Bruno Ertler
Venus, die Feindin
Bruno Ertler

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Bruno Ertler

Venus, die Feindin

Bruno Ertler: Venus, die Feindin

 

 

Allem Fremden in Dir, Entschwundene,
gehört dieses Buch von Kampf und Not.
Als ich es schreiben konnte
– im Frühling und Sommer 1917 –
durfte ich aus klarem Fühlen sagen:
Habe Dank.

Der Eilzug kam von Norden.

Aus der weiten Ebene kam er, aus dem Sumpfland vom kalten Meer herunter, aus der Seeprovinz mit der weitläufigen, zerteilten Hauptstadt, die von vielen Armen und Kanälen der großen und kleinen Newa, der Karpowka und Fontanka in mehr als ein halbes Dutzend Inseln und Inselchen zersägt wird.

Der Eilzug stampfte und heulte durch die Nacht, feindselig und gewaltsam. Wie das böse Geschick war er, und seine Räder schlugen auf den Schienen unentwegt den gleichen Takt: Du entkommst nicht! Du entkommst nicht! Den reiße ich weg, den bringe ich, den dritten zermalme ich. Ich bin das Geschick und frage nicht. An Dörfern und Städten vorbei geht mein Weg; tausend und tausend Menschen träumen darin, keiner von ihnen weiß, ob mein Lauf nicht die Fäden kreuzt, verwirrt und zerreißt, die von irgendwo nach seinem Herzen gehen. Morgen schon kann es sein, morgen schon. Du entkommst nicht. – – –

*

Peter Iwanowitsch Karugin saß noch immer unbeweglich in den Polster gedrückt. Ein einziges Mal, als sich keiner der Reisenden dort aufhielt, war er in den Speisewagen gegangen und hatte schnell ein Glas Selters getrunken, weil ihm Hals und Zunge bitter und trocken waren. Nun saß er wieder in seiner dunklen Ecke im leeren Halbabteil, genau so, wie ihn Iwan Michailowitsch in aller Hast gerade noch in der letzten Sekunde förmlich hineingeworfen hatte; der grüne Schirm war vor die Lampe gezogen; auch das hatte Iwan Michailowitsch noch besorgt, obgleich es ja damals noch heller Tag gewesen war. Peter Karugin erinnerte sich auch, daß der Freund ihm geraten hatte, nun fest zu schlafen; es sei alles in bester Ordnung abgegangen; ob ihn die Wunde am Arm noch schmerze, hatte er ihn leise gefragt, und dann, als der Zug schon rollte, noch laut vom Bahnsteig herein »Glückliche Reise!« gerufen.

Peter Iwanowitsch tastete leise mit der rechten Hand nach seinem linken Oberarm. Ja – ja, da war es. Also träumte er nicht; es schmerzte ja. Auch hatte er einen fremden Rock an. Richtig: als der Wagen über die Fontanka-Brücke jagte, hatte Iwan Michailowitsch plötzlich bemerkt, daß Peters linker Ärmel zerfetzt war. Schnell hatte er den Rock heruntergerissen, den blutgetränkten Hemdärmel hinaufgestreift und den Riß, der zum Glück nicht tief ging, verpflastert und verbunden. Kaum war er damit zu Ende, als der Wagen schon am Bahnhofe vorfuhr. Iwan konnte gerade noch Peters Rock anziehen und diesem den seinen aufdrängen, den halbtoten Freund auf den Bahnsteig schleppen und ins Wagenabteil stoßen, Mantel und Handkoffer nachwerfen, als der Zug auch schon abfuhr.

Es mußte ein Splitter gewesen sein, der von der Bombe zurücksprang und seinen Arm traf. Hatte es sonst noch getroffen? Und wen? Peter Iwanowitsch entsann sich nicht, überhaupt die Bombe geworfen zu haben. Sie mußte wenige Schritte vor ihm auf das Pflaster gefallen sein. Gegenüber stand ein Polizeimann; er machte gerade »Rechts schaut!« und salutierte vor dem Wagen. Dann hatte Peter nur noch rote Blitze und grauen Rauch gesehen und war plötzlich von hinten gepackt und in einen Wagen gedrängt worden, der im selben Augenblick davonjagte; er konnte nur noch sehen, daß auf dem Kutschbock der widerliche Kerl mit den kupferroten Bartstoppeln und den verquollenen Säuferaugen saß, der tags zuvor in der elenden Schnapskneipe in der Altstadt vom Tisch herab wieder einmal seine Rede über die Menschenrechte gehalten hatte, bis er schwer betrunken mit dem Gesicht mitten in die Flaschen und Gläser gefallen war, so daß Blut und Branntwein seinen roten Bart verklebten. – Peter glaubte das auch jetzt noch zu sehen. –

Ihm gegenüber im Wagenkasten war Iwan Michailowitsch gesessen, freudig erregt, mit sonderbar flackernden Augen; er streichelte Peters Haar und redete ihm tröstend zu, wie man etwa ein Kind begütigt, das sich einen Zahn hat ziehen lassen.

»Nun siehst du, jetzt ist es vorbei, – – jetzt ist es geschehen, – – lache doch, mein Petruscha. Alles ist gut gegangen, – – alles wird gut gehen. Oh, du Guter! Du Held! Du Heiland – –.«

Er weinte wirklich Freudentränen, küßte Peters rechte Hand und streichelte ihn ohne Unterlaß.

»Leon Martynow ist verständigt. Er wird dich erwarten. Erinnerst du dich an ihn? Ihr habt euch kaum zweimal gesehen. Deshalb habe ich dich genau beschrieben; du siehst aus, wie Johannes der Täufer auf dem Bild von Iwan Warinski, das er im Vorjahr ausstellte. Haha – – nicht wahr? genau so siehst du aus, mein Petruscha – –.«

Da hatte Peter Iwanowitsch zum ersten Mal während dieser wilden Fahrt gesprochen.

»Hast du Lisaweta gesehen?« fragte er den Freund.

»Wo denkst du hin, Petruscha? Ich hatte genug, auf dich achtzugeben; übrigens stand sie doch neben dir, – vorher. Und nachher habe ich mich nicht mehr umgesehen; wo wären wir sonst? Was hast du da?«

Da hatte er den Riß im Ärmel bemerkt. Das war auf der Fontanka-Brücke gewesen. Peter selbst hatte bis dahin von seiner Verwundung nichts wahrgenommen. –

*

Und nun fuhr er durch die Nacht in unsinniger, fliehender Hast, ohne Verstehen und Wollen, ohne zu wissen, wie lange schon, wie lange noch. Der Eilzug stampfte, die Gedanken des Einsamen verballten sich, zerflatterten, zogen wirre Kreise. Bilder tauchten auf und verschwanden, irgend eine nebensächliche Szene, ein Wort, eine Melodie krallte sich in seinem Hirn fest und war nicht wegzutreiben, vereinte sich mit dem furchtbaren Gleichmaß im Stampfen und Rollen des Zuges und höhnte und quälte den müden Mann, daß er stöhnte vor Schmerz. Er suchte sich dagegen zu wehren, schüttelte den Kopf, setzte sich anders, stieß mit dem wunden Arm gegen die harte Polsterung und suchte gierig draußen in der Nacht einen Anhaltspunkt für seine Augen, nur um seine Nerven irgendwie zu reizen, seine Aufmerksamkeit auf etwas zu spannen. Aber es war nichts als schwarze Finsternis über der öden Ebene, kaum hie und da das Licht einer kleinen Station, daran der Zug heulend vorübersauste, kein Stern am Himmel, nicht Farbe, noch Klang auf der Erde. Nur der marternde Rhythmus der Maschine, nur die keuchende Flucht des ganzen Zuges, nur das Drehen und Eilen der Gedanken und Bilder im zuckenden Hirn eines Menschen, darin alles immer und immer wieder in eine Vorstellung mündete: Unter die Räder springen, – – ein Ende machen, – – untergehen –. Aber bedurfte es noch dieses Entschlusses, dieser Tat? Wozu eigentlich? Zu Ende war es ja ohnehin, ein Ende war ja doch diese sinnlose, ungewollte Fahrt, diese Flucht aus der Heimat.

Er lehnte sich zurück und seine weitoffenen Augen sogen sich fest am mattgrünen Licht der Wagenlampe.

Heimat? Wo war seine Heimat? Die Stadt im Wasser der Newa war es nicht. –

Ein freundliches Bild hob sich aus dem matten Licht, – – Berge, Berge voll Schnee im blauen, leuchtenden Himmel, ––– Quelle und Wald und Einsamkeit, Kinderlieder im Dorf, Mutterliebe im Haus, Gottesgröße überall. Wenn die Sonne hinter die Zacken des Elbrus ging und der Himmel rot und offen war, da tat sich auch sein Herz auf, und die Liebe des Ewigen strömte heiß und erweckend hinein. So war das Wunder, und er verstand, daß Gott nur im Flammen der Höhen wohnt, wie im lodernden Dornbusch des Horeb und im Feuer von Sinai.

Und er hörte die Worte wieder, die er damals nicht verstanden hatte, als ihm die Welt an den Hängen des heiligen Elbrus zu klein wurde, als ihn das übervolle Herz hinaustrieb in die lockende Weite.

»Geh nicht von hier ins tiefe Land, es ist nicht gut. Die Menschen dort sind zu weit von Gott. In den engen Gassen ihrer Städte spüren sie nichts von seinem Hauch. Aber der Feind geht durch ihre Mitte. Geh nicht ins tiefe Land!«

Der vergeblich so gesprochen hatte, war gestorben, gestorben wie alles. – –

Peter Iwanowitsch Karugin schaute in das düstere Wagenlicht, der Eilzug stampfte, die Gedanken des Einsamen gingen weit quellaufwärts in seinem Leben.– 

Er war nicht in den heiligen Bergen geblieben, er war ins Tiefland gegangen, nach Norden, in die Inselstadt am kalten Meer. Reich wie ein Gott, mit einem Herzen voll starker Liebe. Wer Liebe hat, der hat die Kraft zum Höchsten, so sagte er sich; vielleicht brauchen sie davon dort in den Städten, wo sie sonst alles haben. Er war bereit, zu geben ohne Frage, ob er empfangen werde, denn er meinte, schon überreich empfangen zu haben von allem Glück aus Gottes reiner Hand. Er konnte nur noch reicher werden, indem er hingab, was er hatte.

Es war eine tiefenreiche Zeit gewesen, als er segnend ging, des Gottes voll, vorbei an den Palästen der Reichen, die er nicht beneidete, zu den Stätten der Armut und Not, zu den Wartenden, Entbehrenden, die doch eines hatten, was den Satten fehlte: Das Verlangen, das Suchen und den Glauben an das Finden.

Wenn er in die engen, sonnenlosen Gassen kam, wo die uralten Häuser standen und noch Holzbrücken über die schmutzigen, übelriechenden Kanäle führten, da wurde es hell in allen Augen, die ihn grüßten, und bald kannten ihn alle, die da in niederen, dumpfen Stuben ihr mühevolles Handwerk trieben. Zuerst liefen ihm die Kinder zu, denen er Märchen erzählte und hin und wieder kleines Spielzeug schnitzte, dann kamen die Frauen und sahen ihn verwundert an, weil er fremd und schön war und eine sanfte, klare Stimme hatte. Schließlich ließ wohl der Schreiner einmal den Hobel ruhen oder ein Schuster trat vor die Werkstatt, um den fremden Mann zu sehen und zu hören, von dem da immer die Rede ging. Es war zuerst Mißtrauen, was sich in den Männern regte, aber es kam nicht hoch, und ehe sie sich dessen versahen, hörten sie voll Andacht hin und konnten die Blicke nicht von dem Fremden wenden, der wie ein Heiliger war und etwas in ihren müden, stumpfen Herzen weckte, ein Kinderlied, einen Jugendtag, – – etwas Fernes, Vergessenes – was mochte es wohl sein? –

Da kam es von selbst, daß einer zu ihm sagte:

»Komm zu mir und iß von meinem Brot.«

Bald in dieser, bald in jener Stube saßen sie dann an den Feierabenden, und alle sahen auf seinen Mund und warteten auf sein Wort.

Und Peter Iwanowitsch Karugin, der Sohn der fernen, südlichen Berge, sagte sich in solchen Stunden, daß die Gemeinde zu jeder Zeit da ist und des Propheten harrt. Und er betete heiß zu seinem Gott, daß er ihm die Kraft gebe, Liebe in ihre Herzen zu gießen, die Liebe, die er empfangen hatte aus glühenden Wolken und strahlenden Firnen, aus dem Quellenrauschen und Waldeswehen seiner georgischen Heimat und aus dem lebendigen Herzen seiner Mutter.

Nie, wenn er in die Mitte der Wartenden trat, wußte er, was er ihnen heute sagen würde; wenn aber hundert dürftige Blicke an ihm hingen, da wuchs seine Kraft ins Ungemessene, da formte sein Mund Worte und Sätze von seltsamer Wucht und Farbe, ein Gestalten und Schaffen brannte in ihm, das seine Wangen glühen machte, seine Glieder beben ließ und blankes Feuer in seine Augen trieb.

Jedes einzelnen Zuhörers Seele fühlte er in sich, um jeden rang er und überwand allen stummen Zweifel, weil Gott ihn gesegnet hatte mit der Gabe der Leidenschaft, die alle Kräfte seiner Jugend in einem Punkt vereinte und durch ihr Leben und Glühen jeden Widerstand brach.

Märchen und Sagen wechselten mit kleinen Erzählungen, die er lebendig erfand und glücklich dem Empfinden und Verstehen seiner Freunde anpaßte; bald aber verdrängte alles das heilige, ewige Buch, das vom Erdenleben eines Gottes berichtet, und wieder fiel die tiefe Macht der Gleichnisse vom verlorenen Sohn, vom reichen Manne und dem armen Lazarus, vom Pharisäer und vom Zöllner in hundert bange Herzen, wieder fühlten Menschen in harter Erdennot, daß Freiheit nur im Geiste ist.

Und sie riefen nach ihm in den Stunden ihrer großen und kleinen Leiden und teilten die Freude mit ihm, wenn sie einmal kam.

Der Metalldreher Sergej Fedorowitsch Panin fiel ihm ein, der ihn am meisten liebte, weil Peter ihn vom Teufel des Schnapses befreit hatte.

»Wie soll ich es machen?« hatte er traurig gefragt. »Ich liebe mein Weib und ich liebe den Schnaps, – – aber die beiden sind Feinde. Es ist schwer, Väterchen. Wie soll ich es machen?«

»Wieviel trinkst du im Tag?« fragte Peter Iwanowitsch.

»Ach ja, es sind wohl zwanzig Pinten, – – leider.«

»Weißt du die schmale Landzunge, die drüben von der Wassiljewski-Insel ins Meer hinausragt?«

»Ich kenne sie. Was ist dort?«

»Merke gut auf, mein Sergej,« sagte Peter, »dorthin gehst du morgen vor der Sonne, nimmst eine Pinte Schnaps mit dir und gießt sie über den letzten Stein im Augenblick, da die Sonne sich hebt. Dann wäscht du die Hände im Meer und betest: Sonne, mache mich rein!«

»Ich will es tun, Väterchen –«, sagte Sergej Panin langsam und scheu.

Am andern Tage fragte ihn Peter:

»Nun, warst du dort?«

»Ja, Väterchen. – Ich habe nicht gewußt, daß Sonne und Meer so rein sein können – –.«

»Am Morgen ist die Kraft Gottes in ihnen,« sagte Peter ernst, »morgen gießest du zwei Pinten über den Stein.«

Und Sergej Panin befolgte treu das Gebot. Bei Tagesgrauen schlich er aus den dumpfen, verschlafenen Gassen und Winkeln der Altstadt, wanderte den Kai entlang, vorbei an Häusern und Palästen mit blinden, verschlossenen Fenstern, ging über die erste Newa-Brücke auf die Wassiljewski-Insel hinüber und lief immer schneller durch die letzten Gassen, voll Angst, die Sonne könnte ihm zuvorkommen, ehe er zur Stelle wäre. Befreit atmete er stets auf, wenn er die Häuser der Stadt hinter sich hatte und über die Fläche dem Meer entgegeneilte. Hatte er dann sein Sühnopfer ausgegossen und in den ersten Sonnenstrahlen die Hände ins kalte, reine Wasser getaucht, so stieg sein Gebet aus einem kindergläubigen Herzen zur Sonne empor, und auf seinem Heimweg durch die Stadt, die in den silbernen Armen der Newa erwachte, war so viel Freude und Glück, daß er stets singend und froh in seine Werkstätte kam und schon an den Schraubstock trat, während tausend andere eben erst aus ihren Betten krochen, mürrisch darüber, daß wieder ein Tag begann. –

»Hast du schon einmal unter den Stein geschaut?« fragte Peter Iwanowitsch seinen Schüler am zehnten Tage, als Sergej Panin schon zehn Pinten opferte und kaum noch fünf im Tage trank. Er sah auch schon frischer aus, lachte und sang bei seiner Arbeit, so daß man eigentlich jetzt erst merkte, wie jung er noch war.

Tags darauf hielt Sergej seinem Meister einen Silberrubel entgegen.

»Das hättest du nicht tun müssen, Väterchen«, sagte er beschämt.

Peter Iwanowitsch lächelte.

»Hast nicht du selbst ihn erspart?« sagte er. »Komm, wir wollen deiner Frau ein neues Kopftuch dafür kaufen.«

Als zwanzig Tage vorüber waren, schleppte Sergej Panin in aller Morgenfrühe eine ansehnliche Kufe Schnaps nach der Wassiljewski-Insel hinüber, goß sie über den Stein, kniete nieder, wusch Hände und Gesicht im Meer, darin die ersten Sonnenstrahlen blitzten, und betete:

»Sonne, Sonne, mach' mich rein!«

Als er sich gegen die erwachende Stadt wandte, stand Peter Iwanowitsch Karugin vor ihm.

»Christ ist erstanden, Sergej Fedorowitsch!«

»Wahrlich, er ist es, Väterchen!«

Sie umarmten einander; dann fragte Peter:

»Wieviel haben wir heute?«

»Zwanzig Pinten.«

»Und wieviel getrunken?«

»Seit drei Tagen nicht eine.«

»Komm, wir wollen den Teufel ertränken«, sagte Peter. »Komm, pack an!«

Da hoben sie mit vereinten Kräften den Stein, schwangen ihn hin und her und warfen ihn mit aller Wucht ins glitzernde, seichte Uferwasser, daß es hoch aufspritzte. Wie das Wasser ruhig wurde, sah man den runden Klotz unter dem glatten Spiegel liegen. Sergej Panin schaute lange hin und sagte kein Wort. Plötzlich liefen ihm die hellen Tränen aus den blauen Augen, er fiel auf die Knie und küßte voll Inbrunst Peters Hände. –

Langsam gingen sie gegen die Stadt zurück, über deren Dächer die Sonnenstrahlen sprangen, von deren Türmen die ersten Glocken summten, denn es war Ostermorgen. Feierlich und still lagen die Gärten, still gingen die beiden jungen Männer nebeneinander her, der feine, dunkle, schmalköpfige, schlanke Georgier und der breite, bodenfeste Russe, blond, blauäugig und rosig, wie ein gesundes Kind.

In den Straßen waren schon viele Menschen; feiertäglich froh und befreit sahen sie aus, gingen in die Kirche oder ins Freie, und von allen Seiten kam der frohe Ostergruß: »Christ ist erstanden!« und die Antwort: »Wahrhaftig, er ist es!«

Peter erzählte seinem aufhorchenden Freunde von Christus und seinen zwölf Jüngern, die mit ihm waren, wo er ging und lehrte und Wunder tat. Johannes aber war der Liebling des Herrn, denn er war jung und die Liebe brannte in seiner Brust, darinnen nichts war, als des Meisters Bild. – Thomas, krank an der Weisheit der Erde, wollte nur glauben, was er verstand und mit Händen greifen konnte. Wer aber braucht zu verstehen, wenn er die Liebe hat? Wirkt sie nicht mehr, als alles Wissen der Welt? – Petrus, der Alte, litt an seinem Meister, denn er fühlte es wohl, daß er ihn nicht erfassen könne in seinem einfachen, hartgängigen Hirn. Weil er aber ein reines Gotteskind war, fand er die Gnade des Glaubens und der Stärke nach schmerzheißen Tränen der Reue. –

»Und Judas, der den Herrn verriet – –?« fragte Sergej Fedorowitsch.

»Judas liebte den Meister, er liebte ihn heiß und eifersüchtig und voll Stolz, aber nicht der Herr allein war im leidenschaftlichen Herzen dieses ruhelosen Mannes. Judas, der aus Cheriot war, sah mit brennendem Weh die Knechtschaft seines Volkes und dachte mit zorniger Ungeduld an dessen verlorene Herrlichkeit. Er krönte den Herrn mit der Krone Davids und gab ihm Joshuas Schwert in die Hand, daß er die fremden Herrscher erschlage. Voll Unrast, den glühenden Tag der Freiheit zu sehen, stieß er den Herrn vor die Feinde, damit das Zaudern ein Ende habe. Da aber fiel es wie Schuppen von seinen blinden Augen, da sah der eifernde Dränger, daß der Meister weit über alle Länder und Völker schaute, daß auf seinem Haupt eine heilige Krone strahlte, wie sie kein König je getragen, daß kein Schwert in seiner Hand zuckte, sondern Segen floß aus ihr. Und als Judas knirschend vor Reue erkannte, was er getan, warf er das Blutgeld in den Tempel, ging hin und erhenkte sich.« –

Eine Weile schwiegen die Freunde. Dann sagte Sergej Fedorowitsch:

»Judas von Cheriot war ein armer Mann.«

Und Peter Iwanowitsch antwortete:

»Die Freiheit beginnt nicht beim Morde der Großem, sondern beim Überwinden der eigenen Kleinheit.«

Sergej Fedorowitsch sagte nichts; er dachte an die seltsam reichen Morgenstunden der letzten Wochen im Zeichen einer guten Tat des Überwindens, und zum ersten Mal in seinem Leben drängte und wühlte etwas in seiner Brust, was ihn mit ungeahntem Glück erfüllte. – –

Sie waren längst über die kleine Newa nach der Petersburg-Insel herübergekommen, hatten diese im Gespräch durchquert und standen nun an der Brücke, die in der Nähe der Karpowka-Mündung über die schmale Newka nach Wyborg hinüberführt; um die Kaserne herrschte lebhaftes Treiben. Soldaten und Offiziere in der festlichen Paradeuniform der Grenadiere standen in Gruppen, kamen und gingen, die Sonne blitzte im Metall und Lack ihrer Rüstung, und die frohe Osterstimmung dieses wunderbar klaren Vorfrühlingstages lachte aus jedem Gesicht. –

Sergej Fedorowitsch blieb stehen.

»Ich muß zurück,« sagte er, »meine gute Xena weiß nicht, wo ich so lange stecke. Und heute ist Ostertag.«

Es klang zärtlich und voll Liebe, als er den Freund bat:

»Nicht wahr, du kommst heute abend zu mir? Ich werde alle zusammenrufen; wir essen dann miteinander den Osterstullen, ja? Und dann erzählst du uns allen noch einmal die Geschichte von dem armen Judas Ischariot. Nicht wahr?«

Peter Iwanowitsch versprach, zu Sonnenuntergang an der Fontanka zu sein. Dann trennten sich die beiden Freunde. Sergej Fedorowitsch ging den Kai entlang, Peter sah ihm noch eine Weile nach, ehe er selbst über die Brücke langsam nach Wyborg hinüberschlenderte, wo er sich bald zwischen den Gärten, Wiesen und niederen Waldbeständen der weiten Fläche verlor. – –

*

Der einsame, müde Mann im hinrasenden Schnellzug strich sich mit der Hand über die Stirn. Auch heute war Ostertag. War er derselbe, der vor einem Jahr einsam durch die Ebene von Wyborg ging? Es fiel ihm ein, daß er seit jenem Tage nur noch ein einziges Mal mit dem Metalldreher Sergej Fedorowitsch Panin gesprochen und daß er sich schmerzlich geschämt hatte vor ihm.

Er preßte die Hand vor die Augen, daß sie ihn schmerzten und fließende Pfaufedernflecken malten. Hätte er doch weinen können! Aber der Segen der Tränen blieb ihm versagt. Mit klarer, wehvoller Deutlichkeit tauchte jener Ostertag aus der Ferne eines vollen Jahres in seiner Seele empor.

Damals hatte des Blutes heiße Unrast urgewaltig in ihm aufgelodert und alle Erdenlust um so qualvoller in seine Brust gestoßen, je stolzer er sich jemals darüber erhoben hatte. Er hatte etwas wie Neid empfunden, als er an der Newka-Brücke seinem Freunde Sergej Fedorowitsch, den er vom Trunk gerettet, nachblickte. Der ging zu seinem Weibe, zu seiner Xena, die jung war und ihn liebte und ihn noch heißer, noch inniger lieben würde, seit er sich nicht mehr betrank. Und das war sein Werk; er, Peter Iwanowitsch Karugin, der Apostel vom heiligen Elbrus, konnte solche Wunder wirken, aus dumpfen Tieren warmfühlende Menschen machen, Freude erschaffen, wo bisher stumpfe Gewohnheit war. Er war der Meister, dem sie die Hand küßten, der ihnen das milde Licht liebevollen Verstehens brachte, er war der Künstler, der sein Werk in lebendige Herzen schrieb, der wie ein Gott Werden und Wollen lenkte, Liebe und Kraft ausströmte, wie die Sonne am Tag. – Ja, das war er, das konnte er – – und stand mit leeren Händen frierend vor den verschlossenen Toren des großen Gartens, darinnen alle froh und selbstverständlich nahmen und gaben von den köstlichen Früchten des Lebens.

O ja, er wußte genau: man bezahlte eben mit dem einen, was man vom andern hatte. Das Leben rechnete glatt. Aber da war sie, da war sie wieder, die furchtbare Frage: War er auserwählt? War er ein anderer?

Nächte lang und auf einsamen Wegen hatte er sich mit dieser Frage getragen, um ihre Lösung gerungen. Er war in die Welt des Geistes geflohen, dann riß es ihn wieder fort, hinaus ins Endlose, irgendwohin, weiter, immer weiter. Wie oft war er diesen Weg schon gegangen, wie oft am einsamen Ufer des Meeres gesessen, die Hände gefaltet, alles Glück und Weh der Welt in der Brust, und hatte gebetet: »Vater, führe mich! Laß die Lüge nie Gewalt haben über mein Herz!«

Denn Lüge war es, erhaben zu scheinen, indes rote Lust in den Adern zuckte und in den Schläfen gor. Durfte er wie ein Prophet unter die Harrenden treten mit dem wilden Lied der Erde im Blut, durften sie Gottes reinen Namen hören aus einem Munde, der nach Weibesküssen durstig war? Ach, Lüge war all sein stolzes Leben, lächerliche, feige, prahlende Lüge!

Er warf sich hin, und in der reinen, lebenweckenden Sonne des Ostertages, im Glockensummen der fernen, festlichen Stadt weinte er qualvolle, ehrliche Tränen in die feuchte, keimende Erde.

O, du! Herrlicher, Gewaltiger! Wie du, vorübergehen können an Maria Magdalena! Die flackernde Sucht im Blute der Dirne durch einen einzigen Blick deiner stillen Augen in reine, heilige Liebe wandeln! Und sterben als Sieger im Weinen der befreiten, geretteten Frau! O du! du! Vorübergehen können, wie du, an Maria Magdalena!« –

*

Als die Sonne sank, ging er über die lange Troitzki-Brücke, um zur angegebenen Stunde bei Sergej Fedorowitsch zu sein. Tagsüber hatte er sich im Freien aufgehalten, in einer Gastwirtschaft ein kleines Mahl genommen und war allein und sinnend durch die Stadt zurückgegangen.

Die Luft war sichtig und klar, alle Gegenstände erschienen in tiefen Farben und seltsam nahegerückt; viele Menschen drängten sich den Kai entlang, durch die Gassen und über die Brücken, und alle hatten in Gang, Blick und Rede viel frisches Leben und versteckte Lust. Jetzt tauchte die Sonne in eine goldstrahlende Wolkenbank und das Wasser der Newa leuchtete auf in rotem Brande. Am jenseitigen Ufer blitzten die Türme der Peter-Pauls-Festung, und es sah aus, als schwimme die Zwingburg auf einem riesigen Floß in einem Meer von Blut.

Peter Iwanowitsch blieb am Brückengeländer stehen. Er wandte den Blick von der Festung ab und schaute in die rote Abendglut.

Das war die Stunde der Offenbarung, wie er sie seit den Kindheitstagen kannte. Es kam ihm in den Sinn, daß seine Mutter einst in die glühenden Abendwolken gewiesen und zu ihm gesagt hatte:

»Siehst du, jetzt ist der Himmel offen. Jetzt kannst du Gott Vater sehen.«

Und als er nach einer Weile gefragt hatte: »Wo ist er? Ich sehe nur lauter Licht – –,« da hatte ihm die Mutter übers Haar gestreichelt und gesagt: »Dieses Licht ist Gott. –«

Wie damals in fernen Kindertagen am heiligen Elbrus, so war es auch heute noch am ewigen Nordmeer: Im leidenschaftlichen Lichte glühender Wolken segnete Gott die begnadeten Herzen. Alles versank im staunenden Schauen. Gott rief nach ihm, und er sagte: »Vater, da bin ich!« Noch einmal lebte der reiche Tag in ihm auf, noch einmal zuckte der wilde Brand in seiner Brust, wie die Wolke da draußen flammte in blutroter Sehnsucht. Und alles in ihm rief:

»Dich zu finden! Dich zu finden, du Heilige der Leidenschaft, Maria von Magdala! – –«

Er riß sich los, um weiterzugehen, indem er noch einen letzten Blick in das Flammen und Lohen von Himmel und Meer sandte. Da blieb er stehen. Wie war das? Er hatte niemand kommen sehen – und jetzt – welches Bild? – Regungslos stand er, fühlte sein Herz pochen und hielt den Atem an, aus Furcht, die Erscheinung zu vertreiben.

Vom roten Himmel zeichnete sich klar und tief der Schatten einer Frau. Sie stand am Geländer, hatte eine Hand auf die Brüstung gelegt und schaute regungslos in die untergehende Sonne. Hoch und schlank war diese Frau, wunderbar flossen die Linien ihrer Gestalt, wie mit der Schere geschnitten stand das Profil des fremdartig schönen Gesichtes vor dem leuchtenden Hintergrund.

Peter Iwanowitsch zuckte vor Schreck, als sie sich bewegte und sich ihm zuwandte. Fast hätte er die Hände beschwörend gegen die Fremde ausgestreckt; so sehr lebte er im Banne, eine Vision seiner durch die seltsamen Mächte dieses Tages aufgewühlten Sinne zu erleben.

Einige Augenblicke standen sie einander gegenüber, dann trat die Fremde auf ihn zu und sagte mit einer leise singenden, weichen Stimme:

»Guten Abend, Peter Iwanowitsch Karugin.«

Wehrlos, selbstverständlich, wie von einem schmeichelnden Element getragen, ging er neben ihr her den Kai entlang, bog in eine Gasse nach links, als sie es tat, und ging an ihrer Seite über den lebendigen Newski-Prospekt gegen die Fontanka zu. – –

*

Peter Iwanowitsch lächelte in die matte, grüne Wagenlampe. Es fiel ihm ein, daß sie damals den gleichen Weg gegangen waren, den er heute – oder war es schon gestern? – in wilder Flucht durchrast hatte.

Damals – – vor einem Jahr –.

Jelisaweta Isaéwna hatte in einemfort in ruhigem, singenden Ton gesprochen; einmal sagte sie: »Wir kennen Sie schon sehr lange, Peter Iwanowitsch. Wir wissen, wer Sie sind –.«

Dieses »wir« war ihm aufgefallen, aber er hatte nicht gefragt, wen sie damit meinte. Im dichten Getriebe des Newski-Prospektes war Jelisaweta oft gegrüßt worden, – – es waren meist junge Männer, Studenten, wie es Peter scheinen wollte, und einer von ihnen war ihm damals gleich aufgefallen, wie er frei und elastisch dahergeschritten kam und mit liebenswürdigem Lächeln und eleganter Bewegung seinen Hut vor Jelisaweta abnahm. Peter Iwanowitsch war von der lichten Erscheinung dieses schönen, kraftvollen Menschen so überrascht, daß er seine Begleiterin unwillkürlich fragte, wer es gewesen sei.

»Sie kennen Iwan Michailowitsch nicht?« fragte sie erstaunt. »Er ist einer unserer Besten. Ich dachte, er wäre Ihnen bekannt, weil er oft von Ihnen spricht. Nun, sie werden ihn bald kennen lernen –.«

Alle diese kleinen Fragen und Gegenreden, die damals vor einem Jahre zufällig und bedeutungslos im zögernden, oft zerrissenen Gespräch auf der stark belebten Straße aufgetaucht und rasch wieder verdrängt worden waren, gewannen jetzt Sinn und Bedeutung, und der einsame Reisende im nächtlichen Zuge wußte nun auch, warum er damals an der Seite Lisawetas jenes fremde, fast unheimliche Gefühl nicht überwinden konnte, das ihm ihre merkwürdige, selbstverständliche Sicherheit verursachte.

Auch als er wieder allein in seinem Zimmer, hoch im vierten Stock des uralten Miethauses im Kolomenski-Viertel, saß, glaubte er, noch ihr halblautes, vertraulich singendes »Wir kennen Sie, Peter Iwanowitsch – –« zu hören, sah noch die sonderbar verstehenden Blicke der jungen Leute, die sie gegrüßt hatten, rief sich alle Worte Lisawetas ins Gedächtnis zurück und wollte in manchem nachträglich viel mehr finden, als ihm gleich aufgefallen war. Ärgerlich über sein Grübeln verwarf er diese Gedanken, und wie ein Lichtblick tauchte die hohe Gestalt mit dem feinen Kopf, wie er sie zuerst auf der Troitzki-Brücke vor dem rotglühenden Abendhimmel gesehen hatte, wieder vor seinen Augen auf und auch der klare, offene Blick in den Augen des schönen Iwan Michailowitsch versöhnte ihn mit allen trüben Zweifeln. Zugleich aber wurde es ihm klar, daß er diese Menschen lieben würde, daß er sich nicht von Jelisaweta Isaéwna würde wenden können. Diese ahnende Erkenntnis verursachte ihm Freude und Schmerz. Hier sah er wieder – und stärker als jemals – daß sich in seinem Wesen alles zum Kampfe stellte, was andere Seelen kaum störte, und vorausfühlend sagte er sich, daß er leiden würde um sie, die er lieben mußte. Denn um jeden Menschen, der bedeutend in sein Leben trat, kämpfte er gegen tausend Widerstände seiner eigenen Art, und wenn er nicht gleichgültig wurde, sondern sich durchrang zur Liebe, so ward ihm die Kraft dazu, weil er seltsam reich war zu geben, weil Gott seine Seele weit offen hielt für alles, was lachte und litt, was kämpfte und voller Fragen war. – –

Ruhelos war diese Nacht gewesen, ruhelos, wie heute der stampfende, fliehende Eilzug. – –

Er hatte damals einen Brief an Jelisaweta zu schreiben begonnen: »– – wir wollen uns nur auf dem Boden der Wahrheit begegnen – oder nie mehr wieder – –. Daß Sie schön sind, Lisaweta Isaéwna, mein Gott, wer brauchte Ihnen das noch zu sagen – –. Ich bin nicht klug in der Welt und ein einfacher Mann, vielleicht überschätzen Sie mich – –, aber ein Spiel werden Sie nicht treiben mit mir, – das werden Sie nicht – – –.«

Da war ihm mitten im Schreiben eingefallen, daß er ihre Wohnung nicht wußte; wie sollte also dieser Brief – –? Oder doch: sie hatte sich ihm als Studentin zu erkennen gegeben, man konnte also an die Universität schreiben. Plötzlich kamen ihm seine Sätze zudringlich und unklug vor; er zerriß den Brief und versank neuerdings in Grübelei, stand auf, sah rings im matterhellten Zimmer um sich und kam sich plötzlich fremd darin vor. Zögernd, mit halber Absicht begann er unter seinen Büchern zu suchen. Ein schmales Bändchen blieb in seiner Hand; es waren die Gedichte von Nikolai Alex. Nekrassow.

Er schlug auf und las:

»– – – – – oh, heimatlich' Land!
Wo ist er, der heißersehnte,
der nimmer geschaute Ort,
wo der russische Bauer nicht stöhnte,
dein Sämann, Ernährer und Hort?
Er stöhnt auf Äckern und Wiesen,
in düstern Kerkerverließen,
im Bergwerk auf tödlichem Pfad,
an Händen gefesselt und Füßen.
Er stöhnt bei Ernte und Mahd
und seufzt in zerfallener Hütte
beim Schwälen des Kienspanlichtes,
er stammelt der Herzensangst Bitte
vor den Türen des Kreisstadtgerichtes – –
–   –   –   –   –   –   –   –   –   –«

Plötzlich sprang er auf und schlug sich mit der Hand vor die Stirne. Wie ein Pfeil war es durch seinen Kopf gefahren: Sie hatten auf ihn gewartet – – Sergej Fedorowitsch und die anderen – – alle hatten auf ihn gewartet – – just heute am Ostertag erwarteten sie etwas besonderes von ihm, eine frohe Botschaft – – Worte der Erlösung – – er hatte es wohl gemerkt, als Sergej an der Grenadier-Brücke noch zuletzt gesagt hatte:

»Ich werde alle zusammenrufen – –, nicht wahr, du kommst?«

Und nun waren sie umsonst gekommen, waren umsonst in der dumpfen Stube gesessen, hatten vergeblich gewartet. Wie hatte er so seine heilige Pflicht vergessen können!

Heiße Scham trieb ihm alles Blut zu Kopfe; er stieß das Fenster auf –, es war tiefe Nacht. Nun warteten sie nicht mehr. Sie waren heimgegangen in ihre armen Quartiere, ohne Trost, ohne Licht – seine Gemeinde. –

Peter Iwanowitsch kniete vor dem Fensterbrett nieder, legte den hämmernden Kopf auf seinen Arm, und ehe noch eine erlösende Träne kam, hörte er durch die laue Vorfrühlingsnacht von der Straße herauf einen einsam heimkehrenden Menschen das alte, halbvergessene Liedchen der Julia Valerianowna Shadowskaja singen:

»Siehst du, wie am blauen Himmel
rosenrot das Wölkchen zieht?
Siehst du dieses Blühn der Felder?
Hörst du rings der Vögel Lied?

Schwing' dich auf mit mir, Geliebter –
sei's nur für den Augenblick –
höher als das Menschenelend,
höher als das Menschenglück!«

Mit sonderbar weicher Innigkeit wiederholte der Sänger die letzten Zeilen des sentimentalen Gedichtchens, und als er um eine Ecke bog, verklang der Abgesang im leichten Wehen der Nachtluft.

Da schluchzte Peter Iwanowitsch aus tiefster Seele qualvoll auf. –

*


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