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Ein großer Teil unserer Freunde steht nun draußen im Feld. Der Kommerzienrat Werner ist Hauptmann. Er hat Hampe als Unteroffizier in seiner Kompanie, und Müller, der als Gemeiner dient, ist ihm als Bursche zugeteilt.
Die Kompanie liegt augenblicklich in einem französischen Dorf hinter der Front; sie ist für einige Zeit aus dem Schützengraben zurückgenommen, um sich zu erholen.
Müller kommt eben nach Hause mit dem Essen. Da laufen ihm die Kinder des Quartierwirts entgegen und betteln. Er wird grob und sagt: »Weshalb macht ihr Krieg, wir haben ihn nicht gewollt, ich kann nichts abgeben, erst muß ich an meinen Hauptmann denken, es langt für uns selber nicht.« Aber da sieht er das Kleinste, wie dem die Tränen die schmutzigen Backen herablaufen. Brummend sagt er: »Na, du bist ja nicht schuld an dem Krieg«, setzt sich auf einen Grenzstein, nimmt das Kind auf das Knie und löffelt ihm Suppe ein. Das Kind klatscht in die Hände und lacht, zu beiden Seiten des Mundes rinnt ihm die Suppe. Die andern stehen hungrig herum und schauen zu. Dann setzt er das Kind nieder, steht auf und sagt: »Euch andern kann ich nichts geben, es drückt uns ja das Herz ab, aber es geht nicht.« Das gesättigte Kind hüpft und läuft, die andern gehen hungrig, mit traurigen Blicken, davon.
Werner hatte aus dem Fenster den Vorgang gesehen. Der Bursche richtete ihm das Essen auf dem Tisch, er setzte sich. Ein klein wenig Fleisch, einige zerschnittene Kartoffelstücke und viel Brühe. Langsam, nachdenklich nahm er Messer und Gabel und zerschnitt das Fleisch.
»Das Fleischstück kommt mir zu groß vor«, sagte er. »Ich will nicht mehr haben, als mir zukommt. Hat die Mannschaft ebensoviel?«
Müller nahm eine dienstliche Haltung an. »Zu Befehl, Herr Hauptmann. Es ist heute zwanzig Gramm mehr Fleisch auf den Mann verteilt.«
Werner löffelte und kaute. Er ließ Kartoffeln, Fleisch und Brühe übrig. »Ich bin gesättigt«, sagte er. »Den Rest können Sie den Kindern geben.«
Als Müller allein war, sah er sich den noch halbgefüllten Teller an. Er ergriff schnell den Löffel, nahm zu sich, dann zuckte er zusammen, legte den Löffel zur Seite und rief die Kinder.
Draußen ging Werner im Sonnenschein auf und ab.
Müller ging an den Schrank und schnitt sich ein Stück Brot ab; er nahm ein Töpfchen vor und bestrich das Brot mit Marmelade; dann ging er zur Hintertür; da saßen zwei Krieger auf der Schwelle und kauten behaglich. Er setzte sich zu ihnen.
Die beiden erzählten sich Geschichten. Der eine begann: »Der Hindenburg hat einmal an der Himmelstür angeklopft, und wie ihm der Petrus aufmachte, da sagte er: ›Ich bin der Hindenburg, so und so, ich will einmal nachsehen, wie die Verpflegung hier oben ist, denn den Etappenschweinen traue ich nicht, die fressen alles selber. Habt ihr denn hier auch bloß Heldenfett?‹ – ›Nee‹, sagt Petrus, ›prima ostfriesische Rahmbutter‹, und zeigt ihm einen großen Butterkeller, da liegen die Butterfässer nur so auf Eis. ›Na gut‹ sagt Hindenburg, ›ich werde mich bei den Mannschaften selber erkundigen.‹ Da ist denn schon auch eine Kaserne, auf dem Hof steht ein Unteroffizier und kommandiert, und das geht alles wie geschmiert, nicht ein einziges Mal hat er geschimpft. Der Hindenburg steht dabei, und das Herz lacht ihm im Leibe, wie er das sieht. Na, also nun ›Stillgestanden‹. Er will die Reihe abgehen, da kommt ein Mann auf den Hof, der rollt ein Faß mit Offensivcreme. Kreuzdonnerwetter! Hat da der Hindenburg geschimpft, gleich hat er dem Faß einen Tritt gegeben, daß es den Himmel heruntergekugelt ist und sich aufgeschlagen hat. Wißt ihr, das ist vor vier Wochen gewesen, wo das Sauwetter gewesen ist, da hat's Dreck geregnet vom Himmel acht Tage lang. Das ist das Faß gewesen. Also nun greift er in die Brusttasche, da zieht er seine Zigarren heraus, das waren Feldmarschallzigarren, reicht jedem Mann, aber die Zigarren werden nicht weniger, weil das nun im Himmel ist. Der Unteroffizier kriegt auch eine. Dann steckt er sich selber eine ins Gesicht und sagt: ›Nun wollen wir einmal gemütlich sein, hier oben sind wir ja alle gleich.‹ – ›Zu Befehl, Herr Feldmarschall‹, sagen die Leute. Nun fragt er: ›Ihr seid ja nur eine Kompanie, wo sind denn die andern?‹ Da tritt der Unteroffizier vor und sagt: ›Melde gehorsamst, die sind in der Hölle.‹ – ›So, nachher muß ich auch in der Hölle revidieren‹, sagt der Hindenburg. ›Kreuzdonnerwetter! Das kommt von dem verdammten Fluchen! Könnt ihr Kerls denn nicht anständig sprechen, wie es sich gehört!‹ Da kommt der Petrus und hat den Himmelsschimmel am Zaum, und den hat er mit Kienruß anstreichen lassen, und nun setzt sich der Hindenburg auf und fort zur Hölle. Und wie er vor das Höllentor kommt, da steht eine Wache, die ruft ›Raus‹, da kommen sie alle raus, und da präsentieren die Teufel mit den Schwänzen. Der Hindenburg grüßt und sagt: ›Revision‹ und ist auf seinem Schimmel hineingeritten, und hat nicht mit der Wimper gezuckt, aber der Petrus hat Angst gehabt und ist draußen geblieben. Na, also in der Hölle ist es lustig hergegangen, und die Soldaten müssen ihm ihre Butterbüchsen zeigen, er hat selber gekostet, und dann ist er zur Feldküche geritten und hat sich einen Teller geben lassen, und die Stiefel hat er sich angesehen, ob sie ganz sind. Und wie er da noch so durch die Reihen reitet, stehen da auf einmal hundert große Kisten aus Eisen. ›Was ist denn das?‹ fragt er den Teufel, der ihn begleitet. ›Das ist die neue Kriegsanleihe‹, sagt der. ›Was, ist die auch schon wieder beim Teufel?‹ ruft der Hindenburg aus, gibt seinem Schimmel die Sporen, und heidi! ist er wieder aus der Hölle heraus.«
Die beiden andern Männer lachten. Sie waren mit ihrem Essen fertig, nun zog jeder seine Pfeife vor, stopfte sie und zündete an.
»So einen Tabak hält der Franzose nicht aus. Meiner ist auf einer Buche gewachsen«, sagt Müller. »Wenn es wieder zum Angriff geht, dann soll die Mannschaft ihre Pfeifen anstecken, da fällt der Feind gleich auf den Rücken und ist weg.«
»Jetzt wollte ich doch, ich hätte drei Wochen Urlaub«, sagte der dritte der Männer und seufzte tief auf. »Es geht alles zurück in der Wirtschaft, man möchte doch einmal wieder bei der Frau sein und die Kinder sehen.«
Die beiden andern schwiegen nachdenklich und zogen an ihren Pfeifen.
»Ja, ich sähe auch einmal gern wieder das kleine Zimmermännlein«, sagte Müller. »Das ist ein kluger Junge. Kaum war er auf der Welt, da sagte er zum Schwiegervater: ›So, nun mach schnell, daß die Eltern Hochzeit machen können‹; und wenn das nicht gewesen wäre, der Alte hätte immer noch nicht nachgegeben.«
Der Hauptmann Werner ging unterdessen auf der Dorfstraße auf und ab. Er war ein schlanker Mann, rasiert, mit ergrautem Haar, mit scharfen Zügen und blauen Augen. Kinder liefen und spielten. Gelegentlich ging einmal ein Soldat in bequemem Schlendergang, eine alte Frau saß in ihrer Haustür und strickte. Von weitem das dumpfe Grollen und Donnern der Schlacht.
Da nahte sich von weitem Marschtritt. Werner spähte aus. Eine größere Abteilung zog an, es mochte wohl ein Bataillon sein. Der Zug kam näher. Werner trat zur Seite, Begrüßung und Nicken.
Da traf er den Blick eines blutjungen Leutnants; zwei Rufe: »Vater« »Hans«; der Leutnant kam herausgelaufen, lag Werner an der Brust. Die beiden eilten zu dem voraufmarschierenden Hauptmann und baten um Erlaubnis für eine halbe Stunde, es wurde Gewährung genickt. Nun nahm der Vater den Sohn in die Stube.
Er stellte ihn vor sich und sah ihn an. Der Junge blickte ihm mit strahlenden Augen ins Gesicht. »Du bist gut geblieben. Bleibe gut«, sagte er. Dann setzten sich die beiden.
»Ich wollte dir soeben schreiben«, sagte der Vater. »Aber nun ist es gut, daß wir uns sprechen. Ich habe die Ahnung, daß es das letzte Mal ist. Da habe ich dir noch Wichtiges zu sagen.«
Der Junge wollte ihn unterbrechen, der Vater wehrte ab: »Laß nur. Es hält mich nichts. Du bleibst zurück. Ich hätte dich gern noch ein paar Jahre geleitet; aber das geht nun nicht, du wirst auch so durchkommen. Ich sterbe gern.«
Er fuhr fort: »Die Schwägerin hat mir geschrieben von Hampes Tochter. Ich habe bis jetzt nicht darüber gesprochen mit dir. Ich traue dir, daß du nicht unehrlich bist gegen das Mädchen. Und ich traue dir auch, daß sie eine Frau sein wird, die dir und mir einmal keine Schande macht.«
»Ich danke dir, Vater«, sagte der junge Mann. »Es kann niemand in die Zukunft sehen«, fuhr der Vater fort. »Es sind natürlich Bedenken: die kleinen Verhältnisse, aus denen das Mädchen kommt. Die Menschen sind ja nun einmal in der Regel zu ihren Verhältnissen passend. Aber sie kann sich eingewöhnen. Und es ist nicht gesagt, daß ein Mädchen aus unsern Ständen eine passendere Frau für dich sein wird. Ihr Vater ist beschränkt, er hat so diese sozialdemokratischen Anschauungen und läßt sich durch das Geschwätz seiner Partei bestimmen, aber er ist ein Ehrenmann. Ich denke, er wird auch eine ordentliche Frau haben. Schließlich, ihr habt euch ineinander verliebt. Das ist ja nicht so viel, als ihr euch denkt; aber es trägt doch; und wenn das Mädchen wirklich lieben kann, dann wird alles gut werden.
Du erbst nun meinen Besitz. Wisse, daß er ein Pfund ist, das dir Gott gegeben hat, um mit ihm zu wuchern. Er ist nicht dein Eigentum, er ist dein Amt. Mein lieber Sohn, ich habe nicht an Gott geglaubt. Ich habe gedacht, ich halte mich an meine Pflicht, und das genügt. Wie ich gekonnt habe, habe ich meine Pflicht erfüllt. Ich sterbe ruhig. Aber ich weiß, daß mir etwas fehlt, daß ich an Gott glauben müßte. Das kann ich nicht, trotzdem mir klar geworden ist, daß die Menschen nicht leben können, wenn sie nicht an Gott glauben. Hier im Feld ist mir das klar geworden. Unser Volk kämpft gegen die zehnfache Übermacht. Wenn es an Gott glaubte, so könnte es nicht besiegt werden. Aber es glaubt nicht an Gott.
Du wirst nun ein schweres Leben haben. Siehst du, du mußt auch die Feinde verstehen. Wenn man den Tod vor Augen hat, dann wird man gerecht. Wir Deutschen haben nun so ein Land, daß wir notwendig die Herren von Europa werden müssen, wenn wir stark sind. Unsere Politik in den letzten Jahrzehnten war töricht; wir hätten uns das sagen müssen und hätten uns auf die Herrschaft vorbereiten müssen. Das haben wir nicht getan, wir haben gedankenlos in den Tag hineingelebt. Und die andern konnten sich ja gar nicht denken, daß wir so töricht waren, sie mußten ja annehmen, daß wir die Herrschaft über Europa haben wollen, deshalb haben sie sich alle gegen uns verbündet und werden uns nun besiegen, und dann werden sie uns so zerstören, daß wir jahrhundertelang elend sind. Dieses Elend können wir uns jetzt noch nicht vorstellen. Aber denke, daß sie unsere Industrie vernichten werden, durch welche wir unser Volk erhalten haben, und dann werden die Menschen nicht mehr leben können, die geboren sind, seitdem sie sich entwickelt hat. Wenn du Zahlen willst, dann ist das fast ein Drittel unserer Bevölkerung. Dem armen Volk wird das ja nicht klar; aber es wird das Elend fühlen, und uns wird es verantwortlich machen. Du kennst ja einige von der sozialdemokratischen Bewegung: die Führer sind brave kleinbürgerliche Leute wie Hampe, unwissende Schwätzer, gelegentlich, wenn auch nur ausnahmsweise, Schurken, natürlich dumme, wie etwa der Schriftleiter des Volksblatts zu Hause; sie werden, wenn sie zur Herrschaft kommen, das Unglück nur größer machen; und die Geführten – nun, das ist dieses anständige, ehrliche, treuherzige Volk, das hier in den Schützengräben sein Leben für seine Pflicht läßt. Ich sehe nirgends in unserm Volk Männer, welche den schweren Aufgaben der Zukunft gewachsen sein werden – solche Aufgaben sind wohl auch noch nie in einem Volk gestellt. Denke immer, mein Sohn, daß du deinem Volk helfen mußt, wie du kannst. Es ist die Gefahr, daß es ganz vernichtet wird. Das deutsche Volk ist aber das beste von der Welt, es ist das Salz der Erde. Wenn die Deutschen tot sind, dann muß die Welt untergehen.
Wenn ich an Gott glaubte, so würde ich wissen: Gott hat seinen Plan. Ich brauche mich nicht um die Menschen zu sorgen. Das Unglück wird kommen, und aus ihm wird sich dann eine neue Menschheit entwickeln. Denn auch das deutsche Volk hat seine Pflicht nicht getan in den Zeiten, welche dem Krieg vorhergingen. Das weiß ich nun nicht, daß Gott seinen Plan hat, ich weiß nur, daß du deine Pflicht tun mußt.
Aber nun will ich dir etwas sagen. Ich glaube nicht an Gott und weiß doch, daß nur durch Gott die Menschen leben und die Welt ist. Mein lieber Sohn, ich glaube nicht an Gott, und hier falte ich meine Hände und bete zu Gott, zu dem Weisen und Guten: daß er dich schütze auf deinem Lebensweg und dir helfe; daß er dir helfe, das zu tun, was du tun mußt.«
Dem jungen Menschen schossen die Tränen aus den Augen, er kniete vor seinem Vater nieder, der legte die Hand segnend auf sein Haupt. Er sagte: »Du hast mir immer Freude gemacht, mein lieber Sohn.«
Die beiden standen in einer niedrigen Bauernstube. Es war nur ein Fenster, das ging auf eine staubige Straße. Ein paar elende Schemel waren da, ein Tisch, auf dem Papiere lagen. Hans sprang auf und umarmte schluchzend seinen Vater.
Die halbe Stunde war um. Der Leutnant zog seinen Rock zurecht und ging; der Vater begleitete ihn eine Strecke, dann blieb er zurück und sah dem Davoneilenden nach, indem er die Hand über die Augen legte.
Nun war es Zeit, daß die Truppe wieder in Kampfstellung rückte. Alle machten sich bereit; die alten, bekannten Orte im Graben wurden wieder bezogen.
Da war eine hügelige Ebene, grau, das dürftige Pflanzenwerk mit weißlichem Staub bedeckt. Die Unterstände waren tief in den kreidigen Boden hineingearbeitet. Zwischen den beiden Linien war seit langem gekämpft, den Leuten verschwand in der Erinnerung die Zeit. Da lagen noch Leichen von Franzosen, zusammengeschrumpft und vertrocknet, sie sahen aus wie Kinderleichen. Sie lagen da wohl schon ein Jahr oder noch länger. Zwischen ihnen stand ein verbeulter leerer Marmeladeneimer. Die Unterstände waren von Männern gebaut, die nun wohl schon alle tot waren. Wenn ein neuer Graben gezogen werden mußte, dann geschah es, daß eine Leiche zum Vorschein kam. Nach Ratten roch es, nach Leichen und nach Unrat. Einschnitte waren da, durch Sandsäcke geschützt, in denen stand die Wache. Das Feuer schwieg; unsichtbar beobachteten sich die feindlichen Linien aus den sandsackgeschützten Einschnitten.
Plötzlich begann von der deutschen Seite, weit hinten, das Artilleriefeuer. Erst waren einzelne Schläge, dann rollte es ununterbrochen. Der kreidige Sand drüben spritzte aus. Die Männer hielten sich geduckt, zusammengepreßt in ihren Höhlen; nun antwortete die feindliche Artillerie. Eine Granate summte und sang heran, schlug ein und sprang, sie höhlte einen Trichter aus, sie verschüttete die Gräben und Gänge. Die Männer waren mit dem Spaten zur Hand, sie horchten auf das Singen und Summen. Der Eingang zu dem Unterstand des Hauptmanns Werner war verschüttet. Die Leute arbeiteten draußen, bald kam wieder Licht herein, es kroch ein Mann durch die gewühlte Öffnung.
Werner sah nach der Uhr und ließ Befehl ergehen. Aus den verschütteten, verwühlten Höhlen schwangen sich die Männer heraus, Werner lief voran, die andern folgten. Das deutsche Feuer hörte plötzlich auf. Da waren sie schon am feindlichen Stacheldraht, die Vordersten schnitten ihn durch, sie stürmten weiter und sprangen in die feindlichen Gräben. Schreie, Handgranaten, Brüllen. Schon liefen die Franzosen zurück, da drängte sich durch einen Seitengraben ein neuer Trupp von ihnen herein. Handgranaten wurden in den dichten Haufen der Deutschen geworfen. Nun warf sich Mann auf den Mann, mit den Messern wurde gestochen, Pistolenschüsse. Werner stand mit einer Pistole in der Hand an einer Grabenecke, wo er einen ziemlichen Raum überschauen konnte. Kaltblütig zielte er und schoß, wo er in dem dichten Kampfgewimmel eine Möglichkeit sah; er traf sicher. Da stürzte ein Franzose mit dem Seitengewehr im hochgereckten Arm auf Hampe, einen Schritt vor ihm traf ihn die Kugel Werners, er sprang hoch, fiel und zappelte mit den Füßen. Mit düstern Blicken überschaute Werner die Kämpfenden. Immer neue Franzosen kamen herbei, die Deutschen waren immer mehr in der Minderheit. Die Artillerievorbereitung war nicht genügend gewesen. Er schrie mit lauter Stimme seinen Befehl, die Leute machten sich von den Feinden los, kletterten, sprangen auf den Grabenrand und liefen zurück. Als letzter schwang er sich selber hoch und lief; kurz vor dem deutschen Graben traf ihn eine Kugel, er stürzte und blieb liegen.
Wohl die Hälfte der Kompanie hatte sich gerettet. Mit fliegendem Atem, blutig, beschmutzt, die Hände zerrissen, kauerten die Männer in ihren Löchern. Die Wache rief: »Da liegt der Hauptmann«. Männer kamen und sahen durch die Löcher, da lag Werner auf dem Rücken, sein Arm bewegte sich.
Hampe sprang auf und rief Müller zu sich. Aus den feindlichen Gräben spritzten und klappten die Gewehrschüsse. Die beiden Männer krochen geduckt im Graben bis zu der Stelle, die dem Ort des Hauptmanns gegenüberlag, dann schwangen sie sich schnell hoch und liefen hin. Müller lud den Verwundeten auf Hampes Rücken, der ergriff seine Arme und schleppte ihn keuchend, die beiden liefen zurück, umschossen, umpfiffen von den Kugeln, sie ließen sich in den Graben fallen; ungeschickt, steif fiel Werner, die beiden andern kugelten.
Nun wurde Werner in seinen Unterstand gebracht. Da waren auf Klötzen Bretter genagelt, drauf ein Strohsack und eine Decke. Werner wurde auf das Bett gelegt. Der Arzt kam, er zog ihm vorsichtig den Rock aus, schnitt das Hemd ab und untersuchte die Wunde. Der Kranke war wachsfarbig, er hatte die Augen geschlossen, es schien so, als ob die Nasenspitze durchscheinend geworden war.
Der Arzt warf den andern einen Blick zu.
Werner öffnete die Augen. Es war, als ob ein Lächeln über sein Gesicht zuckte, als er das besorgte Gesicht Hampes erblickte.
»Danke euch«, keuchte er. »Ihr habt mich geholt. Es hat doch keinen getroffen?« Hampe schüttelte den Kopf.
»Das ist gut. Das hätte sich nicht gelohnt. Ich muß doch sterben. Bald.«
»Herr Hauptmann werden noch länger leben, wie wir alle«, sagte gutmütig Hampe.
Es war, als ob Werner belustigt lächelte.
»Kinder«, sagte er. »Ihr seid meine Kinder. Hört zu. Gebt euch Mühe, daß ihr es versteht. Ich sterbe. Jetzt glaube ich an Gott. Als ich stürzte, ich wußte noch nicht, daß ich eine Kugel hatte, ich dachte nur, ich habe so einen Schlag bekommen, da war es mir mit einem Mal: Das ist Gott. Seht zu, daß ihr glauben könnt.«
Hampe, Müller standen da und sahen verwundert, erstaunt auf den Sterbenden. Die andern Männer drängten sich in den Raum. Einige nahmen den Helm ab.
»Haben Herr Hauptmann vielleicht noch etwas, das bestellt werden soll?« fragte Hampe.
»Suchet, daß ihr glauben könnt, sonst könnt ihr nicht leben«, sagte Werner.
Es war ein Jude in der Kompanie, der immer pünktlich seine Gebete sprach. Zuerst hatte der eine oder andere ihn verspotten wollen, aber dann hatte sich immer einer gefunden, der ihn in Schutz nahm; er sagte: »Der Mann hat seinen Glauben. Was geht das dich an? Laß ihn, das ist keine Freiheit, wenn man einen um seinen Glauben verspottet.« Da hatten denn die Spötter geschwiegen, und so war es gekommen, daß er seit langem unbehelligt seine Gebete vollbrachte. Der zog nun seine Gebetriemen vor, stellte sich abgekehrt in eine Ecke und murmelte.
»Ja, man hat ja auch seinen Glauben, man kann Gott auch im Dom der Natur anbeten«, sagte Hampe.
»Ihr könnt so nicht leben, Kinder«, sagte Werner. »Ich sterbe jetzt. Die Deutschen sind das beste Volk der Welt, sie müssen einmal die Welt beherrschen, im Geist und in der Wahrheit, das sucht zu verstehen; daran denkt, wenn das Unglück kommt. Ach, wie schön ist alles! Liebet eure Feinde. Die Schuppen fallen mir von den Augen. Kämpft den Krieg, haltet aus, haltet aus, und fürchtet euch nicht vor dem Tod, aber den Feind, den ihr erschießt, den müßt ihr lieben, er ist ein Mensch wie ihr; ihr müßt beide; wir wissen nicht, weshalb Gott den Krieg will.«
Er sah suchend um sich. Hampe merkte, was er wollte; er kniete nieder, nahm vorsichtig seine Arme, legte die Hände zusammen und faltete sie. Die Finger waren schon kalt. »Habe ich Herrn Hauptmann wehe getan?« fragte er. »Nicht viel«, sagte lächelnd Werner; »das ist alles nicht so schlimm, wie man es sich vorher denkt.« Dann begann er: »Vater unser, der du bist im Himmel.« Seine Lippen wurden blau, sein Ton immer leiser. Die Männer falteten die Hände, sie knieten nieder auf die staubige Kreide des Bodens. Nur der Jude in seiner Ecke mit den Gebetriemen stand. » Geheiligt werde dein Name«, kam es leise, leiser von den Lippen Werners. Dann war kein Ton mehr, nur um die Lippen zuckte es noch, als wollte er noch Laute bilden, die Augen lebten noch, dann brachen die Augen.
Hampe rollten die Tränen die Wange nieder. Er drückte Werner die Augen zu. Verlegen erhoben sich die Männer. Es wagte keiner den andern anzusehen, sie blickten zur Erde, wie schuldbewußt. Der Jude wandte sich ruhig von seiner Wand ab, er steckte seine Gebetriemen ein; dann trat er zu dem Toten. »Eine schöne Leiche«, sagte er. »Gar nicht verändert.« – »Wie wenn er schläft«, sagte Müller.
»Es ist kein Offizier mehr da. Ich übernehme die Führung«, rief Hampe. »Jetzt geht jeder an seine Stelle.« Er rief den Telephonisten an. Der hatte schon nach hinten Nachricht gegeben; und eben hörte man von neuem die deutsche Artillerie auf die feindliche Stellung schießen. »Einen Gegenangriff machen sie doch nicht«, sagte Hampe.
Hampe saß in seiner Höhle vor seinem Tisch. Aus einem Schemel vor ihm saß Müller.
»Wozu ist eigentlich der Krieg?« fragte Müller. »Wir können ja nicht die Sprachen. Aber wenn nun einer die Sprachen kann, weshalb geht der nicht hinaus aus dem Graben und sagt zu den andern: ›Laßt gut sein. Wozu sollen wir uns noch weiter morden? Wir wollen alle nach Hause gehen, da hat jeder sein Geschäft, das soll er betreiben, und damit gut. Wozu ist das andere alles nötig? Das sind doch nur die Großen, die den Krieg wollen.‹« Er hatte ein gedrucktes Blatt, das wies er Hampe. »Dasteht, was Wilson will. Das ist ganz vernünftig. Du bist doch nun Abgeordneter. Weshalb trittst du nicht auf für so etwas?«
Hampe ließ sich das Blatt geben und las. »Wo hast du denn das her?« fragte er. »Das hat ein feindlicher Flieger abgeworfen«, erwiderte Müller. »Das haben sie alle gelesen, jeder sagt, das ist vernünftig, Und bei den Franzosen muß es doch auch so sein, wenn wir ihnen die Hand bieten, dann schlagen sie ein, sonst würfe der Flieger doch nicht solche Blätter ab.«
Hampe besah das Blatt von vorn, besah die Rückseite. »Ja«, sagte er, »wir können hier das nicht so überblicken. Da muß man sich auf die Führung verlassen. Wir können hier nur Unsere Pflicht tun.«
Müller kratzte sich den Kopf. »Das ist schon recht. Aber weiß ich denn, ob die Führung das auch richtig macht? Hindenburg – ja. Aber der Kaiser?«
»Über den Kaiser haben die Zeitungen ja nun wohl immer geschrieben, und über die Junker«, sagte Hampe. »Aber wie sollen wir das überblicken? Ich sage: ich verlasse mich auf die Fraktion. Sie hat ja schon gesagt, sie will keine Eroberungen. Sie ist gegen die Kriegshetzer. Die soll sich mit den Genossen in den andern Ländern ins Einvernehmen setzen. Ich bin ja nur hier draußen, da erfahre ich wenig; aber wie ich zuletzt auf Urlaub war, da hieß es, das wollte sie tun.« »Wozu sind überhaupt die Grenzen?« fragte Müller. »Steuern müssen sein. Nun, der eine steuert in die Gemeinde, und der andere in die. Wenn nun die Gemeinden miteinander Krieg führen wollten!«
Auf dem Tisch Hampes lag ein kleines Buch, das neue Testament. »Das hat dem Herrn Hauptmann gehört«, sagte Hampe. »Ich habe es an mich genommen, ich lese manchmal darin, wenn ich Zeit habe. Christus war ein edler Menschenfreund, den haben sie nun gekreuzigt. Vieles ist ja überholt in dem Buch, aber vieles ist doch auch heute noch wahr, das könnten sich die Menschen zur Lehre dienen lassen.« –
»Meinst du, daß der Herr Hauptmann das alles geglaubt hat?« fragte Müller. »Er war doch ein Gebildeter, es heißt doch, daß er studiert hat.«
»Ja, er hat studiert«, erwiderte Hampe. »Das ist nun so. Wenn der Mensch stirbt, da hat er wohl doch nicht mehr so seine ganze Besinnung zusammen, natürlicherweise, denn sonst kann ich mir das ja nicht vorstellen. Der Mensch hat sich aus dem Affen entwickelt, das hat die Wissenschaft nachgewiesen. Wir haben auch Zeichnungen, wie es vor Hunderttausenden von Jahren auf der Erde ausgesehen hat, als die Saurier noch lebten. Da war von Menschen noch keine Spur. Nun, und so hat sich das denn entwickelt. Wir sind doch in den letzten Jahren weiter gekommen! Ich weiß noch, wenn mein Vater erzählte, wie er jung war. Wenn einer heute in eine Wirtschaft tritt, da bestellt er sich ein Glas Echtes. Damals kamen sie abends in der Wirtschaft zusammen, da bezahlte jeder einen Sechser für das Acht und die Feuerung, und da hatten sie einen großen Napf mit Kartoffeln auf dem Tisch, jeder brachte fünf Kartoffeln mit, die kochte die Wirtin; und dann hatten sie Salz, das stellte die Wirtschaft, das kostete für den Mann einen Pfennig, wenn er davon haben wollte; das machte aber nicht jeder; und da aßen sie denn jeder seine fünf Kartoffeln, und wer es bezahlt hatte, der stippte sie in Salz.«
»Das muß man sagen«, schloß Müller. »Fortschritte sind gemacht.«
Indessen derartiges im Felde vor sich ging, waren in der Heimat die Zustände, welche noch in aller Erinnerung sind. Frau Hampe kam keuchend und schwitzend mit ihrer Markttasche nach Hause, die schlaff und leicht an ihrem Arm hing. »Weshalb läßt du mich nicht gehen, Mutter!« sagte Anna. »Das Anstehen und Drängen wird dir zuviel.« – »Gott behüte«, erwiderte Frau Hampe; »jetzt kann man ein junges Mädchen nicht aus dem Haus lassen! Was man dort für anzügliche Worte zu hören bekommt! Drei Stunden habe ich um die Butter angestanden! Hier!« Sie warf ein kleines Päckchen auf den Tisch. »Einsechzehntel Pfund. Das muß nun für zwei Menschen die ganze Woche reichen!« Sie seufzte auf und warf sich auf den Küchenstuhl: »Meine Beine! Man merkt, daß man nicht genug zu essen hat; nichts kann man mehr aushalten! Mir dreht es sich vor den Augen wie ein feuriges Rad!«
»Ach ja, man spürt es schon«, seufzte Anna.
»Du wirst mir jeden Tag blasser, Kind«, sagte die Mutter. »Du bist jetzt in den Jahren, wo einer ordentlich essen müßte. Ach ja, wenn doch nur der Krieg bald zu Ende wäre, es ist einem schon alles gleich, und der Vater wäre wieder zu Hause.«
»Laß nur«, tröstete Anna, »man muß immer auf die Leute schauen, denen es noch schlechter geht. Wenn die Schulkinder vorbeikommen, dann kann ich gar nicht aus dem Fenster sehen, das schneidet einem ins Herz, die blassen Gesichter und die dünnen Armchen.«
Die Mutter zog die andern gekauften Waren aus der Tasche, einen Hering, ein Paketchen mit Hafermehl und drei Mohrrüben. Dann hielt sie ein Ei hoch: »Ein Ei gibt es diese Woche, eigentlich hätten wir zwei zu beanspruchen auf unsere Karte, es waren aber nicht mehr da.« Anna schlug die Hände zusammen vor Freude: »Sieh nur, welche Abwechslung wir diese Woche haben! Einen Mittag Eierkuchen, einen Mittag Mohrrüben, von einem Hering können wir zwei Mittage machen, dann essen wir nur drei Tage Dotschen. Siehst du, es wird schon wieder besser! Wo sollen denn auch die Eßwaren stecken? Sie müssen doch irgendwo sein! Sie werden schon wieder zum Vorschein kommen! Ich bin im Keller gewesen und habe die Kartoffeln nachgesehen, ganz genau. Es waren nur zwei schlechte, aber von der einen kann man mindestens die Hälfte noch brauchen. Hauptsache ist, daß man jeden Tag nachsieht.
Nun zündete sie schnell das Feuer an, das im Herd schon vorbereitet war.
»Wir wollen das Ei heute gleich aufbrauchen, damit es uns nicht noch schlecht wird«, sagte die Mutter. »Mache einen Eierkuchen, mache soviel, daß wir auch noch für den Abend haben. Aber sei sparsam mit der Butter!«
Anna hatte das Ei gegen das Licht geprüft. »Mutter«, sagte sie, »ich glaube, das Ei ist schlecht.«
Die Mutter riß es ihr aus der Hand, prüfte selber, dann nahm sie eine Tasse und schlug es hinein. Weinend sank sie zurück auf den Stuhl. »Das ist Betrügerei!« rief sie. »Wir haben das Recht auf zwei Eier, nun bekommen wir nur eines, und das ist auch noch schlecht. Gleich gehe ich wieder in den Laden. Sie müssen mir ein anderes geben. Ich zeige es ihnen.« Anna beugte sich über sie und nahm ihre Hände. »Sei doch nicht so aufgeregt, Mutter«, sagte sie. »Das ist nun ein Unglück, dazu kann niemand. Der Laden ist ja nun geschlossen, Und sie haben ja auch keine Eier mehr. Laß, wir haben doch Dotschen genug. Wie viele Leute gibt es, die hungern müssen! Wir sind noch immer satt geworden! Es ist gar nicht gut, daß man früher so viel gegessen hat. Friedenssatt möchte ich gar nicht mehr werden. Wir haben ja auch gar nicht so viel abgenommen. Von einem Mann stand in der Zeitung, der hatte früher hundertundfünfzig Pfund gewogen, der wog noch fünfundsechzig, als er starb. Denke nur immer, was müssen die Männer draußen aushalten, der Vater, und ... und Hans!«
»Ja, du hast recht. Schämen muß man sich«, sagte Frau Hampe.» Stelle den Kessel mit Wasser auf, wir wollen gleich eine Dotsche schneiden. Wir nehmen zwei Kartoffeln mit dazu, da können wir die schlechte mit verwenden. Mit Kartoffeln schmecken sie ganz gut, da sind sie gar nicht widerlich.« Sie ging ins Schlafzimmer, um sich umzuziehen, und Anna machte sich inzwischen an die Arbeit.
Als die Mutter zurückkam, in Hauskleid und blauer Schürze, begann Anna ein neues Gespräch. Sie begann es vorsichtig und schüchtern.
»Nun, was möchtest du denn?« fragte Frau Hampe.
»Mutter«, wiederholte sie und zögerte. »Herr Dr. Lewandowsky ist wohl sehr klug?«
»Ja, das wird er wohl sein. Er hat ja doch studiert«, erwiderte Frau Hampe. »Und es ist gut, daß der Vater ihn hat, daß jemand im Geschäft ist, der das Ganze in den Kopf nimmt. Was sollte der Vater wohl ohne ihn machen!«
»Ja, das sage ich mir ja auch«, erwiderte zögernd Anna.
»Du bist nicht nett gegen ihn«, fuhr die Mutter fort. »Du bist doch nun kein Kind mehr, du bist ein junges Mädchen. Wenn er etwas zu dir spricht: Ja und nein, weiter nichts. Du sitzt auf deinem Stuhl wie ein Stock, du siehst auf deine Näharbeit und wendest ihm den Rücken. Das paßt sich nicht. Ich wollte es dir schon immer sagen. Du hast doch nun die gute Schule besucht, da mußt du doch das nun wissen.«
»Ich muß doch meine Arbeit fertig machen«, sagte Anna.
»Du bist nicht nett gegen ihn«, wiederholte die Mutter.
»Er ist ein Ekel«, rief Anna leidenschaftlich aus, ihr kamen die Tränen und tropften auf ihre Finger, die eifrig schälten und schnitten.
»Kind, es gibt auch häßliche Menschen, man muß auf das andere sehen«, sagte mahnend Frau Hampe.
Anna zog schmollend den Mund und schwieg eine Weile. Dann sagte sie: »Er sieht mich so an. Ich schäme mich, wenn er mich so ansieht. Da ist mir, als ob ich im Hemd sitze.«
»Du bist ein kleines Gänschen«, erwiderte die Mutter. »Wenn sich so ein kluger Mann mit dir abgibt, dann kannst du dankbar sein. Mir ist das nicht geschehen in meiner Jugend. Du kannst viel lernen von Herrn Dr. Lewandowsky. Er ist weit in der Welt herumgekommen und hat viel studiert. Hast du denn die Bücher nun gelesen, die er dir gebracht hat? Ich sehe dich nie mit den Büchern.«
»Ich lese seine Bücher nicht.«
»Aber Kind, was hast du denn nur?« fragte die Mutter erstaunt.
»Ich habe Hans nichts von ihm geschrieben«, fuhr sie fort, »gar nichts. Hans weiß nicht, daß er jeden zweiten Tag kommt und bei uns sitzt. Aber das weiß ich, wenn er das wüßte, dann würde er mir verbieten, seine Bücher zu lesen. Deshalb lese ich sie nicht. Hans schreibt mir schon, was ich lesen soll, das lese ich auch. Aber andere Bücher lese ich nicht.«
Frau Hampe schüttelte den Kopf und seufzte: »Diese Kinder! Immer hat man seine Not mit ihnen. Was liegt nun wohl daran! Das sind doch alles Kindereien mit dem jungen Herrn Werner. Dein Vater würde schön schelten, wenn er davon wüßte. Glaubst du denn, daß die Verwandten das zugeben, daß er dich heiratet? Ein jeder Stand hat seine Lust, ein jeder Stand hat seine Qual. Bleibe in deinem Stande!«
»Dann heirate ich überhaupt nicht, dann werde ich alte Jungfer«, rief Anna. »Ich will Hans nicht unglücklich machen; wenn er mit seiner Familie auseinanderkommt, dann sage ich nein, denn das gibt kein Glück, so eine Ehe, wo man etwas auf dem Gewissen hat.«
»Warte nur ruhig ab, du kannst noch warten«, sagte die Mutter. »Jetzt bist du achtzehn Jahre alt. In zwei Jahren sieht alles schon ganz anders aus. Das weißt du noch nicht, ich habe mehr erlebt wie du.«
Hier brach Anna in Tränen aus, setzte den Napf auf den Tisch, warf das Messer daneben und lief aus der Küche.
Mit Dr. Lewandowsky war in den paar Jahren des Krieges eine auffallende Wandlung vor sich gegangen. Er trug jetzt einen schwarzen Rock aus feinstem Tuch, strahlend weiße Wäsche, und auf der Straße erschien er immer nur in Zylinder, Handschuhen und sehr feinem Überrock.
Er machte dem Landgerichtspräsidenten Willmar einen Besuch, der auf den Wunsch des verstorbenen Kommerzienrats Werner als Nachlaßpfleger und Vormund bestellt war.
Willmar empfing ihn in seinem Arbeitszimmer in seiner Wohnung, wo er vor seinem Schreibtisch saß und ein dickes Aktenstück studierte. Zur Seite war ein Ständer, der mit Akten bis oben bepackt war. Er wies den Besucher auf den Ständer hin: »Sehen Sie, das muß ich alles noch zu Hause durcharbeiten. Vor ein Uhr komme ich nie zu Bett. Die jüngeren Herrn fehlen überall. Ja, Sie wünschten in der Wernerschen Angelegenheit mit mir zu sprechen ... Die Verhältnisse liegen ja heute anders als früher, ›ich kenne keine Parteien mehr‹ hat der Kaiser gesagt ... Rauchen Sie?« Er bot dem Besuch eine Zigarre an.
Dr. Lewandowsky nahm eine Zigarre, schnitt vorsichtig die Spitze ab und zündete sie an. Dann sagte er: »Ich bewundere Ihre Arbeitsleistung, Herr Präsident. Es ist darüber übrigens nur eine Stimme in der Stadt. Selbst meine Parteigenossen. Sie können sich ja denken, Herr Präsident, sie sind nicht gerade schnell bei der Hand, einem sogenannten Bürgerlichen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen ...«
Der Präsident winkte leicht abwehrend.
»Sie sagten schon selber, die Verhältnisse liegen heute anders als früher«, fuhr Dr. Lewandowsky fort. »Meine Partei unterstützt die Regierung. Sie wird auch nach dem Krieg nicht mehr umgangen werden können, wenn der Neuaufbau in Angriff genommen wird. Auf Ihrer Seite sind Schwierigkeiten, auf unserer auch. Wir sind abhängig von den Massen.«
Der Präsident nickte. »Das ist nun in allen politischen Verhältnissen so, daß man ohne Kompromiß nicht auskommt. Ich gehöre zu einer von den alten Parteien. Die müssen ihre Rücksichten auf die Vergangenheit nehmen, sie sind von den Wählern ebenso abhängig wie Sie ... Aber wir wollten über eine praktische Angelegenheit reden. Ja, ich gebe zu, ich habe mir zu viel Arbeit aufgeladen. Wenn ich in der Wernerschen Pflegschaft eine gewisse Entlastung erhalten könnte, so wäre ich sehr dankbar. Formaljuristische Bedenken liegen nicht vor. Es kommt dazu, daß Sie Fachmann in diesen Dingen sind, während ich von Verlagsgeschäft, Druckerei, Papier, Buchbinderei und allen solchen Dingen natürlich nichts verstehe. Ich verlasse mich da auf das alte Faktotum des Herrn Kommerzienrats, einen gewissen Reichardt; aber es wäre natürlich sehr erwünscht, wenn der Mann eine eigentliche Leitung hätte. Ich mache mir natürlich auch Gedanken darüber, was nun werden soll, wenn der junge Werner mündig wird; er ist von der Schule in den Krieg gegangen und wird dann ohne eigentliche Vorbereitung einen großen Besitz übernehmen müssen, der in diesen Jahren der vormundschaftlichen Verwaltung natürlich nicht so im Laufen ist, als wenn ihn mein gefallener Freund dauernd geleitet hätte. Ich habe den Grundsatz gehabt, daß alles, was einmal in Gang war, erhalten wurde; aber neue Geschäfte sind nicht begonnen, und Sie wissen ja selber, daß das auf die Dauer natürlich nicht geht.«
Der Präsident lehnte sich in seinen Schreibsessel zurück, zog an seiner Zigarre und sah Dr. Lewandowsky erwartungsvoll an.
Dieser entwickelte seinen Plan, wie er gedachte, das Wernersche Unternehmen zu leiten. Er erklärte, daß er natürlich seine Tätigkeit bei Hampe beibehalten müsse, nur werde er sich eine jüngere Kraft annehmen für die mehr mechanischen Arbeiten; aber bei der Art, wie er sich alles einzurichten gedenke, wurden wohl fünf bis sechs Stunden Arbeit im Wernerschen Geschäft genügen, um wenigstens alles auf der gegenwärtigen Höhe zu halten.
»Diese fünf bis sechs Stunden sind es, die mir natürlich nicht zur Verfügung stehen«, sagte Willmar. »Ich nehme an, daß der Kommerzienrat Werner einverstanden sein würde mit meinem Entschluß; er hat vor seiner Abreise noch mit mir gesprochen und mir alles freundschaftlich anvertraut, mit der Maßgabe, daß ich nach meiner Einsicht je nach den Verhältnissen verfahren werde, wie es ja in solchem Fall gar nicht anders möglich ist. Ich werde also eine Instruktion für Sie aufsetzen.« Er erhob sich und reichte Dr. Lewandowsky die Hand. »Ich denke, daß wir gut zusammen auskommen werden.«
Die beiden Männer schüttelten sich die Hände, dann empfahl sich Dr. Lewandowsky und ging. Er humpelte den Flur hinaus auf die Treppe. Auf einer der ersten Stufen blieb er stehen. »Nein, sind die alle dumm!« sagte er. »Sind die alle dumm. Eine Schmeichelei, und man wickelt sie um den Finger.«
Er stieg unten auf die elektrische Bahn und fuhr zum Bahnhofsviertel. Dort verließ er den Wagen und ging zur Wohnung Ediths.
Edith saß am Fenster und war mit einer Handarbeit beschäftigt. Als er klopfte, machte sie ihre Gesichtszüge heiter, sie eilte ihm zur Tür entgegen und umarmte ihn. Er ließ sich die Begrüßung nachlässig gefallen und setzte sich auf einen Stuhl; den Zylinder stellte er vorsichtig auf den Tisch.
»Ich habe eine Stunde Zeit«, sagte er. »Ich möchte mich etwas an der Luft ergehen. Du kannst das neue Kleid anziehen, das ich dir geschenkt habe.«
Gehorsam ging sie zum Schrank und nahm das Kleid heraus. Während sie sich für den Ausgang bereitmachte, begann sie mit stockender Stimme ein Gespräch.
»Lieber«, sagte sie. »Es wird mir sehr einsam auf meiner Stube. Wenn wir öfter zusammen sein könnten, dann wäre es ja anders, dann hätte ich doch immer die Freude, daß ich auf dich warten darf. Ich möchte mir auch wieder etwas verdienen, damit ich dir nicht zur Last falle. Du bist so gut zu mir, aber ich möchte mir selber erarbeiten, was ich für mein Leben gebrauche. Heute früh bekam ich eine Anfrage von Cohn und Companie, ob ich wieder bei ihnen eintreten will, sie haben wohl ein Fräulein entlassen. Ich mache die Büroarbeiten ja gerne. So lange ich zu Hause war, habe ich mir doch immer gewünscht, ich möchte mich nützlich machen; da durfte ich nicht, da hieß es immer, das ist nicht standesgemäß. Nun bin ich frei, nun hänge ich nur noch von dir ab.«
Lewandowsky zog die Stirn kraus. »Was fehlt dir denn hier? Ich sorge doch wohl reichlich genug für alles! Ich kann dich nicht halten. Du kannst gehen. Aber dann sind wir geschiedene Leute.«
Edith kamen die Tränen. »Ich will doch nur, was du willst«, sagte sie. »Und ich möchte es dir erleichtern. Ich wollte es ja auch meinem Papa so gern erleichtern.«
»Die Männer sind Schweine«, sagte Lewandowsky. »Ich will nicht, daß du in Stellung gehst. Jetzt liegt das Geld auf der Straße. Wer Verstand hat, der kann es aufheben. Ich habe einen Bekannten in Berlin, der war ein armer Jude wie ich, war auch am Parteiblatt und schrieb seine Leitartikel, der ist jetzt schon seine drei Millionen wert; jeden Tag nimmt er noch zu. Wir gehen in ein Pelzgeschäft. Du sollst einen Pelzkragen haben.«
»Du bist so gut zu mir«, sagte Edith. Sie seufzte.
Auf der Straße legte sie ihren Arm in den seinen. Die Leute sahen sich nach dem ungleichen Paar um: Lewandowsky verwachsen, humpelnd, in Lackschuhen mit weißen Gamaschen, im Zylinder; und neben ihm das hochgewachsene schlanke Mädchen mit guten Zügen, etwas übertrieben elegant gekleidet, aber doch nicht an sich allzu auffällig, nur am Arm des unpassenden Mannes Verwunderung erregend. Sie gingen die Bahnhofsstraße hinunter, die Kaiser-Wilhelmstraße. Da war ein großes Geschäft mit zwei weiten Schaufenstern, in denen Pelze jeder Art aushingen. Die beiden traten ein.
Lewandowsky verlangte. Edith war verlegen, sie setzte sich auf den Stuhl, den der Verkäufer dienstfertig brachte. Der Verkäufer nannte sie »gnädige Frau«.
»Die Dame ist nicht meine Frau«, sagte Lewandowsky schroff. »Ich will etwas Gutes. Es kommt mir nicht darauf an. Aber nennen Sie mir gleich den äußersten Preis. Ich handle nicht.«
Der Verkäufer brachte einen Pelzkragen und legte ihn Edith um. Sie besah sich im Spiegel. Lewandowsky gab sein Urteil ab, der Verkäufer fiel mit seinem Rat ein. Er nannte den Preis. Dann brachte er einen andern Pelz. Und so wurde versucht und beraten.
Schließlich entschloß sich Lewandowsky zu einem recht teuren Stück. »Zwanzig Prozent bei Barzahlung«, sagte er. Der Verkäufer wurde verlegen. »Die Preise sind auf Barzahlung kalkuliert. Anders wird das Geschäft bei uns nicht gemacht«, erwiderte er. »Wer kauft Ihnen heute ein solches Stück ab?« fragte Lewandowsky, »Sie müssen sich den Zinsverlust berechnen, wenn Sie ihn ein paar Jahre hängen haben.«
»Es kommen schon noch Herrschaften«, sagte der Verkäufer.
Edith legte Lewandowsky bittend die Hand auf den Arm; sie nestelte, um den Kragen abzulegen. »Zehn Prozent«, sagte Lewandowsky und zog sein Taschenbuch. »Die Dame ist meine Privatsekretärin. Sie kennen mich doch?«
»Ja gewiß, Herr Doktor«, erwiderte der Verkäufer eifrig, indem er sich vor der tief erstaunten Edith verbeugte und dann vor Lewandowsky. »Herr Doktor, ich verkaufe gern ein Stück, ich verkaufe es sehr gern, aber es geht nicht, wir haben feste Preise, die Preise sind auf das Äußerste berechnet.«
»Wer hat denn Geld heutzutage?« fragte Lewandowsky.
»Es ist schon noch Geld da, nur, es ist ein anderes Publikum«, sagte der Verkäufer. »Man wundert sich oft. Gestern war eine Arbeiterfrau da, sie hat einen Kragen gekauft, fast so teuer wie dieser. Der Mann ist im Krieg, sie hat ihre Unterstützung, sie arbeitet in der Munitionsfabrik«. »Also, abgemacht, mit zehn Prozent«, rief Lewandowsky und reichte dem Verkäufer die Scheine. Der wich zurück:
»Unmöglich, Herr Doktor, unmöglich.«
»Fragen Sie den Chef. Wir warten so lange«, sagte Lewandowsky und setzte sich neben Edith auf einen Stuhl. Der Verkäufer machte eine bedauernde Handbewegung und ging in den Hintergrund. Er blieb eine Weile fort, dann kam er wieder. »Ich kann Ihnen den Kragen für siebenhundert Mark lassen. Das ist das Äußerste«, sagte er. »Da verkaufen wir ohne Gewinn.« Er wendete sich an Edith: »Was tut man nicht für seine Kundschaft.«
»Nun«, knurrte Lewandowsky. Er ging zum Ladentisch und zählte das Geld auf. Der Verkäufer zählte zusammen und ging zum Schreibpult, um die Quittung auszustellen. Nun verließen die beiden das Geschäft, von dem dienernden Verkäufer geleitet, der ihnen die Tür öffnete. Draußen sagte Lewandowsky: »Du kannst wieder meinen Arm nehmen. Das war dir wohl peinlich? Weshalb soll ich den Leuten etwas schenken? Die schenken mir auch nichts.« Edith sah zur Erde. »Es sind ja wohl Vorurteile, die muß man sich abgewöhnen; und wer sind denn die Leute, die über einen sprechen? Aber es kennen dich doch viele Leute, sie wissen doch, daß du nicht verheiratet bist. Könnten wir nicht lieber so nebeneinander gehen?«
»Weshalb, denkst du denn, daß ich dir den Pelzkragen geschenkt habe?« fragte Lewandowsky. »Was die Leute denken, das ist mir ganz gleichgültig.« Er hielt ihre Hand in seinem Arm fest, und sie gab sich. Sie gingen weiter.
Da kam ihnen ein junges Mädchen entgegen, es war Anna. Sie stutzte, als sie die beiden sah. Lewandowsky zog den Zylinder und grüßte tief. Sie grüßte wieder und sah dabei Edith forschend an.
»Das war die Tochter meines Bourgeois«, sagte Lewandowsky zu Edith. »Ganz niedlich, das Mädchen, nicht wahr? Der Alte ist ein Esel. Ich sage dir, alle diese großen Parteibonzen – na, es wird ja vieles anders werden!... Was meinst du wohl, was der Kommerzienrat Werner wert war? Er war der größte Steuerzahler in der Stadt. Zehn Millionen reichen nicht.«
Sie gingen zurück. Lewandowsky brachte Edith bis zu ihrer Haustür, dann verabschiedete er sich. Am Abend besuchte er Hampes. Er saß in der Wohnstube auf dem Sofa, die beiden Frauen saßen auf Stühlen am runden Tisch, auf dem die Lampe brannte. Sie nähten und Lewandowsky erzählte.
»Ich bin mit dem Professor Harron befreundet, der ist Intimus von Wilson«, sagte er. »Ich kann manches machen. Die Briefe gehen über die Schweiz. In demokratischen Ländern ist das alles anders als hier. Hier bin ich nur ein kleiner Literat; der dümmste Abgeordnete sieht mich über die Schulter an. Gestern habe ich erst wieder Nachrichten bekommen. Kein Mensch will dem deutschen Volk etwas tun. Es geht gegen den preußischen Militarismus. Wilson ist ein Mann, er war eine Zeitlang Redakteur, er hat auch ein Buch geschrieben. Was haben Sie denn von der ganzen Geschichte? Ihr Mann ist nun auch seit drei Jahren draußen.«
Frau Hampe seufzte: »Ach ja, es ist eine lange Zeit! Wer hätte das damals gedacht, 1914! Wenn der Krieg doch mal zu Ende wäre! Nachts fährt man aus dem Schlaf: wenn ihm nun draußen etwas passiert! Er ist ja jetzt fünfzig, er könnte ja seine Entlassung haben, aber er will nicht. Ach ja, es ist schwer für die Frauen, sehr schwer!«
Anna hatte Lewandowsky prüfend angesehen, als er von dem Professor Harron sprach.
»Ja, ja, Fräulein«, sagte Lewandowsky, »mit Clemenceau bin ich auch gut bekannt, wir haben oft zusammen gesessen. Ich kenne überall die führenden Männer.«
Anna unterdrückte ein Lachen, Lewandowsky bemerkte das nicht.
»Da muß es doch schwer für Sie sein, so in den kleinen Verhältnissen«, sagte sie. »Und wenn ich mir denke, nun sitzen Sie hier so bei uns beiden, das ist Ihnen gewiß doch langweilig. Sie sind besseres gewöhnt.«
Lewandowsky blähte sich. »Fräulein Anna«, sagte er, »ich habe in meinem Leben viel kennengelernt. Ich bin, wie Dante, durch Himmel und Hölle gegangen. Mancher hätte das nicht ausgehalten, was ich durchgemacht habe. Sehen Sie, bei meinen Eltern, das waren noch fromme Juden, die feierten die Feste, der Sabbath wurde geheiligt, alles ging nach dem Ritus, aber Armut! Fräulein Anna, das Herz blutet einem. Wie ich nach Posen gekommen bin, das war im Dezember, ich hatte keine ganzen Schuhe, ich habe mir die Füße erfroren, da bin ich Ausgeher geworden in einem Geschäft, und des Abends, da habe ich studiert. Mein Bett war unter der Treppe, ich habe mich ins Bett gelegt, einen Teller mit kalten Kartoffeln, und dann habe ich gelernt. Aber ich wollte vorwärts kommen. Ich sagte mir: ich gehöre wo anders hin. Mir hat keiner geholfen. Ich sagte mir: ‹Sei brauchbar für deinen Herrn, mache dich ihm nützlich, tu, was du kannst; wenn er einen findet, der ihm mehr leistet, dann mußt du fliegen‹, und ich sagte mir: ›Deinen Kameraden darfst du dich nicht anvertrauen; wenn die merken, daß du höher hinaus willst, dann stellen sie dir Beine‹. Ich habe dumm getan.
Und dann, Fräulein Anna, das Elend, das man sieht! Sie wissen nichts davon, Sie wachsen auf und werden von Ihren Eltern behütet. Das Herz krampft sich einem zusammen. Da komme ich am Abend nach Hause, es war in der Weihnachtszeit, wo das Geschäft geht, wo man bis neun, halb zehn auf den Beinen ist, da steht da mitten auf der Straße im eisigen Matsch ein kleines Kind, es ist vielleicht so sechs sieben Jahre alt; ein kleiner Junge, die Arme stecken ihm dünn aus den kurzen Ärmelchen, kein Mützchen hat er auf, Filzsocken hat er an, und steht da in dem eisigen Matsch, und ganz verhungert, und das Näschen ist rot von der Kälte und die Ohren auch, und das andere ist kreideweiß, da bewegt er mit einem Mal die Arme so sonderbar, da sehe ich, er hat die kleinen Fäustchen geballt und schlägt sich immer auf die kleine Brust, und mit einem Mal schreit er dazu, so einen Schrei, durch Mark und Bein ging es mir.«
»Nun, was haben Sie denn da getan?« fragte Anna und sah ihn an.
Lewandowsky wurde verlegen. »Was soll ich denn tun? Sehen Sie doch, das müssen Sie doch selber sagen, ich habe selber nichts, ich will doch vorwärts kommen! Fortgelaufen bin ich, so hat es mir ins Herz geschnitten! Was ist das für eine Welt, habe ich mich gefragt, wo ein unschuldiges kleines Kindchen so leiden muß? Sehen Sie, bis dahin bin ich noch immer ein frommer Jude gewesen, aber da habe ich mir gesagt: Wenn es einen Gott gäbe, die Fäuste würde ich ballen gegen ihn. Rechenschaft würde ich fordern. Sagen würde ich: Ist das deine Welt wert, die Tränlein des Kindes?«
»Aber Sie haben das Kind doch stehen lassen?« fragte Anna.
»Habe ich es geschaffen? Habe ich die Welt geschaffen?« fragte Lewandowsky dagegen. »Wenn ich ihm helfe, was kann ich nützen? Morgen muß ich wieder ins Geschäft. Und tausend Kinderchen stehen da auf der Straße und schlagen sich mit den Fäustchen gegen das Brüstchen, und die Tränchen fließen. Eine Million steht da. Kann ich allen helfen? Ich habe mir gesagt: Die Verhältnisse ändern. Wozu muß es Reiche und Arme geben? Weshalb muß ich ein armer Ausgeher in einem Geschäft sein, und mein Herr hat keine Taschen mehr, um sein Geld hineinzustellen? Und ich habe mir gesagt: Lerne, studiere, darin hast du die Bildung, dann bist du oben, dann kannst du machen, was du willst.«
»Was war das für eine Dame, mit der Sie gestern nachmittag auf der Kaiser-Wilhelmstraße gingen?« fragte Anna.
»Das war – das war meine Privatsekretärin«, erwiderte Lewandowsky stotternd, etwas verlegen über das Unerwartete der Frage.
»So«, sagte Anna. Es entstand eine Pause.
»Ach ja, es gibt schon Schweres im Leben«, sagte seufzend Frau Hampe, um das Peinliche der Pause zu vertuschen. »Man tut ja, was man kann. Und wenn es ordentliche Leute sind, da kann man ja auch manchmal helfen. Aber wie viele gibt es, wie viele, die wollen sich nicht helfen lassen!«
»Unsere Schuld«, sagte Lewandowsky; »unsere Schuld. Jeder von uns ist schuld an allem.« Er schlug sich mit der flachen Hand an die Brust, dann stand er auf und verabschiedete sich.
Als die beiden Frauen allein waren, sagte Anna zu ihrer Mutter: »Wenn ich dem Menschen die Hand geben muß, dann ist es mir immer, als wenn ich eine Kröte anfasse.«
Die Mutter seufzte.
Gleich bei Beginn des Krieges war eine große Fabrik vor der Stadt auf die Herstellung von Munition eingerichtet. Die Unternehmer, zwei jüngere Männer, von denen der eine, Krausnick, technisch gebildet war und der andere, Steinbömer, kaufmännisch, hatten nach der allgemeinen Annahme schlecht gestanden; Krausnick hatte Erfindungen gemacht, die er einführen wollte, deren Wert sich noch nicht erprobt hatte, für die große Aufwendungen gemacht waren. Es hieß, daß den beiden nun durch die Munitionsherstellung viele Millionen zugeflossen seien; die Fabrik war sehr erweitert, mehrere neue Gebäude waren errichtet, und es hieß, daß jeder der beiden Teilhaber sich ein Rittergut gekauft habe, um den weiteren Gewinn anzulegen.
In der Fabrik waren meistens junge Männer beschäftigt, die noch nicht dienstpflichtig waren, auch viele Frauen und Mädchen. Die Löhne waren sehr hoch, und es wurde in der Stadt viel über das Leben der Munitionsarbeiter gesprochen. Man erzählte von Gelagen in dem vornehmsten Gasthaus der Stadt, dem die früheren Besucher sich schon lange fernhielten, von Kleiderluxus der Arbeiterinnen. Es standen gelegentlich in der Zeitung Berichte von Ausschreitungen, wo denn etwa erzählt wurde, daß einige junge Arbeiter eine nächtliche Weinreise durch verschiedene Wirtschaften gemacht hatten mit großen Ausgaben, wie sie für die höheren Stände unerhört waren. Von der Regierung wurden in der Nahrungsmittelzuteilung die Munitionsarbeiter bevorzugt. So war denn in der Stadt eine gereizte Stimmung gegen diese Leute und gegen die Besitzer der Fabrik, indem man annahm, daß sie die allgemeine Not benutzten, um für sich Vorteile herauszuschlagen.
Schon zeigten sich auch in anderen Teilen der Bevölkerung Versuche zu unrechtmäßigen Gewinnen. Viele Menschen, welche mit den zugeteilten Nahrungsmitteln nicht auskommen konnten, gingen aufs Land, um unter der Hand einiges zu kaufen, und die Bauern verlangten für diese heimlichen Waren immer höhere Preise. Manche Leute machten solche Fahrten geschäftsmäßig und verkauften das Erstandene noch teurer weiter. Die Waren, deren Preis nicht amtlich festgesetzt war, wurden viel teurer, und es hieß, daß manche Geschäftsleute sich Vermögen ansammelten. Man bildete das Wort »Hamsterer« für die Leute, welche sich Waren unrechtmäßig verschafften und »Schieber« für diejenigen, welche aufkauften, um teurer zu verkaufen.
Von Monat zu Monat nahmen diese Bewegungen zu. Die Männer mit fester Besoldung, Familien, welche zu einem größeren Teil von Einkünften aus Vermögen leben mußten, gerieten immer mehr in Not. Manche Personen aus diesen Kreisen begannen eine Schiebertätigkeit, um ihr Einkommen zu vermehren. Die Arbeiter verlangten immer höheren Lohn. »Geld ist genug da«, sagten alle Leute, »die Ware fehlt.« Es war, als ob die Nation sich in zwei Teile spaltete, die sich mit Haß und Neid gegenüberstanden: die höheren Stände betrachteten alle Handarbeiter als Lohnerpresser und Schwelger; und die Handarbeiter betrachteten alle, die nicht Arbeiter waren, als Schieber.
An einem Spätnachmittag kamen auf Lewandowskys Arbeitszimmer in der Druckerei drei Arbeiter von der Munitionsfabrik. Die Drei waren junge Leute von sechzehn bis siebzehn Jahren. Einer von ihnen führte das Wort, die andern bekräftigten und sprachen wohl einmal einen Zwischensatz. Sie saßen auf Stühlen neben dem Schreibtisch und drehten die Mützen in den Händen.
»Die Chefs sind Millionäre geworden«, sagte der Sprecher. »Für die ist das Geld da. Wenn Unsereins in den Laden kommt, dann sind die Schubfächer leer.«
Einer warf dazwischen: »Sekt ist gut, und Austern sind auch etwas Schönes.« Damit leckte er sich lüstern die Lippen. »Die Arbeiterklasse hat sich bessere Verhältnisse erkämpft«, sagte der Redner. »Die muß sie verteidigen. Wie ist denn das, Herr Doktor, es heißt doch, daß der Streik in der Munitionsindustrie als Landesverrat bestraft wird?«
Lewandowsky rückte unruhig auf seinem Sessel hin und her. »Die Regierung ist scharf«, sagte er. »Macht keine Dummheiten.«
»Ja, wenn sie nun alle vorgehen, was kann die Regierung da tun?« erwiderte der Sprecher. Die beiden Andern lachten. »Sie kann uns doch nicht alle einstecken.«
»Wahrscheinlich wird man nur das Streikkomitee in Anklagezustand versetzen«, sagte Lewandowsky, indem er mit dem Federhalter spielte.
Die Drei wurden betroffen. »Aber wenn nun alle Munitionsfabriken im ganzen Reich streiken? Und wenn bei den Engländern und Franzosen auch gestreikt wird?«
Lewandowsky zuckte mit den Achseln. Die Drei sahen sich an.
»Es wird auch gesagt, die Streikenden bekommen den Stellungsbefehl?« fragte der Sprecher weiter. »Wir sind doch organisiert. Die Fraktion hat doch erklärt, daß sie die Rechte der Arbeiter schützt, die Regierung muß doch die Fraktion hören.« »Die Fraktion hat natürlich ein Wort mitzusprechen«, sagte Lewandowsky. »Sie kann natürlich nicht dulden, daß die Arbeiterorganisationen unterdrückt werden.«
»In Österreich ist schon ein großer Munitionsarbeiterstreik«, warf einer der beiden Andern ein.
»Ich weiß«, erwiderte Lewandowsky. »Ich durfte in der Zeitung nicht davon berichten.«
Der Redner drehte seine Mütze verlegener. »Wir wollten nämlich fragen, Herr Doktor«, sagte er nach einigem Besinnen, »wenn es zum Streik kommen sollte, ob Sie mit in das Streikkomitee eintreten wollen?«
»Ich stehe den Dingen so fern...« sagte Lewandowsky zurückhaltend.
»Weil das Volksblatt doch immer so schreibt, wie es richtig ist«, sagte der Sprecher. »Der Krieg ist von den Kapitalisten gemacht, der Proletarier muß seine Knochen dafür hergeben.«
»Na ja,« warf der eine von den beiden Andern ein, »in der warmen Stube sitzen und schreiben, das kann jeder.«
»Gut, ich nehme an, wenn es dazu kommt, um Schlimmeres zu verhüten«, sagte Lewandowsky und erhob sich. Die drei andern Männer standen gleichfalls auf. Der Sprecher reichte Lewandowsky die Hand und sagte treuherzig:
»Nichts für ungut, Herr Doktor, dann sagen wir also den Andern Bescheid.« Dann gingen die Drei.
Lewandowsky blieb noch eine Weile nachdenklich auf seinem Stuhl sitzen. Dann erhob er sich, machte sich straßenfertig, und ging. Er ging zum Generalkommando.
Der General saß mit einem jüngeren Offizier in seinem Arbeitszimmer. Steinbömer, der eine der Fabrikbesitzer, war bei ihnen, als Lewandowsky ins Zimmer trat. Die Herren begrüßten sich.
Lewandowsky begann: »Ich sehe Herrn Steinbömer bei Ihnen sitzen. Vielleicht ist es in derselben Angelegenheit, in der ich komme. Unter den Munitionsarbeitern ist eine Gärung. Die Nachricht vom Munitionsarbeiterstreik in Österreich ist überall bekannt. Herr Steinbömer, Sie werden es auch beobachtet haben. Die Fraktion ist gegen den Streik.«
»Das erwarten wir nicht anders«, sagte der General.
Lewandowsky wurde verlegen. »Die Fraktion ist gegen den Streik. Ja natürlich«, wiederholte er. »Aber es können Ereignisse eintreten...« er zögerte.
Der General legte sich im Stuhl zurück und sah ihn an. Eine Pause entstand.
Dann fuhr Lewandowsky fort: »Sie werden verstehen, in einer demokratischen Partei kommt es darauf an, daß man die Führung nicht aus der Hand läßt. Wenn die Arbeiter eine Kopflosigkeit begehen...« er zögerte wieder.
Der General erwiderte ruhig: »Dann sind Sie verantwortlich dafür.«
»Ja gewiß, natürlich«, sagte hastig Lewandowsky... »das heißt, es kommt darauf an, die Führung in der Hand zu behalten, um Schlimmeres zu verhüten... wenn man die Leute allein vorgehen läßt, dann kann ein Unglück geschehen.«
Steinbömer sagte: »Es ist mir berichtet, daß sie daran denken, die Maschinen zu zerstören.«
»Sehen Sie, sehen Sie, was wäre das für ein Unglück!« rief Lewandowsky aus. »Ich tue alles, um den Streik zu verhüten. Ich habe ja meine Vertrauensleute in der Fabrik. Aber wenn es nicht anders geht, dann bin ich gezwungen, ich muß mit in das Streikkomitee eintreten, um die Führung in der Hand zu behalten.«
»Ich verstehe Sie«, sagte der General ruhig, mit einer unmerklichen Verachtung in der Stimme; »Sie selber persönlich sind gegen den Streik, weil Sie sich sagen, daß die Männer draußen dann wehrlos dem Feind gegenüberstehen. Aber Sie fürchten, die Bewegung wächst Ihnen über den Kopf, dann müssen Sie mit, und nun möchten Sie sich auf der Gegenseite versichern?«
»Ja ja«, erwiderte hastig Lewandowsky, »das heißt, so meine ich es nicht, ich teile Ihnen nur meine Beweggründe mit, damit Sie nicht erstaunt sind, damit, wenn das Unglück kommen sollte, das Unglück sage ich, die Verhandlungen schneller gehen.«
»Ich danke Ihnen, Herr Doktor – Sie sind ja wohl Doktor – für die freundliche Benachrichtigung«, sagte der General, indem er aufstand. »Natürlich muß ich mir meine Handlungsweise vorbehalten. Sie wissen, daß der Streik Landesverrat wäre? Auch wir unterliegen ja den Notwendigkeiten unserer Stellung«, fügte er mit leichter Ironie zu.
Lewandowsky grüßte und entfernte sich.
»Ja, der Kerl ist nun ein Schuft«, sagte der General, als er mit den beiden Andern allein war. »Aber die Sache ist von vornherein verpfuscht. Vielleicht ist es auch nicht anders gegangen. Die Regierung paktiert mit ihnen, sie wird wohl müssen. Nun treibt ein Keil den andern. Da ist jahrelang gehetzt, nun kommt das Ergebnis. Der möchte den Streik natürlich nicht, der Hals juckt ihn doch. Vielleicht sieht er auch ein, was das schließlich ist.«
Der jüngere Offizier sagte: »Mit diesem Gesindel muß man nun auf gleichem Fuß verhandeln.«
»Wird schon noch besser kommen«, erwiderte der General. »Es zieht jetzt allerhand Volk hier zu. Ich kann nichts machen, mir sind die Hände gebunden. Wenn sie oben dächten wie ich – es ist die elfte Stunde, und auf diese Weise gehen wir sicher unter; vielleicht ginge es noch, daß man so zwei- bis dreihundert solcher giftigen Halunken aushöbe und an die Wand stellte. Schlimmer könnte es dann auch nicht werden.«
»Exzellenz, die heutigen Anschauungen«, sagte Steinbömer.
»Ja ja, die heutigen Anschauungen«, erwiderte der General. »Sie haben schon ein Bankkonto in der Schweiz, nicht wahr?«
Steinbömer schwieg.
»Sehen Sie, ich nicht«, sagte der General. »Ich habe überhaupt kein Bankkonto. Das ist nun so der Unterschied.«