Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Wandervogel

Einmal in meiner Schulzeit habe ich auch eine Ferienreise ohne Eltern und Geschwister gemacht: ich zog mit andern Wandervögeln nach dem schönen Holland ...

Heute weiß man es kaum noch, was in jenen ersten Tagen nach der Jahrhundertwende der »Wandervogel« bedeutete. Er war eine Gründung der Jugend, und er war eine Gründung, die eine Auflehnung gegen das Alter und Bürgertum, gegen Kastengeist und Muckerei bedeutete. Das stand nicht in seinen Vereinssatzungen, die nur besagten, daß der Wandervogel Schülerwanderungen betreibe, aber das war die Idee, die hinter diesen Wanderungen steckte.

Man gab sich herrlich frei und unbekümmert. Je wilder die Tracht, je rauher die Sitten, um so besser! Man spottete über Spaziergänge, man ging auf Fahrt, man verachtete Fremdwörter, Tabak, Alkohol, Poussieren, man erneuerte den Fahrenden Schüler. Wie dieser zog man mit Mandoline und Gitarre, der Klampfe, durch die Lande. Man entdeckte neu den unendlichen Reichtum der Volkslieder und sang und spielte sie den Bauern des Abends vor, ehe man zu ihnen ins Heu kroch. Denn es wurde nie in eine Wirtschaft gegangen, es wurde in Ställen und auf Scheunen übernachtet, zur Sonnenwende sprang man durchs Feuer, denn auch Mädchen gab es im Wandervogel. Zwar wurden sie von den echtesten Wandervögeln nur mit Zweifeln angeschaut und nie auf große Fahrt mitgenommen, aber zum Singen, Essenkochen und Strümpfestopfen waren sie doch manchmal ganz brauchbar.

In einer verpimpelten Zeit war es ein Stolz, bedürfnislos zu sein. Man verachtete die warme Unterwäsche, man ging auch winters mit nackten Knien und kochte das Essen, meist der Schlangenfraß genannt, in großen Kesseln auf dem offenen Lagerfeuer.

Es war selbstverständlich, daß viele Eltern und die meisten Lehrer Zeter und Mordio schrien über einen solchen Verein, der ihren Kindern nur Roheit, Sittenlosigkeit und Verlotterung beibringe. An vielen Lehranstalten wurde es den Schülern verboten, ein Wandervogel zu sein. Aber das half gar nichts. Der Wandervogel breitete sich trotzdem aus, und die Verbote mußten wieder aufgehoben werden, zumal sich ihm nie etwas Schlimmes nachweisen ließ.

Sicher übertrieben es viele. Wie die Nagelschuhe nicht derb genug, die Tracht nicht genialisch genug, die Sprache nicht rauh genug sein konnte, so konnten die Taten oft nicht herausfordernd genug gegen alle alte Sitte gerichtet sein. Aber das war nur die Reaktion der Jugend gegen das Alter, das jeden frischen Luftzug von ihr fernhalten wollte, und eine Reaktion schlägt zuerst immer nach der andern Seite aus. Bald schon erschien etwas so Herrliches wie der Zupfgeigenhansl, damals noch ein ganz dünnes Bändchen, aber mit seinen fast verschollen gewesenen Volksliedern eine Neuentdeckung.

Wie ausgerechnet ich schwächlicher Knabe, allem Rauhen abhold, dazu kam, Mitglied des Wandervogels zu werden, ist mir nicht mehr erinnerlich, vermutlich wird mich ein Klassenkamerad auf eine Sonntagsfahrt mitgenommen haben. Es wird mir dann gefallen haben, und ich bin öfter mitgezogen, bis ich Mitglied war. Daß es mir aber gefiel, ist eigentlich ein wahres Wunder, denn ich war durch ständiges Kranksein so verpimpelt wie kaum einer. Dazu war ich noch krankhaft schüchtern und überaus empfindlich gegen alles Laute: ich gehörte bestimmt nicht zu dem Most, der sich absurd gebärdet. So recht warm sind die andern, die echten, auch nie mit mir geworden. Ich lief eben so mit. Aus mir nicht mehr erinnerlichen Gründen wurde ich »Esau« getauft, vielleicht grade darum, weil ich nicht »rauh« war.

Daß mir die Eltern eine Teilnahme bei diesem Verein gestatteten, wundert mich heute noch. Denn ich bin dem Wandervogel beigetreten, als er noch ganz klein war und von allen Seiten gegen ihn Sturm gelaufen wurde. Vermutlich hatten sie keine Ahnung von der Gefährlichkeit dieser Gründung, und ich hütete mich wohl, ihnen Näheres zu erzählen. Ich ging eben am Sonntag oder, wenn es hochkam, vom Sonnabendmittag bis Sonntagabend auf Fahrt – was Mutter nur »Tour« nannte, oder sie fragte mich auch: »Gehst du Sonntag wieder spazieren, Junge?«, was mich zwar mit tiefer Empörung erfüllte, aber beruhigend ungefährlich klang.

In meiner Klasse gab es nur noch einen außer mir, der Wandervogel war. Er hieß Brumbach, wurde Pietsch genannt und war der schlechteste Schüler von uns allen, während ich doch wenigstens gute Mittelware abgab. Von den Klassenkameraden wurden wir beide nur mit verachtungsvollem Mitleid angesehen, wir hießen »die Wilden«, wurden den Lehrern aber nie verraten.

Nun ist es aber von einer Sonntagsfahrt bis zu einer fünfwöchigen Ferienfahrt noch ein großer Schritt, noch dazu ins »Ausland«, und meine Eltern sahen doch recht bedenklich darein, als ich zuerst mit meiner Bitte herausrückte. Ich bin aber zeit meines Lebens ein rechter Bohrer gewesen; wenn ich etwas wollte, ließ ich nicht nach, weder im Guten noch im Schlimmen. Ich stellte den Eltern beweglich vor, wie billig ich ihnen kommen würde, und billig sollte die Reise wirklich sein, denn für die ganzen fünf Wochen sollten mit dem Fahrgeld auf der Bahn nur achtzehn Mark gebraucht werden. Das erschien selbst in den damaligen »goldenen Zeiten« fast unmöglich. (Es erwies sich dann auch rasch als unmöglich.) Grade diese Billigkeit aber war es, die besonders meine Mutter schreckte, sie sah mich schon völlig verhungert nach Haus kommen. Schließlich hatte ich die Eltern aber doch so weit, daß sie sich den »Führer« der Hollandfahrt einmal kommen ließen.

Dieser Führer war wie die meisten Führer beim Wandervogel ein Student, noch kein älterer, sondern erst etwa zwanzig Jahre alt. Das kam mir mit meinen dreizehn oder vierzehn Jahren natürlich als ein sehr reifes Alter vor, meinen Eltern freilich weniger. Aber Herr Scharf, der mit Übersetzung seines Namens ins Lateinische bei uns nur Acer hieß, machte mit seinem frischen, sehr blonden Wesen auf die Eltern doch den besten Eindruck. Meiner Mutter gab er die beruhigendsten Erklärungen über unsere Ernährung, meines Vaters Sorgen wegen der Finanzen wußte er ebenso zu zerstreuen.

Nach einer dreitägigen Bedenkzeit gab Vater sein Ja, und ich stürzte mit Pietsch, der auch mitmachte, zu Acer und brachte ihm meinen Fahrtenanteil von achtzehn Mark. Mit welchen Gefühlen mich meine Eltern dann eines frühen Morgens losziehen sahen, einen geschwollenen Rucksack auf dem Buckel, dem noch eine Zeltplane aufgeschnallt war, weiß ich nicht zu sagen. Ich hatte keine Gedanken für die Gefühle meiner Eltern, ich ging auf Hollandfahrt! Der Rucksack hatte etwa die Hälfte meines Körpergewichts, ich schwankte wie ein Reis im Winde, wenn er mir aufgeschnallt wurde. Aber das war »zünftig«, und »Zünftigsein« war das große Ideal des Wandervogels!

Es ist nun nicht meine Absicht, hier eine Schilderung jener Hollandfahrt zu geben. Aus Gründen, die am Schluß dieses Abschnitts erzählt werden, ist diese Reise auch in ein etwas ungewisses, fieberisches Licht getaucht, und vieles habe ich einfach vergessen. Aber manche Bilder stehen doch recht deutlich vor mir und scheinen mir des Erzählens wert.

So gleich dies erste, als am fünften oder sechsten Tage der Fahrt Acer uns um sich versammelte und die etwas bestürzende Eröffnung machte, daß unser Reisegeld bereits vollkommen alle sei! Wir hatten weder Geld für unser Leben in den nächsten vier Wochen, noch für die Rückreise! Unser Führer war mit einem zu gläubigen Optimismus an die Sache herangegangen. Schon die Eisenbahnfahrt bis Essen hatte die Hälfte unserer Barschaft verschlungen; in den ersten Tagen, da sich alles noch nicht eingespielt hatte, war ein wenig aus dem Vollen gelebt worden, kurz, wir waren pleite, und es erhob sich die schwerwiegende Frage: Was nun tun?

Wenn ich eben gesagt habe, unser Führer habe uns um sich versammelt, so bitte ich das nicht wörtlich zu nehmen. Draußen war tiefe Nacht und Dunkelheit. Ein ergiebiger Regen fiel auf die Dachpfannen über uns, denn wir lagen in der Scheune eines Bauern. Aber doch schon eines holländischen Bauern, denn am Tage zuvor hatten wir die Grenze überschritten. Eine Auseinandersetzung in völliger Dunkelheit, in warmes Stroh eingebettet, das Trommeln des Regens über der Nase, kann nie einen sehr heftigen Charakter annehmen. Wir waren den ganzen Tag durch Regen marschiert und fühlten uns zum erstenmal seit fünfzehn Stunden wieder warm und behaglich. Da konnte die Nachricht, wir seien völlig ohne Geld für die weitere Reise, wohl überraschend, aber keineswegs bestürzend wirken.

Es war bezeichnend, daß niemand von uns auch nur daran dachte, unserm trefflichen Acer wegen seiner schwachen Rechenkünste Vorwürfe zu machen. Das war eben Schicksal, daß unser Geld alle war, kein Wort blieb darüber zu verlieren. Auch der Gedanke zurückzufahren kam uns nicht. Er verbot sich auch schon darum, weil wir kein Geld zu dieser Rückreise hatten. Die Bahn nimmt zwar jedes Schlachtschaf ohne Zahlung von Reisegebührnissen an und erhebt sie erst vom Empfänger, uns aber unter Nachnahme den lieben Eltern zuzuleiten, hätte sie bestimmt abgelehnt.

Es gab also nur eine Frage zu diskutieren: Wie setzen wir ohne Geld unsere Fahrt genau nach dem Programm fort, haben nicht nur zu leben auf ihr, sondern verdienen auch noch das Geld für die Rückreise? Es war wirklich eine knifflige Frage, denn auch mithelfende Erntearbeit beim Bauern verbot sich, weil wir nicht weilen, sondern wandern mußten. Nun hatte zwar jeder von uns noch ein kleines Taschengeld für sich im Beutel, aber auch das hatte der fürsorgliche Acer im voraus auf fünf Mark höchstens festgesetzt, um Völlerei zu verhüten. Wer etwa doch mehr bei sich hatte, aus eigenem Entschluß oder durch die Fürsorglichkeit seiner Eltern, hütete sich wohl, dies zu gestehen. Außerdem hätten uns alle zusammengeworfenen Taschengelder kaum eine Woche weitergeholfen.

Ich war der Jüngsten einer in dieser Versammlung von vierzehn Fahrtgenossen, und da auch beim vorurteilslosen Wandervogel der Ältere selbstverständliche Vorrechte vor dem Jüngeren hat, so hütete ich meine Zunge und hörte mir schweigend den Meinungsstreit der Alten an. Er wogte lange. »Wanze« und besonders »Säugling« wußten viel zu sagen, aber es kam nichts Besonderes dabei heraus. Nach einer Stunde war man noch nicht weiter als zu Anfang: die Fahrt sollte gemacht werden, aber wovon –? Einige der Übermüdeten waren schon eingeschlafen und röchelten friedlich im Stroh voll stillem Vertrauen, der kommende Tag werde schon für das Seinige sorgen. Mich hielten meine wunden Füße noch wach.

Das Gespräch war allmählich versickert. Unserm hellen, vergnügten Führer Acer waren nun doch wohl leise Bedenken aufgestiegen, wie er die ihm anvertrauten Dreizehn gut durch die nächsten Wochen und heil nach Haus kriegen solle. Alles war nun doch einmal im Leben nicht mit Vergnügtheit zu schaffen. In die Stille hinein fing eine Klampfe an zu summen, und nun sang einer, sang und spielte das alte schöne Lied:

»Ade zur guten Nacht,
Jetzt wird's der Schluß gemacht,
Da muß ich scheiden!
Im Sommer blüht's der Klee,
Im Winter schneit's der Schnee,
Da kehr ich wieder!«

Ich weiß nicht, war der Sänger ein Spötter und sang alle unsere Fahrtenhoffnungen zur Ruh, oder meinte er es ehrlich und wünschte uns nur gute Nacht. Jedenfalls kam mir über dem Gesang ein Gedanke, und leise sagte ich, als es wieder stille geworden war: »Du, Acer, ich weiß was!«

»Wer ist denn das? Du, Esau, nicht wahr? Alle mal herhören, der Esau weiß was!«

Es raschelte überall um mich im Stroh, und der Säugling, der mich nicht ausstehen konnte und mir das auch von Anfang der Fahrt an deutlich genug zu verstehen gab, sagte höhnend: »Kinder, geht schlafen! Der Esau weiß was, und was der weiß, das wissen wir andern doch schon im Schlaf!«

Ich aber sammelte meinen Mut, denn eigentlich war es ja Vermessenheit, im Rat der Großen zu sprechen. »Ich hab' gedacht, Acer, wie wäre das, wenn wir es mit Konzerten versuchten? Ich meine natürlich nicht richtige Konzerte, aber wenn wir morgens und besonders abends in den Dörfern und kleinen Städten den Leuten etwas vorspielten und sängen? Heute haben uns doch auch ein paar ganz von selbst Brot und Wurst geschenkt, und gestern haben wir uns Kohl holen dürfen, so viel wir wollten, ganz ohne darum zu bitten.«

»Seht den Fresser!« spottete wieder der Säugling, der am dicksten und größten von uns allen war, ein rechtes Riesenbaby, und darum wurde er auch so genannt, wie er genannt wurde: der Säugling! »Aber mit dem Fressen ist es nicht getan, Esau, denn wir brauchen Geld, sprich Moneten, Hartgeld, Silber, Moos, Kies, wenn du das besser verstehst.«

»Das weiß ich auch!« sagte ich. »Aber bisher haben wir auch noch nicht gebeten. Wenn wir aber nach unserer Musik einen Teller herumgehen lassen ...«

»Einen Teller! Wir sind doch nicht die Bremer Stadtmusikanten!«

»Oder meinethalben auch einen Hut. Es stehen doch immer so viele um uns herum, vielleicht gibt der eine oder andere doch was.«

Ein langes, nachdenkliches Schweigen entstand. Dann begann die Klampfe wieder zu brummen und die Stimme zu singen:

»Nach Süden nun sich lenken
Die Vöglein allzumal.
Viel tausend Wanderer schwenken
Die Hüt' im Morgenstrahl.
Das sein's die Herren Studenten,
Zum Tor hinaus es geht,
Auf ihren Instrumenten
Sie blasen's zum Valet!«

Lang gedehnt: »Zum Valet!« Und nun triumphierend, rasch, den Bürger daheim auf der Ofenbank verspottend:

»Beatus ille homo
Qui sedet in sua domo
Et sedet post fornacem
Et habet bonam pacem!«

Wir hatten's schließlich alle mitgesungen, dies fröhlich spottende Auszugslied der deutschen Studenten aus der Stadt Prag, begeistert, froh, unbekümmert ...

Dann, als es stille geworden war, sagte Acer: »Das war nicht so dumm von dem Esau. Die Holländer gefallen mir. Vielleicht sitzt ihnen das Geld locker; sie haben was Großzügiges. Versuchen können wir es jedenfalls. Und wir sind was ganz Neues für sie, solche wie uns haben sie noch nie gesehen. Gute Nacht, alle!«

»Gute Nacht!« riefen auch wir.

Und nun raschelte überall das Stroh vom Sich-Einkuscheln, wir hörten wieder den Regen so nah gegen das Dach schlagen, und langsam wurden die Gedanken undeutlich, und wir schliefen ein.

Als wir aber am nächsten Morgen erwachten, schien schon die Sonne, unter uns im Stall machte das Vieh seinen fröhlichen Futterlärm, die Milcheimer klapperten, und wir liefen lachend zum Brunnen. Ein bißchen Brot hatten wir noch, aber das verschlug nichts gegen den gewaltigen Jugendhunger der Vierzehn. Darum, als wir gewaschen und angezogen waren, zogen wir mit unsern Instrumenten vor das weitläufige Bauernhaus – das auch wie frisch gewaschen aussah – stimmten und fingen an zu singen:

»Bin ein fahrender Gesell,
Habe keine Sorgen.
Labt mich heut der Felsenquell,
Tut es Rheinwein morgen.
Bin ein Ritter lobesam,
Reit auf Schusters Rappen,
Führ den lockern Zeisighahn

und den Spruch im Wappen:

Lustig Blut und leichter Sinn,
Futsch ist futsch und hin ist hin ...«

Als wir aber zu den Zeilen kamen:

»Was ich heut nicht zahlen kann,
Zahlen will ich's künftig,
Darum schreibt's mit Kreide an,
Wirtin denkt vernünftig!«

– da sangen wir diese Strophe mit solcher Überzeugung und Kraft, daß immer mehr Köpfe aus den Fenstern fuhren und vergnügt lachend auf uns sahen. Der Bauersmann selbst aber, ein kurzer, untersetzter Mann mit einem vergnügten roten Gesicht, trat aus der Tür, seinen Jüngsten auf dem Arm, und nickte uns freundlich zu.

Jetzt wäre nun alles in schönster Ordnung gewesen und wir hätten unsern Wunsch nach ein bißchen Frühstück (und nicht nur ein bißchen!) mit einiger Aussicht auf Erhörung vortragen können, wenn nur einer von uns ein einziges Wort Holländisch gewußt hätte. Ja, auch in dieser Hinsicht war die Reise nicht grade aufs beste vorbereitet, besaßen wir doch nicht einmal ein holländisches Wörterbüchlein! Da aber alle freundlich aufmunternd zu uns hinsahen, griffen wir in der Verlegenheit wiederum zu den Instrumenten und fingen an mit: »Wohlauf, die Luft geht frisch und rein ...«

Wir sangen und sangen und beteten um Erlösung – da kam eine Magd aus dem Kuhstall vorüber und trug an einer Holzstange zwei gefüllte Milcheimer in das Haus. Schon lief Ketsch, unser Spaßmacher, ihr nach, deutete mit dem Finger auf die schäumende Milch, hielt den Finger in den weit geöffneten Mund und faßte sofort nach seinem Bauch, den er mit kläglicher Miene schüttelte.

Da verzogen sich alle Gesichter zu einem breiten, verständnisvollen Grinsen, der Hausherr aber lachte am meisten und rief der Magd ein paar Worte zu.

Mit noch besserem Mut sangen wir immer weiter, bis dieselbe Magd zu uns kam und uns winkte, ihr zu folgen. Sie führte uns aber in eine lange Küche, die ganz mit blauweißen Fliesen gekachelt war. An dem Rand der Kachelung aber lief ein Bildstreifen um, auf dem viele blaue Windmühlen in weißem Grund zu sehen waren, und blaue Kühe mit blauen kleinen Mädchen als Hüterinnen, die trugen blaue große Schuten auf dem Kopf und hatten blaue Holzschuhe an blauen Füßen.

Mit roten Ziegelsteinen war der Boden der Küche ausgelegt, die Steine aber waren mit dem weißesten feinsten Sand bestreut. Da mußten wir an einem langem, blank gescheuerten Holztisch Platz nehmen, und auf dem Tisch standen große Terrinen mit Milchgrütze, die mit Zucker und Zimt zu bestreuen und mit ausgelassener Butter zu übergießen war. Als wir die aber mit dem besten Appetit gegessen hatten, trugen die Mädchen Körbe mit allerlei Brot heran. Zum ersten Male schmeckten wir das niederländische Korinthenbrot, das mehr aus Korinthen als aus Teig besteht, eine wahre Leckerei für die heranwachsende Jugend! Wer davon genug hatte, versuchte das Schwarzbrot, das wirklich ganz schwarz und sehr grob war und ähnlich wie Pumpernickel schmeckte. Dazu gab es die herrlichste frische Butter und Edamer Käse in roten Kugeln oder weißen Broten. Kleine scharfe Fischlein kamen auch auf den Tisch, und zum Schluß, als wir schon völlig satt zu sein glaubten, erschienen auf großen Schüsseln frisch gebratene Schollen, die in gelbem Fett schwammen. Da fingen wir noch einmal mit Essen an!

Schließlich standen wir auf. Wir waren aber so schwer und warm geworden, daß wir uns nur vorsichtig bewegten. Noch einmal versammelten wir uns vor dem Haus auf dem Hof, jetzt schon die schweren Rucksäcke auf dem Rücken, und noch einmal sangen wir. Was wir aber zum Abschied gesungen haben, das weiß ich noch heute, und ich setze das ganze Lied hierher, weil es eines meiner liebsten ist. Ich hatte so lange nicht mehr daran gedacht, aber nun, da ich mich dieses sonnigen Morgens erinnerte, fand ich es wieder in mir, ganz heil, kein Wort war vergessen. Dieses Lied aber, das wir wohl wegen seines plattdeutschen Wortlautes sangen, da wir meinten, unsere Wirte verstünden es besser, heißt so:

»Dat du min Leevsten büst,
Dat du wohl weeßt,
Kumm bi de Nacht, kumm bi de Nacht,
Segg, wo du heeßt! –
Kumm du um Mitternacht,
Kumm du Klock een,
Vader slöpt, Moder slöpt,
Ick slaap alleen! –
Klopp an de Kamerdör,
Fat an de Klink,
Vader meent, Moder meent,
Dat deit de Wind!«

Mein Herz wußte damals noch nichts von einer Liebsten, aber schon ergriff mich die traurige Schwermut dieses holsteinischen Liedes.

Auch damals standen wir eine Weile still, als die letzten Töne verklungen waren, und auch unsere Hörer am Haus waren still. Dann aber zogen wir unsere Hüte zum Abschiedsgruß, Acer aber trat zum Bauern und zog mit einer komischen Gebärde der Wehmut sein mageres Beutelchen. Wir erschraken alle sehr. Aber schon winkte der Bauer lachend ab, und lachend faßte Acer seine Hand und schüttelte sie. Lachend warfen wir unsere Hüte hoch, und lachend marschierten wir auf die Straße, die vom Regen frisch gewaschene Straße, die unter unsern Füßen dröhnte, wie eine gute Straße beim Wandern dröhnen muß.

»So!« sagte Acer befriedigt, als er uns wieder erreicht hatte. »Das hätte ja großartig geklappt. Seid ihr auch so satt wie ich –?!« Wir bejahten es, vor Vergnügen lachend.

»Und wenn es nun noch mit dem Geld klappt, sind wir aus allen Sorgen heraus.«

»Ja«, sagte der Säugling. »Aber Esau darf nicht wieder mitsingen. Er quietscht wie eine ungeölte Tür und stört uns alle.«

Leider stimmten ihm die meisten zu, und so wurde mir von Acer jedes Mitsingen verboten, und ein Musikinstrument konnte ich erst recht nicht spielen. »Bewege nur den Mund, als ob du mitsingst«, sagte Acer, und ich war tief betrübt, denn ich sang diese Lieder auch gerne. Zum ersten Male bedauerte ich es aufrichtig, daß ich nicht singen konnte.

»Er braucht ja nicht so dabeizustehen«, fing wieder der Säugling an. »Er kann ja was tun. Er kann ja das Geld einsammeln!«

Es war ganz klar, der Zorn des Säuglings auf mich hatte noch zugenommen, seit ich gestern abend einen guten Rat gegeben hatte. Ich war gar nicht für Sammeln, aber sehr für Mitsingen. Doch wurde ich überstimmt, und so kam es, daß ich mit dem Hute in der Hand durch Holland zog ...

Die kleine Stadt Appingedam war es, in der wir unser erstes Mittagkonzert abhielten. Singend waren wir in sie eingezogen; die Mandolinen klirrten, und die Klampfen brummten und summten, als wir im flotten Schritt zum Marktplatz zogen. Viel Volk folgte uns. Und noch mehr Volk sammelte sich um uns, als wir am Stadtbrunnen standen und sangen. Eng umdrängt sangen wir, ich aber bewegte nur den Mund und sang nicht.

Dann gab mir Acer einen Stoß und flüsterte »Los!«. Da nahm ich meinen Filzhut vom Kopf, ein tolles grünes Hütchen, von dem ich einen Teil der Krempe abgeschnitten hatte, weil sie mir immer in die Augen hing. Ich drehte das Dings um, und mit dem Mute der Verzweiflung hielt ich es dem ersten besten unter die Nase. Es war aber eine erste beste, und sie starrte mich erst ganz verblüfft an. Dann aber wurde sie mindestens ebenso verlegen, wie ich war, suchte eifrig in ihrer Tasche und ließ ein Geldstück in meinen Hut fallen, ein Zehn-Cent-Stück, sah ich, soweit war ich des Holländischen schon mächtig.

Ein Anfang war gemacht, und nun ging es viel leichter. Einer muß nur etwas vormachen, und schon tun ihm die andern es nach. Es klapperte und klimperte in meinem Hut, viel Kupfer, aber auch manchmal Silber. Ich sah es mit Freude. – – Oft sprachen mich auch Herren an – in den Städten gab es viele, die Deutsch konnten –, erkundigten sich nach unserm Woher und Wohin und fragten wohl auch »Studenten?«, was mich sehr stolz machte, denn ich war ja erst dreizehn! Dann antwortete ich ihm »Fahrende Schüler«, denn ihm zu erklären, was ein »Wandervogel« war, wäre zu weitläufig gewesen. Ich mußte ja kassieren, die Augen meiner Kameraden ruhten auf mir, und auch in Holland gab es die Sorte, die sich gerne drückt, wenn es ans Zahlen geht.

Sie sangen und sangen, bis ich meine Runde gemacht hatte, dann marschierten wir wieder mit Jubel, aber noch mit stillem, aus dem Städtchen hinaus. Nein, in Appingedam haben wir nicht gegessen, und der Stadt Appingedam haben wir nichts zu verdienen gegeben, obwohl sie uns als erste von allen niederländischen Städten so reich beschenkt hat! Wir scheuten uns doch, vor den Augen der Städter unsern Verdienst nachzuzählen, diesmal wollte auch ich nicht »gierig« aussehen.

Ich marschierte neben Acer, den Hut an zwei zusammengeklappten Krempen in der Hand. Und der Hut war schwer! Man fühlte richtig, daß etwas in ihm drin war!

Als wir aber nach draußen ins Freie kamen, da hielt uns nichts mehr, wir warfen uns in den Straßengraben und schrien: »Zählen, Acer, zählen!«

Da wurde gezählt, und es wurde ermittelt, daß wir mit einer halben Stunde Gesang siebenundzwanzig Gulden und zweiundsechzig Cent verdient hatten, und der holländische Gulden war mehr wert als die Mark!

Wir sahen uns erleichtert in die strahlenden Gesichter, und selbst der Säugling hatte nichts zu bekritteln.

»Wenn das so weitergeht, kommen wir mit mehr Geld nach Haus, als wir mitgenommen haben!« rief einer.

»Sachte! Nur sachte!« mahnte der plötzlich wirtschaftlich gewordene Acer. »Wir müssen zuerst das Geld für die Heimreise zurücklegen. Und wenn wir gut verdienen, fahren wir mit einem Dampfer über den Zuidersee, statt ihn zu umwandern. Dadurch sparen wir drei Tage, und die bleiben wir in Amsterdam, was auch eine Masse Geld kostet ...«

Aber mit dem Sorgen war es wirklich vorbei. Die Lebensmittel waren so billig, und wie oft bekamen wir sie noch geschenkt! Wirklich, diese Holländer waren ein großzügiges Volk! Acer hatte die richtige Witterung gehabt, kaum einer hatte Bedenken, sich vierzehn Fresser an den Tisch zu laden. Und mit unsern Konzerten ging es weiter gut. Wir verdienten viel Geld, haben es freilich auch alles wieder ausgegeben und sind nicht als reiche Leute nach Haus zurückgekehrt.

Vater freilich, als ich ihm später von unsern Konzerten und meinem Geldsammeln erzählte, wiegte den Kopf bedenklich hin und her. Es ging ihm doch etwas wider die Ehre, daß sein ältester Sohn wie ein Bettelmusikant mit dem Hut in der Hand auf öffentlichen Straßen und Plätzen kassiert hatte! Aber schließlich lächelte er doch. Es schien ihm vielleicht ganz gut, daß der ewige Träumer mal etwas vom wirklichen Leben zu schmecken bekommen hatte! Wie oft sagten Eltern und Geschwister von mir, wenn ich nicht antwortete auf ihre Fragen: Sehet, da kommt der Träumer!

Ich habe auf dieser Fahrt nichts von schönen Gebäuden, von Museen und Bildern gesehen, an denen die Niederlande doch so reich sind. Ohne jede Last von Schulwissen wanderten wir und ohne allen Bildungsdrang. Unsere Augen waren für diese Art Schönheit noch nicht geöffnet, und der vergnügte Acer war wohl auch nicht der Mann dazu, sie uns auf zutun. An nichts der Art erinnere ich mich.

Aber ich sehe die niedrigen holländischen Häuschen noch deutlich vor mir, schön rosa und bläulich und grünlich getüncht, die innen und außen so unglaublich sauber waren. Und ich weiß noch, wie die Holzschuhe mit ihren aufgebogenen Spitzen, zogen wir sehr frühe durch ein Dorf, alle frisch gescheuert vor den Türen standen, erst die großen der Eltern, dann klein und immer kleiner werdend die Schuhe der Kinder. Ich meine noch das fröhliche, trockene Klappern all dieser Schuhe zu hören, wenn die Kinder aus der Schule kamen.

Und ich sehe noch die weißen weiten Kopfhauben, die die Gesichter der Frauen und Mädchen wie ein Rahmen umgaben, und den silbernen Kopfschmuck, der, je näher wir der See kamen, um so häufiger glatt wie eine aufgeklappte Muschel die beiden Scheitel der Frauen bedeckte. Ich erinnere mich auch der endlosen breiten Landstraße, die fast siebzig Kilometer lang fast ohne einen Knick von Groningen nach Leeuwarden führt, auf der wir marschierten und marschierten, zwei Tage lang ... Und ich höre wieder die uralten hohen Pappeln über uns rauschen auf dieser Straße, und sehe sie klein und eng werden zehn Kilometer vor uns, und so fleißig wir marschieren, wir erreichen nie diese kleine enge Stelle, sie rückt immer weiter. Wir aber wandern im Troß, mit uns zieht ein ganzes Volk, zu den Märkten und von den Märkten, und wir lachen über die kleinen Wägelchen, auf denen ein Mann vor einem Korb Kohl oder Gurken sitzt, und zwei Hunde ziehen ihn im Galopp auf der ebenen, glatten Straße, zwei wohlgenährte, vergnügte Hunde, die nichts mit unsern jämmerlichen Ziehhunden gemein haben.

Auch sehe ich mich wieder auf dem Käsemarkt zu Edam stehen und mit Staunen auf die Gebirge von Käse schauen, die dort aufgetürmt sind, weit über mannshohe Pyramiden aus roten Kugeln und wahre Bastionen aus gelben Käseleibern. Der ganze Markt riecht scharf und doch angenehm nach diesen Käsen, und wenn ein Händler kommt und prüfend vor einem Haufen stehenbleibt, so greift der Verkäufer rasch eine Kugel aus der Pyramide, setzt einen Bohrer an und bohrt ein Loch bis in die Mitte der Kugel. Die mit dem Bohrer gefaßte Kostprobe bietet er dem Händler, der nun kostet und schmeckt, ob der Käse auch bis innen reif ist. Wir erfahren, daß diese angebohrten Käse zum Schluß des Marktes für ein paar Cent zu kaufen sind, und erwerben viele. So essen wir doch auch einmal Edamer Käse mit Löchern, was nicht viele getan haben.

Aber beim Erinnern überfällt mich ein anderer Duft, und ich denke an die großen Hyazinthenfelder längs der graden Pappelallee, an diese Felder, die so ungewohnt lila und rosa und cremefarben sind und einen fast betäubenden Duft zu uns senden.

Wir sind reich, wir können unser Programm glatt durchführen, wir brauchen nicht um den Zuidersee herumzulaufen, wir fahren von Harlingen nach Helder mit einem kleinen Dampfer. Als wir aber dort die richtige See erblickt und in ihr gebadet haben, werfen wir unser Programm völlig um. Wir verzichten auf die Städte des Binnenlandes, wir können uns vom Meer nicht mehr trennen, wir beschließen, bis zur Höhe von Amsterdam immer an der See entlangzuwandern.

Nur in kleinen Tagesmärschen rücken wir vor, der Hauptteil des Tages gehört dem Baden und der Sonne. Am Abend schlagen wir das Zelt ganz am Dünenfuß auf, oder lieber noch ein Stück die Düne hinauf, denn in der ersten Nacht geschah es uns Unerfahrenen, daß uns die Flut aus unserm Schlafe weckte. Es gab einen überstürzten Aufbruch in dunkelster Nacht, meine Uhr mußte ich aus dem Wasser fischen, der Abbruch des Zeltes war schwierig, und manch gutes Stück bedeckte die Flut oder verdarb es. Am nächsten Tag aber gab es ein emsiges Trocknen an der Sonne. Seitdem sind wir vorsichtig geworden.

Immer stiller und großartiger wird die Einsamkeit, in die wir eindringen. Immer wilder, höher, zerrissener werden die Dünen, jetzt sind es schon wahre Berge, und in vielen Ketten liegen sie hintereinander! Nur Sand und See und Sonne und darüber die Möwen! Es ist eine Lust zu leben, zu baden, sich wieder an der Sonne trocknen zu lassen und wieder ins Wasser zu springen. Manchen Tag sehen wir nicht einen Menschen. Das Besorgen von Essen und besonders von Trinkwasser macht immer mehr Schwierigkeiten. Mit dem frühesten müssen vier Mann über den breiten Dünensaum landeinwärts wandern, bis sie einen Ort finden, wo Lebensmittel gekauft, Wasser geholt wird. Wir haben uns einen Wassersack angeschafft. Es ist schweres Tragen über die hundert Meter hohen Dünen, durch den losen Sand auf und ab. Erst gegen Mittag kommen die vier wieder zu uns, dann fängt das Essenkochen an, dann hat die Sonne auch schon das gesammelte Treibholz getrocknet

Acer hatte bestimmt, daß ich zum Wasserholen nicht mitzugehen brauche, ich schien ihm zu schwächlich dafür. Da ich nun weder Essen kochen kann, noch Kartoffeln so schälen, daß die Schale nicht dicker wurde als der Kern, bin ich ein recht unbrauchbares Mitglied unserer Gesellschaft. Das wird mir manchmal auch recht deutlich zu verstehen gegeben, am deutlichsten aber vom Säugling.

An einem Schicksalstag hatten die Essenholer grüne Bohnen mitgebracht. Sie waren geschnitzelt und dann mit Fleisch und Kartoffeln in den großen Kessel geworfen. Das Feuer brannte lustig, Treibholz lag genug zum Nachlegen bereit, und Acer sah seine Gesellen prüfend an, wen er als Feuermann am Kessel zurücklassen sollte.

Da rief der Säugling: »Hör mal, Acer, wir finden alle, jetzt ist auch mal der Esau dran! Immer drückt er sich von allem! Das Essen ist fertig, er braucht nur nachzulegen, daß der Topf am Kochen bleibt. Dabei kann er doch wirklich nichts verderben!«

Acer fand das auch, und so sah ich die andern bald den Strand entlangstürmen, immer auf dem festen, vom Seewasser bespülten Streifen. Sie hatten eine weite Entdeckungsreise vor, sie wollten nach Strandgut suchen. Strandgut übte auf uns alle immer einen großen Reiz aus, und wenn es nur ein paar angeschwemmte, vom Salzwasser ungenießbare Apfelsinen waren oder ein Flasche, die nichts enthielt, aber so leicht eine Flaschenpost hätte sein können!

Ich sah ihnen nach, langsam wurden ihre Gestalten kleiner und waren plötzlich hinter einer weit vorspringenden Dünennase verschwunden.

Ich setzte mich in den Sand, nahe am Feuer. Eigentlich war es mir ganz recht, daß ich einmal allein geblieben war. In den letzten Tagen war mir gar nicht gut, ich hatte ewig Kopfschmerzen, manchmal wurde mir schwindlig, ich war überzeugt, daß ich Fieber hatte. Den andern hatte ich nichts davon gesagt, ich empfand es schon bitter genug, daß ich ihnen durch Ungeschicklichkeit und Schwäche eine ewige Last war. Was sollten sie erst mit einem kranken Esau anfangen –? In einigen Tagen waren wir in Amsterdam, und von da sollte es rasch zur deutschen Grenze gehen, in zehn Tagen würden wir wieder zu Haus sein. Bis dahin würde ich es schon durchhalten.

Ich griff nach dem Treibholz und legte nach. Ein großes Stück ließ sich nur mühsam unter den Kessel zwängen, ich brauchte ein wenig Gewalt, und schon kippte der Kessel und ergoß seinen Inhalt mit breitem Strom über den Sand. Etwas verwirrt starrte ich darauf. Zuerst begriff ich den vollen Umfang des angerichteten Schadens noch nicht. Dann wurde mir langsam klar, daß dort das Mittagessen von vierzehn sehr hungrigen Jungens im Sande lag und daß es in mindestens zehn Kilometer Umkreis kein Dorf gab, aus dem Ersatz zu holen war!

Das brachte Leben in mich! Ich sprang auf und lief zu dem Wassersack. Aber der Wassersack war leer. Ich erinnerte mich, daß schon heute früh gesagt worden war, das Wasser sei knapp, Trinkwasser gebe es erst wieder zum Abend, alles Wasser müsse zum Kochen genommen werden.

Langsam ging ich zum Kessel. Ich hatte meine Sache fürwahr trefflich gemacht: der Kessel war vollständig leer, auch nicht ein Tropfen Wasser war mehr in ihm, Aber etwas mußte geschehen, ich konnte hier nicht tatenlos sitzen und die Rückkehr von dreizehn wilden Barbaren abwarten, mit einem leergelaufenen Kessel!

Ich schaufelte alles, was; im Sande lag, Bohnen, Kartoffeln, Fleisch mit sehr viel Sand in eine Zeltplane und ging damit zur See hinunter. Hier wusch ich alles mit Seewasser, so gut es eben ging, spülte den Sand ab und füllte das Verbliebene wieder in den Kessel. Vieles war fortgeschwemmt, aber was jetzt im Kessel lag, sah immer noch recht stattlich aus. Vor allem setzte ich meine Hoffnung auf das Fleisch. Fleisch war immer gut, und am Fleisch wenigstens fehlte nichts. Ich brachte den Kessel wieder aufs Feuer und füllte ihn mit Hilfe eines Kochgeschirrs neu mit Wasser. Mit Seewasser natürlich, denn anderes hatte ich nicht.

Nun hielt ich das Feuer mit mehr Aufmerksamkeit in Gang, und bald kochte es recht vertrauenerweckend im Kessel, und es sah auch nicht anders aus als vor dem Unfall. Meine Hoffnung wuchs, ungeschoren durchzukommen. Als dann die Kartoffeln weich zu werden schienen, holte ich mir meinen Löffel und kostete, banger Vorahnungen voll.

Teufel! dachte ich, Teufel! daß es ein bißchen versalzen schmecken würde, das hatte ich mir schon gedacht, aber dies schmeckte nicht versalzen, dies schmeckte rundheraus gallenbitter, dies war auch für den hungrigsten Menschen nicht genießbar. Ich wagte nicht, einen zweiten Löffel zu kosten, hockte mich vor dem Kessel nieder und betrachtete melancholisch den Dampf, der vom Mittagessen der Vierzehn aufstieg.

Allmählich aber regten sich meine Lebensgeister wieder. Es mußte einen Ausweg geben, ich mußte das Essen doch noch genießbar machen! In meinem wirklich fiebrigen Kopf – ich glaubte damals von mir selbst, ich hätte einen leichten Sonnenstich – regten sich Ideen. Da waren zum Beispiel Plus und Minus, sie hoben einander auf. Und da gab es Weiß und Schwarz, wenn man sie aber mischte, wurde daraus ein sanftes Grau. Und solche Gegensätze waren eben auch Salz und Zucker, durch eine Zuckerbeigabe mußte sich doch das Zuviel an Salz aufheben lassen! Ich hatte Zucker im Rucksack, eigentlich alle hatten Zucker im Rucksack, privaten Zucker heißt das. Wir liebten alle das Süße, und der uns aus allgemeinen Mitteln gespendete Morgenkaffee bedurfte stets eines privaten Nachsüßens.

Ich ging zuerst an meinen Rucksack und schüttete fast zwei Pfund Zucker in den Kessel. Ich rührte um und kostete: grauenvoll! Ich ging an Pietschens Rucksack und beraubte ihn. Dann kam Acer daran, dann die Wanze – was soll ich viel erzählen, ich beraubte, innerer Hoffnung voll, alle Rucksäcke ihres Zuckers, zuallerletzt den vom Säugling. Ich tat gewöhnlichen Zucker, Stückenzucker, Kandiszucker in den Kessel, und das Resultat war: noch grauenvoller! Dann sank ich in den Sand und erwartete apathisch mein unvermeidliches Schicksal. Ich hatte getan, was ich tun konnte, nun war die Reihe an den andern!

Sie kamen herangestürmt, braun und nackt und wild und so hungrig! Sie waren in der allerbesten Laune und überschütteten mich lachend mit ihren Erlebnissen, während sie die Eßschalen holten. Acer schwang den großen Auffüllöffel und rief: »Ran, wer Kohldampf hat! Es riecht großartig!«

Und er kellte auf, während ich das frohe Bild der erwartungsvoll herandrängenden Hungernden mit meinen Blicken verschlang: in einer Minute würde es nicht mehr froh sein! Und dabei noch immer diese wahnsinnige Hoffnung, wie ein Stoßgebet zu meinem guten Engel: sie sollen es nicht schmecken! Sie dürfen es nicht schmecken!

Und sie hoben die Hände zum lecker bereiteten Mahle ... Und sie ließen sie so rasch wieder sinken ... Dreizehn Löffel klapperten gegen die Ränder von dreizehn Eßgeschirren, dreizehn Augenpaare starrten mich düster an ...

»Esau!« sagte Acer mit unheilverkündender Stimme, »was in aller Welt hast du mit unserm Essen angestellt –?!!«

Also denn los! Nun half nichts mehr. Ich erzählte alles, erzählte es so kurz wie möglich, und sie saßen stumm dabei, ihre dampfenden Kochgeschirre vor sich, und starrten mich nur an, ohne ein einziges Wort, ohne einen Zwischenruf. Nur als ich von dem Zuckerraub berichtete, ging eine kurze Bewegung durch alle, wie wenn ein erster Windstoß vor dem Gewitter durch die Baumkronen fährt.

Ich hatte geredet, und noch immer sprach niemand ein Wort. Dann nahm Acer seine Eßschale, drehte sie um und ließ den Inhalt in den Sand fließen. Und die andern zwölf folgten seinem Beispiel.

»Esau!« sprach Acer dann. »Ich habe dich in Schutz genommen, aber du bist wirklich zu gar nichts zu gebrauchen! Du bist kein Mensch, du bist ein Trottel!« Und zu den andern: »Also packt möglichst schnell zusammen. Wir haben vierzehn Kilometer bis zum nächsten Dorf. So lange müßt ihr euch mit euerm Hunger und euerm Durst einrichten. Los!«

An diesen Marsch über den glutheißen Strand werde ich mein Lebtag denken! Noch nie hatte die Sonne so heiß geschienen, noch nie hatte das Licht auf den weißen Dünen so sehr geblendet. Und immer zur Rechten das Meer, mit seinem ewigen sinnlosen Gebrüll, das nach was klang und gar nichts bedeutete, dieses Meer, das so gallenbitter schmeckte! Ich zuckelte hinter den andern drein, zusammenbrechend unter der Last meiner Selbstvorwürfe, und niemand sah sich nach mir um, und niemand sprach mit mir ein Wort. Aber jedesmal, wenn jemand vorne über den verdammten Durst schimpfte, zuckte ich zusammen und kam mir wie ein Verbrecher vor. Der Kopf brummte mir stärker als je, und wenn das Licht stark blendete, wußte ich gar nicht mehr, wo ich ging. Es war mir, als schelte auch das Meer mich, dieses völlig versalzene Meer!

Nun, wir sind schließlich doch zu einem Dorf gekommen. Da war es schon dunkel geworden. Und wir haben gegessen und getrunken, aber ich blieb der Ausgestoßene. Auch am andern Morgen, als die Gefährten sich schon besserer Laune erhoben, wurde noch immer nicht mit mir gesprochen, ich war Luft für sie. Wir traten wieder die Wanderung am Strande an, der Wassersack wanderte gefüllt mit uns, ebenso der Proviant. Dann wurde das Essen vorbereitet, in den Kessel getan, Pietsch zum Koch bestimmt, und alle stürmten zum Baden.

Ich sah zweifelnd von Pietsch zu den Badenden. Schließlich fragte ich: »Bist du mir auch so böse, Pietsch?«

»Geh man zum Baden!« sagte Pietsch. »Ich kann dich hier nicht brauchen.«

So ging ich den andern nach, die noch unschlüssig am Strande standen, bei meinem Annähern aber ins Wasser liefen. Nur Acer ging von den Badenden fort, den Dünen zu. Ich wäre ihm gerne gefolgt, aber ich fürchtete eine zweite Zurückweisung, und so ging ich ins Wasser. Ich konnte damals noch nicht schwimmen, aber das Schwimmen hätte mir auch wenig genutzt. Niemand konnte hier seine Schwimmkünste ausüben, der Wellenschlag war viel zu stark. Man hatte zu tun, daß man auf den Beinen blieb.

Langsam folgte ich den andern, mir war gar nicht sehr nach Baden zumute. Aber ich durfte mich nicht von ihnen absondern. Ich näherte mich ihnen, aber auch sie näherten sich mir. Ich hatte so etwas noch nie erlebt, darum blieb ich bis zum letzten Augenblick ahnungslos. Plötzlich – sie hatten einen förmlichen Ring um mich gebildet – rief Säugling: »Jetzt wollen wir ihm salzige Suppe zu schmecken geben!« – und alle stürzten auf mich!

In einem Moment war ich untergetaucht, und kaum erschien mein Kopf wieder über dem Wasser, ergriff ihn schon eine andere Hand, und ich verschwand von neuem in den Fluten. Erst ließ ich es mir fast gutwillig gefallen, selbst überzeugt, ich hätte solches Einsalzen verdient. Als mir aber die Luft immer knapper wurde, als sie mich gar nicht mehr aus dem Wasser hochkommen ließen, als ich erst drei, vier, sechs Schlucke von dem gallenbitteren Wasser genommen hatte, kam Todesangst über mich. Ich stieß mit Händen und Füßen um mich, ich versuchte, mich an ihnen festzukrallen, aber das machte sie nur noch wilder –!

Wie lange das alles gedauert haben mag, davon habe ich natürlich keine Ahnung – mir ist es wie eine Ewigkeit vorgekommen. Es werden aber wohl nur ein paar Minuten gewesen sein, aber auch ein versalzenes Bohnengericht ist mit ein paar Minuten echter Todesangst zu teuer bezahlt! Schließlich ließen fast alle von mir ab, nur Säugling tauchte mich immer noch wieder, trotzdem ich nur noch taumelte und sichtlich nicht mehr ganz bei Besinnung war.

(Ich habe mein ganzes Leben hindurch solche Menschen getroffen, die mich instinktiv haßten, oft noch ehe sie mich überhaupt kannten. Es ist die alte Geschichte von dem Urhaß, der zwischen dem einen und dem andern Samen eingesetzt ist. Ich habe ihnen diesen Haß aber immer redlich zurückgezahlt!)

Schließlich rief Acers Stimme befehlend vom Strande her: »Nun ist's genug, Säugling! Bring ihn 'raus!«

Ich wurde an den Strand geschleppt und vor meinen Häuptling hingelegt, und das erste, was ich tat, als ich mich wieder ein bißchen rühren konnte, war, daß ich einige Liter Seewasser erbrach. Acer blickte ein wenig zweifelhaft auf mich und half mir fast liebevoll zur Kochstelle zurück. Ich nehme an, er hatte kein ganz reines Gewissen, daß er diese Taucherei durch sein Entfernen stillschweigend gebilligt hatte. Ich muß auch sagen, daß für alle andern – bis auf den Säugling natürlich – das versalzene Mittagessen mit dieser Taucherei endgültig vergeben und vergessen war. Sogar Anspielungen darauf waren verpönt, und fing Säugling doch einmal wieder davon an, hieß es sofort: »Halt's Maul, Säugling!«

Ja, sie waren genauso freundschaftlich und voller Hilfsbereitschaft für mich wie vorher. Sie waren die besten Jungen von der Welt, sie konnten wütend werden über ein verdorbenes Mittagessen und einen Durstmarsch, aber sie trugen nichts nach!

Und als in den nächsten Tagen allmählich klar wurde, daß ich wirklich krank war, taten sie alles, um mir das Leben zu erleichtern. Sie schleppten meinen Rucksack, schließlich schleppten sie mich selbst, viele, viele Dutzende von Kilometern entlang, endlose Straßen, jetzt meist im Regen. Ich habe wenig Erinnerungen an diese Zeit. Jetzt hatte ich schon viel Fieber und war oft so weit weg, daß ich die Stimmen der andern nur wie durch eine Wand hörte.

Von Amsterdam weiß ich gar nichts mehr, obwohl wir dort drei Tage blieben, und der Rest des Rückweges bis Wesel ist nur ein feuriger Nebel. Doch ich erinnere mich noch, daß ich einmal unter einem Wegweiser im Regen saß und Acer flehentlich bat, mich hier doch sitzen zu lassen. Ich weiß bestimmt, ich saß in einer großen Pfütze und aus irgendwelchen Gründen fand ich das angenehm. Vielleicht kühlte sie. Und wieder feuriger Nebel.

Aber sie haben mir nie mit einem Wort zu verstehen gegeben, welche Last ich für sie war, wie sehr ich ihnen ihre Ferienfahrt verdarb. Sicher hat dabei auch der Gedanke mitgespielt, sie hätten mich durch ihre übertriebene Taucherei krank gemacht, denn das glaubten sie alle. Aber auch ohne das wären sie so anständig gewesen. Sie legten ihre letzten Kröten zusammen, um mich und Acer in der zweiten Klasse eines Schnellzuges vorauszuschicken, und fuhren unter Wanzes Kommando in der vierten Klasse eines Personenzuges hinterher. Gute Jungens –!

Acer fuhr mich in einer Droschke nach Haus, brachte mich die Treppe hinauf, legte meinen Rucksack neben mich, klingelte, sprach: »Na, erhol dich schön, Esau!«, und verschwand eilig treppab. Ich verstehe vollkommen, daß er eine gewisse Scheu vor der ersten Aussprache mit meinen Eltern hatte, vor den unvermeidlichen Erklärungen und Vorwürfen – für den ersten Augenblick genügte ich als Tatsache vollkommen!

Ich war etwas klarer in dieser Viertelstunde. Unter Außerachtlassung meines Rucksackes stolzierte ich in Vaters Arbeitszimmer, wo beide Eltern waren, setzte mich auf einen Stuhl, starrte sie an, sprach: »Ich glaube, ich habe einen Sonnenstich!« worauf ich prompt ohne Besinnung vom Stuhle fiel. Ich hatte aber keinen Sonnenstich, ich hatte den Typhus!

Auch als ich wieder nach recht langer Zeit gesund geworden war, nahm ich meine Tätigkeit im Wandervogel nicht mehr auf. Aber nicht etwa wegen eines Verbotes meiner Eltern, sondern darum, weil mir die andern böse waren, ernstlich und unversöhnlich böse. Ich hatte sie mit meiner Ungeschicklichkeit gequält. Ich war hilflos gewesen. Ich hatte ewig wunde Füße gehabt. Ich hatte nie so viel laufen können, wie die Jungen gerne gewollt hätten. Ich habe nicht singen können, und ich habe ihnen das Essen versalzen. Ich war ihnen durch zehn Tage eine Last und eine Angst. Und all das hatten sie mir großzügig verziehen und waren meine guten Kameraden geblieben.

Aber daß ich den Typhus bekommen hatte, das verziehen sie mir nicht! Ich hatte dasselbe Wasser mit ihnen getrunken, und sie hatten keinen Typhus bekommen, ich aber hatte ihn bekommen!

Ich hatte ihre Ferienreise geschändet, ich hatte eine Untersuchung über sie heraufbeschworen, ich hatte der Wandervogelbewegung geschadet, ich hatte ihren geliebten Führer zum Austritt aus dem Wandervogel gezwungen. Es war reine Bosheit von mir, es war einfach unverzeihlich. Ich war kein Wandervogel mehr ...

Ein Jahr später hat mich Acer auf der Straße getroffen und mich angehalten. »Na, Esau, wieder in Ordnung?«

»Danke, Acer!« antwortete ich. »Wie du siehst. Ich habe sogar schon wieder Haare auf dem Kopf. Vom Typhus gehen einem nämlich die Haare aus.«

»Mensch, Esau!« rief Acer entrüstet. »Du hast doch keinen Typhus gehabt! Erzähl mir doch bloß so was nicht! Dann hätten doch wir alle den Typhus kriegen müssen! Nein, sie haben dem Wandervogel was auswischen wollen, und da haben sie dich fein dazu gebrauchen können, diese fetten Bürger! Und du bist noch so ein Kamel, daß du ihnen alles glaubst! Du weißt doch, Esau, du bist immer ein Kamel gewesen, die ganze Fahrt lang ...«

Ihr ewigen Götter! Mein weiser Rat, Konzerte zu geben, hatte ihnen erst die ganze Fahrt möglich gemacht – und nun war ich immer ein Kamel! Was ist Ruhm, was ist Verdienst – ihr ewigen Götter!


 << zurück weiter >>