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Amanda Backs stand rasch atmend in den Büschen. Der Geheimrat quäckte mit seiner gequetschten Altersstimme in den höchsten Tönen: Na, Herr Meier, was haben Sie sich denn für 'ne Stimme zugelegt? Sie fiepen ja wie ein Weib!
Negermeiers Kopf fuhr aus dem Fenster. Das ist bloß, Herr Geheimrat, sagte er erklärend, weil ich so aus dem Schlaf hochgefahren bin. Im Schlaf hab ich immer so 'ne hohe Stimme!
Mir kann's ja egal sein, sprach der Greis. Die Hauptsache, Ihre Frau glaubt später mal an die hohe Stimme. – Ich habe hier 'nen Brief, Herr Meier.
Jawohl, Herr Geheimrat, wird bestens besorgt.
Nu warten Sie man bloß, junger Mann! Sie kommen noch früh genug zurück in Ihre Posen! – Den Brief geben Sie meinem Schwiegersohn!
Jawohl, Herr Geheimrat. Gleich morgen vormittag, wenn er von der Bahn kommt.
Nee, das paßt mir nicht. Dann ist seine Frau dabei, das ist 'ne Geschäftssache, verstehen Sie, Herr Meier –?
Jawohl, Herr Geheimrat. Ich gebe ihn also ...
Nu warten Sie doch bloß, Jüngling! Lassen Sie doch das Bett knarren! Das Bett knarrt doch bloß aus Langeweile – oder wie?
Jawohl, Herr Geheimrat ...
Na also! – Und erkälten werden Sie sich ja hier auch nicht am offenen Fenster, so kühl wie Sie's gewöhnt sind. – Schlafen Sie eigentlich immer ohne Hemde, Herr Meier –?
Herr Geheimrat, ich ...
Sagen Sie man lieber Jawohl, Herr Geheimrat – das ist doch Ihre sicherste Tour, nicht wahr? Sie denken, ich seh nicht im Dunkeln. Ich seh im Dunkeln genauso gut wie ein alter Kater, verstanden?!
Es war so heiß, Herr Geheimrat, entschuldigen Sie ...
Natürlich entschuldige ich, mein Sohn. Daß dir heute abend heiß ist, das entschuldige ich. Wo du nicht eingefahren hast, und nachher begießt du dir noch die Nase – wie soll dir da nicht heiß sein?!
Herr Geheimrat ...!
Na, was soll denn der Geheimrat –?! Weißt du was, mein Sohn, ich habe mir das überlegt. Ich lasse den Brief lieber von meinem Elias rübertragen, ich denke beinahe, du hast morgen zu viel Butter auf dem Kopf, um noch an den Brief zu denken ...
Flehentlich: Herr Geheimrat –!
Also, guten Abend, Herr Meier, und zieh dir lieber ein Nachthemd an. Ich glaub, ich hab die Amanda vorhin im Park gesehen ...
Der Olle schuffelte fort; Amanda stand in den Büschen, ihr Herz klopfte sehr. Sie hatte immer gewußt, ihr Hänsecken taugte nicht viel und lief jedem Weiberrock nach. Sie hatte gedacht, sie könnte ihn bei der Stange halten, wenn sie immer für ihn da war ... Nee, ist nicht, für unsereine wird so was nicht gereicht!
Der kleine Meier lehnte noch am Fenster. Einmal noch hatte er ganz kläglich gebettelt: Aber Herr Geheimrat ... Als wenn der Geheimrat was helfen könnte, und als wenn es was geändert hätte, wenn ihm der Brief doch noch anvertraut worden wäre ...
Amanda konnte ihn von ihrem Platz ganz gut im Fenster liegen sehen. Gott, er war ja so dumm, ihr Meier! Wieso sie nur immer an so dumme, schlappe Kerls geriet –?! Die auch gar nichts taugten! Sie verstand es nicht. Sie war traurig.
Nun fing das Frauenzimmer drinnen an zu tuscheln und zu flüstern. Hänsecken drehte sich halb um und sagte grob: Ach, halt die Schnauze!
Das freute Amanda wieder; daß er so keß zu der andern war, zeigte, daß er sich nicht viel aus ihr machte. Zu ihr hätte er nicht so reden dürfen, sie gab ihm immer gleich was aufs Dach. Aber sie hätte doch gar zu gerne gewußt, wer die andere gewesen war – vom Schloß war's keine, die waren alle in der Andacht gewesen.
Zieh dich bloß schnell an! hörte sie Hänsecken sagen. Wenn Amanda kommt, gibt es einen Heidenkrach! Den kann ich gerade noch brauchen.
Amanda hätte fast losgelacht. Dumm wie immer! Der Krach stand ihm vorm Fenster, aber er sah nicht nach, er merkte nichts. Hänsecken war hinterher immer furchtbar schlau! Aber dem Frauenzimmer hätte sie es gerne besorgt – jede im Dorf mußte wissen, daß sie mit Hänsecken ging. Von denen auf dem Hof ganz zu schweigen!
Die da drinnen schien sich wirklich zu beeilen, Amanda hörte sie in der Stube poltern. Nun war ihr Kopf neben dem von Hänsecken.
Mach doch bloß das Fenster zu und schalt Licht ein. Ich kann meine Sachen nicht finden, schalt sie.
(›Wer es bloß ist –? Wenn einer so flüstert, kann man überhaupt nicht raten, wer es ist!‹)
Psst! machte Meier so laut und scharf, daß sogar Amanda in ihrem Busch zusammenfuhr. Kannst du nicht die Klappe halten –?! Wenn ich Licht mache, denken sie doch, ich bin wach!
Wer soll denn darüber nachdenken? Wohl deine Amanda?
(Ob es die Hartig war –? Das wäre die Höhe! Die Kutschersche mit ihren acht Kindern spannt einem jungen Mädchen den Freund aus! Dann gab's aber was!)
Das geht dich einen Dreck an! Mach jetzt bloß, daß du abhaust!
Aber meine Sachen ...
Ich mache kein Licht. Mir egal, wie du zurechtkommst!
Schimpfend verschwand der zweite Kopf aus dem Fenster. Amanda war jetzt fast sicher, daß es die Hartig war. Aber fast sicher ist nicht ganz. Sie hatte keine Eile, Hänsecken erwischte sie immer noch, erst mal mußte sie das Frauenzimmer fassen! Erwischen mußte sie die – und wenn sie die ganze Nacht hier stehen sollte! Vor ihren Augen kam die raus – entweder aus der Tür oder aus dem Fenster, also nur Geduld!
Es war komisch – aber nachdem sich Amanda im Betsaal so gründlich geärgert hatte, konnte sie jetzt, wo doch viel mehr Anlaß war, gar nicht mehr richtig wütend werden. Auf Hänsecken schon gar nicht. Der war ein Schaf und blieb ein Schaf, und wenn sie nicht auf ihn paßte, machte er bloß Dummheiten. Aber so recht wütend war sie eigentlich auch nicht auf das Frauenzimmer. Amanda wunderte sich selbst. Aber vielleicht wurde sie noch wütend, wenn sie erst wußte, wer es war, und wenn sie mit ihr sprach. Sie hoffte, sie würde noch in Fahrt kommen –! Die sollte sich bloß nicht einbilden, daß sie sich irgend etwas wegnehmen ließ, was ihr gehörte!
So stand sie und wartete geduldig und ungeduldig, ganz wie ihre Gedanken grade gingen. Bis sie schließlich – nicht ohne Vergnügen – sah, daß die Besucherin scheltend aus dem Fenster kletterte. Das Vergnügen aber kam daher, daß dieses Aus-dem-Fenster-Steigen endgültig bewies, Hänsecken machte sich nicht viel aus dem Frauenzimmer, und es hatte auch keine Gewalt über ihn. Denn wenn er sogar zu faul war, ihr die Haustür aufzuschließen –!
Das Frauenzimmer hielt sich nicht lange mit einem zärtlichen Abschied auf, es sah sich auch nicht um, sondern es steuerte gradewegs auf die Hausecke am Hof zu.
›Nun also!‹ dachte Amanda Backs und steuerte nach. In dem Inspektorenzimmer wurden die Fenster mit ziemlichem Geräusch geschlossen, und das brachte Amanda nun doch etwas in Fahrt. Denn dies Fensterschließen bei so warmer Nacht konnte ja nur heißen, daß dem Herrn Inspektor Meier weitere Besuche unerwünscht waren – und das bezog Amanda auf sich.
Du, wart einmal, Hartigen! rief sie also.
Du, Mandchen? fragte die Kutscherfrau und spähte nach der andern. Was du mich erschreckt hast! Na, gute Nacht. Ich muß weiter. Ich hab's eilig.
Nimm mich mit! sagte Amanda und hastete neben ihr über den Hof, auf die Kutscherwohnung zu. Ich hab den gleichen Weg wie du!
Hast du das? fragte Frau Hartig und ging langsamer. Ja, so eine wie du, von morgens bis in die Nacht auf den Beinen – so eine kriegt die gnädige Frau auch nicht leicht wieder!
Ich komme auch nicht so leicht von den Beinen wie manche andere, sagte Amanda voller Bedeutung. Na, geh doch zu, dein Mann wird schon auf dich warten!
Aber die Hartig blieb stehen. Es war mitten auf dem Hof. Rechts waren die Schweineställe, in denen es noch manchmal raschelte (die Stalltüren standen der Hitze wegen offen), links war die Miststätte. Die beiden Frauen aber standen so, daß Amanda grade das Licht in der Kutscherwohnung sah, an einem Ende des Hofes; Frau Hartig aber sah nach dem andern Ende hinüber, wo jetzt hinter den Inspektorenfenstern auch Licht brannte – und das mußte sie ja wirklich ärgern, daß er nun doch Licht gemacht hatte.
Mandchen ist überhaupt keine Anrede für mich! sagte Amanda Backs schließlich nach längerem Schweigen streitsüchtig.
Ich kann ja auch Fräulein Backs sagen, wenn es dir lieber ist, gab die Hartig friedfertig zu.
Ja, Fräulein, klang es zurück. Ich bin noch keine Frau – ich kann immer hingehen, wohin ich mag!
Das kannst du, bestätigte die Kutscherfrau. So eine Geflügelmamsell, wie du bist, nimmt jede Herrschaft gerne.
Wollen wir nun davon reden oder wollen wir nicht davon reden?! rief Amanda zornig und stampfte mit dem Fuß auf.
Die Kutscherfrau schwieg.
Ich kann ja auch mit deinem Mann darüber sprechen, sagte Amanda drohend. Ich hab's gehört, er hat sich das letzte Mal schon sehr gewundert, weil du so karierte Kinder kriegst!
Karierte Kinder! lachte die Hartig, aber ein bißchen gezwungen. Wie spaßig du reden kannst, Mandchen, man muß sich bloß wundern!
Du sollst nicht Mandchen sagen! befahl Amanda zornig. Ich mag das von dir nicht hören!
Ich kann ja auch Fräulein Backs sagen.
Dann tu es auch – und überhaupt ist es eine Schande, wenn eine verheiratete Frau einem Mädchen ihren Freund wegnimmt!
Ich habe ihn dir doch nicht weggenommen, Mandchen! sagte die Hartig bittend.
Das hast du doch –! Und so eine, die acht Kinder hat, du hast doch dein Teil weg, sollte man denken!
Gott, Mandchen! sagte die Kutscherin ganz friedfertig, das kennst du bloß nicht, wie das ist, wenn man verheiratet ist. Das denkt man sich alles ganz anders.
Mach bloß keine Redensarten, Hartigen! rief Amanda drohend. Mich kannst du nicht auf die süße Tour kriegen.
Wenn man erst seinen Festen hat, erklärte die Hartigen bereitwillig, denkt man, es ist vorbei. Aber dann wird einem doch wieder so komisch ...
Wie komisch –? Quatsch bloß keinen Rhabarber!
Gott, Mandchen, das tu ich doch auch nicht! Das kennst du doch auch, wenn einem so komisch wird, und man hat ein Kribbeln über den ganzen Leib, und bei nichts hat man Ruhe, und alles soll immer schnell gehen, als könnte man es nicht abwarten – und plötzlich hat man dagestanden, eine geschlagene Viertelstunde, den Eimer mit Schweinekartoffeln in der Hand, und weiß von nichts was ...
Ich habe nichts mit Schweinekartoffeln zu tun! sagte Amanda Backs abweisend. Aber sie war eigentlich gar nicht mehr so abweisend, sie war eher nachdenklich.
Nein, natürlich nicht! sagte die Hartig eilig. Und sie setzte hinzu, weil sie es jetzt wohl wagen konnte: Bei dir sind es dann die Hühnerkartoffeln ...
Aber die Geflügelmamsell spürte diese Bosheit gar nicht. Dafür hast du dann deinen Mann, sagte sie mit neu erwachter Strenge, wenn dir so komisch wird. Da darfst du unsereiner nicht mehr ins Gehege kommen!
Aber, Mandchen, das ist es ja gerade, was man vorher nicht weiß! rief die Hartig ganz eifrig aus.
Was weiß man vorher nicht?
Daß der eigene Mann dagegen gar nichts hilft! Hätt ich das als junges Mädchen gewußt, was ich heute weiß, ich hätt nie geheiratet, das darfst du mir glauben!
Ist das wirklich so, Hartigen? fragte Amanda Backs tief nachdenklich. Magst du denn deinen Mann gar nicht leiden?
Gott, ja, natürlich – ganz nett ist er ja soweit. Und ganz ordentlich auch. Aber sooo doch nicht. Schon lange nicht mehr.
Da magst du also Hänse – den Inspektor Meier lieber –?
Gott, Mandchen, was du auch alles denkst! Ich hab dir doch schon gesagt, ich nehm ihn dir nicht weg!
Amandas Stimme klang sehr böse: Da hat er also angefangen, ich meine, der Meier?
Die Hartig schwieg eine Weile und bedachte sich. Aber sie entschied sich doch für die Wahrheit. Nee, Mandchen, ich will dir nichs vorkohlen. Ich hab zuerst gewollt – und so was spürt ein Mann doch. Und dann war er ja auch ein bißchen duhn ...
So, duhn war er auch noch! Aber ich versteh noch immer Bahnhof – wenn du ihn gar nicht magst?
Ja, weißt du, Mandchen, ich weiß doch auch nicht, aber wenn es einen dann so kribbelt, und neugierig ist man doch auch ...
Du sollst aber nicht –! Amanda holte zu einer gewaltigen, abschließenden Strafpredigt aus, die allerdings wesentlich milder ausgefallen wäre, als sie sich vorgenommen hatte. Denn am Ende verstand sie die Hartigen ganz gut ...
Aber Amanda brach ab.
Über den Hof kamen hintereinander gegangen drei Gestalten: erst ein Mann, dann eine Frau, dann noch ein Mann ...
Ganz still und sachte gingen die im Dunkeln über den Hof, ohne ein Wort – und Amanda Backs und Frau Hartig, die starrten.
Als der vorderste Mann bei den Frauen angelangt war, blieb er unwillkürlich stehen und fragte mit scharfer, befehlender Stimme: Wer steht denn da –?!
Zugleich wurden die beiden Frauen von einer elektrischen Taschenlampe, die die Frau in der Mitte hielt, angeleuchtet. (Denn der Mond war noch nicht hoch, die Stallgebäude fingen sein Licht noch ab.)
Ich, Amanda, sagte Amanda Backs ruhig, während die Kutscherfrau unwillkürlich die Hände vors Gesicht hielt, als sei sie bei etwas Verbotenem ertappt.
Macht man zu, daß ihr ins Bett kommt! sagte der Mann vorne wieder, und lautlos und sachte gingen die drei an den beiden Frauen vorüber – über den Hof, um die Ecke des Inspektorenhauses herum –, und die Hartig konnte sehen, daß dort, während ihres Disputes, das Licht wieder erloschen war.
Wer war denn das?! fragte die Kutscherfrau ganz verblüfft.
Ich glaub, das war das gnädige Fräulein, sagte Amanda nachdenklich.
Das gnädige Fräulein, mitten in der Nacht, mit zwei Männern! rief die Hartig. Das glaub ich nie und nimmer im Leben!
Der hinten kann der Diener gewesen sein, überlegte Amanda weiter. Den vorne kenn ich nicht. Der ist nicht von hier – die Stimme hab ich noch nicht gehört!
Komisch ... sagte die Hartig
Komisch ... sagte die Backs.
Was geht es den denn an, daß wir hier stehen? fragte Amanda laut. Ist gar nicht von hier und schickt uns ins Bett!
Eben! echote die Hartig. Und das gnädige Fräulein läßt ihn ruhig kommandieren ...
Wo die bloß hingegangen sind? fragte Amanda und starrte gegen das Hofende.
Ins Schloß? schlug die Hartig vor.
I wo! Wieso denn hinten rum? Das gnädige Fräulein braucht doch nicht hinten rum ins Schloß! sagte Amanda abweisend.
Dann ist da nur noch das Inspektorenhaus ... sagte die Hartig probierend.
Das hab ich eben auch gedacht, gab Amanda offen zu. Aber was wollen sie da, so komisch, dreie hintereinander, und so sachte – als dürfte sie keiner sehen ...
Ja, komisch war es, gab die Hartig zu. Und schlug vor: Wenn wir mal nachsähen –?
Du gehst jetzt endlich zu deinem Mann! sagte Amanda Backs streng. Wenn eine beim Inspektorenhaus nachsieht, bin ich es.
Aber ich wüßte doch so gerne, Mandchen ...
Du sollst doch Fräulein Backs sagen. Was willst du denn überhaupt deinem Mann erzählen, wo du so lange gewesen bist? Und deine Kinder ...
Och ... machte die Hartigen gleichgültig.
Und überhaupt, du läßt jetzt meinen Hans in Frieden! Noch mal geht es nicht so gut ab! Wenn ich dich noch einmal erwische ...
Bestimmt nicht, Mandchen, das schwör ich dir! Aber du erzählst mir auch morgen ...
Gute Nacht! sagte Amanda Backs kurz und ging auf das dunkle Inspektorenhaus zu.
Die Kutscherfrau stand noch einen Augenblick und sah ihr neidisch nach. Sie bedachte, wie gut es solch junge, unverheiratete Mädchen hatten, und wie sie es gar nicht wußten. Dann seufzte sie leise und ging ihrem Heim entgegen, zu dem Kindergewusel und dem bestimmt schimpfenden Mann.
Nach der Erschütterung in der Abendandacht hatte Frau von Teschow ein tiefes Ruhebedürfnis empfunden. Sie wollte nichts mehr sehen und hören, schnell wollte sie ins Bett.
Auf der einen Seite von ihrer Freundin, Fräulein Jutta von Kuckhoff, auf der andern vom Diener Elias geleitet, war sie hinauf in das große, dreifenstrige Mahagoni-Schlafzimmer gewankt. Fräulein von Kuckhoff hatte die Zitternde, Schluchzende ausgezogen, und nun lag sie in dem breiten Mahagonibett, klein anzusehen, wie ein Kind, mit dem trockengewordenen, winzigen Vogelkopf, ein weißes Betthäubchen über den dünnen Haaren, eine weitmaschig gestrickte Bettjacke um die Schultern gelegt.
Sie jammerte: O mein Herr und mein Gott – Jutta, was für eine Welt! Gott verzeihe es mir, daß ich richte – aber was für eine schamlose Jugend! Ach, was wird Lehnich sagen –?! Und erst Superintendent Kolterjan?!
Jedes Ding ist zu etwas gut, Belinde, sagte Jutta weise. Rege dich bloß nicht noch mehr auf! – Frierst du immer noch so?
Ja, Frau von Teschow fror noch immer. Fräulein von Kuckhoff klingelte nach dem Diener Elias. Er bekam den Auftrag, zwei Wärmflaschen aus der Küche zu besorgen.
Der Diener wollte gehen.
Ach, Elias!
Bitte, gnädige Frau?
Sagen Sie doch der Mamsell, sie soll mir noch eine Tasse Pfefferminztee aufbrühen. Ja – und recht stark. Und mit viel Zucker.
Ja – ach Gott!
Jawohl, gnädige Frau.
Der Diener wollte gehen.
Ach, Elias!
Sie soll mir doch lieber einen Glühwein machen, keinen Pfefferminztee. Pfefferminztee stößt immer so auf! Aber ohne Wasser, nur Rotwein. Rotwein enthält schon sehr viel Wasser. Ach Gott – und ein bißchen Muskat. Und eine Nelke. Und sehr viel Zucker. Nicht wahr, Elias, Sie besorgen mir das richtig?
Jawohl, gnädige Frau.
Und – ach – Elias, einen Augenblick noch! Sie soll einen kleinen Schuß Rum hineintun – mir ist wirklich sehr schlecht –, nicht viel. Aber man muß ihn natürlich schmecken, nicht so ganz wenig, Elias, Sie verstehen –?
Der Diener Elias, bald siebzig, mit dem glatten Kopf, versteht. Er wartet noch einen Augenblick und will gehen, als ihn der schwache Ruf der Kranken unter der Tür noch einmal erreicht: Ach, Elias!
Bitte, gnädige Frau –?
Ach, Elias, bitte, kommen Sie doch einmal näher ... Sie können sich einmal in der Küche erkundigen ... aber nicht so, als ob es von mir ausgeht, so ganz nebenbei ...
Der Diener Elias wartet stumm. Der gnädigen Frau muß grade wieder sehr schlecht sein, sie kann kaum reden. Sicher wäre es gut, wenn sie ihren Glühwein rasch bekäme, aber er kann ihn noch nicht bestellen, Frau von Teschow hat noch etwas auf dem Herzen.
Elias – fragen Sie doch einmal – aber unauffällig! –, ob sie – Sie wissen schon! – ins Bett gegangen ist. Ja, fragen Sie einmal, aber unauffällig ...
Eine Weile noch geht es der Kranken sehr schlecht, und Fräulein von Kuckhoff hat viel zu tun, mit guten Sprüchen, weisem Zureden, die kalten Hände zwischen den ihren wärmen, die schmerzende Stirn streicheln. Aber dann kommen die Wärmflaschen, es kommt der Glühwein, der kräftig nach Rum duftet: schon der Geruch belebt Frau von Teschow. Im Bett sitzend, mit streng zusammengekniffenen Lippen, hört sie die Botschaft, daß ›sie‹ ausgegangen ist.
Es ist gut, Elias. Ich bin sehr traurig. Recht gute Nacht, Elias. Ich werde wohl kaum schlafen können.
Elias macht zu diesem Abschiedsspruch ein angemessen betrübtes Gesicht, wünscht ebenfalls eine gute Nacht und setzt sich dann ins Vorzimmer. Er muß noch auf den Geheimrat warten, um ihm die Stiefel auszuziehen. Dann ist sein Dienst zu Ende.
Aber das Warten wird dem alten Elias nicht zu lang, er hat seine Beschäftigung. Aus der Tasche zieht er eine dicke, ehemals braune, nun schon fast schwarze Brieftasche, und eine lange Liste mit vielen Nummern, Namen, Wörtern. Aus der Brieftasche kommt ein Paket mit braunen Banknoten, die Liste wird aufgeschlagen, und nun wird verglichen, angestrichen, geschrieben.
Die alte gnädige Frau hat heute einen schlechten Abend, aber der Diener Elias hat einen guten: es ist ihm heute gelungen, fünf neue alte braune rotgestempelte Tausendmarkscheine aus der Friedenszeit aufzukaufen.
Wie viele deutsche, namentlich ältere Menschen, die die höllischen Wunder der Inflation erleben, weigert sich auch Elias, an eine allgemeine Entwertung zu glauben. Irgend etwas muß einem Menschen verbleiben, der über fünfzig Jahre emsig gespart hat; unmöglich ist es, daß der Strudel allesverschlingt.
Eine einfache Überlegung sagt, daß ›richtiges Geld‹ aus der Zeit vor dem Kriege auch ›richtig‹ geblieben sein muß. Dies beweist schon der Satz auf den Scheinen, daß sie gegen Gold von der Reichsbank eingelöst werden. Und Gold ist immer noch richtig. Unrichtig ist natürlich Geld, das im Kriege oder gar nach dem Kriege ausgegeben wurde. Im Kriege ging ja der Betrug schon los mit den Leinenhemden aus Papier und den Lederschuhen aus Pappe.
Als der alte Elias die ersten Anzeichen der Inflation spürte, fing er an, Tausendmarkscheine aufzukaufen. Es gab immer Leute, die Geld brauchten, er bekam welche. Es gab immer Leute, die nicht so gut nachdenken konnten wie der alte Elias. Jawohl, Elias hatte gehört, die Reichsbank in Berlin gab kein Gold mehr für diese Tausendmarkscheine. Aber das war natürlich nur Bluff, auf die Dummen berechnet. Die Reichsbank wollte ihre eigenen Scheine billig bekommen – um das knappe Gold zu sparen. Elias aber war nicht dumm, er gab der Reichsbank seine Scheine nicht billig. Er wartete ab, er konnte es abwarten – eines Tages bekam er dann doch Gold dafür, ganz, wie es deutlich aufgedruckt war.
So fing es an bei dem Elias – zu Anfang war es eine Kapitalsanlage. Aber dann kam hinzu, daß dies auch seine Wissenschaft hatte – der alte Elias entdeckte auf seine alten Tage die Wonnen des Sammlers (ohne es zu wissen).
Es gab so viele verschiedene braune Tausendmarkscheine! Zwar, das eine lernte man gleich: nur die mit dem roten Stempel taugten etwas. Die mit dem grünen stammten alle aus der Kriegs- und Nachkriegszeit – die durfte man nicht sammeln! Aber da gab es nun Scheine mit einem roten Stempel und welche, die trugen zwei rote Stempel! Es gab Banknoten, die trugen keinen Faserstreifen, und dann kamen Scheine mit einem blauen Faserstreifen links und Scheine mit einem blauen Faserstreifen rechts! Es gab Scheine mit acht Unterschriften, aber auch welche mit neun, und manche waren sogar von zehn Männern unterschrieben! Dann gab es Scheine mit den Buchstaben A, B, C, D, und welche mit siebenstelligen, und welche mit achtstelligen Ziffern. Es war immer genau derselbe braune Tausendmarkschein, an Bild und Schrift änderte sich nichts – aber welche verwirrende Menge von Unterschieden!
Der alte Diener Elias schreibt an und vergleicht, er sammelt schon längst nicht mehr nur braune Tausendmarkscheine, er sammelt Unterschiede, Kennzeichen, Merkmale. Sein großer, runder, glatter Kopf wird ganz rot dabei. Er strahlt, wenn er eine neue Spielart findet, die er noch nicht hat! Er ist fest davon überzeugt, daß diese Unterschiede geheime Merkmale sind, von Kennern für Kenner gemacht. Sie bedeuten bestimmt etwas; wer sie auszulegen versteht, wird viel Gold damit gewinnen!
Der alte Geheimrat mag ihn auslachen. So schlau der alte Herr ist, von diesen geheimen Dingen versteht er nichts! Er glaubt, was ihm die Leute auf den Banken erzählen, er glaubt, was in der Zeitung steht. Der alte Elias ist nicht so gläubig – dafür ist er heute auch schon reicher als sein Herr, er besitzt weit über hunderttausend Mark! Goldgeld! Geld wie Gold!
Heute ist er sehr glücklich: drei ganz neue Scheine hat er unter seinen neuen Ankäufen. Darunter einen aus dem Jahre 1876. Er hat nie gewußt, daß es so alte Tausendmarkscheine gibt, sein ältester war bisher aus dem Jahre 1884. Oh, er wird es sich sehr überlegen, ob er einmal, wenn es eines Tages soweit ist, diese Scheine gegen Gold einwechseln wird! Sie sind so schön, diese Scheine mit den feierlichen Gestalten, die, wie er gehört hat, Industrie, Handel und Verkehr bedeuten.
Industrie, Handel und Verkehr, flüstert er und starrt die Scheine ergriffen an.
Alles, was das Volk arbeitet, überlegt er. Nur die Landwirtschaft ist nicht dabei – und das ist schade!
Was soll er mit Gold? Für über hunderttausend Mark Gold kann er nicht mit sich herumtragen. Um Gold muß er sich bloß ängstigen – aber dieses Papier ist so schön!
Er ist glücklich, der alte Diener! Schein um Schein wird sorgfältig zusammengefaltet, ehe er in die Tasche zurückwandert. Die Banknotenpressen in Berlin jagen und hetzen das Volk in einen immer quälenderen Rausch – ihm haben sie Glück geschenkt, großes Glück! Schöne Scheine!! –
Der Glühwein hatte seine Wirkung getan. Frischer saß Frau von Teschow zwischen den Kissen, zu ihrer Freundin sagte sie: Wenn du mir etwas vorlesen würdest, Jutta?
Aus der Bibel –? fragte Fräulein von Kuckhoff bereitwillig.
Doch das war heute abend kein guter Vorschlag. Die Abendandacht mit der Bekehrung der Sünderin war mißglückt. Die Bibel war also samt ihrem Gott ein wenig in Ungnade.
Nein, nein, Jutta – wir müssen doch endlich mit dem Goethe weiterkommen!
Gerne, Belinde. Bitte, die Schlüssel!
Fräulein von Kuckhoff bekam die Schlüssel. Oben im Kleiderschrank, bei den Hüten, lag wohlversteckt ein schöner, dreißigbändiger, halblederner Goethe – unter Verschluß –, das Konfirmationsgeschenk der Frau von Teschow an ihre Enkelin Violet von Prackwitz. Violets Konfirmation lag schon weit zurück, aber noch war nicht abzusehen, wann ihr der Goethe ausgehändigt werden konnte.
Fräulein von Kuckhoff nahm aus dem Schrank den siebenten Band:
Die Gedichte – Lyrisch. I.
Er sah merkwürdig geschwollen aus. Neben den Band auf den Tisch legte Fräulein von Kuckhoff Schere und Papier.
Kleister, Jutta! mahnte Frau von Teschow.
Die Freundin setzte auch noch das Töpfchen mit Kleister dazu, schlug das Buch auf und begann an bezeichneter Stelle das Gedicht vom Goldschmiedsgesellen zu lesen.
Nach dem ersten Vers nickte Frau von Teschow beifällig mit dem Kopf: Diesmal haben wir Glück, Jutta!
Warte es ab, Belinde, sagte Fräulein von Kuckhoff. Man soll das Schwein erst schlachten, ehe man seinen Speck lobt.
Und sie las den zweiten Vers.
Gut, gut! nickte Frau von Teschow und fand auch die folgenden Verse lobenswert.
Bis man zu den Zeilen kam:
Das kleine Füßchen tritt und tritt;
Da denk ich mir das Wädchen,
Das Strumpfband denk ich auch wohl mit,
Ich schenkt's dem lieben Mädchen ...
Halt, Jutta! rief Frau von Teschow. Wieder! sagte sie klagend. Was meinst du, Jutta? fragte sie.
Ich habe es dir ja gleich gesagt, erklärte Fräulein von Kuckhoff. Die Katze läßt das Mausen nicht!
Und das will ein Staatsminister sein! empörte sich Frau von Teschow. Da sind die von heute auch nicht schlimmer. Was sagst du, Jutta? Aber sie wartete die Antwort nicht ab. Das Urteil war gefällt. Kleb es zu, Jutta! Kleb es gut und fest zu – wenn das Kind das läse!
Fräulein von Kuckhoff war schon dabei, das unzüchtige Gedicht mit Papier und Kleister zu verpflastern. Viel bleibt nicht, Belinde, sagte sie und hob den Band prüfend.
Es ist eine Schande! empörte sich Frau von Teschow. Und so was will ein Klassiker sein! Ach, Jutta, hätte ich doch lieber einen Schiller für das Kind gekauft – Schiller ist edler, lange nicht so fleischlich!
Denk an den alten Spruch, Belinde: kein Ochse ohne Horn. Schiller ist auch nichts für die Jugend. Denke an Kabale und Liebe, Belinde. Und dann diese Frauensperson, diese Eboli ...
Richtig, Jutta. Die Männer sind alle so. Du ahnst nicht, welche Mühe ich mit Horst-Heinz gehabt habe ...
Jawohl, sagte die Kuckhoff. Gut Schwein liebt seinen Schmutz. – Na, ich lese weiter.
Gottlob folgte als nächstes das Gedicht von der rettenden Johanna Sebus. Das war zwar nun wieder edel, freilich blieb ganz unklar, warum der Dichter Johanna Sebus immer Schön- Suschen nannte.
Er hätte doch Schön-Hannchen schreiben müssen, nicht wahr, Horst-Heinz?
Denn der Geheimrat war eben eingetreten. Er sah vergnügt schmunzelnd den beiden Weiblein bei ihrem Werke zu.
Hanne wird ihm zu gewöhnlich gewesen sein, schlug der Geheimrat nach genauer Prüfung des Falles vor. Er ging, das Buch in der Hand, auf Socken und in Hemdsärmeln im Zimmer auf und ab.
Aber wieso Suschen?
Ich denke mir, Belinde, Suschen ist eine Abkürzung von Sebuschen. Und, Sebuschen, weißt du, Belinde – was meinen Sie, Jutta? Der Geheimrat war ernst, nur die Fältchen in seinen Augenwinkeln zuckten. Busen – Buschen – Sebuschen – es klingt doch auch anstößig, wie –?
Kleb es zu, Jutta, kleb es zu! Wenn das Kind auf diese Gedanken käme! rief Frau von Teschow aufgeregt. Ach, es bleibt einfach nichts! – Horst-Heinz, du mußt auf der Stelle die Backs raussetzen!
Auf der Stelle gehe ich bloß ins Bett. Außerdem –
Ich gehe ja schon, brummte die Kuckhoff. Lassen Sie mich doch erst den Goethe einschließen!
– außerdem ist die Backs schon draußen. Ich hab sie vorhin im Park gesehen.
Du weißt ganz gut, was ich meine, Horst-Heinz!
Wenn ich weiß, was du meinst, brauchst du es mir ja nicht mehr zu sagen, Belinde. Und mit einem drohenden Räuspern: Fräulein von Kuckhoff, ich mache Sie darauf aufmerksam, daß ich jetzt aus den Hosen steige!
Horst-Heinz! Laß ihr doch Zeit, sie muß mir doch erst gute Nacht sagen!
Ich gehe ja schon! Gute Nacht, Belinde, und mach dir bloß keine Gedanken mehr wegen der Andacht! Schlaf schön! – Liegen die Kissen richtig? Die Wärmflaschen ...
Fräulein von Kuckhoff –!!! Jetzt kommen die Unterhosen, und dann steh ich im Hemde! Sie werden doch nicht einen Preußischen Geheimen Ökonomierat im Hemde ...
Ich gehe sofort! Schlaf schön, Belinde, gute Nacht und die Brausepulver ...
Suschen – Buschen – Sebuschen –! schrie der Geheimrat. Ihm war nur noch das Hemd verblieben. Aber er schreckte davor zurück, diese letzte Hülle fallen zu lassen ... Jeden Abend dasselbe Theater mit den beiden alten Hühnern! Oh, diese Weiber! schrie er.
Wünsche eine gute Nacht, Herr Geheimrat, sagte Fräulein von Kuckhoff mit Würde. Und er schuf Menschen zu seinem Ebenbilde – das ist lange her ...
Jutta! protestierte Frau von Teschow schwach gegen diese Verunglimpfung ihres Horst-Heinz, aber die Tür fiel hinter der Freundin ins Schloß, und nicht einen Augenblick zu früh.
Was war denn mit der Abendandacht? fragte der Geheimrat, und tauchte in sein Nachthemd.
Weiche mir nicht aus, Horst-Heinz, du mußt morgen die Backs entlassen!
Das Bett seufzte gewaltig unter dem alten Herrn auf. Es ist deine Geflügelmamsell und nicht meine, sprach er. Willst du eigentlich noch lange Licht brennen? Ich möchte schlafen.
Du weißt, daß ich Aufregungen nicht vertrage – und wenn dann solche Person frech wird ... Du könntest mir gerne einmal den Gefallen tun, Horst-Heinz!
Ist sie in der Abendandacht frech geworden? erkundigte sich der Geheimrat.
Sie ist unsittlich, sagte Frau von Teschow wütend. Immer steigt sie zu dem Inspektor ins Fenster.
Ich glaube, heute abend auch, sagte der Geheimrat. Deine Andacht hat wohl noch nicht gewirkt, Belinde ...
Sie muß eben weg. Sie ist unverbesserlich.
Und dann geht wieder das Theater mit deinem Geflügel los. Du weißt, wie es ist, Belinde. Noch keine hat so wenig Abgang bei den Küken gehabt, und soviel Eier hat es auch noch nie gegeben. Und Futter braucht sie weniger als jede andere!
Weil sie mit dem Inspektor unter einer Decke steckt!
Richtig, sehr richtig, Belinde!
Sie kriegt eben viel mehr Futter, als sie anschreibt!
Das kann uns doch nur recht sein, es ist das Korn unseres Schwiegersohnes! – Nein, nein, Belinde, sie ist tüchtig und hat eine glückliche Hand. Ich würde ihr nicht kündigen. Was geht es uns an, was sie nachts macht?
Aber das Haus soll rein sein, Horst-Heinz!
Sie geht doch zu ihm ins Beamtenhaus, er nicht zu ihr hier in den Katen!
Horst-Heinz!
Na, was denn noch, Belinde? Es stimmt doch!
Du weißt ganz gut, was ich meine, Horst-Heinz! Sie ist so unverschämt!
Das ist sie, gab der Geheimrat gähnend zu. Aber das ist eigentlich immer so. Die tüchtigsten Leute lassen sich auch am wenigsten sagen. Den kleinen Kerl, den Meier, ihren Freund, den kannst du stundenlang in den Hintern treten, der wird nur immer höflicher ...
Bei ihrem Mann hörte Frau von Teschow ein grobes Wort meistens gar nicht, so überhörte sie auch den Hintern.
So sag Joachim, daß er den Kerl rausschmeißt. Dann kann ich die Backs behalten.
Wenn ich meinem Herrn Schwiegersohn sage, er soll seinen Beamten rausschmeißen, sprach der alte Herr nachdenklich, so behält er ihn bestimmt bis an sein Lebensende. – Aber tröste dich, Belinde, ich glaube, Amandas Freund fliegt morgen ... Und tut er's nicht, werde ich ihn ein bißchen loben – dann muß er noch dieselbe Stunde die Koffer packen!
Das tu, Horst-Heinz!
Der Mensch ist nicht ganz frei von der Eigenschaft, seine Fehler andern Geschöpfen anzudichten: an der Geschichte vom Vogel Strauß, der aus Furcht den Kopf in den Sand steckt, soll kein wahres Wort sein; dafür ist es bestimmt wahr, daß mancher Mensch vor der nahenden Gefahr die Augen schließt und dann behauptet, sie sei nicht da.
Inspektor Meier hatte nach dem Abgang von Frau Hartig nur darum Licht gemacht, weil er sich etwas zu trinken suchen wollte. Der ganz verduhnte Schädel, der Reinfall beim alten Geheimrat (auf dessen Wohlwollen er immer gerechnet hatte), die nahende Rächerin Amanda – all dies rief bei ihm nichts anderes wach als den Wunsch nach Trinken. Er wollte ›eben an den ganzen Dreck nicht mehr denken‹.
Nachdem er die Fenster gegen einen Überfall Amandas gesichert hatte, stand er einen Augenblick still in seinem recht wüst aussehenden Zimmer mit dem auseinandergewühlten Bett und den herumgestreuten Kleidungsstücken. Ebenso wüst sah es in seinem Schädel aus, dazu stach ein scharfer Schmerz von innen gegen die Stirn. Gedankenfetzen lösten sich aus dem Dunkel und waren vergangen, ehe er sie noch hatte erkennen können. Er wußte, er hatte nicht eigentlich etwas zu trinken auf der Bude, keinen Cognac, keinen Korn, keine Flasche Bier – aber wenn einem so war, wie ihm jetzt war, gab es immer etwas zu trinken, es mußte einem nur einfallen.
Er runzelte die Stirn von der Anstrengung des Denkens, aber ihm fiel nur ein, daß er noch einmal in den Gasthof gehen und sich eine Flasche Schnaps holen könnte. Er bewegte unmutig den Kopf. Das hatte er sich doch schon längst überlegt, daß er sich dort wegen der drohenden Rechnung nicht sehen lassen wollte. Außerdem hatte er nichts an – schon das alte, schlaue Aas, der Geheimrat, hatte das gemerkt. Die andern würden es auch merken, wenn er so zum Gasthof ging!
Er sah an sich herunter, er fing trübselig zu lächeln an. Ein schöner Dreck, so ein Kerl! Ein Leib für die Feuerzange!
Die Scham liegt nicht im Hemde – sagte er laut einen Satz, den er mal gehört und den er behalten hatte, weil er ihm jede Schamlosigkeit zu rechtfertigen schien.
Also aber – jetzt mußte er sein Hemd suchen, und er fing an, mit den Füßen die Kleider auf der Erde hin und her zu stoßen, in der Hoffnung, das Hemd würde zum Vorschein kommen. Aber es kam nicht hervor, statt dessen stieß er sich in die Sohle einen Splitter ein.
Schweinerei, elende, schimpfte er laut, und bei der Schweinerei fielen ihm die Schweine ein, bei den Schweinen aber die Viehapotheke auf dem Büro. Bei der Viehapotheke dachte er zuerst an Hoffmannstropfen. Aber die waren zu wenig, um sie mit Wirkung zu trinken, außerdem waren wahrscheinlich keine in der Apotheke!
Hoffmannstropfen – seit wann gab man denn den Schweinen Hoffmannstropfen –?!! Auf einem Stück Zucker, was?! Er mußte lachen bei dieser blöden Idee, sie war ja zu blöde, diese Idee!
Er drehte sich scharf um, Mißtrauen und Furcht im Gesicht. Hatte da jemand gelacht über ihn im Zimmer?! Es klang genau so, als hätte hier jemand über ihn gelacht! War er überhaupt allein? War die Kutschersche schon weggegangen? War die Amanda schon gekommen oder kam sie erst? Er sah sich langsam, stieläugig um – der Weg zwischen Sehen und Erkennen war so mühsam. Lange mußte er auf einen Gegenstand schauen, bis das Hirn meldete: ›Schrank!‹ Oder: ›Gardine!‹ –›Bett, keiner drin!‹ – Später: ›Auch keiner drunter!‹
Mühsam, langsam kam er auf das Ergebnis: es war wirklich keiner im Zimmer. Wie aber war es mit dem Büro? War da jemand drin und sah ihm zu? Die Tür zum Büro stand auf, der dunkle Raum nebenan war, als liege jemand auf der Lauer ... War die Außentür zum Büro überhaupt verschlossen? Die Gardinen zugezogen? O Gott, o Gott, soviel zu tun, soviel zu erledigen, sein Hemd hatte er auch noch immer nicht gefunden! Kam er denn nie ins Bett –?
Mit hastigen, torkelnden Schritten, nackt, ging Negermeier auf das Büro und rüttelte an der Außentür. Die Tür war zu, hatte er doch gewußt, auch die Gardinen waren zu. Wer erzählte solchen Quatsch?! Er schaltete das Licht ein und sah die Gardinen feindlich an – natürlich waren sie zu –, alles öder Schmus, nur gemacht, ihn reinzulegen. Die Gardinen waren zu und sie blieben zu – ihm sollte mal einer kommen und seine Gardinen anrühren! Seine Gardinen waren es, seine! Er konnte damit tun, was er wollte – wenn er sie jetzt runterriß, war es allein seine Sache!
In höchster Erregung machte er ein paar Schritte auf die unseligen Gardinen zu – und die Viehapotheke, ein braungestrichenes, fichtenes Schränkchen, geriet in sein Blickfeld.
Hallo! Da bist du ja! Na endlich! Negermeier grinste zufrieden. Der Schlüssel steckte, das Türchen hatte Parieren gelernt und ging auf den ersten Druck auf, und da haben wir ja, in zwei vollgestopften Fächern, den ganzen Salat. Ganz vorne an steht eine bräunliche Flasche, es steht auch was auf dem aufgeklebten Zettel – aber wer will solche Apothekerklaue lesen?! Na, die ist gedruckt, aber das ist derselbe Dreck!
Negermeier nimmt die Flasche, zieht den Stopfen und riecht in den Flaschenhals.
Er tut es gleich noch einmal. Hoch hinauf in die Nase zieht er den Ätherdampf, und so steht er da, während sein Leib leise zu zittern anfängt. Eine überirdische Klarheit dringt in sein Hirn, Erkenntnis und Einsicht, wie er sie nie gefühlt, erfüllen ihn – er atmet ein und atmet ein – das ist Seligkeit!
Sein Gesicht wird dabei immer schärfer, die Nase spitzer. Tiefe Falten furchen die Haut. Der Körper fängt an zu zittern. Aber er flüstert: Oh, ich verstehe alles! Alles! Die Welt ... Klarheit ... das Glück ... blau ...
Die Ätherflasche entfällt seinen zitternden Händen, hart schlägt sie auf den Boden und zerbricht. Er starrt darauf, noch berauscht. Dann geht er rasch zum Schalter, löscht das Licht im Büro, tritt in sein Zimmer, löscht wiederum das Licht, tastet sich auf sein Bett und wirft sich hin.
Er liegt bewegungslos, mit geschlossenen Augen, völlig dem Augenblick der lichten Figuren hingegeben, die sich in seinem Hirn bewegen. Die Gestalten werden blasser, grauer Nebel weht über sie hin. Von den Rändern des Hirns zieht Schwärze herbei, es wird dunkler und dunkler – plötzlich ist alles schwarz: Negermeier schläft.
Sie müssen doch wissen, wer den Schlüssel zum Hause hat, schilt der Leutnant ärgerlich.
Die drei stehen vor dem dunklen Beamtenhaus, der Diener Räder hat auf die Klinke gedrückt, aber die Haustür ist verschlossen.
Den Schlüssel hat natürlich der Herr Meier, sagt der Diener.
Es muß doch noch einen Schlüssel geben, beharrt der Leutnant.
Gnädiges Fräulein, wissen Sie nicht, wer einen zweiten Schlüssel hat?
Obwohl die Situation ganz eindeutig ist, bleibt der Leutnant dabei, Violet mit ›Gnädiges Fräulein‹ anzureden.
Den zweiten Schlüssel wird Papa haben, sagt Weio.
Und wo hat Ihr Vater die Schlüssel?
In Berlin! Auf eine ärgerliche Gebärde: Papa ist doch in Berlin, Fritz!
Er wird den Schlüssel zu dieser Bude doch nicht mit nach Berlin geschleppt haben! – Und ich muß in die Versammlung!
Wenn wir nachher gingen –!
Und unterdes rennt er mit dem Brief weiter! – Ist er überhaupt drinnen?
Ich weiß doch nicht! sagt der Diener Hubert gekränkt. Ich habe mit Herrn Meier nichts zu tun, Herr Leutnant!
Der Leutnant vergeht vor Ungeduld, Ärger, Wut. Immer diese verfluchten Weibergeschichten, die dazwischenkommen. Er kann bei dieser Sache Weiber absolut nicht brauchen! Und wie hilflos steht jetzt diese Weio dabei! Keine Spur anders als dieser saublöde Diener! Alles soll er allein machen! Was wird sie jetzt wieder fragen –?
Sie sagt: Oben steht ein Fenster offen, Fritz.
Er sieht nach oben. Wirklich, oben im Giebel steht ein Fenster offen!
Großartig, gnädiges Fräulein! Jetzt werden wir dem Herrn gleich einen kleinen Besuch machen. Sie, heh, junger Mann, ich heb Sie hier auf die Kastanie – von dem Ast kommen Sie leicht ins Fenster.
Doch der Diener Räder tritt zurück. Wenn das gnädige Fräulein verzeihen – aber ich möchte jetzt lieber nach Hause gehen.
Der Leutnant flucht: Seien Sie doch nicht albern, Mensch – wo das gnädige Fräulein dabei ist!
Ich bin Ihnen gerne behilflich gewesen, gnädiges Fräulein, sagt der Diener Räder mit unerschütterlicher Festigkeit und kennt und hört überhaupt keinen Leutnant, und ich hoffe, Sie werden es nicht vergessen. Aber jetzt muß ich wirklich ins Bett gehen ...
Ach, Hubert, bittet Weio, tun Sie mir doch den Gefallen! Wenn Sie uns die Haustür aufgeschlossen haben, können Sie sofort nach Hause gehen. Es ist doch nur ein Augenblick!
Es ist gewissermaßen eine strafbare Handlung, Verzeihung, gnädiges Fräulein, wendet der Diener bescheiden ein. Und eben standen zwei Frauen bei dem Dunghaufen. Ich möchte wirklich lieber ins Bett gehen ...
Ach, laß den albernen Kaffer doch gehen, Violet! ruft der Leutnant wütend. Der hat ja Schiß wie 'ne ganze Kompanie mit Ruhr! Ziehen Sie ab, Jüngling, und daß Sie sich nicht noch hier in den Büschen herumdrücken!
Ich danke auch vielmals, gnädiges Fräulein, sagt der Diener Räder mit unbeugsamer Höflichkeit. Ich wünsche dann eine gute Nacht.
Und sicheren, unerschütterlichen Schrittes (er kennt keinen Leutnant) verschwindet er um die Hausecke.
So ein Stiesel! schilt der Leutnant. Wahrhaftig, Violet, ich möchte einmal am Sonntag sein, was der sich die ganze Woche lang einbildet! – So, und nun hilf mir auf den Baum. Wenn der Stamm von der Nässe nicht so elend rutschig wäre, würde ich es ja auch allein schaffen. Aber ich denke, was dieser Idiot kann, kannst du auch ...
Während Weio ihrem Leutnant auf den Baum hilft, geht der Diener Räder, die Hände in den Taschen seines Jacketts, leise vor sich hin flötend, über den Gutshof. Er hat seine Augen überall, und so sieht er sehr gut die Gestalt, die im Schatten des Pferdestalls an ihm vorüber will.
Guten Abend, Fräulein Backs, grüßt er sehr höflich. Noch so spät unterwegs?
Sie sind ja auch noch unterwegs, Herr Räder! antwortet das Mädchen kriegerisch und bleibt stehen.
Ja, ich auch! sagt der Diener. Aber ich finde, jetzt ist es Zeit, ins Bett zu gehen. Wann stehen Sie denn morgens auf?
Aber Amanda Backs überhört seine Frage. Wo ist denn das gnädige Fräulein mit dem Herrn hingegangen, Herr Räder? fragt sie neugierig.
Alles nach der Reihe! sagt der unjugendliche Hubert erzieherisch. Ich hatte Sie gefragt, wann Sie morgens aufstehen, Fräulein Backs?
Wäre die Amanda kein echtes Weib gewesen, so hätte sie geantwortet ›Um fünf‹ und hätte dann die Beantwortung ihrer Frage verlangen können. Nun aber sagt sie: Das kann Sie doch gar nicht interessieren, Herr Räder, wann ich aufstehe! und macht dadurch die Debatte uferlos.
Aber schließlich, nach längerem Hin- und Herreden, erfährt Herr Räder dann, daß Amandas Aufstehzeit sich nach dem Sonnenaufgang richtet, weil die Hühner mit Sonnenaufgang wach werden. Und er hört, daß jetzt im Juli die Sonne so um viere aufgeht und daß Amanda also spätestens um fünf draußen sein muß.
Er findet, daß dies ziemlich früh ist, er selbst steht erst um sechs, ja, oft noch später auf.
Ja, Sie! sagt Amanda ziemlich verächtlich, denn im Grunde ist ein Mann, der Zimmer reinmacht, verächtlich. Und nun meint er, sie solle jetzt lieber schlafen gehen.
Und wo ist das gnädige Fräulein mit dem Herrn so spät noch hingegangen? fragt Amanda recht spitz dagegen. Die ist doch erst fünfzehn, die müßte doch längst im Bett liegen!
Ja, das weiß ich nicht, wann das gnädige Fräulein ins Bett geht, sagt Räder. Das ist, wohl verschieden!
Amanda gibt es noch nicht auf. Und was war das eigentlich für ein Herr, Herr Räder? Den kenn ich doch gar nicht.
Aber der Diener Räder ist der Ansicht, er hat seine Pflicht getan. Das gnädige Fräulein muß mit ihrem Leutnant jetzt im Haus sein. Mehr kann er nicht tun, sie vor Spionen zu schützen.
Nein, den Herrn kennen Sie wohl nicht, bestätigt er. Es kommen eben sehr viele Herren zu uns. – Also gute Nacht!
Und ehe Amanda noch eine neue Frage stellen kann, ist er weitergegangen. Sie starrt ihm ärgerlich nach, ehe sie sich entschließt, nach Hause zu gehen. So schlau er ist, der junge Räder, in ihr ist doch das Gefühl aufgekommen, daß er sie an der Nase herumgeführt hat. Und da der Herr Räder ein ganz Eingebildeter ist, der sonst nie mit ihr redet, wird er sie schon nicht umsonst, so ganz ohne Zweck, genasführt haben. Da steckt etwas dahinter!
Gedankenvoll geht Amanda weiter. Sie verläßt den Hof, biegt um die Ecke des dunklen Inspektorenhauses und bleibt überlegend vor den Fenstern ihres Freundes stehen.
Vorhin standen die Fenster offen, dann schloß er sie. Vorhin aber, als sie einen Augenblick vom Hof hinübersah, brannte Licht in dem Fenster, jetzt brennt kein Licht mehr. Amanda sagt sich, daß dies alles völlig in Ordnung ist, daß ihr Hänsecken jetzt schläft, daß man einen duhnen Mann am besten schlafen läßt und daß dies Schlafenlassen grade auch im Hinblick auf die Aussprache mit der Hartig das Beste ist, was sie tun kann. Es hat wirklich keinen Sinn, diese Sache noch einmal umzurühren – so was liegt ihr gar nicht. Die Hartig läßt sich nicht wieder mit dem Hänsecken ein – davon ist Amanda fest überzeugt.
Also könnte sie ihn schlafen lassen und könnte selber auch schlafen gehen, brauchen kann sie Schlaf auch – und feste! Aber es juckt ihr so in den Fingern, ihr ist so komisch, das Bett winkt noch gar nicht, wenn sie sich auch nach ihm sehnt. Sie weiß doch sonst, was sie will, aber jetzt, obwohl sie ihn schlafen lassen möchte, würde sie doch auch gerne mit den Fingern gegen die Scheiben trommeln, bloß um seine wütende, verschlafene Stimme zu hören, um zu wissen, es ist alles in Ordnung ... Ihr ist so, ihr ist auch wieder anders ...
›Ach was! Ich trommel eben einfach!‹ beschließt sie grade bei sich. Da sieht sie in dem Zimmer von Hänsecken einen kleinen, runden weißen Lichtschein, wie von einer Taschenlampe. Ganz unwillkürlich tritt sie schnell zur Seite, obwohl sie bei dem Lichtschein gesehen hat, daß die Gardinen vorgezogen sind. Genau so ein Lichtschein war vorhin auf sie gerichtet, als sie mit der Hartig beim Misthaufen stand. Genau so einer!
Sie steht überlegend da, sie zerbricht sich den Kopf, was die elektrische Taschenlampe, das gnädige Fräulein und der unbekannte Herr so spät und so heimlich im Zimmer ihres Hänsecken zu suchen haben. Sie sieht den Lichtschein wandern, ausgehen, wieder aufleuchten, wieder wandern ...
Aber sie ist nicht die Person danach, lange tatenlos vor einem Fenster zu stehen und zu grübeln. Rasch geht sie zur Haustür und drückt vorsichtig auf die Klinke. Als sie sich mit der Schulter gegen die Tür lehnt, gibt sie nach.
Leise tritt Amanda auf den dunklen Flur und zieht die Haustür wieder hinter sich zu.
Über die Giebelstube und die Bodentreppe war der Leutnant bis auf den dunklen Flur des Inspektorenhauses gelangt. Ein Aufleuchten seiner Taschenlampe zeigt ihm, daß der Schlüssel gottlob innen in der Haustür steckte – er schloß auf, und Weio huschte zu ihm herein.
Zwar war die Bürotür verschlossen, aber hier wußte Violet Bescheid: der Doppelschlüssel lag in dem blechernen Briefkästchen an der Bürotür, das sich leicht aufdrücken ließ – eine für Meier bequeme Regelung, so brauchte er morgens nicht aufzustehen, wenn sich der Hofmeister die Stallschlüssel aus dem Büro holte. Die beiden traten in das Büro. Hier roch es betäubend, der Leutnant leuchtete die Flaschenreste an und sagte: Chloroform oder Alkohol – er wird sich doch nichts angetan haben, der Kerl? Tritt nicht in die Scherben, Violet!
Nein, er hatte sich nichts angetan. Schon das Gehör meldete es: Negermeier schnarchte und röchelte, daß es einen grausen konnte. Violet legte ihre Hand um den Arm des Freundes und fühlte sich nun in diesem wüsten, stinkenden, schwülen Zimmer geboren.
Mehr noch: sie fand diesen ganzen nächtlichen Ausflug, diesen Aufstand um einen Brief von ihr ›fabelhaft interessant‹ und den Fritz ›unerhört schneidig‹! Sie war fünfzehn, ihr Lebensappetit war groß und Neulohe unerhört langweilig. Der Leutnant, von dessen Existenz ihre Eltern nichts wußten, den sie selbst nur beim Vornamen kannte, den sie auf ihren Gängen durch den Forst getroffen und der ihr auf den ersten Blick gefallen hatte, dieser eilige, oft völlig geistesabwesende, meist kühle und schnoddrige Mann, aus dessen Kühlheit es ab und an, immer überraschend, wie verzehrendes Feuer brach – dieser Leutnant schien ihr der Inbegriff aller Männlichkeit, wortlosen Heldentums ...
Er war völlig anders als alle Männer, die sie je kennengelernt hatte. Wenn er auch Offizier war, so ähnelte er doch in keiner Weise den Offizieren der Reichswehr, die sie auf den Bällen in Ostade und Frankfurt zum Tanz aufgefordert hatten. Immer hatten sie sie mit äußerster Höflichkeit behandelt, stets war sie das ›Gnädige Fräulein‹ gewesen, mit dem ernst und unverbindlich von Jagd, Pferden und allenfalls noch von der Ernte geplaudert wurde.
Beim Leutnant Fritz hatte sie nichts von Höflichkeit zu spüren bekommen. Er war durch den Wald mit ihr gebummelt, darauf losschwatzend, als sei sie irgendein Mädel; er hatte ihren Arm genommen und sie untergefaßt, und hatte ihn wieder losgelassen, als sei dies keine Gunst gewesen. Er hatte ihr sein verbeultes Zigarettenetui mit einem gleichgültigen Bitte hingereicht, als verstehe sich das streng verbotene Rauchen von selbst, und dann hatte er sie beim Anbrennen der Zigarette beim Kopf genommen und abgeküßt – ganz so, als gehöre das dazu ... Stell dich bloß nicht an! hatte er gelacht. Mädels, die sich anstellen, finde ich einfach widerlich!
Sie wollte nicht, daß er sie ›einfach widerlich‹ fand.
Man kann einen jungen Menschen vor Gefahren warnen und vielleicht sogar vor ihnen beschützen – aber wie ist es mit den Gefahren, die wie der liebe Alltag, wie die selbstverständlichste Sache von der Welt, die gar nicht wie Gefahren aussehen –?! Violet hatte beim Leutnant Fritz nie so recht das Gefühl, etwas wirklich Verbotenes zu tun, ernstlich in Gefahr zu sein. Damals, als es geschah und doch etwas wie ein instinktives Wehren, ein panischer Schrecken sie überkommen wollten, hatte er so ehrlich empört gesagt: Ich bitte dich, Violet, mach bloß keine Geschichten! Ich kann diese alberne, gänsische Anstellerei auf den Tod nicht ausstehen! Glaubst du, irgendeinem Mädchen geht es anders?! Dazu bist du doch da auf der Welt! Also bitte –!
› Dazu bin ich da?!‹ – hätte sie fragen mögen, aber dann wußte sie, sie war bloß dumm. Sie hätte sich geschämt, nicht zu tun, was er wollte. Grade, weil er so wenig Wert auf sie legte, weil seine Besuche so unregelmäßig und kurz waren, grade, weil all seine Versprechungen so unzuverlässig waren (Ich wollte Freitag hier sein? Sei bloß nicht albern, Violet, ich habe doch wahrhaftig noch an anderes zu denken als an dich!), grade, weil er nie höflich zu ihr war, grade darum war sie ihm fast ohne Widerstand verfallen.
Er war so anders. Geheimnis und Abenteuer umwitterten ihn. All seine Fehler wurden ihr zu Vorzügen, weil die andern sie nicht besaßen. Seine Kälte, seine plötzliche Gier, die ebenso rasch erlosch, seine unverbindlichen Formen, die nur auf der Haut saßen, sein völliger Mangel an Achtung vor irgend etwas auf der Welt – für sie war das alles Sachlichkeit, wahnsinnige Liebe, Männlichkeit!
Was er tat, war richtig. Dieser windige Bursche, der mit einem unverbindlichen Auftrag, das Landvolk für alle Fälle zu mobilisieren, im Land herumfuhr, dieser kalte Abenteurer, dem es nicht um das Ziel des Kampfes ging, sondern nur um den Kampf, dieser Landsknecht, der für gleichviel welche Partei gekämpft hätte, wenn es nur Unruhe gab – denn er liebte die Unruhe und haßte die Ruhe, in der er sofort leer dasaß, ausgehöhlt, nicht mehr wußte, was mit sich anfangen – dieser schneidige Hans in allen Gassen, er war der Held!
Und er hätte eine Welt in Brand stecken können – er blieb der Held für sie!
Wie er jetzt die Taschenlampe in der Hand, ihre leicht bebenden Finger um den Oberarm, das zerwühlte Bett anleuchtet mit dem nackten Mann darauf, wie er gleichgültig zu ihr sagt: Sieh besser weg, Violet! und eine Decke über den Nackten zieht; wie er knurrt: Schwein! und sie dann auf einen Stuhl neben dem Bett hinsitzen heißt: Paß auf, ob er wach wird! Ich seh schnell mal seine Sachen durch! – diese Kameraderei, die Lumperei ist, die Rücksichtslosigkeit, Mangel an Achtung, Roheit kaum verbirgt – alles findet sie herrlich!
Sie sitzt auf ihrem Stuhl, es ist fast völlig dunkel, der Mond dringt kaum durch die graugelben Gardinen. Der im Bett röchelt, schnarcht, stöhnt, sie kann ihn nicht sehen, aber nun wirft er sich hin und her, als spüre er im Schlaf die Feinde. Der hinter ihr arbeitet zwischen den Sachen, er flucht halblaut; es ist schwer, mit einer Taschenlampe in der Hand in einem unbekannten Zimmer etwas zu finden. Er raschelt, stößt an Stühle, plötzlich tanzt der Lichtschein gegen das Fenster und erlischt. Nun geht das Rascheln wieder los ...
Jawohl, sie muß abends rechtzeitig im Bett liegen, gelegentlich darf sie auch mal auf einen Ball bis elf, spätestens zwölf Uhr mit, oder mit Sondererlaubnis, von Förster und Diener begleitet, auf den Anstand gehen. Nachmittags spricht einen Tag um den andern die Mama französisch und englisch mit ihr –: Damit du auf dem laufenden bleibst, Weio! Du wirst später eine Rolle in der Gesellschaft spielen müssen – anders als deine Mama, die nur eine Pächtersfrau ist! – Oh, wie verblasen, wie verlogen, wie flach kommt ihr die Welt zu Hause vor! Hier sitzt sie in dem stinkenden Inspektorenzimmer, das Leben schmeckt nach Blut und Brot und Dreck. Es ist keineswegs, wie Eltern, Lehrerinnen, Pastoren behaupteten, eine sachte, freundliche, höfliche Angelegenheit, dunkel ist es ... ein wundervolles Dunkel ...
Und aus dem Dunkel kommt ein Mund mit schimmernd weißen Zähnen, die Eckzähne sind spitz; die Lippen sind schmal, trocken, so frech – o Mund, Männermund zum Küssen, Raubtierzähne zum Beißen! Aus dem Dunkel, mir entgegen –!
Die Eltern, die Großeltern, Alt- wie Neulohe, Ostade mit der Garnison, der Herbstmarkt in Frankfurt an der Oder, das Café Kranzler in Berlin enge Welt, hörige Welt, die ewig stille steht. Man sitzt an einem Marmortischchen, der Ober verbeugt sich, Papa und Mama diskutieren, ob die höhere Tochter noch einen Windbeutel mit Schlagsahne verträgt, der freche Kerl am Nebentisch fixiert sie, und die höhere Tochter schaut weg – geordnete Welt, die es schon längst nicht mehr gibt, stehengebliebene Ruine!
Denn ein anderes Leben ist hereingebrochen, in dem all das nicht mehr gilt, es jagt, glostet, blitzt – oh, unendliches Feuer, geheimnisvolle Abenteuer, herrliches Dunkel, in dem man nackt sein darf ohne Scham! Arme Mama, die dies nie kennengelernt hat! Armer Papa – so alt mit deinen weißen Schläfen! Ich lebe, ich taumle, ich tanze – Wege über Wege, und welche Leichtigkeit, sie entlang zu wirbeln, immer neue Wege, stets andere Abenteuer! Dummer, häßlicher Negermeier, zu nichts gut, als eine Viertelstunde ein bißchen Prickeln zu verschaffen, und lange, schwer gestraft zu werden!
Ist das der Wisch? fragte der Leutnant und leuchtet einen feuchten, verschmierten Lappen an. Der Kerl hat ihn in Schnaps ersäuft!
Oh, bitte, gib ihn mir! ruft sie, die sich plötzlich ihrer verstiegenen Schreiberei schämt.
Aber er: Danke, nein, Kindchen! Daß du ihn noch mal auf Reisen schickst, und ich kann hinterherlaufen! – Er hat ihn schon in der Tasche. – Und das sage ich dir, Violet, du schreibst mir nicht noch einmal! Nie! Kein Wort!
Ich hatte doch solche Sehnsucht nach dir! ruft sie und wirft die Arme um seinen Hals.
Ja, natürlich. Versteh ich, verstehe alles. – Sag mal, du führst doch kein Tagebuch?
Ich –? Wieso –? Ein Tagebuch –? Nein, natürlich nicht!
Na –! Ich glaube, du sohlst! Ich werde einmal dein Zimmer revidieren müssen!
O ja! Bitte!! Bitte!! Bitte, Fritz, komm einmal in mein Zimmer, es wäre herrlich von dir, wenn du einmal in meinem Zimmer gewesen wärst.
Schön! Schön! Das läßt sich schon mal einrichten! Aber jetzt muß ich schnell machen, in die Versammlung, die werden schon schimpfen!
Heute – kommst du heute noch zu mir? Nach der Versammlung? Oh, bitte, Fritz, tu es!
Heute? Ist doch ausgeschlossen! Ich muß doch nach der Versammlung noch einmal hierher – mit dem Kerl quatschen, hören, ob er nicht noch andern von dem Brief erzählt hat ...
Er denkt nach.
Ja, Fritz, gib ihm ordentlich was aufs Dach! Er muß Angst haben, sonst redet er alles weiter. Er ist zu ekelhaft und gemein ...
Und du selbst hast ihn mir als Boten empfohlen! Aber der Leutnant fängt sich, bricht ab. Es hat keinen Zweck, den Frauen einen gemachten Fehler vorzuhalten, mit ihnen einen Streit anzufangen. Das wird immer gleich uferlos. Dem Leutnant ist ein anderer, viel schrecklicherer Gedanke gekommen. Der da kann nicht nur über den Brief quatschen; er weiß ja noch anderes, vielleicht hat Kniebusch nicht dicht gehalten ...
Nein, ich muß nachher unbedingt mit ihm sprechen! sagt er noch einmal.
Es ist, als hätte sie ihn erraten. Und was tust du dann mit ihm, Fritz?! Wenn er euch verrät –?
Der Leutnant steht ganz still. Selbst diese kleine, dumme Gans ist auf den Gedanken gekommen, hat die Gefahr gefühlt, von der die ›Sache‹ immer bedroht ist, die alle fürchten: Verrat. Es wird ja schon kaum etwas gesagt, außer dem engsten Kreis weiß kaum einer genau, um was es geht, was man vorhat. Man macht eine Andeutung, allgemeine Redensarten. Unzufriedenheit, Haß, Verzweiflung gibt es genug auf dem Lande. Die Banknotenpresse in Berlin schleudert mit jeder neuen Woge Papiergeld eine neue Woge Erbitterung ins Land – da genügen ein paar Worte, das verhaltene Geklirr von Waffen ... fast nichts!
Aber einer braucht gar nicht so helle zu sein, einer braucht gar nicht viel zu wissen, es genügt schon, wenn er dem Landrat erzählt: da fährt jemand im Land herum und putscht bei den Leuten. Er hat heute sogar gehört, daß die Waffen gezählt werden sollen im Dorf ...
Der Leutnant läßt den Schein seiner Lampe auf das Gesicht des Schläfers fallen – es ist kein gutes Gesicht, keines, dem man trauen kann. Er hatte schon den richtigen Instinkt, als er diesen Burschen nicht dabei haben wollte.. Aber da war diese Violet. Sie hatte ihn vorgeschlagen, er wäre ein so bequemer, unauffälliger Bote zwischen ihnen gewesen. Er allein hatte immer Zutritt zum Haus des Rittmeisters und war immer auf den Feldern, im Wald zu treffen ... Und beim ersten Botenweg ging die Sache schief! Ewig diese Weibergeschichten – immer mußte dieses langhaarige Gesindel dazwischen kommen! Nichts hatten sie im Kopf als ihre sogenannte Liebe!
Der Leutnant dreht sich kurz um und sagt böse: Du gehst jetzt auf der Stelle ins Bett, Violet!
Sie ist ganz erschrocken über seinen Ton. Aber Fritz, ich wollte doch hier auf dich warten! Und dann muß ich doch auch noch mit dem Förster sprechen, wegen des Bocks ...
Hier –? Mach dich bloß nicht lächerlich! Wie denkst du dir das, wenn der Kerl aufwacht, oder jemand kommt hier rein ...
Aber Fritz, was willst du denn machen?! Wenn er nun aufwacht und er merkt, sein Brief ist weg, meinen Brief meine ich, und er hat eine Wut auf uns und läuft los und erzählt alles dem Großpapa oder Mama ...
Also, bitte, höre schon auf, Violet! Bitte!! Das werde ich alles regeln. Ich knöpfe ihn mir nach der Versammlung vor – und gründlich, das kann ich dir sagen –!
Aber wenn er vorher wegläuft –?!
Er läuft nicht weg! Er ist doch besoffen!!
Wenn er aber vorher wegläuft –?!
Himmelherrgott, halte jetzt den Mund, Violet! schreit der Leutnant fast. Und da er selbst einen Schreck bekommen hat, flüsternd: Also, bitte, sei jetzt vernünftig. Hier kannst du unmöglich warten. Paß meinethalben vor dem Hause auf – ich bin in einer guten Stunde wieder hier.
Sie gehen zusammen. Sie tasten sich durch den dunklen Raum, über den dunklen Flur. Nun sind sie wieder draußen.
Es ist Nacht, Vollmondnacht, friedlich, die Luft ist sehr warm.
Verdammter Mond! Jeder kann uns sehen! Geh dort in die Büsche. Also in einer Stunde ...
Fritz! Ihm nachrufend: Fritz!
Was denn? Willst du wohl ruhig sein?!
Fritz –! Gar keinen Kuß –?? Nicht einen Kuß?!
O verdammt! O verflucht! Und laut: Nachher, mein Kind, nachher holen wir alles nach.
Der Kies knirscht. Der Leutnant ist fort. Violet von Prackwitz steht in den Büschen, wo auch Amanda Backs stand. Wie diese hat sie die Augen auf die Fenster des Inspektorenhauses gerichtet. Ein bißchen ist sie enttäuscht – aber doch auch wieder stolz auf dieses Postenstehen.
Der Förster Kniebusch wanderte langsam, den Drilling auf dem Rücken, durch den nächtlichen Wald. Der Vollmond war schon ziemlich hoch, aber hier unten, zwischen den Stämmen, machte sein Schein die Sicht nur noch ungewisser. Der Förster kannte den Wald, wie ein Städter seine Wohnung kennt; zu allen Tages- und Nachtstunden war er hier schon gegangen. Er kannte jeden Knick des Weges, jeden Wacholderbusch, der – geisternd wie ein gespenstischer Mann – zwischen den hohen Kiefernstämmen auftauchte. Er wußte, das Rascheln eben kam von einem Igel, der auf der Mäusejagd war – aber wenn ihm auch alles vertraut und bekannt war – jetzt ging er nicht gerne durch den Wald.
Der Wald war derselbe geblieben, seit eh und je, aber die Zeiten waren anders geworden, und mit den Zeiten die Menschen. Jawohl, auch früher hatte es Holzdiebe gegeben. Doch das waren immer die gleichen, fragwürdigen Gestalten gewesen, deren Erwerb dunkel und deren Ruf noch dunkler war. Man hatte sie gefaßt, sie waren, wie sie waren, und weil sie so waren, wanderten sie ab ins Kaschott. Man hatte es nicht nötig, sich über sie zu ärgern, am Ende hatten sie stets den Ärger und den Schaden von ihrer Dieberei.
Aber hatte es das früher gegeben, daß ein ganzes Dorf, Mann bei Mann und Haus bei Haus, Holz stehlen gegangen war? Man lief und paßte auf und ärgerte sich zu Tode, und erwischte man schließlich einen, so wurde daraus entweder eine Angst vor Rache oder eine Scham, daß solch ein Mann unter die Diebe gegangen war.
In den Jugendtagen des Försters Kniebusch, während seiner ersten Dienstjahre in der Neuloher Forst, hatte es hier auch einen berüchtigten Wilddieb gegeben: den Müller-Thomas, der sich nachher in der Zelle des Meienburger Zuchthauses erhängte. Es hatte einen langen Krieg auf Leben und Tod mit dem Kerl gegeben; List hatte gegen List und Gewalt gegen Gewalt gekämpft, aber es war doch ein Kampf irgendwie mit gleichen Mitteln gewesen ... Heute gingen sie ja gar rudelweise mit Armeepistolen und Karabinern auf die ›Jagd‹! Sie trieben das Wild hoch, wo sie es fanden, sie schonten kein tragendes, kein säugendes Muttertier – sie schossen auf Fasanen, ja, auf Feldhühner mit der Kugel! Wenn es ihnen noch auf die Jagd angekommen wäre wie dem Müller-Thomas oder auf den Braten zur Stillung ihres Hungers – aber sie mordeten einfach aus Mordlust, Mörder, die sie waren – Mörder und Verderber!
Der alte Mann ist jetzt aus dem Hochwald heraus, er geht auf einer schmalen Schneise zwischen Fichtenschonungen. Die Bäumchen sind fünfzehn Jahre alt, sie hätten schon seit zwei, drei Jahren durchforstet werden müssen – aber es sind ja keine Leute zu bekommen! So ist aus den Schonungen eine unsägliche Dickung geworden, ein Gesperr und Gestachel von Zweigen, umgebrochenen Stämmen, die Kreuz und Quere – selbst bei Tage kann man keine drei Meter weit hineinschauen! Jetzt im Mondlicht steht das da wie eine schwarze Wand ... Wer einen Feind hat, der hier des Weges kommt, braucht sich nur hineinzusetzen in diese Dickung, er kann seinen Mann überhaupt nicht verfehlen!
Der Förster sagt sich umsonst, daß keiner erwarten kann, ihn diese Schneise entlangkommen zu sehen; es ist ein Pirschgang ganz außer der Reihe, und wenn er seinen Mund gehalten hätte, würde es auch diesen Pirschgang nicht gegeben haben! Es kann ihm gar keiner in dem Gekuschel auflauern!
Und doch geht er leiser. Er weiß, wo der moosige Grasstreifen läuft, auf dem sich so sachte gehen läßt, und wenn doch ein Zweiglein unter seinen Tritten knackt, so bleibt er stehen und lauscht und sein Herz klopft. Er hat die Pfeife längst in die Tasche gesteckt, denn man kann Tabak weit riechen im Wald. Er hält den Drilling schußfertig, denn auch ein unsicherer Schuß ist besser als keiner. Er ist ein sehr alter Mann, er hätte sich gerne längst zur Ruhe gesetzt. Aber das hat nicht sein können, nun muß er nachts zwischen den Fichtenschonungen laufen, weil ein dummes, junges Mädel nicht auf ihr Herz und ihre Briefe passen kann. Es ist ein ganz unsinniger Weg, er bekommt den Bock doch nicht vor die Büchse. Und bekommt er ihn vor die Büchse, trifft er ihn nicht. Und legt er ihn doch auf die Decke, ist es auch egal – die gnädige Frau nicht, der Herr Rittmeister nicht, keines würde sich darüber gewundert haben, wenn das Fräulein Violet erzählt hätte: ihr Pirschgang war umsonst. ›Siehst du wohl!‹ würde der Rittmeister höchstens gesagt haben. ›Wärest du schlauer im Bett geblieben, Weio!‹ Und würde sie nur ein bißchen ausgelacht haben.
Aber nein, daran dachten sie nicht. Sie schickten ihn wirklich los auf diesen Bock, er mußte laufen, während die drei die Geschichte mit dem verfluchten Kerl, dem Inspektor Meier, in Ordnung brachten! Wem verdankten sie denn all ihre Wissenschaft? Doch nur ihm allein! Wer hatte diesen pampigen, windigen Leutnant beim Schulzen Haase herausgeholt? Doch nur er allein! Und da sagte dieser junge Schnösel ganz hochnäsig: Sie können wir hier nicht brauchen, Kniebusch. Sie gehen und schießen den Bock! Aber daß Sie mir hier nicht zwischen den Büschen Eselsohren machen! Ich fahre mit Ihnen Schlitten, Herr!
Fräulein Violet hatte dabeigestanden, sie hatte jedes Wort dieser hochfahrenden Rede gehört. Es hätte ihr wohlangestanden, ein bißchen dankbar zu sein, aber nein, sie hatte nur gesagt: Ja, tun Sie das, Kniebusch, und geben Sie sich ein bißchen Mühe, damit ich Papa morgen etwas zu zeigen habe!
Da blieb nichts übrig, als Jawohl, gnädiges Fräulein zu sagen, und kehrt Marsch in die Wälder! So würde man nie richtig zu erfahren bekommen, was in dieser Nacht mit dem Feldinspektor Meier geschah! Der würde bestimmt nicht den Mund auftun, der Diener Räder würde auch dichthalten, der Leutnant war morgen schon wie weggeblasen, und das gnädige Fräulein war auch nicht für Erzählen, so gerne sie sich etwas erzählen ließ.
Was schaute also heraus bei dieser so genau überlegten Angeberei, die soviel hatte einbringen sollen?! Ein nächtlicher Pirschgang durch den Wald und der ewige Haß des kleinen Meier! Und der konnte eine richtige Giftkröte sein, wenn er wütend war!!!
Der Förster Kniebusch bleibt leise seufzend stehen, er trocknet sich die Stirn – es ist heiß, sehr heiß! Aber es ist nicht die schwüle, regendampfende Hitze der stehenden Luft hier im Wald, die ihm so warm macht, es ist der Ärger über sich selbst, der ihn erhitzt. Zum tausendsten-, zum zehntausendstenmal in seinem Leben nimmt er sich fest vor, nichts mehr zu sehen und zu hören, was ihn nichts angeht, nichts mehr zu reden von dem, was er doch etwa erfährt. Nur noch seinen Weg für sich zu gehen, die paar Jahre, die er noch das Leben hat, nicht mehr klug und weise und schlau und vorausberechnend zu sein – nichts mehr!
Wie um einen Punkt unter diesen unverrückbaren Entschluß zu setzen, wie das Amen in der Kirche, hallt plötzlich ein Schuß durch den Wald!
Der Förster fährt zusammen, er steht da und horcht, ohne den Fuß zu rühren. Es war ein Büchsenschuß: der Knall war scharf wie ein Peitschenknall. Und es war der Büchsenschuß eines Wilddiebes – denn wer sonst soll um diese Zeit noch im Wald unterwegs sein –?
Dies beides ist sicher, aber nicht ganz so sicher kann der Förster die Richtung bestimmen, aus der der Schuß kam. Die hohe Waldwand rings um die Schonung wirft den Schall hierher und dorthin, sie spielt Ball mit ihm. Doch möchte der Förster fast schwören darauf, daß der Schall von dort kam, wohin der Förster unterwegs ist: vom Seradellaschlag des Schulzen Haase! Wo der Sechser sich äste! Ein anderer hatte auf den Bock des gnädigen Fräuleins geschossen!!
Der Förster steht noch immer auf dem gleichen Fleck, auf dem er stand, als der Schuß fiel. Er hat es nicht eilig, innen ist er ganz stahlhart vor Entschlossenheit. Er ist ein Mann, er tut genau das, was er will – sonst nichts! Langsam hängt er den Drilling über die Schulter, langsam zieht er die halblange Pfeife aus der Tasche. Er stopft sie und läßt – nach einem kurzen Zögern – das Streichholz aufflammen. Er zieht kräftig, drückt dann das Streichholz zwischen den Kuppen von Daumen und Zeigefinger aus, klappt, den Tabak noch einmal vorsichtig andrückend, den Nickeldeckel der Pfeife zu, und setzt sich in Marsch. Zielbewußt, stahlhart vor Entschlossenheit, entfernt er sich Schritt für Schritt von dem Punkt, auf dem der Schuß gefallen ist! Was dich nicht brennt, das blase nicht. Punktum. Amen.
Nun ist es doch aber so, daß manche Menschen geradezu von Neuigkeiten verfolgt werden, sie mögen wollen oder nicht, während andere durchs Leben wandern und von nichts was hören. Sie bekommen das Brot immer erst, wenn es altbacken ist. Genau besehen hatte der Förster schon am Nachmittag nicht das geringste dazu getan, Wissenschaft vom Brief des gnädigen Fräuleins zu bekommen. Im Gegenteil, er hatte das Meiersche Geschwätz mit Abscheu zurückgewiesen, er hatte von dieser ekelhaften Prahlerei nichts hören wollen – und schon erfuhr er alles über den Brief!
Der Förster, der sich so gemütlich schmauchend vom Wilddieb entfernt, der alte Kniebusch, der über seine eigene Schlauheit grinsend, recht geruhig die ungefährlicheren Partien des Waldes so langsam zu begehen entschlossen ist, bis er völlig glaubhaft versichern kann, alle Mühe und alle geduldige Ansitz seien umsonst gewesen, es war kein Bock zu schießen, dieser alte Angstmeier Kniebusch war verurteilt, doch seinen Bock zu schießen – und nun gar ohne Büchse!
Die Neuigkeit, von der er sich so eifrig fortpirschte, kam leise und eilig den Hohlweg zwischen den hohen Tannen, den kein Mondstrahl erhellen konnte, hinuntergeradelt. Der Förster ging schmauchend den Hohlweg hinauf.
Der Anprall war heftig. Aber während für den alten Förster Kniebusch weicher Sand genug dalag, seine alten Knochen zu schonen, hatte auf den Radler ein kräftiger Steinbrocken gewartet: er schlug erst mit der Schulter dagegen, was ihm einen kräftigen Fluch entlockte, trotzdem er noch gar nicht wußte, daß sein Schlüsselbein in diesem Augenblick brach. Dann schrammte er mit seiner Backe auf der recht körnigen Außenseite des Steines entlang. Die Haut ging davon ab, und das rohe Fleisch brannte wie Feuer. Aber das spürte der gestürzte Radler kaum noch, denn unterdes hatte seine Schläfe mit einer vorspringenden, scharfkantigen Steinwulst Bekanntschaft geschlossen – und eine Schläfe ist genauso empfindlich wie der Schlaf: von rauhen Störungen sind beide leicht verletzt. Der Radler sagte noch einmal, schon ganz geistesabwesend: Uch, und ward nicht mehr gehört.
Der brave Förster Kniebusch saß im Sand und rieb sich sein Dickbein, das die Hauptsache von dem Zusammenprall abbekommen hatte. Er hätte gerne gesehen, daß der andere auf sein Rad gestiegen und weitergefahren wäre, er, der Kniebusch hätte keinen Einspruch erhoben und keine Fragen gestellt, so stahlhart war sein Entschluß, sich nicht mehr einzumengen.
Er spähte in der Dunkelheit nach dem andern. Da es aber in der Schlucht zwischen den Tannen viel zu dunkel war, überhaupt irgend etwas zu sehen (nur einer, der den Wald wie seine Tasche kannte, durfte es wagen, diesen pechrabenschwarzen Hohlweg hinunterzuradeln!), so bildete sich der Förster allmählich ein, er sähe was. Was er aber zu sehen meinte, war eine dunkle Gestalt, die ebenso wie er im Sande saß und sich den Leib rieb.
Der Förster Kniebusch saß also still und spähte. Er war jetzt ganz sicher, daß der andere auch saß und spähte, daß der andere auch saß und nur auf sein Fortgehen wartete. Zuerst war der Förster unentschlossen, dann aber überlegte er sich den Fall und erkannte: der andere hatte recht. Er als die Behörde gewissermaßen mußte zuerst gehen und dadurch zum Ausdruck bringen, daß er auf die Verfolgung des Falles verzichtete.
Langsam, leise und vorsichtig stand der Förster auf, immer den schwarzen Fleck genau im Auge behaltend. Er machte ein Schrittchen, noch ein Schrittchen – doch beim dritten Schrittchen kam er ein zweites Mal zu Fall, und natürlich gerade über den Mann, von dem er fortging. Der schwarze Fleck war gar nichts gewesen; direkt neben seine allerneueste Neuigkeit setzte sich der Förster, ja, teilweise sogar darauf!
Er wäre gerne gleich wieder hochgefahren und losgelaufen, aber er hatte sich in den Rahmen des gestürzten Fahrrades gesetzt, und das hatte mit Kleidern, Pedalen, Kette, Büchsenriemen und Satteltasche einige Verwirrung gegeben, ganz abgesehen von dem Schmerz, den das hastige Niedersitzen auf die dünnen Stahlstangen und zackigen Pedale hervorgerufen hatte.
So saß der Förster da, recht durcheinandergeschüttelt, körperlich wie seelisch, und wenn er zuerst noch gedacht hatte: ›Ich muß weg!‹, so konnte er doch allmählich nicht umhin, zu bemerken, daß der Leib, auf dem sein Arm lag, etwas regungsloser war, als er bei einem bewußten, wartenden Menschen gewesen wäre.
Es dauerte noch eine ganze Weile, bis der stahlharte Entschluß andern Entschlüssen Platz machte. Aber schließlich brachte es Kniebusch doch über sich, seine elektrische Taschenlampe einzuschalten. Als das aber erst einmal geschehen, und der Lichtkegel auf das bleiche, einseitig geschundene Gesicht des Bewußtlosen gefallen war, da ging es schon rascher, und von der Erkenntnis, daß dies der berüchtigte Schubjack Bäumer aus Altlohe war, wehrlos wie ein Lamm in seine Hände gegeben, bis zu dem Entschluß, diesen elenden Raufbold und Wilddieb ins Kittchen zu bringen – war nur ein Schritt.
Während der Förster mit Stricken und Riemen aus dem Bäumer ein Paket machte, wie es besser und sicherer keine Packerin eines Warenhauses schnüren kann, dachte er darüber nach, daß er mit dieser ›Verhaftung‹ nicht nur beim alten Geheimrat und jungen Rittmeister großen Ruhm ernten würde. Weil nämlich der Bäumer ein Erzlump, ein Rädelsführer, ein Oberdieb, ein Wilderer und völlig ein Pfahl in jedem Besitzerfleische war – was alles der Sechserbock in seinem Rucksack und der Karabiner am Fahrrad klar bewies! Aber viel wichtiger als dieser Ruhm war dem alten Kniebusch doch, daß er auf diese risikolose Art seinen gefährlichsten Feind für lange Zeit aus dem Wege räumte, der ihm schon oft Prügel angedroht, wenn der Förster es wagen sollte, sein Holzwägelchen einmal zu durchsuchen. Daß dieser gefährliche Feind, der stark für drei war, so wehrlos ihm in die Hände gegeben war, dies mußte wahrhaftig eine Schickung des Himmels sein, die jeden stahlharten Entschluß zu Recht umstieß und weich machte. Und so zog und schnürte der Förster die Knoten mit einem so innigen Behagen fest, als habe er eben den größten Glücksfall seines Lebens erfahren.
Fräulein Jutta von Kuckhoff hätte ihm freilich sagen können, daß man den Speck erst loben soll, wenn man das Schwein geschlachtet hat.
Wolfgang Pagel sah die dunkle Straße in der Nähe des Wittenbergplatzes auf und ab. Wenige eilige Fußgänger passierten sie noch. Es war kurz nach Mitternacht. Dort hinten, wo weißlich leuchtend der Platz sich weitete, lehnte irgendein männliches Individuum gegen eine Hauswand, mit Schiebermütze und Zigarette und, trotz der sommerlichen Hitze, die Hände in den Taschen – alles, wie es sich gehörte.
Das ist er, sagte Wolfgang und nickte. Plötzlich fror ihn – er war so nahe am Ziel. Spannung und Erwartung hatten ihn gefaßt.
Wer ist das? fragte von Studmann, ziemlich uninteressiert. Es war eine langweilige Sache, nachts durch halb Berlin geschleppt zu werden, todmüde, um schließlich einen Kerl mit Schiebermütze anschauen zu dürfen.
Der Spanner! sagte Wolfgang, ohne jedes Gefühl für die Müdigkeit seiner beiden Begleiter.
Ihre Kenntnis Berlins in allen Ehren! schalt der Rittmeister von Prackwitz. Hochinteressant zweifelsohne, daß man solchen Kerl einen Spanner nennt – aber wollen Sie uns nicht endlich erklären, was Sie eigentlich vorhaben?!
Gleich! sagte Pagel und spähte weiter.
Der Spanner pfiff und verschwand in die Helle des Wittenbergplatzes hinaus. Ganz in der Nähe der drei Herren knackte ein Schlüssel in einem Haustor, aber es erschien niemand.
Sie haben die Haustür abgeschlossen; es ist noch immer das alte Haus, Nummer Siebzehn, erklärte Pagel. Jetzt kommt Schupo. Wir wollen unterdes einmal ums Viereck gehen.
Aber der Rittmeister wurde rebellisch. Er stampfte mit dem Fuß auf und rief hitzig: Ich weigere mich, Pagel, diesen Quatsch länger mitzumachen, wenn Sie uns nicht sofort erklären, was Sie vorhaben. Wenn es lichtscheue Sachen sind, dann danke ich bestens! Ich sehne mich offen gestanden nach einem Bett, und Studmann wird es nicht anders gehen.
Was ist ein Spanner, Pagel? fragte Studmann sanft.
Ein Spanner ist jemand, erklärte Pagel bereitwillig, der spannt, ob die Schupo kommt und ob überhaupt die Luft rein ist. Und der die Haustür eben schnell abschloß, das war der Schlepper, der schleppt die Gäste rauf ...
Es handelt sich also um etwas Verbotenes! rief der Rittmeister noch hitziger. Danke schön, mein verehrter Herr Pagel, da mache ich nicht mit! Ich will nichts zu tun haben mit der Polizei, darin bin ich wieder mal altmodisch ...
Er brach ab, denn die beiden Schupos waren herangekommen. Sie schlenderten nebeneinander, ein stämmiger Großer und ein dicker Kleiner, den Sturmriemen des Tschakos unter dem Kinn; leise klirrten die Kettchen, an denen die Gummiknüttel hingen. Der Lärm ihrer eisenbeschlagenen Schuhsohlen hallte von den Hauswänden wider.
Guten Abend, sagte Pagel halblaut, höflich.
Nur der Große, der am nächsten an den dreien vorüberging, wandte ein wenig den Kopf. Aber er antwortete nicht. Langsam gingen die beiden Hüter der Ordnung vorüber, die Straße hinab. Ferner schallte der Lärm ihrer Schuhnägel in die Stille der drei hinein. Dann bogen die Schupos in die Augsburger Straße ein, und Pagel machte eine kleine, erleichterte Bewegung.
Ja, sagte er und fühlte, daß das Herz wieder ruhiger klopfte, denn er hatte doch gefürchtet, es könnte in letzter Minute noch ein Hindernis geben. Jetzt sind sie weg, jetzt können wir gleich hinauf.
Fahren wir also nach Haus, Studmann! sagte der Rittmeister ärgerlich.
Was ist da oben? fragte Studmann und nickte mit dem Kopf gegen das dunkle Haus.
Nachtklub, sagte Pagel und sah nach dem Wittenbergplatz. Der Spanner enttauchte neu der Helle und kam langsam, die Hände in den Taschen, die Zigarette im Mundwinkel, die Straße herunter.
Pfui Deubel! schrie der Rittmeister. Ausgezogene Weiber, gepanschter Sekt, Nackttänze, ich sage es ja! Ich habe es gleich gesagt, als ich Sie sah! Kommen Sie, Studmann!
Nun, Pagel? fragte Studmann, ohne auf den Rittmeister zu achten. Ist das so?
Keine Ahnung! antwortete Pagel. Roulette! Bloß ein bißchen Roulette!
Der Spanner war fünf Schritte von ihnen unter einer Laterne stehengeblieben und sah tiefsinnig, Mucki, sag doch Schnucki zu mir! flötend, ins Licht. Pagel wußte, daß der Kerl zuhörte, er wußte, daß er, der schlechteste Kunde aller Spielklubs, erkannt worden war, er zitterte, daß ihm der Einlaß verweigert werden würde.
Unwillig über die Verzögerung schwenkte er das Geldpaket in der Hand.
Roulette! rief der Rittmeister erstaunt und trat wieder einen Schritt näher. Ja, ist denn das erlaubt –?!
Roulette! sagte auch von Studmann überrascht. Und mit dieser Nepperei stellen Sie Fragen an das Schicksal, Pagel –?!
Es wird fair gespielt, widersprach Pagel halblaut, das Auge auf den Spanner.
Es hat noch keinen gegeben, der zugab, daß er sich betrügen ließ, wandte Studmann ein.
Ich habe früher mal Roulette gespielt, als blutjunger Leutnant, sagte der Rittmeister träumerisch. Vielleicht sieht man es sich einmal an, Studmann. Natürlich setze ich keinen Pfennig!
Ich weiß nicht! meinte Studmann zögernd. Es muß ja Nepp sein. Diese ganze düstere Aufmachung. – Verstehst du, Prackwitz, erklärte er etwas verlegen, ich hab natürlich auch dann und wann Glücksspiele mitgemacht. Und ich möchte nicht gerne ... weiß der Henker, wenn man da erst Blut geleckt hat, und in der Verfassung, in der ich heute bin ...
Ja, natürlich ... sagte der Rittmeister, ging aber nicht.
Also, gehen wir –? fragte Pagel die beiden Unentschlossenen.
Die beiden sahen sich fragend an, wollten, wollten nicht, fürchteten sich vor dem Nepp, mehr noch vor sich selbst.
Sie können sich's ja ansehen, meine Herren! sagte der Spanner und schlenderte, die Mütze nachlässig aus dem Gesicht schiebend, näher. Entschuldigen Sie, daß ich mich einmische.
Er stand da, das bleiche Gesicht zu ihnen erhoben. Die kleinen, dunklen Mausaugen liefen musternd von einem zum andern.
Ansehen kostet nischt. Kein Spielgeld, meine Herren, keine Garderobe, kein Alkohol, nischt von Weibern ... Bloß solides Spiel ...
Also, ich geh jetzt rauf, sagte Pagel entschlossen. Ich muß heute spielen.
Er ging hastig – er konnte es nicht mehr erwarten – zur Haustür, klopfte, wurde eingelassen.
Warten Sie doch, Pagel! rief der Rittmeister ihm nach. Wir kommen auch gleich ...
Sie sollten wirklich mit Ihrem Freund mitgehen, sagte der Spanner überredend. Der ist doch helle, der weiß doch, was gespielt wird. Da ist kein Abend, wo der nicht mit seinem Gewinn abgeschoben ist ... Den kennen wir doch alle ...
Den Pagel? rief der Rittmeister erstaunt.
Wie er richtig heißt, wissen wir natürlich nicht, bei uns stellen sich die Herren nicht vor. Wir nennen ihn bloß den Pari-Panther, weil er immer nur die Pari-Chance spielt ... Aber wie! Der ist doch ein Spieler, noch und noch! Den kennt jeder von uns. Lassen Sie ihn ruhig voraus, der findet auch im Dunkeln seinen Weg, ich leuchte Sie rauf ...
Also er spielt viel? erkundigte sich von Studmann vorsichtig, denn der Fall Pagel interessierte ihn mehr und mehr.
Viel –?! sagte der Spanner mit immer unverkennbarerer Achtung. Der Mann läßt doch keinen Abend aus! Und immer serviert er den Rahm ab! Eine Wut haben wir manchmal auf ihn –! Aber der ist kalt, sage ich Ihnen, so kalt wie der Mann könnte ich nicht sein! Da muß man bloß staunen, wie der Mann Schluß machen kann, wenn er genug in der Tasche hat! Den darf ich eigentlich gar nicht rauflassen, so geladen sind die oben auf den! Na, heute macht's nichts, weil Sie dabei sind, meine Herren ...
Von Studmann fing herzlich an zu lachen.
Verständnislos fragte der Rittmeister: Warum lachst du denn so?
Ach, verzeih, Prackwitz, sagte Studmann, noch immer weiterlachend. So ein schönes Kompliment höre ich immer gerne. Verstehst du nicht: sie lassen den schlauen, den kalten Pagel rauf, weil er uns Dumme mitbringt. – Komm, jetzt habe ich auch Lust. Wir wollen doch sehen, ob wir beide nicht auch schlau und kalt sein können.
Und immer noch lachend faßte er den Rittmeister unter den Arm.
Auch der Spanner lachte. Da hab ich ja schönen Mist gemacht. Na, Sie nehmen's nicht übel, meine Herren. Und da Sie nicht so sind, geben Sie mir vielleicht gleich ein kleines Trinkgeld. Ich weiß nicht, so wie Sie beide aussehen: mit einem Rittergut in der Tasche kommen Sie auch die Treppe nicht wieder runter ...
Er leuchtete geschickt auf dem Treppenabsatz die Brieftasche Prackwitzens an, der nach einem Trinkgeld suchte.
Er traut uns wirklich zu, daß wir ohne einen Pfennig wieder rauskommen, Studmann, sagte der Rittmeister ärgerlich. So ein Unglücksrabe!
Ein bißchen Miesmachen hat noch immer beim Spiel geholfen, meinte der Spanner. Und sanft zuredend: Na, noch einen kleinen Schein, Herr Baron. Ich sehe, Sie kennen unsere Sätze noch nicht. Wo ich doch immer mit einem Bein gewissermaßen im Polizeigefängnis Alexanderplatz stehe!
Und ich?! wollte der Rittmeister aufbrausen, sehr ärgerlich, daß er wieder an das Illegale dieses Unternehmens erinnert wurde.
Sie?! sagte der Spanner mitleidig. Ihnen passiert doch nichts! Wer spielt, wird höchstens sein Geld los. Aber wer zum Spiel verführt, muß brummen. Ich verführe Sie doch, Herr Baron ...
Eine dunkle Gestalt kam die Treppe herunter.
Psst, Emil! Das sind die beiden Herren zum Pari-Panther. Jeleite sie nach oben, ick jeh spannen. Ick habe heute so 'n dußlijet Jefühl im Magen, es könnte noch wat jeben!
Die drei stiegen schon höher hinauf. In hohlem Flüstern rief der Spanner ihnen nach: Du, Emil! Hör noch mal!
Ja, wat denn? Du sollst doch keinen Lärm machen!
Abkassiert ha ick se schon! Daß du mir nich zum zweitenmal melkst!
Ach, hau ab – spann lieber dufte!
Jemacht, Emil! Spanne ruhig weiter, wenn der Mast auch bricht!
Er entschwand in die dunklen Regionen.
Wolfgang Pagel saß schon im Spielzimmer.
Auf eine rätselhafte Weise war die Kunde von der großen Summe Geldes, die der Pari-Panther gegen Spielmarken eingewechselt hatte, aus dem Vorplatz zu dem raubvogelhaften Croupier und seinen beiden Assistenten gedrungen und hatte ihm einen Sitzplatz nahe am Kopfende des Tisches verschafft. Dabei hatte Pagel nur ein Viertel seines Geldes bei dem traurigen Wachtmeister eingewechselt. Den Rest der Scheine hatte er achtlos und hastig in die Taschen zurückgestopft und war eingetreten, mit der Hand zwischen den beinernen, kühlen Jetons in der Rocktasche wühlend. Leise, mit einem angenehm trockenen Laut klapperten die Spielmarken.
Dies Geräusch rief sogleich die Vorstellung des Spieltisches herauf: das etwas nachlässig gespannte grüne Tuch mit den flach aufgestickten gelben Zahlen unter dem elektrischen Licht, das über dem Spieltisch trotz aller Geräusche umher stets besonders still und weiß wirkte – und nun das Schnurren und Klappern der Kugel, während das Rad leise schwirrte.
Mit einem tiefen, wie erlösten Atemzug sog Wolfgang die Luft ein.
Das Spielzimmer war schon sehr gefüllt. Hinter den auf Stühlen Sitzenden standen trotz der zeitigen Stunde schon wieder zwei dichte Reihen Spieler. Wolfgang hatte nur eine undeutliche Vorstellung von all diesen weißen, gespannten Gesichtern.
Ein Helfer des Croupiers führte ihn – eine noch nie genossene Gunst – zu dem für ihn freigemachten Stuhl.
Als Pagel an einer Frau vorüberging, roch er plötzlich fast überwältigend stark ihr Parfüm, ein Duft, der ihm seltsam bekannt vorkam. Er hätte jetzt gerne an das Spiel gedacht, aber zu seinem Ärger entdeckte er, daß er recht zerstreut war. Sein Hirn wollte durchaus den Namen des Parfüms finden. Eine Menge Wörter wie Houbigant, Mille fleurs, Patschuli, Ambra, Mystikum, Juchten schossen ihm durch den Kopf. Erst als er sich hinsetzte, fiel ihm ein, daß er den Namen dieses Parfüms wahrscheinlich gar nicht wußte, daß es ihm nur darum bekannt vorgekommen war, weil es das Parfüm seiner Feindin, des Valuten-Vamp, war. Er glaubte sich zu erinnern, daß diese Frau ihm zugelächelt hatte.
Pagel saß nun. Aber noch verbot er sich jeden Blick auf seine Umgebung und die Spielfläche. Langsam und sorgfältig legte er ein Päckchen Lucky Strike, die er bei Lutter und Wegner erstanden, eine Schachtel Streichhölzer und einen silbernen Zigarettenhalter vor sich hin, eine Art kleiner Gabel, die man sich mit einem Ring über den kleinen Finger streifte, und die das Gelbwerden der Finger verhindern sollte. Dann zählte er dreißig Spielmarken ab und legte sie in Fünfer-Haufen vor sich. Er hatte noch eine ganze Menge weiterer Spielmarken in der Tasche. Immer noch ohne hochzusehen, spielte er mit ihnen, freute sich an dem trockenen Klappern wie an einer schönen Musik, die ganz ohne Widerstand in ihn einging. Dann plötzlich – der Entschluß war so überraschend in ihm entstanden, wie der erste Blitz aus einem Gewitterhimmel fährt – dann plötzlich setzte er eine ganze Handvoll Spielmarken, soviel er eben fassen konnte, auf die Zahl 22.
Ein rascher, dunkler Blick des Croupiers traf ihn, die Kugel schepperte, schepperte endlos – und die scharfe Stimme erklang: Einundzwanzig – ungleich – rot ...
›Vielleicht irre ich mich‹, dachte Pagel, seltsam befreit. ›Vielleicht ist Petra erst einundzwanzig.‹
Plötzlich war er guten Mutes, seine Zerstreutheit war verschwunden. Ohne Bedauern sah er, wie die Harke des Croupiers seinen Einsatz heranharkte, er verschwand – und dunkel war ihm, als habe er sich mit diesen auf die Lebensjahre Petras geopferten Jetons von ihr freigekauft, könne nun – ohne alle Rücksicht auf sie – spielen, wie er wollte. Schwach lächelte er dem Croupier zu, der ihn aufmerksam ansah. Der Croupier erwiderte dieses Lächeln, fast unmerklich, kaum daß sich die Lippen unter dem gesträubten Bart verzogen.
Pagel sah um sich.
Ihm direkt gegenüber, an der andern Seite des Tisches, saß ein älterer Herr. Das Gesicht war so scharf geschnitten, daß die Nase im Profil wie das Blatt eines Messers wirkte, ihr Ende war wie eine drohende Spitze. Das unbewegte Gesicht war erschreckend bleich, in dem einen Auge saß ein Monokel, über das andere hing schlaff das wohl gelähmte Lid. Der Herr hatte ganze Stöße von Jetons vor sich liegen, aber auch Banknotenpäckchen.
Der Croupier rief, und die langen, dünnen, sehr gepflegten Hände des Herrn griffen mit den aufgebogenen Spitzen hastig nach Spielmarken und Geld. Sie verteilten die Sätze über eine ganze Anzahl von Nummern. Pagel folgte mit dem Blick diesen Händen. Dann sah er rasch und verächtlich fort: dieser blasse Herr mit dem beherrschten Gesicht hatte vollständig den Kopf verloren! Er spielte gegen sich selbst, setzte gleichzeitig auf Null und Zahlen, Gleich und Ungleich.
Elf – ungleich, rot, erstes Dutzend ... rief der Croupier.
›Wiederum Rot!‹
Pagel war überzeugt, daß jetzt Schwarz kommen würde; mit einem raschen Entschluß setzte er seine sämtlichen dreißig Spielmarken auf Schwarz und wartete.
Es dauerte endlos lange. Irgend jemand nahm im letzten Augenblick seinen Einsatz zurück und setzte dann doch wieder. Eine tiefe, tödliche Unlust ergriff Wolf. Es ging alles zu langsam, dieses ganze Spiel, das sein Leben seit einem Jahr ausgefüllt hatte, schien ihm plötzlich idiotisch. Da saßen sie herum wie die Kinder und lauerten atemlos darauf, daß eine Kugel in ein Loch fiel. – Natürlich fiel sie in ein Loch! In eines oder das andere, es war doch gleich! Da lief sie und schnurrte, ach, wenn sie doch aufhörte zu laufen, wenn sie erst gefallen wäre, daß es vorbei sei! Das Monokel gegenüber erglänzte tückisch und böse, das grüne Tuch hatte etwas Saugendes – daß er doch sein Geld erst los wäre –! Welche Albernheit, nach diesem Spiel gehungert zu haben –!
Pagel war sein Geld los. Unter der Harke des Croupiers entflohen die dreißig Jetons, Siebzehn war ausgerufen worden. Siebzehn, auch eine ganz schöne Zahl! Siebzehn und Vier war immer noch besser als dieses alberne Spiel. Für Siebzehn und Vier brauchte man ein wenig Verstand. Hier hatte man nur zu sitzen und sein Urteil zu erwarten. Das Dümmste von der Welt – etwas für Sklaven!
Mit einem Ruck stand Pagel auf, schob sich durch die hinter ihm Stehenden und brannte eine Zigarette an. Oberleutnant von Studmann, der unbeteiligt an einer Wand gestanden hatte, fragte mit einem raschen Blick auf sein Gesicht: Nun? Schon fertig?
Ja, sagte Pagel mißmutig.
Und wie ist es gegangen?
Mäßig. Er rauchte gierig, dann fragte er: Gehen wir?
Gern! Ich will von diesem Betrieb nichts sehen und hören! – Ich werde gleich Herrn von Prackwitz loseisen! Er wollte spaßeshalber einen Augenblick zusehen ...
Spaßeshalber! – Also ich warte hier.
Studmann schob sich zwischen die Spieler. Pagel nahm seinen Platz an der Wand ein. Er war schlaff und müde. So also sah der Abend aus, den er immer erhofft hatte, der Abend mit dem großen Spielkapital, an dem er würde setzen können, wie er wollte. Die Dinge kamen nie zusammen! Heute, da er hätte spielen können, so lange er wollte, heute hatte er keine Lust zum Spielen! ›Dann fehlt uns der Becher, dann fehlt uns der Wein‹, klang es in ihm.
Es war also endgültig vorbei mit dem Spielen, er fühlte es, er würde es nie mehr wollen. So konnte er also morgen früh geruhig mit dem Rittmeister aufs Land fahren, als eine Art Sklavenvogt vermutlich – er versäumte nichts hier in Berlin. Keine Chance! Man konnte eins tun, man konnte auch etwas anderes tun: alles war gleich sinnlos. Es war nachdenksam, zu beobachten, wie einem das Leben unter der Hand zerfloß, gleichsam sich selbst sinnlos machte und entleerte (wie auch das immer eiliger strömende, fließende Geld sich sinnlos machte und leer wurde): an einem kurzen Tag waren Mutter und Peter, nein, Petra!, verloren, und nun auch noch das Spiel ... Reichlich inhaltlos geworden, diese Angelegenheit ... Wahrhaftig, ebensogut konnte man von einer Brücke unter den nächsten Stadtbahnzug springen – es war genauso sinnvoll und sinnlos wie alles andere –!
Gähnend brannte er sich eine neue Zigarette an.
Der Valuten-Vamp schien nur darauf gewartet zu haben. Die Frau trat an ihn heran. Schenken Sie mir auch eine –?
Wortlos hielt ihr Pagel das Päckchen hin.
Englische –? Nein. Die vertrage ich nicht, die sind mir zu schwer! Haben Sie keine andern –?
Pagel schüttelte den Kopf, schwach lächelnd.
Daß Sie die rauchen mögen! Da ist doch Opium drin!
Opium ist auch nicht schlechter als Koks, sagte Pagel herausfordernd und betrachtete ihre Nase. Sie konnte heute noch nicht viel geschnupft haben, die Nase war nicht weiß. Freilich mußte man an den Puder denken, natürlich war die Nase gepudert ... Er sah sie mit einer ruhigen, sachlichen Neugier an.
Koks! – Denken Sie etwa, ich kokse?
Etwas von der alten Feindschaft machte ihre Stimme scharf, obwohl sie sich jetzt alle Mühe gab, ihm zu gefallen. Und sie sah wirklich gut aus. Sie war groß und schlank, die Brust in dem weit ausgeschnittenen Kleid schien klein und fest. Nur, daß diese Frau böse war, durfte man nicht vergessen, böse: geizig, gierig, streitsüchtig, verkokst, kalt. Urböse – Peter war nicht böse gewesen, oder doch, Petra war doch böse gewesen. Aber man hatte es nicht so gemerkt, sie hatte es lange verstecken können, bis er ihr draufgekommen war. Nein, auch Petra war erledigt.
Also Sie koksen nicht? Ich dachte! sagte er gleichgültig zu dem Valuten-Vamp und sah sich nach Studmann um. Er wäre gerne gegangen. Diese wohlgebaute Kuh langweilte ihn zu Tode.
Nur mal dann und wann, gab sie zu. Wenn ich abgespannt bin. Das ist auch nichts anderes, als wenn man ein Pyramidon nimmt, finden Sie nicht auch? Mit Pyramidon kann man sich auch ruinieren. Ich hatte mal eine Freundin, die nahm zwanzig Pyramidon den Tag. Und die ist ...
Geschenkt, mein Schatz! sagte Pagel. Interessiert mich nicht. Willst du nicht ein bißchen spielen gehen?
Aber so leicht war sie nicht loszuwerden. Sie war auch nicht die Spur beleidigt; sie war immer nur dann beleidigt, wenn sie gar nicht gemeint war.
Sie sind schon mit dem Spiel fertig? fragte sie.
Jawohl, sagte er. Keine Valuten mehr zu holen. Völlig pleite!
Kleiner Schäker! lachte sie albern.
Er sah ihr an, sie glaubte ihm nicht. Sie hatte etwas über den Inhalt seiner Taschen gehört, nie würde sie sonst soviel Zeit und Liebenswürdigkeit an einen schäbigen Kerl im Waffenrock verschwenden, da doch für sie nur Kavaliere im Frack in Frage kamen –!
Tun Sie mir einen Gefallen! rief sie plötzlich. Setzen Sie einmal für mich!
Wozu soll das denn gut sein?! fragte er ärgerlich. Dieser Studmann blieb endlos, und er wurde die Gans nicht los! Ich denke, Sie wissen mit dem Spiel auch ohne mich Bescheid!
Sicher bringen Sie mir Glück!
Möglich. Aber ich spiele nicht mehr.
Och, ich bitte Sie – seien Sie einmal nett zu mir!
Sie hören doch, ich spiele nicht mehr.
Wirklich nicht –?
Nein!
Sie lachte.
Und Pagel ärgerlich: Was lachen Sie so dumm?! Ich spiele nicht mehr!
Sie – und nicht spielen! Ich glaube, eher ...
Sie brach ab, gab ihrer Stimme einen sanften, überredenden Ton: Komm, Liebling, setze einmal für mich – ich will dann auch sehr nett zu dir sein ...
Danke bestens für deine Nettigkeit! sagte Pagel grob. Und ausbrechend: Gott, kann ich Sie denn überhaupt nicht loswerden?! Gehen Sie weg, sage ich Ihnen, ich spiele nicht mehr, und Sie kann ich schon überhaupt nicht ausstehen! – Ekelhaft sind Sie mir! schrie er.
Sie sah ihn aufmerksam an. Jetzt siehst du reizend aus, Kerlchen. Ich hab nie gesehen, wie hübsch du eigentlich bist – immer hast du wie ein Stockfisch beim Spiel gesessen! – Sie schmeichelte: Komm, Liebling, setze einmal für mich! Du bringst mir Glück!
Pagel warf die Zigarette fort und beugte sich ganz nahe zu ihr. Wenn du noch ein Wort zu mir sprichst, du verdammtes Hurenluder, schlage ich dir ein paar in die Fresse, daß du ...
Er zitterte vor sinnloser Wut am ganzen Leibe. Ihre Augen waren ganz dicht bei den seinen. Sie waren auch braun – jetzt verschwammen sie in einer hingebenden Feuchte.
Hau los! flüsterte sie hingegeben. Aber setze einmal für mich, Süßer ...
Er drehte sich mit einem Ruck um und ging rasch an den Spieltisch. Er faßte von Studmann am Ellbogen. Rasch atmend fragte er: Gehen wir nun oder gehen wir nicht?
Ich kriege den Rittmeister nicht los! flüsterte Studmann ebenso erregt zurück. Sehen Sie bloß!
Höchst ungern hatte der Rittmeister von Prackwitz seinen ehemaligen Fahnenjunker auf seiner geheimnisvollen Reise durch das nächtliche Berlin begleitet, sehr widerwillig hatte er schon bei Lutter und Wegner seine Gesellschaft und das herausfordernde Geschwätz ertragen, kaum ihm die Beleidigung mit dem angebotenen Geld verziehen. Ganz unangebracht hatte er des Freundes Studmann Interesse für diesen recht verbummelten und schlaffen jungen Burschen gefunden, dessen reicher Geldbesitz zum mindesten fragwürdig erschien. Wenn jener kleine Zwischenfall mit dem apportierten Granatsplitter im Gefecht vor Tetelmünde Herrn von Studmann ein wenig lächerlich, aber bestimmt – und noch dazu bei einem so jungen Burschen – ziemlich heldenhaft erschien, so überwog für Herrn von Prackwitz das Lächerliche alles Heldische – und ein Charakter, der solcher Extravaganzen fähig war, konnte ihm nur verdächtig erscheinen.
Der gute Rittmeister Joachim von Prackwitz – er fand nur die Extravaganzen anderer Leute verdächtig, über die eigenen dachte er vollkommen wohlwollend. Von dem Augenblick an, da er gehört hatte, es handle sich nicht um irgendwelche dreckigen, nackten Weibersachen – sein Horror! –, sondern bloß um ein Spielchen, besser noch gesagt um Jeu – in demselben Augenblick hatten die beiden Schupos mit ihren nägelbeschlagenen Schuhen alles Warnende verloren, das dunkle Haus hatte etwas Einladendes bekommen, der freche ›Spanner‹ war von Humor umwittert gewesen, und Fahnenjunker Pagel war aus einem Verführer und zweifelhaften Früchtchen zu einem echten Kerl und welterfahrenen Burschen geworden.
Als der Rittmeister nun gar auf dem kleinen bürgerlichen Vorplatz gestanden hatte, mit den viel zu vollgehängten Kleiderhaken, als der schnauzbärtige Herr hinter seinem Klapptischchen freundlich gefragt hatte: Spielmarken gefällig, meine Herren?, und als der Rittmeister nach einem raschen, orientierenden Blick dagegen gefragt hatte: Alt gedient, was? Wo?, und der Schnauzbärtige mit Hackenzusammenschlagen geantwortet hatte: Zu Befehl! Neunzehner Sächsischer Train – Leipzig, da hatte sich der Rittmeister allerbester Laune und ganz zu Hause gefühlt.
Kein Gedanke an das Verbotene solches Spiels hatte noch diese gute Laune getrübt; angeregt hatte er sich Verwendung und Wert der ihm neuartigen Spielmarken erklären lassen – zu seinen Zeiten hatte man nur gegen Bargeld oder allenfalls gegen Visitenkarten mit aufgeklierter Zahl gejeut. Wenn er überhaupt noch an seinen Fahnenjunker gedacht hätte, hätte er höchst wohlwollend sich seiner erinnert. Aber kein Gedanke an diesen jungen Menschen kreuzte noch sein Hirn.
Dafür hatte er Spiel und Spielergesellschaft viel zu interessant gefunden. Mit Bedauern mußte er zwar feststellen, daß die Gesellschaft hier lange nicht so erstklassig war wie die in einem Offizierskasino des Friedens. Da saß zum Beispiel ein dicker, rotgesichtiger Mann am Spieltisch, der unaufhörlich halblaut vor sich hin murmelte und mit dicken, edelsteingeschmückten Fingern Einsätze erteilte – wenn er dessen Specknacken mit vielen Falten betrachtete, konnte kein Zweifel obwalten, daß dies eine Art Bruder oder Vetter des Viehhändlers aus Frankfurt war, den er nie in sein Haus lassen mochte. Übrigens hatte ihn dieser Bruder auch ein paarmal reingelegt, der in Frankfurt natürlich. Feindlich blickte der Rittmeister auf den Dicken, hier also blieben die dem Grundbesitz zu Unrecht abgejagten Gewinne – und nicht einmal mit Anstand vermochte dieser Kerl zu verlieren! Deutlich war ihm die Angst vor jedem Verlust anzumerken, den er doch mit jedem neuen Einsatz wieder neu herausforderte.
Auch störte den Rittmeister die große Anzahl von Frauen, die sich um den Spieltisch drängten – Frauen hatten seiner Ansicht nach beim Jeu nichts zu suchen. Jeu war eine reine Männersache, nur ein Mann brachte Kaltblütigkeit und Verstand genug auf, um mit Erfolg zu jeuen. Auch waren sie zwar sehr elegant, aber für seinen Geschmack doch etwas zu extravagant an- oder vielmehr ausgezogen. Diese Manier, ein Paar junge Brüste gewissermaßen in einem weitgeöffneten Seidenetui jedem Beschauer zur Musterung vorzulegen, ließ an die ihm so verhaßten Straßenmädchen denken. Sicher hatten solche Frauenzimmer hier keinen Zutritt, aber schon an sie erinnert zu werden, war peinlich!
Es gab auch Angenehmes zu sehen, zum Beispiel einen älteren, weißhäutigen Herrn mit merkwürdig scharfer, spitzer Nase und Monokel – wo dieser Herr spielte, wo dieser Herr Platz nahm, wo dieser Herr zu Gaste war, da konnte sich auch ein Rittmeister von Prackwitz setzen.
Es war bezeichnend, daß der Rittmeister den direkt daneben sitzenden Fahnenjunger Pagel überhaupt nicht sah, sein sonst so scharfes Auge bemerkte schäbig gekleidete Gestalten nur schwer!
Was nun das Roulette anging – und der Rittmeister nahm höflich dankend auf einem ihm scheinbar bereitwillig, allerdings nur auf höheren Wink geräumten Stuhl Platz –, was nun das Roulette anging, so war es schwierig, sich damit zurechtzufinden. Es gab da eine überraschende Anzahl von Möglichkeiten – zudem wurde mit einer gradezu unziemlichen Hast gespielt. Der Rittmeister war sich kaum klargeworden, wie die Einsätze verteilt waren, so surrte schon die Scheibe, die Kugel lief, der Croupier rief, hier regnete es Jetons, dort brach Dürre aus, vorbei, weiter, setzen, drehen, laufen, surren, rufen – verwirrend!
Des Rittmeisters eigene Erfahrungen mit dem Roulette lagen weit in seine Leutnantsjahre zurück. Sie waren auch damals spärlich genug gewesen, mehr als drei- oder viermal war das Spiel nicht gespielt worden. Das kam daher, daß es besonders streng verboten war, noch strenger als alle andern Glücksspiele, es wurde für besonders gefährlich angesehen. Eigentlich hatten die jungen Offiziere damals nur ein Glücksspiel gekannt, das ›Gottes Segen bei Cohn‹ hieß und das für verhältnismäßig ungefährlich gehalten wurde. Immerhin war es dem Rittmeister, damals noch unverheirateten jungen Leutnant, doch so gefährlich geworden, daß er nach einer turbulenten Nacht Hals über Kopf zu seinem Vater hatte reisen müssen, einem womöglich noch hitzigeren Herrn im Generalsrang. Dort hatte er innerhalb einer halben Stunde Wutausbruch, Enterbung und Verstoßung erfahren, schließlich aber hatten die beiden – nach reichlichen Tränenergüssen – bei einem schwärzlichen Herrn eine ganze Reihe von Wechseln unterschrieben, für die sie soviel Geld erhielten, daß die Spielschuld mit Ach und Krach abzudecken war. Seit dieser Zeit hatte der Rittmeister nicht wieder gespielt.
So saß er denn jetzt verwirrt vor dem grünen Tuch, sah die Zahlen an, sah die Inschriften an, rasselte leise mit den Spielmarken in seiner Tasche – und wußte nicht, was er anfangen sollte, so gerne er angefangen hätte.
Als ihn aber von Studmann fragte: Nanu, Prackwitz, willst du wirklich spielen? – antwortete er ärgerlich: Du etwa nicht? Wozu haben wir denn Spielmarken eingewechselt –?!
Und er setzte auf Rot.
Natürlich kam Rot. Ehe er sich noch recht besonnen hatte, fiel trocken prasselnd ein Häuflein Marken auf die seinen. Der unsympathisch wie ein gesträubter Geier aussehende Kerl rief etwas, wieder drehte sich das Spielrad. Der Rittmeister war unentschlossen, was er nun setzen sollte – da war schon wieder die Entscheidung gefallen.
Wiederum war Rot gekommen, jetzt besaß er schon einen ganzen Berg von Spielmarken.
Er zog sie zurück, sah sich, wie erwachend, um: der beste Mann am Spieltisch war noch immer der Herr mit dem Monokel. Er sah den langen, dünnen, ein wenig aufwärts gekrümmten Fingern zu, die mit unglaublicher Schnelligkeit Markenhäufchen auf die verschiedenen Zahlen und auf die Schnittpunkte von Zahlenfeldern verteilten, und ohne lange zu überlegen, machte er es diesem Herrn nach. Setzte auch auf Zahlen, auf Schnittpunkte von Zahlenfeldern, wobei er aber aus einem Gefühl von Ritterlichkeit (um den andern nicht zu stören) die von jenem besetzten Felder mied.
Wieder rief der Croupier etwas aus, wieder begaben sich Marken zu den von ihm gesetzten, während andere Häufchen unter der Harke verschwanden und mit leisem Klappern in einen Beutel am Tischende fielen.
Von nun an war der Rittmeister wie verzaubert. Das Rollen der Kugel, die Ausrufe des Croupiers, das grüne Tuch mit den Zahlen, Inschriften, Quadraten und Rechtecken, auf denen sich immer neu die vielfarbigen Jetons ordneten – all dies hielt ihn gänzlich gefangen. Er vergaß sich selbst, vergaß die Zeit und den Raum, in dem er saß. Er dachte nicht mehr an Studmann und an den fragwürdigen Fahnenjunker Pagel. Es gab kein Neulohe mehr. Hurtig mußte er sein, das Auge, schneller noch als die Hand, mußte freie Felder ausspähen, auf die Spielmarken zu werfen waren; eilig mußten die Gewinne herangeholt werden, mußte entschieden werden, was stehenzubleiben hatte.
Einen Augenblick entstand eine unliebsame Pause dadurch, daß der Rittmeister, wie er zu seiner Überraschung merkte, gänzlich ohne Spielmarken war. Ärgerlich fingerte er in seiner Jackettasche herum, ärgerlich deswegen, weil er nun ein Spiel auslassen mußte. Daß er keine Marken mehr hatte, rief aber in ihm nicht etwa den Gedanken an einen erlittenen Verlust herauf, nur die Verzögerung störte ihn. Gottlob erwies sich, daß er beobachtet worden war; ein Adlatus des Croupiers hielt schon weitere Jetons für ihn bereit. Und mit völliger Geistesabwesenheit, die überhaupt nicht den Gedanken aufkommen ließ, daß er hier Geld, und zwar fast alles Geld, das er bei sich trug hergab, zog er die Scheine aus der Tasche und tauschte dafür beinerne Spielmarken ein.
Kurz nach dieser ungewollten, ärgerlichen Spielpause, grade, als der Rittmeister im schönsten Setzen war, fand sich plötzlich von Studmann ein und flüsterte über die Schulter des Spielenden, daß Pagel jetzt gottlob genug habe und gehen wollte.
Recht gereizt fragte der Rittmeister zurück, was in aller Welt der junge Pagel ihn anginge? Er säße ausgezeichnet hier und habe nicht im geringsten die Absicht, schon nach Hause zu gehen.
Ganz erstaunt fragte von Studmann wiederum zurück, ob der Rittmeister denn wirklich spielen wolle –?
Von Prackwitz war – fast bestimmt – der Ansicht, daß jenes Häufchen Marken auf dem Schnittpunkt der Zahlen 13, 14, 16 und 17, das eben gewonnen hatte, von ihm gesetzt worden sei – eine mit einem Perlenring geschmückte Frauenhand hatte danach gelangt und das Häufchen fortgenommen. Von Prackwitz begegnete dem Blick des Croupiers, der ihn ruhig beobachtend ansah. Sehr gereizt bat er von Studmann, er möge nun endlich gehen und ihn in Frieden lassen!
Studmann antwortete nicht, und der Rittmeister spielte weiter. Aber es war nicht möglich, sich auf das Spiel zu konzentrieren, er fühlte, ohne es zu sehen, daß Studmann in seinem Rücken stand und sein Setzen beobachtete.
Er drehte sich mit einem Ruck um und sagte scharf: Herr Oberleutnant, Sie sind nicht mein Kindermädchen!
Dieses Wort, das einen alten Gegensatz aus den Kriegszeiten wieder aufriß, tat seine Wirkung: Studmann machte eine ganz leichte, entschuldigende Verbeugung und zog sich zurück.
Als der Rittmeister aufatmend auf das grüne Tuch zurückblickte, sah er, daß mittlerweile auch die letzte seiner Spielmarken verschwunden war. Er warf einen ärgerlichen Blick auf den Croupier, es kam ihm vor, als verkrieche sich ein Lächeln in dem gesträubten Schnurrbart. Von Prackwitz öffnete das mit einem doppelten Verschluß gesicherte Innenfach seiner Brieftasche und entnahm ihm siebzig Dollar – alles, was er noch an Devisen besaß. Der Gehilfe des Croupiers stapelte mit ungeheurer Geschwindigkeit Haufen und Haufen von Marken vor ihm auf. Der Rittmeister strich sie eilig, ohne sich mit Zählen aufzuhalten, in die Tasche. Einen Augenblick hatte er, als er merkte, viele Gesichter sahen ihn prüfend an, das vage Gefühl: was tue ich da –?!
Aber es waren mehr die Worte, die in ihm klangen, als ihr Sinn. So viele Marken gaben ihm Sicherheit, Vergnügen erfüllte ihn. Er dachte freundlich: ›Dieser törichte, ewig besorgte Studmann –!‹, rückte fast lächelnd auf seinem Stuhl zurecht und fing wieder an zu setzen.
Doch diese gute Stimmung hielt nicht lange an. Immer gereizter sah er Einsatz auf Einsatz unter der Harke des Croupiers entschwinden, fast gar nicht mehr hörte er das trockene Niederprasseln der gewonnenen Marken auf die von ihm besetzten Felder. Immer häufiger mußte er in die Tasche greifen, die schon nicht mehr prall war. Es war noch nicht der Gedanke an Verlust, der ihn irritierte, es war der unbegreiflich rasche Ablauf des Spiels ... Nahe schon sah er vor sich den Augenblick, da er aufstehen und dieses kaum erst gekostete Vergnügen würde aufgeben müssen. Mit der Zahl der Einsätze, meinte er, müßten seine Gewinnaussichten steigen – immer hastiger verteilte er Marken über das ganze Spielfeld.
So spielt man nicht! sagte eine ernste Stimme mißbilligend neben ihm.
Wie –?! fuhr der Rittmeister hoch und sah den jungen Pagel empört an, der sich auf den Stuhl neben ihm gesetzt hatte.
Aber hier war der junge Pagel nicht unsicher und verlegen. Nein, so spielt man nicht! sagte er noch einmal. Sie spielen ja gegen sich selbst.
Was tue ich?! sagte der Rittmeister und wollte sehr wütend werden, dem jungen Burschen, genau wie von Studmann vorher, gründlich Bescheid sagen! Aber zu seiner Überraschung kam der sonst stets auf der Lauer liegende Zorn nicht, statt dessen ergriff ihn Verlegenheit, als habe er sich wie ein törichtes Kind benommen.
Wenn Sie Rot und Schwarz gleichzeitig setzen, können Sie doch nicht gewinnen, sagte Pagel tadelnd. Entweder gewinnt Rot oder Schwarz – beides nie.
Wo habe ich –? fragte der Rittmeister verwirrt und sah über den Spieltisch. Doch gerade fuhr der Rechen des Croupiers dazwischen, die Marken klapperten ...
Da nehmen Sie doch! flüsterte Pagel streng. Sie haben Dusel gehabt. Das da ist Ihres – und da – und da – gnädige Frau, ich bitte sehr, das ist unser Einsatz!
Irgendeine Frauenstimme sagte sehr aufgeregt etwas, Pagel achtete nicht darauf. Er ordnete weiter an, und wie ein Kind folgte der Rittmeister seinen Weisungen.
So – und diesmal werden Sie gar nichts setzen – wir wollen erst sehen, wie das Spiel läuft. Was haben Sie noch an Marken? – Das reicht nicht für einen großen Schlag – warten Sie, ich kaufe noch ...
Sie wollten gehen, Pagel! ließ sich die unausstehliche Erzieherstimme Studmanns vernehmen.
Bloß einen Augenblick, Herr von Studmann, sagte Pagel, liebenswürdig lächelnd. Ich will Herrn Rittmeister nur schnell zeigen, wie man richtig spielt. – Bitte, fünfzig zu Fünfhunderttausend und zwanzig zu einer Million ...
Studmann machte eine Gebärde der Verzweiflung ...
Wirklich nur einen Augenblick, sagte Pagel freundlich. Sie können mir glauben, mir macht das Spielen überhaupt keinen Spaß, ich bin kein Spieler. Es ist nur wegen des Rittmeisters ...
Aber von Studmann hörte nicht mehr. Er hatte sich ärgerlich umgedreht und war fortgegangen.
Passen Sie auf, Herr Rittmeister, sagte Pagel. Jetzt wird Rot kommen.
Sie warteten gespannt.
Dann kam – Rot.
Wenn wir jetzt gesetzt hätten –! klagte der Rittmeister.
Nur Geduld! tröstete Pagel. Erst muß man sehen, wie der Hase läuft. Jetzt kann man gar nichts Bestimmtes sagen – immerhin wird mit hoher Wahrscheinlichkeit Schwarz kommen.
Es kam aber Rot.
Sehen Sie! sagte Pagel triumphierend. Wie gut, daß wir nicht gesetzt hatten! Jetzt fangen wir aber bald an. Und Sie sollen sehen – in einer guten Viertelstunde ...
Der Croupier lächelte unmerklich. Von Studmann, in einem Winkel, verfluchte den Augenblick, da er bei Lutter und Wegner den jungen Pagel angesprochen hatte.