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Donia war krank, und alles ging auf den Zehen. Sie phantasierte von Wiesen und Engeln, von der Mutter und Herrn Peters, und dazwischen lallte sie mit schwacher Stimme:
»Lang, lang ist's her.«
Frau Köpke mußte immer weinen, wenn sie das hörte.
Manchmal hustete Donia und gab ein wenig Blut auf.
»Eine gehörige Lungenentzündung,« sagte der Arzt: »das kleine Fräulein muß sich wohl irgendwo erkältet haben.«
»Das ist ja so leicht zu,« meinte Frau Köpke; »ach Gott, wo mag sie sich das wieder geholt haben?«
Genug, Donia war krank, sehr krank, und alles sorgte sich um sie.
Herr Mellini fragte an und wünschte gute Besserung. Herr Peters vergaß nie, nach dem Befinden Fräulein Purtallers zu fragen, und erlaubte sich einmal sogar, ein paar Blumen für die Kranke mitzubringen.
»O Herr Peters,« rief Frau Köpke aus, »da wird Donia sich aber freuen.«
Aber Donia konnte den Blumenduft nicht vertragen, und Frau Köpke stellte die Blumen zu Herrn Purtaller ins Zimmer.
Herr Purtaller war sehr gebrochen. Sein Gewissen peinigte ihn. Seine arme, kleine Donia! Als er sie wiedergesehen, nachdem sie ihn im Zorn verlassen hatte, ihn, den elenden, schlechten Vater, da lag sie schon im Fieber.
»Von grünen Wiesen phantasierte sie. Ach, sie hat ja nie grüne Wiesen gesehen. Immer nur schmutzige, graue Dächer. Und die Engel – und die Mutter – ach, meine Amalia, siehst du, wie unser Kind leidet?«
Der arme Herr Purtaller bedurfte des Trostes, und da Frau Köpke in diesen trüben Tagen die Augen nicht überall haben konnte, gelang es Herrn Purtaller wieder, eine Flasche hinter das Bett zu bringen.
Es war keine Sünde, nein, Herr Purtaller war fest davon überzeugt; es war ihm Bedürfnis, ein unabweisliches Bedürfnis. Wie sollte er bestehen in seinem Schmerz? Wie sollte er ihn anders tragen, diesen großen Kummer?
Max hatte ein bewährtes und zugleich unschädliches Mittel, sein Herz zu erleichtern, das Herrn Purtaller leider nicht zu Gebote stand.
Welkest du dem Grab entgegen,
Donia, holde Rose du,
Mich auch soll man zu dir legen,
Betten in des Todes Ruh.
Was mir oben nicht gegönnet,
Unten wird es mir geschenkt;
Wenn man deinen Namen nennet,
Daß man meiner auch gedenkt.
Diese Verse zeugten gewiß von der schmerzlichen Erregung seiner jungen Seele. Im übrigen war er von gutem Appetit und behielt die gesunde Färbung seines Gesichts, obgleich sein Herz voll ehrlicher Anteilnahme an Donias Leiden war.
»Ob sie wieder besser wird?« fragte er Hanna.
Hanna hoffte es.
»Es wäre doch schrecklich, wenn sie nicht wieder besser würde,« sagte Max.
Hanna gab das zu.
»Ich mag sie jetzt doch auch ganz gerne leiden,« sagte sie; »zuerst mochte ich sie gar nicht leiden, aber sie ist doch ganz nett.«
»Sehr nett sogar,« beteuerte Max.
»Daß du in sie verliebt bist, weiß ja schon die ganze Welt,« sagte Hanna.
Max wurde rot.
»Dummes Zeug,« rief er, schämte sich aber, in dieser Stunde Donna Donia zu verleugnen, und sagte ritterlich:
»Das weiß ich! Ich liebe Donia auch. Bisher habe ich noch nicht gewußt, was Liebe ist.«
»Nun wird's Tag!« rief Hanna und ahmte ihm nach: »Bisher habe ich noch nicht gewußt, was Liebe ist!«
»Du weißt es natürlich schon lange,« höhnte Max.
»Jedenfalls länger als du.«
»Glaub nur nicht, daß Karl Möller noch für dich schwärmt; der hat jetzt eine ganz andere!« fagte Max.
»Deine dummen Schuljungens!« rief Hanna verächtlich. »Glaubst du, ich verlieb mich in so einen dummen Mützenfatzke?«
Max sah aber doch, daß er Hanna tödlich geärgert hatte und triumphierte über sie.
Dumm war es ja von ihm gewesen, daß er mit Hanna von seiner Liebe zu Donia gesprochen hatte. Und doch, in innerster Seele war es ihm eine Genugtuung, daß er sich offen zu Donia bekannt hatte.
Donna Donia, Donna Donia,
Ewig treu bleibt Euch dies Herze,
Lispelt Euren Namen, Donna,
Noch im letzten Todesschmerze.
So schloß seine Romanze von Donna Donia und dem edlen Ritter Don Rodrigo. Sauber abgeschrieben auf vier mit roter Seide zusammengehefteten Blättern lag sie ganz unten in seiner Schublade.
Donna Donia aber, nachdem sie vier Wochen auf ihrem Krankenbette zugebracht hatte, genas wieder.
Wieder bist du uns gegeben,
Wieder bist du uns geschenkt,
Meiner Liebe Sehnsuchtsbeben
Hat dein Lebensschiff gelenkt.
Wieder soll mir deine süße
Stimme in die Seele singen,
Und ich küsse deine Füße,
Die mich auf die Knie zwingen
sang Max jubelnd.
Aber weder küßte er ihre Füße, noch erklang Donias süße Stimme ihm wieder. Die war auf immer dahin.
Am härtesten traf das Herrn Purtaller, der nun alle seine goldenen Zukunftsträume auf einmal zerrinnen sah. Und sein Gewissen schob ihm die Schuld zu. Zwar sagte er sich immer wieder, daß der Arzt eine Erkältung festgestellt hätte, eine einfache Erkältung als Ursache der Lungenentzündung. Aber die innere Stimme wollte nicht schweigen. Gleich nach der häßlichen Szene mit ihm war Donia erkrankt.
Scheu und gebrochen schlich Herr Purtaller umher und litt unter Donias Liebe nur noch mehr.
Diese, die doch am meisten betroffen war, zeigte sich am tapfersten. Zwar sah auch sie ihre Hoffnungen mit schmerzlichem Bedauern dahinschwinden. Ach, wie schön hatte sie es sich gedacht, einstmals so aus voller Seele ihre Lieder in die Herzen der Menschen singen zu können. Und ein bißchen Eitelkeit und Freude am Ruhm und ein bißchen Gedenken an Gold und Wohlleben war auch dabei gewesen. Und als sie zur Gewißheit kam, daß das nun alles verloren sei, für immer verloren, weinte auch sie ein paar Tage. Aber als sie sich ordentlich satt geweint hatte, dachte sie verständig: Was jetzt? Nun heißt es etwas anderes anfangen. Und sie besprach es mit Frau Köpke, der sie so vielen Dank schuldig geworden war, und die nun alle ihre Güte und ihr vieles Geld an einen Traum verschwendet hatte.
Herr Peters gab zuletzt den Ausschlag mit seinem Rat, jetzt das Klavierstudium um so eifriger fortzusetzen. Donia sei musikalisch genug, um es noch mit einigem Fleiß so weit zu bringen, um sich selbst einmal mit Unterrichten ihr Brot zu verdienen.
Wie glücklich war Donia, daß Herr Peters dieses Vertrauen in sie setzte.
»Und dann ist Herr Peters ja auch billiger als Herr Mellini,« sagte Frau Köpke. »Und wenn du das denn gerne willst, so ist mir das auch recht.«
Herr Peters schien sehr erfreut über diese Wendung. Vielleicht war er es auch um so mehr, als Hanna nun vor der Konfirmation stand und ihre Musikstunden aufgeben sollte.
»Für ihre Bildung hat sie nun genug getan,« sagte Frau Köpke, »nun soll sie erst mal kochen lernen.«
Herr Peters fand das sehr vernünftig, gerade für »Fräulein Hanna« sehr vernünftig.
Im Grunde war er des Tausches sehr froh; er wollte lieber zehn Donias für eine Hanna unterrichten.
Mit einer Donia mußte er sich nun freilich begnügen. Aber er wandte an diese einen zehnfachen Eifer.
»Herr Peters sieht jetzt immer so vergnügt aus, wenn er kommt,« sagte Hanna.
»Warum soll der Mann nicht vergnügt sein?« meinte Frau Köpke.
»Bei mir war er immer so brummig,« behauptete Hanna.
»Das bildest du dir wohl nur ein, Kind. Ich finde, Herr Peters war immer ganz nett zu dir.«
»Na, meinetwegen,« sagte Hanna. »Mir ist es gleich. Du hast nur kein Auge dafür.«
»Wofür habe ich kein Auge?«
»Ach, ich meine nur.«
»Du tünst schon wieder,« entschied Frau Köpke.
»Gut, dann tün ich,« sagte Hanna.
»Was hast du jetzt immer für ein Wesen?« schalt Frau Köpke. »Du mußt nicht glauben, weil du nun konfirmiert werden sollst.«
»Was tu ich denn?« unterbrach Hanna die Mutter. »Ich tu doch gar nichts.«
Hanna meinte das ehrlich. Es war ihr selbst nicht bewußt, daß sie eine kleine vorlaute Person geworden war. Sie stand nun an der Grenze der Kindheit und fing an, sich zu fühlen und kam mit dem Erwachsensein noch nicht so zurecht.
»Das sind so die schlimmsten Jahre,« klagte Frau Köpke. »Was man da für 'ne Not mit den Mädchen hat, das glaubt keiner.«
Ostern wurde Hanna konfirmiert, und alle gingen sie wieder einmal in die Kirche, auch Herr Purtaller.
Hanna und Donia hatten neue Kleider an und sahen jede in ihrer Weise ganz niedlich aus. Auch Frau Köpke hatte sich fein gemacht und trug viel Würde zur Schau. Max benahm sich, wie immer bei solchen Gelegenheiten, sehr wohlerzogen. Er sang sogar lauter als sonst und nötigte dadurch dem jetzt meist trübselig gestimmten Herrn Purtaller ein Lächeln ab.
Herr Peters spielte ganz besonders schön die Orgel, und Donia wandte fast keinen Blick von der Empore, obgleich da nichts weiter zu sehen war, als dann und wann ein blonder oder schwarzer Knabenschopf, wenn sich einmal einer der Chorschüler auf die Zehenspitzen stellte und versuchte, einen neugierigen Blick in die Kirche hinunterzuwerfen.