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Solange dir ein Lied geblieben.

Es war ein schöner Frühlingsabend. Zwei Kinder, ein Knabe von zehn Jahren und ein Mädchen von acht, standen an einem kleinen Fenster, das in einen ziemlich engen Hof ging. Betrübt sahen sie zu dem lichtschimmernden Himmel empor, von dem die Mauern der hohen Häuser mit ihren ragenden Dächern leider nur ein klein, klein Stückchen zu ihnen herunterschauen ließen.

Der Knabe schlang den Arm um sein Schwesterchen, das lehnte den Kopf gegen des Bruders Schulter. Immer noch sagten die Kinder kein Wort, doch immer betrübter blickten sie drein: dachten sie doch beide an eine bessere Zeit, die längst vergangen war.

Ach ja, Walter und Martha hatten in der Tat viel, viel bessere Tage gesehen, damals, als sie noch in der Heimat, dem lieben Deutschland, gewesen waren. Da hatten sie in einem hübschen Haus gewohnt, gute Kleider getragen; waren in eine gute Schule gegangen, hatten Freunde und Bekannte die Menge gehabt und sich mit den Eltern sehr glücklich gefühlt.

Dann aber war eines Tages ein großer Brief aus Amerika eingetroffen. Ein entfernter Verwandter hatte den Vater gebeten, mit seiner Familie herüberzukommen nach Neuyork; er sollte hier in sein Geschäft eintreten und mit ihm reich werden! – Gold nun ist bekanntlich eine große Macht und vermag in der Hand eines Menschen, der es richtig anzuwenden versteht, ein unendlicher Segen zu werden für ihn und für viele andere. Darum gab denn auch der Vater Martens seine Stelle in einem Bankgeschäft auf und ging mit den Seinen hinüber in die Neue Welt. Leider erfüllte sich die Hoffnung, die ihn herübergelockt, nicht. Der Verwandte hatte auf die tüchtige Arbeitskraft seines deutschen Vetters gerechnet, um damit sein Geschäft, das vor dem Zusammenbruch stand, noch zu retten. Dies erwies sich aber als unmöglich, sie mußten das Geschäft schließen.

Der amerikanische Vetter meinte nun, er habe gerade genug mit sich selbst zu tun und keine Zeit, sich um die deutschen Verwandten zu kümmern. Gottlieb Martens schloß sich infolgedessen einer Gesellschaft an, die nach Kalifornien ging, um dort Gold zu suchen, während Frau Martens mit den Kindern in Neuyork zurückblieb. Anfangs ging alles gut; der Vater schrieb fleißig und schickte auch ab und zu eine Summe Geld. Plötzlich aber blieb jede Nachricht aus; die Mutter fürchtete, daß ihm ein Unglück zugestoßen sein müsse, er wohl am Ende gar gestorben sei. Allzubald nur zogen Not und Mangel in der kleinen Familie ein. Frau Martens und ihre Kinder mußten ihre hübsche Wohnung am Georgenpark verlassen, in ein dunkles, verräuchertes Haus in einem minder guten Stadtteil ziehen, wo es keine schönen Alleen, keine Spielplätze und auch keine Kameraden zum Spielen gab. Dazu waren die Kinder fast immer sich selbst überlassen, weil die Mutter von früh bis spät der Arbeit nachging, da es galt, den Unterhalt zu verdienen. Seit vierzehn Tagen aber hatte auch die Fabrik, wo Frau Martens an der Maschine nähte, geschlossen, und jene trotz manchem Mühen und Hin- und Herrennen noch keinen anderen Erwerb wieder gefunden. Damit war auch der Kinder Leben wieder noch trauriger, sogar die Bissen recht schmal geworden.

»Walter«, begann jetzt das kleine Mädchen, »ich habe Hunger.«

»St«, machte der Knabe und blickte scheu nach der Tür zu der anstoßenden Kammer; dann drückte er der Schwester die Hand zum Zeichen, daß sie leise sprechen soll, – »ich bin auch nicht gerade satt, Martha, doch die Mutter darf es nicht wissen. Es ist kein Brot mehr im Schrank, und sie hat geweint, als ich um Geld bat, welches zu holen. Martha, ich glaube, Mütterchen hungert länger schon – sie ist so blaß, so schmal, so müde geworden. Das darf nicht sein.«

»Nein«, sagte Martha, und des eigenen Leides über dem der Mutter vergessend, fuhr das Kind fort: »Was aber können wir dagegen tun?«

»Ich habe einen Plan; und du mußt dabei helfen –.«

»Gern, gern; doch wie, wie, liebster Walter?«

»Weißt du noch, wie zu Haus die Jungen umgingen mit dem Dudelsack und der Pfeife, der Invalide mit dem Leierkasten? Auch hier habe ich dergleichen gesehen auf der Breiten Straße und in dem Washingtonpark. – Die Leute kriegen eine ganze Menge Geld zusammen. Wenn wir nun auch gingen, ich mit meiner Geige, – du singen wolltest, wie wir es so oft zu Hause zu unserem Vergnügen getan –.«

»Aber Walter, wir sind doch keine Savoyarden und keine Bettelleute«, unterbrach das kleine Mädchen den Bruder. Man sieht, sie hielt etwas darauf, aus einer anständigen Familie zu sein.

»Nein«, wagte Walter etwas kleinlaut; »aber wir sind arm – und dann« – seine Stimme hob sich, wie sein Mut: »Wir wollen ja auch nicht betteln, Martha; es soll Arbeit sein, so gut, wie wir sie leisten können. Ich will spielen, du wirst singen; du singst so lieb, Martha, Papa nannte dich nicht umsonst seine kleine Nachtigall. Die Leute müssen sich ja freuen, wenn sie unsere schönen deutschen Lieder hören, vor allem Papas Lieblingslied. Höre doch nur –.« Damit nahm er die Geige zur Hand und begann leise die einfach innige Melodie:

Solang dir noch ein Lied geblieben,
Blieb Gottes schönste Gabe dein:
Ein Lied erhöhet alle Freuden,
Wirkt Hoffnung, Trost in jeder Pein.

Und mit dem Lied eben hatte der gute, kluge Knabe auch das Schwesterchen für sich gewonnen, aber auch die Mutter war wieder hereingekommen; ihre Tränen waren versiegt, lächelnd legte sie dem Sohn die Hand auf das Haupt; das Lied hatte, so schien es, seine Wirkung auch auf ihr Herz ausgeübt. Ohne um das Vorhaben der Kindesliebe zu wissen, schaute sie plötzlich froh und hoffnungsvoll in die Zukunft: einmal mußte es doch wieder besser mit ihnen werden!

Am anderen Morgen rückten die beiden Kinder, Walter, die Geige unter dem Mantel verborgen, aus. Die Mutter sollte nicht darum wissen, hatte der Knabe gemeint. Einmal wollte er sie nicht unnötig ängstigen oder aufregen, da sie doch möglicherweise mit leeren Händen wieder nach Hause kommen konnten – zum anderen fürchtete er vielleicht, auch bei ihr einem ähnlichen Einwand wie bei seiner kleinen Schwester zu begegnen. War ihm doch selbst nicht sehr behaglich als Straßensänger zu Sinn. Doch für eine Mutter, die, solange sie nur konnte, für ihre Kinder gesorgt und geschafft hatte, da ließen sich doch noch viel, viel schwierigere Dinge tun. Damit beschwichtigte er schnell jedes Bedenken.

Frisch schritten die Kinder dahin durch die krummen, engen Gassen, vor dem ersten hübschen Haus in einer stattlicheren Straße machten sie halt. Der Knabe strich die Saiten seiner Geige, das Mädchen öffnete die Lippen zu einem Morgengebet. Wie das prächtig klang in der reinen frischen Morgenluft und Morgenstille!

Die Leute kamen an das Fenster, eine junge Frau und drei kleine Kinder. Keck und lustig fuhr nun der Bogen über die Saiten, Martha stimmte eine heitere Weise an. Die Kinder hinter den Scheiben klatschten in die Hände; die junge Frau aber, die in den hungrigen Mienen der Spieler zu lesen verstand, brachte ihnen die Frühstücksreste heraus, jedem eine große Tasse Tee, ein Stück weißes Brot mit Butter bestrichen.

Wie das mundete! – Doch erschrocken, als habe er ein Unrecht begangen, sah Walter auf das Brot in seiner Hand, da, wo sich die hübschen kleinen Zähne eingegraben hatten mit einer mächtig klaffenden Lücke; dann klappte er es zusammen und steckte es in seine Tasche. »Für Muttchen!« erklärte er dem erstaunten Blick der jungen Frau.

»Warte noch einen Augenblick«, sagte die, von dem Edelsinn des Knaben überrascht; lief schnell in das Haus, kam mit einem anderen Brot zurück, das sie ihm reichte, indem sie freundlich bat: »Da nimm, aber für dich!« Das ließ sich Walter denn diesmal angelegen sein.

Die Kinder hatten Glück, reich mit Lebensmitteln, auch einigen kleinen Münzen beschenkt, kehrten Walter und Martha heim. Die Mutter machte froh erstaunte Augen bei dem Anblick der unverhofften Schätze; freilich war es ihr dann wieder bitter schmerzlich, als sie erfuhr, auf welche Weise sie zusammengekommen seien. Doch die Kinder waren so glücklich, daß sie etwas für die Mutter hatten tun können, und das stimmte auch sie wieder vergnügt. Und da Walter wirklich recht gesehen, die Mutter länger schon im stillen für sie gedarbt hatte, und nun viel zu matt und elend geworden war, um zu arbeiten, erlaubte sie es nicht nur, daß die beiden ferner spielten und sangen, nein, sie dankte Gott, daß ihr Herzensjunge ein Mittel gefunden hatte, um die Not zu lindern.

»Verderben könnt ihr mir doch nicht in den Straßen«, sagte sie, und sah, wohlbewußt der Gefahren, die ein solches Straßenleben für Kinder mit sich bringt, sorgend und ernst zu ihnen nieder.

Walter aber legte statt der Antwort den Bogen an die Saiten, und fest klang aus ihnen hervor des Vaters Lied:

Solang dir noch ein Lied geblieben,
Kannst nimmer du verloren gehn:
Ein Lied macht still die wilden Triebe,
Und läßt die edlen neu erstehn.

Von nun an wanderten Walter und Martha jeden Morgen hinaus. Es war ein wundervoller Frühling in diesem Jahre; Luft und Sonne taten schnell das ihrige, die Wangen, welche die Wohnung in der engen Gasse gebleicht, wieder frisch zu färben; ein paar Tage reichliche Kost, und auch die runden Kindergesichter waren wieder da. Wer den Knaben sah, wie er da stand in den Straßen von Neuyork, ein altes Mäntelchen malerisch um die Schultern geschlungen, den großen runden Hut nach Art der Savoyarden keck auf die reichen braunen Locken gedrückt, mit strahlenden Augen und lachendem Mund, glücklich über sein Werk, der mußte ihm gut sein; nicht minder dem kleinen Mädchen, welches das blonde Köpfchen mit einem weißen Tuch gegen die Sonne geschützt, die Wangen glühend in Eifer und Lust, unermüdlich seine kleinen deutschen Weisen sang. Ob man die Worte auch nicht kannte, Musik, die Sprache der Seele, bleibt überall die gleiche; das sichere, muntere Spiel des jugendlichen Geigers, die liebliche Stimme der kleinen Sängerin bahnten sich schmeichelnd ihren Weg in jedes Herz. Wo immer die Kinder erschienen, trugen sie eine freundliche Aufnahme und einen fröhlichen Erfolg in klingenden Münzen und anderen Gaben davon. So wurden sie immer mutiger und wagten auch immer weitere Gänge in die Stadt, bis in die vornehmeren Viertel der reichen Leute hinein.

Es waren vielleicht drei Wochen seit diesem neuen Leben verstrichen, als Walter und Martha eines Tages auf ihren Gängen vor einem ganz besonders schönen Hause in einer der reichsten Straßen stehen blieben. Die Tür des Vorgartens, wie die Tür zum Flur mochten wohl aus Versehen offengelassen worden sein; geheimnisvoll lockend schimmerte der Marmor, das vergoldete Geländer der Treppe und ihr roter Teppich zu den Kindern heraus. »Da muß es schön drin sein«, meinte die Schwester und »da wird es etwas Ordentliches geben«, der Bruder, »gehen wir hinein!«

Doch, o weh, in dem prächtigen Hause wohnten wohl reiche, aber mißtrauische und geizige Menschen. Kaum hatten die Kinder die Schwelle betreten, als ihnen ein alter griesgrämiger Herr aus einem der Zimmer entgegentrat und sie Gesindel, Tagediebe und dergleichen schalt. Was sie dann auch dagegen behaupteten, er blieb dabei, sie wären nur um zu stehlen hereingekommen. Schlimmer noch, er hielt sie fest, als sie gehen wollten und beorderte seinen Diener, einen Polizisten zu holen. Der kam denn bald, und nun mochten die armen kleinen Musikanten ihre Unschuld beteuern, sie mochten jammern, bitten und weinen – es half nichts, er führte sie auf die Polizei.

Hier saßen nun Walter und Martha in einem großen, kahlen Raum, darinnen gar viele Männer, Frauen und Kinder zusammengedrängt waren, die meisten ärmlich gekleidet, fast alle sahen roh und verwildert aus. Niemand verstand die Kinder, auch sie verstanden niemand; denn ob sie auch mittlerweile ein wenig Englisch gelernt hatten, der abscheuliche Dialekt, der unter diesen Leuten herrschte, war ihnen völlig unbekannt. Die Schatten des Abends senkten sich; immer noch neue Ankömmlinge wurden hereingeführt; immer tiefer sank der Mut der Kinder; immer schwerer wurde ihnen das Herz, was aus ihnen, was aus der Mutter werden möchte, denn die Stunde ihrer gewöhnlichen Heimkehr war längst vorüber. Martha konnte sich auch nicht länger halten; sie brach in krampfhaft bittere Tränen aus; aber auch Walter war dem Weinen nahe; – da, wie ein Trost fühlte er plötzlich die Geige in seiner Hand; kaum, daß er es merkte, strich er mit dem Bogen über die Saiten, leise begann sie zu klingen, wehmütig und weich, die alte Lieblingsmelodie. Dann aber mit jeder neuen Strophe wurde er froher, fester, und wie von höherer Gewalt gewonnen, setzte nun auch Martha frisch und getröstet ein:

Solang dir noch ein Lied geblieben,
Wirst nimmer du verlassen sein:
Wie es aus deinem Herzen dringet,
Nimmt es die Herzen für dich ein.

Erstaunt blickten die Anwesenden auf; hier, wo man das Straßengesindel von Neuyork zusammenzutun pflegte, ehe man sie verhörte und weiterbeförderte, waren die Leute keine Musik zu hören gewohnt.

Doch auch hier versagte ihre Wirkung nicht; die wilden Gesichter glätteten sich, die Mienen wurden freundlicher – eine große Tür wurde geöffnet; ein Beamter erschien, um die kleinen Musikanten mit einem schnellen Wink in den anstoßenden Raum zu beordern. Es war das Zimmer, in dem das Verhör der Gefangenen stattzufinden pflegte. Eben befanden sich nur zwei ältere Herren darin.

»Dies Lied, dies Lied, wo habt ihr das Lied her?« So kam der eine derselben den bebenden Kindern entgegen. »Sag, woher kennst du das Lied?« fragte er noch einmal, und erregt rüttelte er den Knaben an der Schulter und sah ihn forschend in das Gesicht.

Walter, der voll Empörung war über das ungerechte Verfahren, das ihn hierher gebracht, und auch eben nicht anders meinte, als daß man ihn von neuem verletzen wollte, richtete sich stolz in die Höhe, sah den Fremden mit blitzenden Augen an, und erklärte fest und entschlossen: »Dies Lied habe ich von meinem Vater. Er hat es gedichtet und komponiert für einen Freund, zum Gedenken an das musikalische Kränzchen, dem sie beide, als sie noch zur Schule gingen, zusammen angehört haben. Und dies Lied soll mir niemand nehmen.«

In grenzenlosem Staunen schlug der Herr jetzt die Hände zusammen:

»Großer Gott, wie heißest du?« fragte er endlich.

Walter nannte seinen Namen.

»Und dein Vater, – heißt er etwa gar Gottlieb Martens? –«

»Ja«, sagte der Knabe, und in dem Ton seiner Stimme klang der freudige Stolz auf den Vater, der sein junges Herz erfüllte.

»Gottlieb Martens! – Wäre es möglich!« – Erschüttert beugte sich der Herr zu den Kindern nieder: »Ist es möglich«, begann er von neuem, »daß euer Vater Gottlieb Martens aus Kassel in Deutschland ist?«

Und »ja« bekräftigte Walter noch einmal und schaute nun seinerseits erstaunt in die tiefbewegten Züge des Fremden.

Was er darin las, mochte ihn wohl nicht länger erzürnen, noch erschrecken, denn er ließ es geschehen, daß der den Arm um seine Schultern legte, ihn näher an sich zog, indem er sich auf dem nächsten Stuhl niederließ. Doch auch Martha mußte wohl bemerken, daß die Sache gut stand. Vertrauensvoll kam sie herbei, als ihr der fremde Herr die Hand bot, setzte sich ohne Scheu auf dessen Knie, wie er es wünschte, und barg das blonde Köpfchen zutraulich an seiner Brust, während der Bruder allen seinen Fragen Rede stand und die Geschichte ihres Lebens erzählte.

»Ja, wahr und wahrhaftig, sie sind es, die Kinder meines besten Jugendfreundes, von dem ich so lange, lange nichts mehr gehört habe, und die ich nun hier in Neuyork finden muß, wie es scheint, sehr zur rechten Zeit«, rief der fremde Herr aus, als Walter seinen Bericht geendet hatte. »Arme Kinder, wie mögt ihr euch geängstigt haben! Nun aber soll auch all eure Not zu Ende sein. Jetzt sorge ich für euch!«

Und sofort bat er die kleinen Musikanten, deren Unschuld ja so klar am Tage lag, von dem Polizeidirektor frei, rief den ersten besten Wagen auf der Straße an, um so schnell als möglich zu Frau Martens zu gelangen.

Es dauerte doch eine Stunde, denn die Entfernungen sind weit in Neuyork, bis sie vor dem dunklen, verräucherten Hause in der engen Gasse hielten.

Als sie dann den Flur betraten, setzte schon Walter seine Geige an, »damit die Mutter uns hört«, nickte er vergnügt ihrem Begleiter zu; und auch Martha setzte fröhlich mit ihrer lieben Stimme ein.

Leise und innig wieder begann die einfache Melodie; lauter, freudiger schwoll sie an; siegessicher und jubelnd klang sie jetzt oben auf dem dunklen Gang im sechsten Stock mit ihrer letzten Strophe:

Drum halte an der Kunst der Töne,
Ob du im Leid, ob du im Glück:
Was dich erfreut, was du ersehnest,
Oft bringt's ein kleines Lied zurück.

Die arme Frau Martens hatte sich natürlich nicht wenig um den Verbleib ihrer Kinder geängstigt. Mit einem Freudenschrei eilte sie ihnen jetzt entgegen; jauchzend gaben sie ihren Gruß zurück. »Und Mütterchen, Mütterchen, alle Not ist aus, wir haben einen Freund und Schützer gefunden!« klang es bald jubelnd dazwischen. Damit wiesen sie auf ihren Begleiter, Herrn Wittmer hin.

Und der hielt Wort in allem, was er Walter und Martha unterwegs schon auf der Fahrt nach der engen Gasse versprochen. Zuerst nahm er Frau Martens und ihre Kinder in seiner Familie auf, dann ließ er es sich angelegen sein, den Aufenthalt des Vaters, seines Freundes, zu erkunden. Und da Herr Wittmer mit den Verhältnissen des Landes vertraut, die richtigen Mittel anzuwenden verstand, waren seine Nachforschungen bald von dem gewünschten Erfolg gekrönt.

Gottlieb Martens hatte nämlich, um bessere Geschäfte machen zu können, tiefer in das Land hineinwandern müssen. Er war hier in eine Gegend geraten, die außerhalb jeder regelmäßigen Postverbindung lag, und so hatten weder seine Sendungen an die Mutter und die Kinder ihre Adresse erreicht, noch war eine Nachricht von seiner Familie zu ihm gelangt.

Wie gern kehrte er jetzt zurück.

Und da nun Herr Wittmer auch dem Freunde mit Rat und Tat zur Seite stand, so fand, dank seiner Hilfe, Vater Martens bald eine Stelle, die ihm eine geeignete Beschäftigung für seine Kenntnisse und Fähigkeiten, sowie ein reichliches Auskommen für seine Familie bot.

Damit sind sie denn alle noch recht glücklich in der neuen Heimat geworden; ihre alten deutschen Lieder aber haben sie nicht darüber vergessen. Oft, recht oft an schönen Sommerabenden in dem kleinen Garten nahe dem hübschen Hause, darinnen sie schon lange wieder wohnen, oder bei der traulichen Lampe zur Winterszeit erklingt Walters Geige und die Stimme der nunmehr heranwachsenden Martha, am innigsten aber immer mit des Vaters Lieblingsmelodie:

Solange dir ein Lied geblieben,
Blieb Gottes schönste Gabe dein:
Ein Lied erhöhet alle Freuden;
Wirkt Hoffnung, Trost in jeder Pein.


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