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9. Ein Lichtblick

In dichte Rauchwolken gehüllt die lange Pfeife in der einen, eine alte unansehnliche, aber kostbare Ausgabe des Horaz in der anderen Hand, hatte Professor Bräunlin auf dem zerlegenen Marterbett geruht, das er sein Sofa nannte, und richtete sich laut ächzend auf. Man hatte zweimal in kurzen heftigen Stößen an der Hausglocke gezogen.

»Lottle! Lottle!« rief er dabei mit dem weinerlichen Ärger eines kranken Mannes, »wo sind meine Stiefel? Der Prälat will spazierengehen.«

»Schon wieder?« fragte es aus der Ferne einer dampfenden Bügelstube zurück. »Ihr seid ja erst vorgestern spazierengegangen.«

»Er steht schon unten und wartet. Wo sind meine Stiefel?« entgegnete der Professor klagend.

»Kätterle, wo sind des Herrn Stiefel?« war die beruhigende Antwort, und nach zwei Minuten öffnete sich die Zimmertür lautlos, aber nur spaltweit. Zwei gewaltige Stiefel erschienen, an einer rundlichen braunen Hand hängend, die jedoch sofort wieder verschwand, während sich die Tür ebenso vorsichtig und lautlos schloß. Die Stiefel aber standen da, ernst, geduldig, erwartungsvoll. Es war wie ein Zauber, in der Dämmerung des wogenden Rauchgewölks; der Zauber einer geordneten Häuslichkeit. Ehret die Frauen!

Zehn Minuten später – man beachte, wie in dieser Klosterwelt alles nach Minuten geordnet erscheint – wandelten die beiden gelehrten Herren bedächtigen Schritts durch die Waldschlucht gegen Seißen hinauf: der kleine, wohlbeleibte Prälat mit hocherhobenem Kopf, wie es seine Art war, um auf etwas herabsehen zu können, und der lange, magere Professor, mit jeder Bewegung andeutend, daß der Spaziergang seine Gesundheit schwer angreife.

»Es ist der Föhn!« stöhnte er. »So oft der Föhn weht, bin ich wie zerbrochen.«

»Ich merke aber nichts von einem Föhn. Im Gegenteil, lieber Kollege, im Gegenteil –« sagte der Prälat, aufmunternd.

»Das ist's eben«, unterbrach ihn Bräunlin hastig. »Ich habe ihn schon gestern in allen Gliedern gespürt. Mich allein greift dieser gefährliche Wind dermaßen an, daß ich am liebsten dem irdischen Jammertal Valet sagen möchte, selbst an windstillen Tagen.«

»Ein rechtes Elend, ich geb' es zu, für uns alle«, seufzte nun auch der Prälat, »denn mit dem Hilfslehrer, dem Magister Zeller – na, wir werden noch darauf zurückkommen. Der Spaziergang wird Ihnen guttun; und mir auch. Wir haben Konvent, morgen –«

»Ach Gott, ja; auch das noch. Der Famulus hat mir's schon angezeigt. Es hat mich förmlich angegriffen.«

»Da wollt' ich etliches mit Ihnen besprechen«, fuhr Kleß fort, »ehe mir der Kollege Gaum dreinfährt wie eine Windsbraut! Föhn! Bei dem könnten Sie vom Föhn sprechen, geistweise oder sinnbildlich. Besser noch vom Boreas, dem äquinoktialen Nordostwind der Alten.«

Sie standen still. Bräunlin nahm bedächtig eine Prise, die ihm der Prälat mit einem kräftigen Klaps auf den Deckel seine Dose anbot, als hätte er den Kollegen Gaum unter den Händen.

»Da ist zunächst die Geschichte mit dem Busch«, begann er aufs neue.

»Die Geschichten mit dem Busch hören nicht auf«, klagte der Professor.

»Nein«, bestätigte Kleß eifrig. »Mit den Tübingern hat man immer seine Not. Diesmal aber besteht meine Frau oder besser Gattin darauf, daß man energisch einschreitet, und Sie werden meine Ansicht teilen. Sechsmal karieren wäre das mindeste. Ich bin sicher, daß Gaum meine Ansicht teilt. Stellen Sie sich vor: gestern geht meine Gattin im Klosterhof auf zwei Schritt Entfernung an dem Burschen vorüber. Er starrt sie an und grüßt nicht – grüßt nicht! Behält die Mütze auf dem Kopf und grüßt nicht! Und drei bis vier Schritte hinter ihr kommt die Thusnelde, die Nichte der Speismeisterin, die gegenwärtig auf Besuch hier ist – auch ein Gegenstand meiner tiefen Beunruhigung –, und dieses junge, kaum fünfzehnjährige Mädchen grüßen der Busch und der Seeger – sie sind ja immer beisammen, diese beiden Schlingel – mit einer Devotion, die im höchsten Grad anstößig erscheinen mußte. Sie sei aus Stuttgart, höre ich, die Tochter eines herzoglichen Stallmeisters. Denken Sie sich: unterläßt es, ich fürchte geflissentlich, meine Frau oder Gattin zu grüßen, und grüßt die Tochter eines Stallmeisters oder Pferde-, – Pferdeinspekteurs!«

»Und der Seeger –« fragte Bräunlin bewegt.

»Wie ich Ihnen sagte: der machte es ähnlich, allerdings ähnlich. Aber er war um mehrere Schritte weiter entfernt, so daß ein wirkliches Übersehen anzunehmen wäre. Überdies –« hier verwirrte sich der Prälat ein wenig durch wiederholtes Schnupfen – »es wäre vielleicht nicht ganz opportun, den filius des Herrn Konsistorialrats eines Versehens wegen allzu hart anzufassen. Es muß wohl in seinem Fall ein Versehen oder richtiger Übersehen zugrunde liegen. Sollte Gaum anderer Ansicht sein, so rechne ich auf Ihre Stimme.«

Bräunlin nickte. Der Prälat fuhr fort:

»Er hat allerdings schon längst einiges auf dem Kerbholz, auch der Seeger. Sie erinnern sich der letzten Untersuchung der Waschkistchen, die ich regelmäßig vornehmen lasse, wenn die Alumni aus der Vakanz zurückkehren. Wollte Gott, man könnte alle Vakanz in Fortfall geraten lassen; sie verderben die Promotion auf Monate. Ich würde gerne die Last kaum unterbrochener Semester auf mich nehmen. Na, da fand man in Seegers Kistchen eine zweifellose, komplette Tabakspfeife mit silbernem Beschläg, das Eigentum seines leiblichen Vaters, des Herrn Konsistorialrats, wie sich später herausstellte. Ich ließ die Sache auf sich beruhen, weil Seeger feierlich gelobte, das Korpus delikti mit einem reumütigen Bekenntnis umgehend an den Herrn Konsistorialrat zurückgehen zu lassen. Ich will nicht hoffen, daß er dies etwa aus Vergeßlichkeit unterlassen hat. Wenigstens legte ich es ihm in einer Weise nahe, die er nicht leicht vergessen konnte. Jedenfalls aber fand man bei Fischer und Berblinger ebenso Schlimmes, wenn nicht Schlimmeres: bei Fischer das, wie Sie wissen, streng verbotene Buch ›Die Räuber‹ von Friedrich Schiller, das der Bösewicht nicht unpassend in ein Hemd eingewickelt hatte, um seine Vorgesetzten zu täuschen, und bei Berblinger entdeckte man am untersten Boden seines Kistchens eine große Menge Seidenpapier, über das er keine Auskunft oder Information geben zu können vorgab. Ich hatte gute Lust, ihn ins Karzer zu schicken, bis er gestand, denn er mußte doch wissen, zu welchem Zweck er Seidenpapier ins Kloster einschmuggeln wollte. Doch der Magister Zeller, auf den ich noch kommen werde, war so lebhaft gegen extreme Maßregeln, und Sie, lieber Kollege, schlossen sich ihm merkwürdigerweise an, so daß auch dies unterblieb. Verzeihen Sie die Bemerkung: Manchmal, zum Beispiel an föhnfreien Tagen, sind Sie etwas schwach gegen die jungen Leute. Ich weiß, es entspringt dies einem natürlichen und an sich lobenswerten Wohlwollen. Allein, Erziehung verlangt vor allem einen eisernen Willen. Meine Frau oder Gattin sagt dies mit Recht häufig zu mir und legt aus demselben Grund eine mir nicht ganz angenehme Bewunderung für den Kollegen Gaum an den Tag. Machen läßt sich dagegen allerdings nichts.«

Am Weg stand eine zerfallene Holzbank. Bräunlin schlug vor, sich ein wenig zu setzen. Das Gespräch habe ihn sehr angegriffen. Der Prälat ließ sich mit großem Entgegenkommen nieder.

»Um so besser!« sagte er. »Ich hoffe, sie bricht nicht. Das Kommende läßt sich sitzend gründlicher erörtern. Gut also: Berblinger will von dem Seidenpapier nichts wissen, und Fischer ist frech genug, zu behaupten, das Schandbuch, das bei ihm gefunden worden, sei nur über die Ferien oder Vakanz geliehen. Es gehöre Seeger, was ich nicht glauben will. Um so weniger, als sich in Fischers Kiste zum Glück auch noch ein Manuskriptheft vorfand, das ich dem Konvent vorlegen werde. Überschrieben ist das Machwerk: ›Unsre Ideale‹, und zwar in deutschen Buchstaben. Sehr bezeichnend. Es enthält vorläufig zwei Aufsätze und ziemlich viel weißes Papier, was mir anzudeuten scheint, daß noch weitere Beiträge erwartet wurden. Der erste ist von Fischer selbst, der den Brutus für seinen Helden erklärt. Da sieht man, wohin diese Räuber führen und was der Schiller auf dem Gewissen hat. Immerhin, der Fischer hat die Hochachtung vor den Alten nicht ganz verloren und sucht, wo etwas zu finden ist. Ich bin geneigt, ihm nach einem ernsten Verweis oder einer Rüge vor versammeltem Konvent zu verzeihen. Dann aber kommt Berblinger mit – wie soll ich es nennen – mit einer Art von sinnlosem Gallimathias, gespickt mit wahrhaft gotteslästerlichen Seitenhieben, die deutlich zeigen, daß der unglückliche Mensch auf den bedenklichsten Irrwegen angelangt ist. Ich trage das Heft seit einer Woche in meiner hinteren Rocktasche, damit es niemand in die Hände fällt. Lassen Sie sich's vorlesen.«

»Aber meine Nerven!« seufzte der Professor, »gerade heute, an einem Föhntag. Es ist überdies etwas feucht hier.«

»Es ist nicht lang«, tröstete der Prälat. »Überdies müssen wir uns darüber verständigen, was geschehen soll. Principiis obsta, ist meine Ansicht. Es handelt sich nicht um Berblinger allein, und man kann nie wissen, wie Gaum die Sache auffaßt. Der Bursche schreibt:

›Die Alten können wie nicht mehr verstehen und deshalb weder lieben noch verehren.‹

– Ich bitte Sie, dieser Anfang! –

›Ich suche mir meine Ideale unter denen, die ich verstehe. Nun wurde im Jahr 1647 zu Blois in Frankreich ein Mann geboren mit Namen Papinus. Er war Hugenotte, liebte die Freiheit und die Wahrheit, mußte deshalb sein Vaterland verlassen und war unstet und flüchtig wie Kain sein ganzes Leben lang.‹

– Hierin sehe ich den ersten Seitenhieb, auf den ich aufmerksam machen muß«, unterbrach sich Kleß, indem er dem Heft einen zornigen Schlag gab, was sich im Laufe der Lektüre bei jeder Zwischenbemerkung wiederholte.

»›Aber anders geartet als der erste Mörder, hörte er nicht auf, die Menschheit zu lieben und wollte ihr Gutes tun soviel er konnte. Nun war Papinus ein gelehrter Mann, aber nicht einer von denen, die in den Studierstuben sitzenbleiben und nur danach trachten, so viel als möglich zu wissen. Dies scheint mir deshalb ganz nutzlos zu sein, weil, wenn diese Leute sterben, alles, was sie wußten, wie weggeblasen ist und solange sie leben, nichts daraus wird als wieder andere, die ebenfalls so viel als möglich zu wissen trachten.‹

Betrachten Sie, Herr Collega, mit mir diese Bemerkungen nicht als einen infamen Angriff auf das Lebenselement aller Bildung des höheren Schulwesens? Ich meinesteils habe etwas Ähnliches an Frechheit noch nie zu Gesicht bekommen!

›Nein! Papinus wollte mit seinem Wissen etwas schaffen, das der Menschheit mehr Nutzen brächte als alles Wissen. Das aber ist die Kraft. Denn die Kraft ist etwas Göttliches. Heißt es doch im Vaterunser: Dein ist die Kraft.‹

Sie sehen, wie der Bursche mit gotteslästerlichen Ideen förmlich spielt. Aber hören Sie weiter.

›So erfand Papin die Feuermaschine, nicht mit einem Schlag, sondern langsam, nach vielem Nachdenken, Rechnen, Studieren und endlosen Versuchen. Erst war es nur ein eiserner Kochtopf, aus dem er lernte, welche Eigenschaften der Dampf hat: was Spannung und Kondensation waren. Dann nahm er den Luftdruck zu Hilfe, und schließlich baute er die Maschine, die uns Kraft gibt, wenn wir sie mit Wasser und Kohlen speisen, ähnlich wie das Tier und der Mensch, wenn man ihm seine Nahrung gibt.‹

Auch hierin sehe ich eine fast blasphemische Auffassung der Verhältnisse. Als ob dieser Papinus eine Art Schöpfer gewesen wäre, der sein Werk mit dem fünften oder gar sechsten Schöpfungstag anfing!

›Die wenigsten Leute aber‹, fährt der saubere Verfasser oder Autor fort, ›denen er dieses unglaubliche Geschenk seines Ingeniums und seiner Ausdauer anbot, wollten etwas davon wissen.‹

Das kann ich mir denken!

›Er wandte sich nach England, dann nach Deutschland, versuchte sein Glück in Marburg und in Kassel und mußte aus Deutschland wieder nach England wandern. Er glaubte und wußte, daß man mit seiner Maschine nicht bloß Wasser aus tiefen Schächten heben konnte, und rettete damit manch verloren geglaubtes Bergwerk, sondern auch, daß man Wagen und Schiffe treiben, Mühlen und Sägewerke in Gang setzen und selbst den Boden bearbeiten könnte. Aber sie zerschlugen ihm das Schiff, mit dem er beabsichtigte seine wichtigsten Versuche zu machen, und nach einem Leben voll getäuschter Hoffnungen, voll Mühe und Arbeit starb er im Elend, verlassen und hungernd unter fremden Leuten. – Heute sind schon Hunderte seiner Feuermaschinen gebaut, und Tausende erkennen, daß man einen großen Wohltäter des Menschengeschlechts den Opfertod hat sterben lassen; wie es einem Größeren, denn er war, auch geschah.‹

Ich hoffe, dies bezieht sich auf Sokrates«, unterbrach sich der Prälat selbst, »muß aber zum drittenmal auf das unsaubere Gedankenspiel dieses jugendlichen Taugenichts hinweisen. Diesen Papinus mit Sokrates zu vergleichen! ›Das ist mein Ideal‹, schließt der konfuse Kopf, ›Wohltun und dafür leiden!‹ und dazu schreibt er das alles gegen die klarsten Bestimmungen der Schulordnung in deutscher Sprache und in deutschen Lettern oder Buchstaben. Ich bitte Sie nun, Herr Collega, was sollen wir mit dem Menschen anfangen?«

»Ich weiß nicht –« begann Bräunlin zögernd, »das Ganze scheint mir doch – zwar eine schwere Verwirrung des Ingenii, aber doch nicht ganz aus Schlechtigkeit geboren. Man muß bedenken: ein Alumnus von fünfzehn Jahren! Wer weiß, wo der Verführer steckt. Aus dem eigenen Kopf hat er sichtlich all das Zeug nicht.«

»Das ist's! Das ist's!« rief der Prälat eifrig. »Der Magister Zeller steckt dahinter. Ich merkte gleich: der Duckmäuser hat's hinter den Ohren. Es ist, als ob man sich in diesen Zeiten solcher Leute nicht mehr erwehren könnte. Ich werde mir nie verzeihen, daß ich ihm die Erlaubnis gab, dem Berblinger Privatstunden in der Geometrie und Algebra zu geben. Wozu das? Als ob wir Araber wären! Da sieht man's jetzt. Der Bursche macht die schlechtesten Hebdomadare und schreibt deutsche Aufsätze über Feuermaschinen, als ob man vor ihnen auf den Knien liegen müsse! Wissen Sie, was für eine Bewandtnis es eigentlich mit dieser Feuermaschine hat? Man nennt sie neuerdings auch Dampfmaschine wie ich kürzlich las: Ich werde das in meinem nächsten Programm über Synonyma erläutern; einen anderen Nutzen scheinen sie nicht zu haben. Ich bitte Sie! Wird ihm eine Dampfmaschine durch den Konkurs helfen? Kann er mit Algebra und Geometrie eine Periode des Demosthenes konstruieren?«

»Ich weiß nicht –« seufzte der Professor aufs neue, indem er unbehaglich auf der Bank hin und her rückte.

»Sie haben recht«, rief der Prälat, in seiner Erregung aufspringend; »es wird feucht hier. Überall der infame Dampf. Aber es muß etwas geschehen!«

Verstimmt und unentschlossen traten sie den Rückweg an. Er dauerte trotz aller Prisen, die stets stehend genommen wurden und immerhin etwas Beruhigendes hatten, kaum lang genug, um das Unangenehmste von allem zu besprechen, das den morgigen Konvent beschäftigen mußte. Dem Konsistorium war eine Denkschrift zugegangen, in der in dürren Worten gesagt wurde, daß der seit einiger Zeit beobachtete verminderte Andrang zum Landexamen ernstlich zu denken gebe, daß die Klosterschulen nicht mehr auf der Höhe der Zeit ständen und daß eine radikale Änderung des Systems nötig wäre, sie vor der Versumpfung zu retten.

»Versumpfung!« schrie Kleß, daß das Echo vom Rucken herüber antwortete. »›Versumpfung‹ sagt die Denkschrift; und dann macht sie Änderungsvorschläge, daß man meinen könnte, die französische Revolution sei in Stuttgart ausgebrochen. Na, Sie werden ja hören; wir sollen collegialiter unsere Ansicht über das saubere Dokument formulieren! Zusammenwerfen von vier Promotionen in zwei Klöster; damit natürlich Abschaffung von zwei Prälaten. Was sagen Sie dazu? Grundstürzende Änderungen des Lehrplans. ›Einführung verschiedener neuer Lehrzweige, die den Bedürfnissen der Zeit mehr entsprechen‹, heißt es in dem Memorandum. Mehr Geschichte, Geographie, Mathematik – was weiß ich! Abschaffung des Zwanges, Latein zu sprechen. Körperliche Freiübungen – was das heißt, muß uns der Verfasser erst noch erklären –, mehr Ausgangsfreiheit; wahrscheinlich auch mehr Trink- und Rauchfreiheit; das gehört ja ebenfalls zu den Bedürfnissen der Zeit. Kurz, wenn die Hälfte der Vorschläge, die von Maulbronn ausgegangen zu sein scheinen, zur Annahme kommt, mag der Kuckuck Prälat sein. Adieu!«

 

Als ums Jahr 1586 das Benediktinerkloster Blaubeuren in eine evangelische Klosterschule umgewandelt wurde und hierfür manche bauliche Änderungen vorgenommen werden mußten, dachte man noch nicht an den Magister und Hilfslehrer Zeller, so daß es etwas schwierig war, ihn zwei Jahrhunderte später unterzubringen. Doch fand sich gegen den Klostergarten hin eine unberührte Zelle, die für ein bescheidenes Studierstübchen nicht ungeeignet war, nachdem man etliche alte Bettladen und Bücherständer sowie die Reste eines kleinen Marienaltars entfernt, einen Ofen gesetzt und neue Scheiben in die zerbrochenen Fensterrahmen eingesetzt hatte. Weitere Baukosten zu genehmigen weigerte sich der Herr Amtmann, Hofrat und Klosterverwalter Scholl, der keine Gelegenheit vorübergehen ließ, die weltlichen Pläne der geistlichen Spitzen der Schule zu durchkreuzen, und auch Zeller hatte unter den Folgen des langjährigen Krieges zwischen der Frau Prälatin und der Frau Hofrätin zu leiden. Allein er war ein stiller, zufriedener Mann und lebte und litt zumeist in einer anderen, zweidimensionalen Welt, in der ihm bisher niemand begegnet war. Die schwierigen Probleme der Geometrie füllten sein Gedankenleben und gewährten ihm Genüsse, von denen kein Mensch, der nicht ein gottbegnadeter Mathematikus ist, eine Ahnung hat. Im übrigen tat er seine Pflicht ruhig und trocken, gab an Föhntagen die Lektionen des Professors Bräunlin, predigte von Zeit zu Zeit für den Prälaten, so daß die über ihm stehenden Herren Kollegen zwar die Köpfe schüttelten, ihm aber sonst nichts anhaben konnten. Zum Lebensgenuß genügte ihm, gelegentlich einen Blick in den Klostergarten zu werfen, wo das gotische Maßwerk in den Fenstern des Kreuzgangs, soweit es nicht hinter Holunderbüschen und Haselnußstrauchwerk verschwand, die aufregendsten geometrischen Probleme andeutete und löste.

Seit einem Vierteljahr war jedoch ein neues Element stiller Freuden in sein scheinbar einförmiges Dasein getreten. Es geschah dies in Person des kleinen Berblinger. Während der Stunde für Arithmetik, der einzigen in der Woche, die der Lehrplan zuließ, hatte Zeller unter zweiundsiebzig schlaftrunkenen oder zerstreuten Augen ein Paar entdeckt, das munter aufleuchtete, wenn ein weniger langweiliges Rechenexempel seiner Lösung entgegenging. Er beschäftigte sich deshalb mit Berblinger eingehender, und das Ergebnis wiederholter Unterhaltungen in Zahlen war die an den Prälaten gerichtete Bitte, dem alumno Berblinger nach dem Nachtessen wöchentlich zwei Privatstunden in mathematicis geben zu dürfen.

Damit begann auch für den Jungen ein neues Leben, namentlich seitdem in einer der zwei Stunden Euklids Geometrie die phantasielosere Algebra ablöste. Wachend oder träumend, liefen jetzt parallele und sich kreuzende ›Gerade‹ durch seinen Kopf, verschoben sich Dreiecke und Vierecke, berührten oder schnitten sich Kreise, suchte ein Gewirr von Linien nach dem nicht konstruierbaren Siebeneck. Seine Augen funkelten, wenn ihn Zeller in der trockenen Weise, die ihn nie verließ, auf die Lösung einer der schwierigen Aufgaben hinleitete, oder wenn er ein ›quod erat demonstrandum‹ hinter einen neuen Weg setzen konnte, auf dem eine alte Wahrheit mit doppelter Sicherheit erreicht worden war. Nur einen Fehler fand der in sich hinein schmunzelnde Lehrer an seinem übereifrigen Schüler zu tadeln: daß ihn unlösliche Aufgaben wie das erwähnte Siebeneck mit einer dämonischen Gewalt anzogen, und daß er halbe Nächte mit offenen Augen dalag, obgleich ihn Zeller versichert hatte, daß es nutzlos sei, derartige Probleme hartnäckig zu verfolgen. Dann wollte er wenigstens den Beweis haben, daß die Aufgabe nicht gelöst werden könne, und Zeller mußte ihn daran erinnern, daß sein Kopf noch zu klein für derartig Großes sei. Solche Beweise gingen, meinte er, zumeist über menschliche Kräfte, wenn auch menschliche Kraft ihre eigene Grenze niemals bestimmen könne.

Für Berblinger hatte all dies zweifellos manches Mißliche. Erst heute, am Tag nach dem Konvent, verurteilte ihn Professor Gaum, der in besonders schlechter Laune war, zweimal zu karieren, weil er den Rand seines Hebdomadars mit der Figur des pythagoreischen Lehrsatzes geschmückt hatte, eine Ungehörigkeit, die dem Herrn Professor in seinem ganzen Leben noch nicht begegnet war. Er sprach dabei von Verhöhnung der Wissenschaft, von einem Drudenfuß und Hexenzeichen, und wußte offenbar nicht, was er daraus machen sollte. Berblinger beklagte sich bei seinem Freund und Lehrer über diese Behandlung des ehrwürdigen Pythagoras, als sie sich, wie jetzt regelmäßig, nach Schluß der Lektion gegenübersaßen, um noch ein wenig zu plaudern, und zwar auf deutsch. Denn manches war nicht in Ordnung in Zellers Zelle. Hätte doch selbst die kleine Studierlampe, die zwischen ihnen stand, seit dreißig Minuten ausgelöscht sein sollen! Dafür waren es für beide die einzigen gemütlichen Augenblicke der Woche, wenn auch Zeller, der immerhin noch einiges pädagogisches Gefühl bewahrte, sein Möglichstes tat, dies den Jungen nicht merken zu lassen.

»Zweimal karieren? Geschieht dir ganz recht!« sagte er innerlich schmunzelnd. Er duzte ihn, seit sie am vierten Buch des Euklids waren und ihm Berblinger das Versprechen abgerungen hatte, die Grundzüge der Stereometrie mit ihm durchzunehmen. »Der pythagoreische Lehrsatz gehört nicht unter die Schnitzer deines Hebdomadars. Überdies schadet dir das Karieren nichts. Wenn du bei der anderen Geschichte, die über deinem Haupt hängt, nicht schlimmer wegkommst, darfst du den Göttern Roms und Griechenlands danken.«

»Welche Geschichte?« fragte Berblinger kleinlaut.

»Dein törichter Aufsatz über den Papin. Der Herr Prälat hat ihn im Konvent vorgelesen. Mit Kommentar. Bei der nächsten Gelegenheit soll das Urteil gesprochen werden. Du kannst mir's danken, daß du nicht jetzt im Karzer sitzt. Was braucht ihr alles zusammenzuschmieren, was euch durch die müßigen Köpfe geht? Könnt ihr nicht den Cicero oder den Demosthenes kopieren, wenn euch dumme Gedanken plagen?«

»Aber sind es dumme Gedanken?«

»Natürlich. Darüber war man im Konvent einig und wird dir's schon noch deutlich machen.«

»Das wird nichts helfen«, versetzte der Junge plötzlich trotzig. »Der Papin ist mein Ideal. Wenn ich dafür brummen muß, wird er's nur noch mehr.«

»Dummes Zeugs! Was weißt du denn von Papin?«

»Daß er ein großer Erfinder war und daran starb.«

»Und das möchtest du auch? Berblinger, Berblinger, du bist ein kleiner Narr.«

»Sterben brauchte ich ja nicht. Aber eine große Erfindung machen, daß man später sagte: Der Berblinger hat einmal etwas geleistet und uns alle vorwärts gebracht; dafür möchte ich wohl –«

»Ins Karzer wandern«, unterbrach Zeller den kleinen Idealisten trocken. »Nun ja, das kannst du haben. Es fehlt dann nur noch die große Erfindung.«

»Vielleicht kommt sie«, versetzte der Junge keineswegs niedergeschlagen. »Manchmal haben die Kleinen etwas Großes gemacht. Wann kommen wir an die Stereometrie?«

»Warum? Nur keine Eile!«

»Ich möchte wissen, wie man den Inhalt einer Kugel berechnet und – und die Peripherie.«

»Eine Kugel hat keine Peripherie.«

»Ich meine, wieviel Papier man braucht, um eine Kugel zu machen, die dreißig Kubikfuß Inhalt hat.«

»Seidenpapier?« fragte Zeller, plötzlich aufmerksam werdend.

Berblinger errötete heftig und schwieg.

»Was willst du damit machen?« drängte der Lehrer. »Warum hast du dem Herrn Prälaten nicht gestanden, was du mit dem Seidenpapier vorhast? – Na, auch gut. Ich will nichts davon wissen, bis du mir selbst kommst. Nur merke dir eines: Eh' du den Inhalt einer Kugel berechnen lernst, wirst du noch zwanzigmal karieren müssen, wenn du es so weiter treibst. Aber wissen möchte ich, wo du all das aufgeschnappt hast. Nicht im Kloster!«

»Nein. In Ulm auf dem Münsterturm«, erwiderte Berblinger schüchtern, aber mit dem sichtbaren Bestreben, durch Beweise von Freimütigkeit seinen Lehrer wieder zu versöhnen.

»Was ist dort zu holen?« lachte Zeller, »außer vielleicht die Weisheit, die euch Ulmern euer Spatz beibrachte. Der soll ja in mehr als Lebensgröße auf dem Kirchendach sitzen.«

»Ein Spatz kann manches, was wir noch nicht können«, versetzte der Junge nachdenklich, aber mit neuerwachtem Trotz. Er ließ dem Ulmer Spatzen nichts geschehen. Dann aber begann er des langen und breiten von seinem Freund Lombard zu plaudern, der mit einer Luftpumpe und einer Elektrisiermaschine hantiere und ihm erzählt habe, wie das Schießpulver und das Bücherdrucken und die Feuermaschinen erfunden worden seien. Von ihm habe er auch die Geschichte des Papin. Seitdem sei der große unglückliche Erfinder sein Ideal geworden. Er sei seit achtzig Jahren tot und begraben. Aber seien seine Feuermaschinen nicht im Begriff, die Welt zu erobern? Könne man sich etwas Größeres denken als einen toten Mann, der aus dem Grab heraus die Welt erobere?

»Aber wo soll das alles hinaus, Brechtle?« fragte Zeller endlich fast gerührt, als der Kleine immer begeisterter und – es muß zugegeben werden – immer verwirrter von seinem Freund, dem Turmwart, von Papin und anderen großen Erfindern fabulierte. »Deine Hebdomadarien und Extemporalien werden immer schlechter, und wenn du's je zum Landpfarrer bringst, gibt dir kein Mensch etwas für deine Erfindungen.«

»Ich will nichts dafür als die Freude, sie gemacht zu haben«, sagte der Junge zuversichtlich. »Da war einmal ein Pfarrer Hahn in Echterdingen; dem ging's auch nicht besser, und er sei dabei ein seelenvergnügter Mann gewesen, erzählte mir Herr Lombard, der ein Dutzend Briefe von ihm hat. Er wollte die Münsterturmuhr umbauen, daß man die Bewegung von Mond und Sternen darauf hätte ablesen können, aber der Ulmer Magistrat wollte nichts davon wissen. Da baute er sie für sich. Warum sollte man nicht die Wege gehen, die uns der Geist und das Herz treibt, und dabei zufrieden sein?«

»Aus dem Herzen kommen hervor arge Gedanken – Mord – Ehebruch –«

Zeller sprach dies in dem Ton, in dem er zu predigen pflegte, lächelte aber dabei so wohlwollend und zutraulich, daß Berblinger aufsprang und ihm nach der Sitte der Zeit die Hand küßte. Der Druck, der in der Klosterluft lag, hatte den reifen Lehrer und den unreifen Schüler näher zusammengeführt, als es anderwärts möglich gewesen wäre.

»Der Tausend auch«, rief jener. »Es ist zehn Uhr. Pack dich und laß dich nicht erwischen. Wir haben eine Stunde länger herzoglich württembergisches Klosteröl verbrannt, als es geduldet werden kann.«

Hastig nahm Berblinger den Euklid unter den Arm, schlich, mit komischer Affektation auf den Zehen gehend, zur Tür hinaus und versteckte wenige Minuten später sein glückliches Gesicht unter der rauhen Klosterbettdecke, die selbst für ihn zu kurz war.


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