Max Eyth
Schlehen
Max Eyth

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VI.

Alles staunte. Schwitzgäbele war richtig durchgefallen. Jener Mittag und einige ängstliche Gemüter, die den Sohn eines so gefährlichen Individuums im Staatsdienst fürchteten, hatten ihm den Todesstoß gegeben. Er hatte nichts anderes erwartet und tröstete sich. Artur natürlich hatte ein glänzendes Examen gemacht.

Folgenden März (es war der März 1848) versuchte er noch einmal sein Glück, und diesmal mit dem besten Erfolg. Doch suchte er noch keine Anstellung. Sein Onkel war unversehens am Schrecken über die französische Revolution gestorben und hatte ihm zu seiner größten Überraschung ein beträchtliches Vermögen hinterlassen.

Es trat eine Zeit voller Wechsel, voller Hoffnungen, voller Täuschungen ein, die niemand unberührt ließ. Das erste war, daß er sein Vermögen fast vollständig wieder verlor. Das zweite betraf Steinau, der aus dem Staatsdienst trat und auf sein Landgut sich zurückzog. Das letztere berührte ihn äußerlich nicht. Er hatte Artur seit lange fast ängstlich gemieden. Dieser suchte ihn nicht auf. Sie waren sich fremd geworden.

Ob ihm innerlich vielleicht die Veränderung aller Verhältnisse wieder Gedanken, längst unterdrückte Hoffnungen und Träume weckte, wußte niemand. Er sprach nie darüber. Mit jugendlicher Begeisterung warf er sich ins öffentliche Leben jener Zeit. Seine natürlichen Anlagen, seine allgemeinen Kenntnisse, seine ehrliche Charakterfestigkeit, die er sich schon frühe errungen hatte, und in jenen Tagen seine angeborene Schwärmerei standen ihm zur Seite und bald war er, trotz seiner Jugend, in weiten Kreisen keine unbekannte Persönlichkeit.

Das traurige Geschick seines Vaters mochte viel zu seinem Rufe beitragen. Er war kein gewöhnlicher Volksredner. Er haßte jene kleinen Wirren, die nur vom großen Ziele abführten. Er sprach da und dort von Freiheit, von einem Vaterland, von dem großen Deutschland, an das man zu glauben anfing. Aber er gestand sich auch mit schmerzlicher Bitterkeit, wenn rings der Beifall donnernd um ihn wogte, daß ihn vielleicht nicht einer seiner Zuhörer recht verstanden. Er warnte. Man verstand ihn nur noch weniger, jubelte nur noch wilder. Gewaltsam zog es ihn jetzt in einem Zauberkreis weiter, in den er freiwillig und mit ehrlicher Begeisterung getreten war.

Artur war seinem Vater aus der Residenz gefolgt. Die letzte Zeit hatte ihn wunderbar verändert. In seinen heitersten Studentenjahren hatte sein ganzes Wesen nicht jenen feinen, stolzen, aristokratischen Zug verleugnen können, der ihm angeboren war. Jetzt trat derselbe allmählich scharf und bestimmt hervor, und er glaubte sich um so mehr dazu berechtigt, als er dabei die siegende Partei verließ und zu der gefährdeten übertrat. Er fühlte eine gewisse stolze Genugtuung in diesem Gedanken, der jeden inneren Vorwurf zum Schweigen brachte.

Es war darüber wieder Frühling geworden. Die Wahlen für das so viel versprechende deutsche Parlament bewegten alle Gemüter. Schwitzgäbele war noch zu jung, um selbst wählbar zu sein. Viele seiner Freunde und er selbst bedauerten diesen Umstand von Herzen. Übrigens hatte er einen Mann gefunden, dem er in jeder Beziehung gerne Ehre und Würde abtrat. Es war sein alter Freund, der Professor Kramer. Mit allen ihm zu Gebot stehenden Mitteln wirkte er für diesen edlen Charakter, und es schien, als könne der Sieg ihm und seiner Partei durch nichts mehr entwendet werden. Ob Professor Kramer das Deutsche Reich wiederaufrichten werde, war ihm in schwachen Augenblicken allerdings selbst etwas zweifelhaft.

Da ging er einst an einem heiteren Nachmittag einem entfernte Orte des Bezirks zu, um dort im Interesse seiner Sache einer Volksversammlung beizuwohnen. Die helle Sonne schien ihm einmal wieder ins Herz. Die Lerchen jubelten um ihn. Aus der Ferne schallte eine Trommel. In der unbekannten, freundlichen Gegend stieg da und dort der duftige Rauch eines Dörfleins oder ein hoher, spitziger Kirchturm in die Höhe. Die Natur erwachte aus tiefem Schlaf; alles schien aufzuleben, sich zu regen und doch war's ringsum ruhig und still. Ihm selbst war's, als wachte er auf. Die alten Erinnerungen, bitter und süß, zogen, eine um die andere, friedlich durch seine Brust wie ein Traum, auf dessen Lust und Wehe man lächelnd zurückblickt. Froh schaute er in die Zukunft, als könnte sie ihm ein Glück bringen, an dem er noch nicht herumraten mochte. Einstweilen war ihm eine fröhliche Ungewißheit genug und er freute sich daran.

Der Weg führte ihn in einen stattlichen Buchenwald. Ein Markstein und ein Wegzeiger standen vor dem mächtigen Laubtor. »Liliental.« Das war ja der Name des Steinauschen Gutes! Er hatte mehrere Meilen davon entfernt zu sein geglaubt. Der alte Traum regte sich mächtig, als er über die Grenze trat.

Eine Stunde mochte er in dem einsamen Forst gegangen sein, als er Stimmen vernahm. Er bog um eine Ecke. Dort gingen zwei Bauern. Der eine zog einen Rehbock im Moos nach sich, der andere trug eine Flinte. Es war dies nicht auffallend in jener Zeit, und er suchte die beiden Männer einzuholen.

Doch ehe er sie erreichte, stürzte plötzlich aus dem nächsten Gebüsch ein junger, stattlicher Mann im grünen Jagdrock mit glühendem Gesicht und erhobener Reitgerte hervor. Der eine der Bauern wandte sich, die Peitsche sauste ihm ins Gesicht. Er sank mit einem Schrei auf die Knie und drückte beide Hände vors Gesicht. Jetzt brach laut bellend ein großer Jagdhund aus dem Buschwerk und stürzte auf den Liegenden. Der andere pfiff gellend durch die Finger und hinter sich hörte Schwitzgäbele einen Troß Leute schreiend herbeieilen.

Der Jäger hatte seinen Hirschfänger gezogen. Doch eine Sekunde darauf stürzte der Bauer ihm in die Arme und auch der Hund lag winselnd am Boden. Sie rangen. Zwei, drei Leute, die jetzt mit Knütteln bewaffnet an Schwitzgäbele vorbeistürmten, rissen ihn mit. Heulend lag der Geschlagene mit blutendem Gesicht noch am Boden. Fluchend, wütend stürzte der Haufen auf den einzelnen. Der Jäger stach und hieb um sich. Wieder ein durchdringender Schrei. Einer sprang ihm von hinten auf den Rücken. Er wankte. Es war klar, wer unterliegen mußte.

Schwitzgäbele besann sich nicht mehr. Wenigstens einem Mord wollte er nicht untätig zuschauen. Im Nu hatte er die Flinte ergriffen, welche die ersten Bauern weggeworfen. Blitzschnell und kräftig sauste der schwere Kolben durch die Luft. Einer der Bauern fiel über den Daliegenden. Die anderen wichen. »Drauf! Drauf!« brüllte ein schwarzer, bärtiger Kerl, indem er eine alte Reiterklinge zog. »Es gibt Blut! So wie so! Nieder mit den vornehmen Hunden!«

Schwitzgäbele fing den Hieb der Klinge teilweise auf. Lautlos sank der Jäger mit zerrissenem Rock und blutendem Kopf zusammen. Ein Augenblick zerrann. Alles starrte auf den Gefallenen.

»Artur!« schrie Schwitzgäbele plötzlich auf. Ein wütendes Feuer jagte ihm durch alle Adern. Der dritte Bauer sank unter einem furchtbaren Streich, während sich der erste wieder aufraffte und blindlings auf den Jüngling lostaumelte. »Das ist der Freiheitsheld, der Halunk! Nieder mit dem Verräter!« heulte es um ihn. Er stellte sich über den Ohnmächtigen und befahl Gott das Weitere. Da knallten zwei Schüsse. Die Bauern stoben auseinander. Die beiden Gefallenen sprangen auf wie Federn. Noch ein Schuß. Einer der Bauern war getroffen. Wie von einer dämonischen Gewalt gepackt, stürzte der ganze Haufe nach der anderen Seite der Straße und in das Buschwerk, während zwei Jägerburschen erschrocken auf Schwitzgäbele zueilten. Dieser warf die Flinte zu Boden, sank mit einem Gottlob auf die Knie und hob das Haupt des Freundes in die Höhe. –

Hastig wischte er ihm das Blut von der Stirne; selbst atemlos lauschte er auf die kaum merkbaren Atemzüge. Dann legte er ihn auf ein Bett aus weichem Moos, das man rasch zurechtgemacht hatte. Willenlos duldete der halb Bewußtlose alles. Einer der Burschen war auf das Gut geeilt, um einen Wagen zu holen. Bis dieser kam, wollte Hans den lang entbehrten Anblick genießen, wollte den Freund wieder ans Herz drücken, dann – dann mußte er weiter.

Der Wagen kam. Die erste Person, welche ausstieg, war Arturs Schwester. Mit einem Schrei flog sie auf ihren Bruder zu, sank an seinem Lager nieder, drückte ihren Mund an seine Lippen. Dann sah sie zu Hans auf, der sprachlos vor der Gruppe stand und sich an einen Baum lehnte. Sie schien zu erschrecken. Das Rot der Aufregung trat plötzlich von ihren Wangen zurück. Doch faßte sie sich schnell. Ihre Lippen flüsterten etwas, das er nicht verstand. Ein langer, dankender Blick sagte ihm genug.

Der Jägerbursche hatte ihr beim Herausfahren den Hergang erzählt. Man brachte den Verwundeten in das Gefährt. Das Mädchen setzte sich auf die eine Seite. Schwitzgäbele trat an den Schlag, um Abschied zu nehmen.

»Was kommt Ihnen in den Sinn?« rief das Fräulein erstaunt. »Sie fahren doch mit uns! Sie müssen ihm helfen!« Er schüttelte leis mit dem Kopfe.

»Muß ich Sie zweimal bitten?« fragte sie und schlug plötzlich die Wimpern nieder, als er sie ansah. Im nächsten Augenblick saß er innen und das Gefährt fuhr langsam dem Schlosse zu.


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