sollte man gar nicht glauben ... Er wird's wohl nicht so im Ernst gemeint haben ...
Der –? Der hat das ernst gemeint! Das Ding war geladen, und er hat mich nur darum immer weiter gehen lassen, daß er an eine Stelle kommt, die ein bißchen versteckter ist. Daß sie nämlich meine Leiche nicht gleich finden ...
Etwas Finsteres, Grausiges geht von diesen Worten aus. Pagel sieht den kleinen Mann von der Seite an; es braucht nicht wahr zu sein, was der sagt, aber der kleine Mann glaubt daran, daß es wahr ist ... drohend bewegt er die Lippen ...
Aber ich kriege den Hund! Wenn ich Angst gehabt habe, der soll hundertmal soviel Angst haben! Und wenn ich weggekommen bin, der soll nicht wegkommen ...
Nun, Herr Meier, sagt Pagel kühl, sollte der Herr Leutnant irgendwo tot gefunden werden, Sie dürfen sicher sein, in der ersten Stunde erfährt die Polizei von mir ...
Meier fährt herum und starrt Pagel finster an. Plötzlich aber ändert sich sein Gesicht, seine dicken Wulstlippen verziehen sich, seine Eulenaugen lächeln höhnisch: Und Sie glauben, ich bin so dusselig und schieß auf den Kerl?! Schieß womöglich vorbei, und der Hund schlägt mich tot? Das wär mir 'ne schöne Rache! Nein, Mensch, wer Meier sagt, sagt richtig! Angst soll erhaben, der Hund, hetzen tu ich ihn, seine Ehre nehm ich ihm, anspucken sollen ihn alle – und dann, dann, wenn es gar keinen Ausweg mehr für ihn gibt, dann soll er sich selber abknallen, der Hund! So – und nicht anders!
Er steht triumphierend vor Pagel, fast zitternd, von Rausch ist nichts mehr zu merken, höchstens, daß der Alkohol seine Rachsucht noch stärker angefacht hat, ihn ausschwatzen läßt, was er sonst still bei sich herumträgt. Pagel sieht ihn an. Er nimmt sich in acht, den Ekel vor diesem Kerl sichtbar werden zu lassen; er hat das bestimmte Gefühl, hinter all dem Geschwätz steckt viel, was es gut wäre zu wissen. Man muß klug sein, ihn aushorchen, den Meier.
Aber dann bricht doch Wolfgangs Jugend bei ihm durch, der Abscheu der Jugend vor Kranken, vor Laster und Verbrechen. Er sagt verächtlich: Ein schönes Stückchen Scheiße sind Sie!
Und wendet sich, um zu gehen.
Na, und wenn?! ruft Meier herausfordernd. Geht Sie das was an? Hab ich mich gemacht? Haben Sie sich gemacht? Ich möcht mal wissen, wie Sie aussehen würden, wenn man Sie immer als Dreck unter den Schuhen behandelt hätte, wie man's bei mir getan hat! Sie sind doch ein feiner Mutterjunge, das sieht man, höhere Schule und alles, was dazu gehört ...
Er beruhigt sich ein wenig.
Pagel sagt: Wenn Sie glauben, daß die höhere Schulbildung einem den schlimmeren Schweinehund austreibt –? Aber manche fühlen sich eben im Dreck wohl.
Meier sieht ihn einen Augenblick böse an, dann aber lacht er: Wissen Sie was, was sollen wir uns darüber streiten? Ich denk immer: man lebt so kurz und ist so lange tot, da muß man sehen, daß man auch ein bißchen gut lebt. Und weil zum Gutleben Geld gehört, und ein armes Luder auf anständige Weise nicht zu Geld kommt ...
So machen Sie's auf unanständige. Ich verstehe nur nicht, Herr Meier, warum Sie da so hinter dem Leutnant her sind. Wenn der hops geht, verdienen Sie doch kein Geld –?
So harmlos Pagel das auch gesagt hat – sofort ist wieder der argwöhnische, rasche Blick da. Aber Meier antwortet diesmal nicht, er biegt in eine neue Schneise ein und murrt: Gottverdammich, wo bloß dieses elende Auto steckt?! Rein verdreht muß ich doch sein ... Gehn wir eigentlich immerzu im Kreise? Er sieht Pagel wieder böse an, er murmelt: Sie können mich auch ruhig allein laufen lassen. Helfen tun Sie mir doch nicht.
Ich hab Angst, Ihnen könnte doch was passieren, sagt Pagel höflich. Die schönen Ringe, das viele Geld ...
Mir passiert nichts, habe ich Ihnen doch schon gesagt. Wer klaut hier im Wald Ringe?
Zuchthäusler! sagt Pagel ruhig und beobachtet seinen Mann scharf.
Aber Meier zuckt nicht, dem Meier ist nichts anzumerken. Zuchthäusler? Was denn für Zuchthäusler?
Unsere, von unserm Arbeitskommando, sagt Pagel und ist überzeugt, daß er mit seinem Verdacht unrecht hatte. (Aber was tut der kleine Meier dann hier im Wald?) Uns sind nämlich von unserm Arbeitskommando heute früh fünf Mann ausgerissen.
Gottverdammich! schreit Meier, und sein Schreck ist echt. Und die stecken hier im Wald?! Mensch, Sie machen Witze – Sie laufen doch hier auch so rum ...
Gar nicht! sagt Pagel und zieht die Pistole halb aus der Tasche. Und außerdem suche ich die Gendarmen. Eine halbe Hundertschaft stöbert nämlich im Wald.
Jetzt schlägt's dreizehn, sagt Meier und bleibt überwältigt stehen. Fünf Zuchthausbrüder und fünfzig Laubfrösche – und ich mitten drin mit meinem Knatterkasten! Das kann ins Auge gehen ... Herr, Mensch, in drei Minuten muß ich meinen Wagen haben! Wie hieß es doch? Jetzt habe ich's! Schwarzer Grund – kennen Sie das?
Pagel hat den Eindruck, als habe der kleine Meier immer diesen Namen gewußt, habe ihn nur nicht nennen wollen. Und auch jetzt sieht ihn Meier argwöhnisch an. Aber warum eigentlich, es ist eine Forstbezeichnung wie alle andern auch!
Dagewesen bin ich noch nicht, sagt er. Aber ich hab's auf der Karte gelesen. Das liegt ganz nach Birnbaum zu, und wir suchen immer Richtung Neulohe.
Idiot, ich! Meier schlägt sich mit der Faust gegen den Kopf. Also los, Mensch, wie heißen Sie doch –?
Pagel.
Machen Sie auch die Augen auf, aber hier in dem Sand findet ja sogar ein Regenwurm 'ne Autospur! So lang? Schön, aber gehen wir so lang auch wirklich richtig?
Ja, ja, beruhigt ihn Pagel. Aber warum sind Sie denn plötzlich so furchtbar aufgeregt? Ich denke, Ihnen passiert nichts?
Na, Mensch, Sie möchte ich sehen! Wenn mir das zerplatzt! Verdammt noch mal! Ich muß auch ewig Pech haben! Der elende Suff ...
Was denn zerplatzt?
Was geht denn Sie das an?!
Ich möchte es gerne wissen.
Dann fragen Sie im Fragekasten von der Zeitung bei der Klugen Mathilde an!
Es ist nämlich noch gar nicht ausgemacht, daß wir jetzt wirklich zum Schwarzen Grund gehen.
Meier bleibt stehen, er starrt den jungen Pagel haßerfüllt an. Er möchte ihm sicher jetzt gerne etwas tun, aber er besinnt sich, er knurrt: Was möchten Sie denn wissen?
Warum haben Sie es plötzlich so eilig?
Meier überlegt, unwirsch sagt er: Ich habe ein Geschäft in Frankfurt.
Das haben Sie vor fünf Minuten auch gehabt, und da hatten Sie es gar nicht eilig.
Lassen Sie sich Ihren neuen Wagen gerne von Zuchthäuslern klauen? Wenn es auch nicht so ein pikfeiner Horch wie von Ihrem Rittmeister ist, sondern bloß ein Opel-Laubfrosch.
Sie haben auch einen Schreck gekriegt, als ich von den Gendarmen geredet habe.
Nein!
Doch!
Also: ich habe noch keinen Führerschein. Und überhaupt, ich habe nicht gern mit der Polizei zu tun.
Wegen Ihrer Geschäfte?
Also ja! Meinethalben – ich schiebe ein bißchen.
Pagel sieht den kleinen, häßlichen Menschen prüfend an. All das kann stimmen, aber wahrscheinlicher ist es, daß es nicht stimmt, daß der Kerl lügt.
Und was machen Sie heute hier in unserm Wald? fragt er.
Aber Meier ist viel zu schlau. Diese Frage hat er längst kommen sehen. Er verflucht innerlich sein betrunkenes, rachegieriges Gefasel wegen des Leutnants. Aber seit er gesehen hat, daß Pagel bei den Worten Schwarzer Grund nicht zusammengezuckt ist, seit er weiß, daß Pagel nichts weiß, ist er siegesgewiß.
Was ich hier in euerm Wald tue? fragt er. Sie sollten's eigentlich nicht wissen, aber Sie werden das Maul halten. Euern Förster habe ich euch wiedergebracht, euern Kniebusch. Voll wie eine Strandkanone pennt er in meinem Wagen.
War der Förster nicht in Frankfurt zum Termin –?
Richtig! Sie haben's erfaßt! Meier ist wieder ganz obenauf. Aber nun lassen Sie uns losgehen, richtig nach dem Schwarzen Grund. Euer Förster hat Termin gehabt in seiner Sache mit Bäumer, und Euer Rittmeister, der ein großer Mann ist, hat ihm beistehen wollen, ist dann aber abgehauen, großer Mann, sich ein Auto kaufen ...
Und der Termin?
Geplatzt! Wegen Mangel an Beteiligung! Weil der Bäumer heute früh getürmt ist. Heute türmen sie anscheinend alle. Ich türme auch. Gleich. – Hurra! Und hier haben wir die Autospur – wer sagt es denn? Nun kommen Sie man die paar Schritte mit, daß Sie sich Ihren Kniebusch bekieken, damit Sie auch wissen, ich sohle Sie nicht an ...
Warum sind Sie denn hier hinten in den Wald gefahren, wenn Sie Kniebusch nach Hause fahren wollten? Und wie haben Sie denn Ihren Wagen verloren?
Sie haben 'ne Ahnung vom Duhnsein, Mensch! Sie sind wohl noch nie knille gewesen? So blau konnten wir doch nicht ins Dorf fahren – so blau waren wir ja nun doch wieder nicht. Fahren wir also hinten rum. Na, und wie wir hier im Wald sind, da spür ich ein menschliches Rühren. Raus muß ich, der Kniebusch pennt, ich stolpere aus dem Wagen, in den Graben, raus, hinter einen Busch – eingepennt muß ich dann sein. Na, und wie ich aufwache, weiß ich ja erst gar nicht, was los ist ... Ich sucke einfach so los, und da treffe ich Sie. – Hoppla, und hier habe ich meinen Wagen!
Es ist freilich wirklich kein solches Prunkstück wie der Prackwitzsche Wagen, es ist ein richtiger Opel-Laubfrosch, eine Nuckelpinne ... Aber das interessiert Pagel im Augenblick nicht so sehr. Es ist ja ein sehr kleiner, niedriger Wagen, der Höhenunterschied zwischen dem Waldboden und der Grundfläche des Wagens ist nicht bedeutend. Trotzdem ist es eine recht unbequeme Lage, in der da der Förster schläft, mit dem Kopf im Wald, mit den Füßen im Auto.
Pagel hätte ja eigentlich noch einige argwöhnische Fragen an Herrn Meier zu stellen, woher er zum Beispiel auf den Namen Schwarzer Grund kommt. Aber Meier wird schon für alles eine Antwort wissen, eine wahre oder eine erlogene, wie der ganze Kerl ja ein unentwirrbares Gespinst aus Lügen und Wahrheit ist. Es wird schon ungefähr stimmen, was er erzählt hat, und wenn es auch nicht ganz stimmt, weil ja der geheimnisvolle Leutnant in der Erzählung völlig fehlt, der nach Pagels Gefühl unbedingt hineingehört, die Wahrheit aus dem Kerl rauszukriegen, das würde zu lange dauern. Jetzt muß unbedingt erst einmal der Förster nach Haus und ins Bett. Die jetzige Lage kann für einen fast Siebzigjährigen nicht gut sein, der Kopf ist blaurot.
Rein! Rein mit ihm! befiehlt darum Pagel, denn Meier will den alten Mann aus dem Auto zerren.
Wieso rein? Ich hau ab! Ich hab's eilig! Raus mit ihm!
Rein! sage ich. Wahrscheinlich haben Sie den Kniebusch besoffen gemacht, so werden Sie ihn auch nach Haus fahren.
Keine Ahnung! Ich hab's eilig. – Und ich will mich in Neulohe auch nicht sehen lassen.
Brauchen Sie gar nicht! Sie können bis an die Försterei durch den Wald fahren. Da sieht Sie keiner.
Und wenn ich unterwegs geschnappt werde? Von den Landjägern oder den Zuchthausbrüdern? Nee, ich hau ab!
Herr Meier! warnt ihn Pagel! Machen Sie keine Dummheiten! Lieber schieße ich Ihnen die Reifen am Wagen kaputt, als daß ich Sie weglasse!
Meier sieht wütend nach der Hand mit der Pistole.
Also fassen Sie an! sagt er mürrisch. Stecken Sie das Dings nur wieder weg! Jahupp, rin in die Ecke! ach, is ja egal, wie er sitzt, der fällt doch gleich wieder um. Hauptsache, daß wir die Tür zukriegen. Ich weiß nicht, schimpft Meier plötzlich wütend, mit Neulohe habe ich auch immer Pech. Was ich auch mit Neulohe anfange, immer wird Dreck daraus. Aber ich revanchiere mich noch mal. Ihr Brüder werdet mich schon noch in den Magen kriegen –!
Haben wir schon, Herr Meier! Haben wir schon reichlich! sagt Pagel vergnügt und setzt sich neben Meier. Er freut sich, wie wütend der Kleine über die erpreßte Fuhre ist. Ich würde auch nicht so hupen, schließlich besinnen sich die Herren Zuchthäusler noch darauf, daß mit einem Wagen am bequemsten nach Berlin zu kommen ist. So, nun ein bißchen links halten ...
Donnerwetter, was ist das?!
Ein großer blau-weißer Wagen schreit in der Kurve dicht vor ihnen auf.
Der Horch vom Rittmeister! flüstert Meier und lenkt seinen Laubfrosch dicht an die Stämme.
Der große Wagen heult noch einmal auf und rast an ihnen vorbei.
Der Rittmeister und die süße Weio! grinst der kleine Meier, weiterfahrend. Na, uns haben sie nicht erkannt. Ich habe die Hand gleich vors Gesicht gehalten. Fahren Probe, scheint's. Viel Spaß – lange wird die Herrlichkeit wohl nicht mehr dauern.
Wieso denn das, Herr Meier? fragt Pagel spöttisch. Meinen Sie, der Rittmeister geht Pleite, weil Sie nicht mehr sein Beamter sind?
Aber Meier antwortete nicht. Er ist noch kein sehr geübter Fahrer, der holprige, sandige Waldweg nimmt all seine Aufmerksamkeit in Anspruch.
Schließlich kommen sie zur Försterei, sie laden den Förster aus, sie legen ihn auf ein Bett. Die Frau im Lehnstuhl schilt vor sich hin, daß sie den Mann betrunken nach Haus gebracht haben, daß sie ihn auf das falsche Bett gelegt haben, daß sie ihn nicht ausziehen ...
Na also denn, Herr Meier! sagt Pagel. Der kleine Meier sitzt schon wieder im Wagen. Pagel sieht ihn aufmerksam an und dann streckt er ihm die Hand hin. Also, gute Fahrt!
Meier sieht den Pagel an, Meier sieht die Hand an.
Wissen Sie was, Mensch, sagt er. (Ihren Namen behalte ich auch nie!) Wissen Sie was: ich werde Ihnen meine Hand nicht geben, und es wird auch so gehen. Sie finden ja, ich bin ein Riesenschwein ... Aber so ein Riesenschwein bin ich nun doch nicht, daß ich Ihnen jetzt die Hand gebe. Also denn!
Meier schlägt die Wagentür krachend zu, Pagel starrt ihn verblüfft an. Meier nickt durch das Wagenfenster noch einmal, und es scheint da jetzt ein ganz anderes Meier-Gesicht zu nicken: ein trauriges, elendes. Dann fährt der Wagen los.
Pagel starrt ihm eine Weile nach. ›Armes Schwein‹, denkt er bei sich. ›Armes Schwein!‹
Und Pagel meint beides, das ›arm‹ und das ›Schwein‹.
Dann geht er auf den Hof, ganz unsicher, ob er etwas sagen soll, was er sagen soll, wem er etwas sagen soll.
Er wird es sich überlegen – eine Kleinigkeit zu lange.