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Wer je in seinem Leben den vortrefflichen Roman »Auch Einer« des noch vortrefflicheren Humoristen Friedrich Theodor Vischer gelesen hat, der wird sich auch in späteren Jahren noch mit Behagen erinnern, daß der Dichter ein Erkleckliches und Erquickliches zu reden weiß von der »Tücke des Objekts«. Man wird sich desgleichen erinnern, daß der Dichter unter solcher »Tücke des Objekts« die große Summe der kleinen Hindernisse versteht, die uns von äußeren und zufälligen Umständen gerade bei unseren wichtigsten und erhabensten Handlungen in den Weg geworfen werden. Eine große That vollbringen, ist keine Kunst, wenn man im entscheidenden Augenblicke nicht durch Niesen oder durch das Platzen einer Naht an ihrer Vollbringung gehindert wird. Das ist der Sinn der Vischerschen »Tücke des Objekts«.
Hat nun der mehrfach benannte Poet aus Württemberg die Vermessenheit besessen, den Humor des hirnzerschlitzenden Nasen-Rachenkatarrhs und der unzeitig geplatzten Hosennähte recht ausführlich zu kultivieren, solcher Dinge also, die eines großen Hintergrundes durchaus entbehren und die geradezu dem schlimmen Verdachte Raum geben, der Autor habe ehrenhafte deutsche Mitbürger mit Bewußtsein zum Lachen gereizt: so geht der ganz unwürdige Verfasser dieser Plauderei in seinem Unterfangen gar so weit, der reinen Vernunft jenes Spaßmachers noch seine vermeintlich praktische Vernunft hinzuzufügen. Der ganz unwürdige Schreiber dieser Zeilen ist nämlich nicht nur davon überzeugt, daß so etwas wie die Tücke des Objekts in Wahrheit vorhanden sei, sondern er lebt auch des Glaubens, daß es eine Weise gebe, ihr erfolgreich zu begegnen.
Schwerer als auf anderen Zeiten der schwarze Tod, lastet auf unserem Zeitalter die Seuche des grellen Lebens. Es ist die ansteckende, hartnäckige, tragikomische Krankheit, die man Nervosität nennt. Sie ist tragikomisch von einer schlimmen Art: wer von ihr befallen ist, dem ist sie sehr tragisch – den anderen aber meistens komisch. Oder sie halten sie für eine Lumperei, von der man kein Wesens machen sollte. Ich finde, man soll viel, viel Wesens von ihr machen. Denn obwohl sie dem Einzelnen meistens das Leben läßt, ist sie eine tödliche Krankheit. Manchen tötet sie 24mal an einem Tage; was aber mehr bedeutet: sie tötet Völker und Generationen.
Sehr wahrscheinlich, daß sie eine Ansteckungskrankheit ist wie Chauvinismus und Grippe, Bigotterie und schwarze Pocken und ihr spezifisches Kontagium hat, das zu allen Zeiten auftreten kann. Gewiß ist aber, daß sie in unserer Zeit eine besondere »Disposition« vorfindet. Kein Märchen von »guter, alter Zeit« ist es, daß unsere Väter zu allen ihren Thaten wundervoll viel Zeit hatten. Sie waren gewiß so lebendig und fleißig wie wir; aber wenn der Blitz ihr Haus in Brand steckte, so rauchten sie, bevor sie hinausgingen, noch eine lange Pfeife. Wollt ihr noch die Abendröte jenes Zeitalters genießen, so geht in eine Kleinstadt; dort wächst noch alte Zeit zwischen den Pflastersteinen. Du verabredest dich mit deinem Freund in der Kleinstadt für Punkt zwei Uhr zu einem gemeinsamen Gange. Naiv, wie du als Großstädter bist, erscheinst du Punkt zwei Uhr oder auch eine Minute früher auf dem Posten. Dein Freund empfängt dich mit einer leichten Überraschung im Blick, erklärt aber, er werde gleich bereit sein und habe nur noch einen Blick in den Stall zu thun. Nach dreiviertel Stunden kommt dein Freund aus dem Stalle, unschuldig wie ein Schaf, und thut garnicht, als ob irgend jemand sich zu entschuldigen hätte. Er ist überzeugt, daß du dich mit seinem Großvater, der dir von sämtlichen Fleisch- und Gemüsesorten die Preise zu Anfang und zu Ende des vorigen Jahrhunderts vorgerechnet hat, vortrefflich unterhalten habest. Ihr wollt gerade gehen, als die Gattin bemerkt, daß ihr Mann mit dem Hut unmöglich auf die Straße gehen könne und daß der andere Hut beim Hutmacher sei.
»Ach, dann schick' eben die Anna zum Hutmacher und laß ihn holen, ja? Mein Freund nimmt noch 'n Augenblick Platz, nicht wahr?«
Aber natürlich. Warum nicht? Time is money. Man muß es einmal ansehen, mit welcher Nervenruhe diese Leutchen auf Anna und den Hut warten. Sie sind noch nicht wieder zurück, als Verwandtenbesuch aus dem benachbarten Dorfe erscheint. Bis dieser Besuch ordnungsmäßig empfangen ist und sich auf mehreren Stühlen in Linie entfaltet hat, vergeht eine Viertelstunde. Der Besuch erzählt, daß Onkel Thomsen sich eine Ziege gekauft und der kleine Franz sich die Finger verbrannt hat. Es ist ganz selbstverständlich, daß du mit anhörst, wie Onkel Thomsen sich eine Ziege kaufte und der kleine Franz sich die Finger verbrannte. Inzwischen empfindet die Hausfrau, daß es Zeit zum Kaffeetrinken sei und meint, eine gute Tasse Kaffee würdest du »im Fluge« gewiß noch mitnehmen. Freilich, freilich. Dir ist jetzt schon alles egal. Die Zeit ist dir nur noch eine leere, nichtssagende Form der Vorstellung. Du kannst von hier aus ja gleich zum jüngsten Gericht gehen, wenn die Zeit knapp werden sollte. Nachdem der Kaffee mit allen Vorsichtsmaßregeln aufgetragen und er sowohl wie zahlreiche Butterbrote in einem sehr gedeihlichen Tempo genossen worden sind, erklärt dein Freund ohne jede Anwandlung von Schwäche, daß es jetzt, um halb fünf Uhr, doch zu spät für den verabredeten Gang sei, aber man könne ihn ja ebensogut morgen um zwei Uhr unternehmen.
Leben sie nicht, diese guten Leute, wie in einem Schlaraffenlande, wo Milch, Zeit und Honig in vollen Bächen fließt und wo man, wenn das Leben ausgetrunken ist, wieder einschenkt? Wo man selbst den Tod so lange bei Wein und Politik hinhält, bis er gemütlich die Sense in den Winkel lehnt und sagt: »Auf ein paar Jahre kommt mir's nicht an?« Und derweilen sich diese Leute in Zeit wälzen wie Ferkel in der Kleie, lebst du in der Großstadt – nicht nach einem Stundenplan, o nein – nach einem Halbeminutenplan. »4 Uhr 15 ist der Vortrag zu Ende; 4 Uhr 17½ Minuten ist die grüne Straßenbahn an der Ecke der Pfälzerstraße, in 2½ Minuten kann ich sie erreichen: in 15 Minuten, also 4 Uhr 32½ ist sie am Moltkeplatz; wenn ich Glück habe, erwische ich dort die rote Bahn und fahre mit dieser in 14½ Minuten nach der Domgasse; wenn ich die Beine nachziehe, kann ich in 13 Minuten an der Esplanade sein und komme dann eben rechtzeitig um 5 Uhr zur Konferenz.« Hast du aber kein Glück – und mit Straßenbahnen hat man nie Glück – dann fällt deine ganze Tagesordnung über den Haufen wie ein Kartenhaus, das auf den großen Zeiger einer Turmuhr gebaut wurde; über den ganzen Rest des Tages fällt der Schatten der versäumten 10 Minuten; alles ist verschoben, alles verdreht und verspätet; die Galle tritt ins Blut, und in jener halben Minute, die du zu spät zur roten Bahn erschienst, hast du einen Tag verloren.
Oder du sitzest in deinem Bureau oder Kontor und prüfst eine Statistik, die morgen abgeliefert werden muß. Ha, denkst du, die Eingabe des Herrn X. muß ja noch heute erledigt werden! Und dann das Attest, das Frau Y. erbeten – –! Ja, richtig, der Z. wartet schon drei Tage auf die Empfangsbestätigung für seine Sendung – und dann muß der Bericht an die Behörde angefangen werden; es sind nur noch acht Tage bis zum Einlieferungstermin – – Ih, sollte nicht heute eine Sitzung des Wohlfahrtsausschusses sein? (Du suchst längere Zeit nach einem Papier.) Richtig: Sitzung am 3. Juni Morgens 11 Uhr – es ist jetzt ¾12 – also versäumt! Hm – dem Dr. N. hab' ich noch gar nicht auf seine Einladung zum Diner geantwortet; es hat, glaub' ich, vor 14 Tagen stattgefunden – halt! Hab' ich eigentlich schon meine Feuerversicherung erneuert? Nein – nein! Und dabei gewittert's jetzt alle Tage, und überall schlägt's ein! Zum Augenarzt komm' ich auch nicht mit meinem Bindehautkatarrh – ach ja, das Buch über Lungenheilstätten von Dr. M. sollt' ich ja lesen, das liegt schon seit Weihnachten hier – hab' ich eigentlich schon dem Fräulein O. geantwortet? Aah, da muß ich doch aber gleich – nein, erst muß P. Bescheid haben, daß ich – oder nein, noch eiliger ist der Brief an Q.; die andern kann ich heute Abend – Donnerwetter, heute Abend ist ja der Vortrag von Professor R.; wenn ich da nicht hinkomme, wird er mir sein Lebtag nicht wieder – ja, was ist denn das, heut Abend hab' ich ja Gesellschaft im eigenen Hause –
Du bist längst aufgesprungen und rennst wie eine vergiftete Ratte an allen vier Wänden der Zeit hinauf, um ein Loch zu finden. Da tritt dein Diener ein und sagt: Herr Soundso (wie du nun eben heißt), es ist höchste Zeit, auf's Gericht zu gehen, sonst wird Ihre Klage als zurückgezogen betrachtet! Du greifst nach deinen Stiefeln, und indem du natürlich den linken Stiefel auf den rechten Fuß zu ziehen versuchst, fallen dir fünf notwendige Besuche, sieben wichtige Sitzungen und neunzehn dringliche Briefe ein; du stürzest davon, kehrst aber in der Thür wieder um und rufst dem Diener zu: »Lieber Meyer, mir fällt ein, ich habe auf 1 Uhr dem Porträtmaler eine Sitzung versprochen; sagen Sie, ich wäre plötzlich abgerufen worden, und dann gehen Sie sofort hin und bezahlen Sie die Einkommensteuer, die hab' ich total vergessen; der Gerichtsvollzieher ist schon dagewesen und hat Zettel angeklebt . . . .«
Und so kommst du vor tausend Arbeiten zu keiner einzigen und erleidest das graueste Elend, das diese Welt gewährt: der Katzenjammer nach einer übervollen Nacht ist Himmelsfreude gegen den Kater nach einem leeren Tage!
Armer, verstörter Geist, ruheloses Herz, gequälter Zeitgenosse und Mitmensch, komm' zu uns und empfange Frieden in den Armen der
Gemeinschaft der Brüder vom geruhigen Leben.
Siehe, wir nennen uns nicht die »Brüder vom ruhigen Leben«, sondern »Brüder vom geruhigen Leben«, woraus du ersehen mögest, daß wir Zeit haben. Nachdem du so vielen Vereinen und Ausschüssen beigetreten bist, tritt endlich diesem bei, den ich mit anderen weisen Männern gegründet habe und der dich alle anderen Vereine ertragen lehrt. Du hast bereits dein Eintrittsgeld in der Hand – festina lente –. Höre und erwäge wohl, bevor du handelst.
Ich seh' es dir an: du wähnst, ich lüde dich zu einem Klub der Wurschtigkeit, in welchem man lebt nach dem Grundsatze: »Nachher ist alles eins; in der Nacht des Todes sind alle Katzen grau, und obendrein sieht, wer tot ist, kein Grau und keine Katze.« Irre dich nicht. Unsere Brüderschaft lebt das Leben mit eifriger Aufmerksamkeit und reger Kraft.
Oder glaubst du, wir schraubten uns und unsere Welt zurück in die Zeiten der Väter, die sich an dem Blitz, der ihr Haus entzündete, eine lange Pfeife entbrannten? O nein, mein Freund, unsere Brüdergemeinde weiß, daß Leben nicht zurück kann; Leben kann immer nur vorwärts.
Unsere Gemeinschaft weiß, daß Reize und Sorgen den Menschen von heute zehnfach so stark bestürmen wie seine Vorfahren. Es ist wahr: der Ernst des Lebens und die Lust des Lebens reißen sich um die moderne Menschenseele mit einem Ungestüm, das ehemals unerhört war. Wir Kinder dieses goldenen Zeitalters der Technik und der Wissenschaft sind ein Geschlecht von Parvenus, und unter diesen Parvenus sind wir Deutschen noch ein besonderes Stück emporgekommen. Wer aber so jählings emporkommt, dem wird schwindelig. Das ist das Schicksal der Parvenus.
Arbeit und Genuß tanzen uns vor den Augen, daß uns wirblig wird und alles sich mit uns im Kreise dreht. Wir haben den Überblick verloren; wir haben noch nicht gelernt, über die neue, unerwartete Fülle zu disponieren. Ruhig gesehen ist über die Hälfte geschafft. Wir werden hineinwachsen in unsere Aufgabe; wir werden sie bewältigen, wie jedes vorhergegangene tapfere Geschlecht. Aber noch flimmert's uns vor den Augen. Die einfachsten, banalsten Gebote der Ordnung, der Beschränkung und Überlegung sind uns abhanden gekommen, und bei wem du eintrittst, suchst du vergebens nach der philosophischen Hausapotheke.
Erwarte daher nicht orphische Weisheit, nicht rabendunkle Urworte aus Morgendämmerungen der Menschheit, der du eintrittst in unsere Gemeinschaft! Es sind die gewöhnlichen Rhabarbertropfen der Seelentherapie, die du hier findest; was aber das Eigentümlichste ist, sie stehen nicht da in verstaubten Fläschchen, sondern sie werden angewandt. Wer in die Brüdergemeinschaft aufgenommen wird, leistet zuvor einen heiligen Eid, daß er ihr alle seine Sünden gegen ein geruhiges Leben beichten, sich den über ihn verhängten Bußen unterwerfen und die Lehren der Weisen mit Ehrerbietung hören und redlich befolgen werde.
In großen, ehrwürdigen Protokollen ist niedergeschrieben, was in den sonnabendlichen Konventen gebeichtet, verhandelt, geurteilt und gelehrt worden, zu denkwürdigem Zeugnis von der gewaltigen Macht und Tücke des Kleinen und von der Überwindung solcher Macht. In diesen heiligen Büchern mit mir zu blättern, bist du nunmehr, teuerster Leser, herzlich gebeten.
Haare in der Feder.
Es ist verzeihlich, Mensch, daß du meinst, wenn dir ein Haar in der Schreibfeder sitzt, es werde sich beim Schreiben von selbst wieder daraus entfernen. Bedenke aber, daß Haar und Feder, sobald sie diese deine Meinung merken, nur um so zärtlicher zusammenhalten. Aus dem verschmierten Buchstaben wird ein verschmiertes Wort, aus dem verschmierten Wort eine verschmierte Zeile; in der nächsten Zeile geht die Schmiererei rüstig weiter und dauert so lange, bis du die Feder auf den Tisch haust, sie zerbrichst und dir die Hand verstauchst. Daß du die ganze Seite nun noch einmal schreiben mußt, kostet bloß Zeit. Die verstauchte Hand kostet Zeit, Verdienst und ärztliches Honorar: das will alles noch nichts sagen. Aber das Wutgift, das sich in dir angesammelt, während du mit steigendem Ingrimm auf die Vernunft eines Haares hofftest, und nun der tage-, der wochenlange, mindestens der viertelstundenlange Ärger über all die Widerwärtigkeit: die fressen Nerven und Hirn, und das läuft in die Papiere. Sobald du, o Mensch, ein Haar in deiner Feder spürst, spreize die Feder und entferne das Haar, und will dir's nicht gelingen, so wirf die Feder weg oder das fasernde Papier und nimm neues Material und lächle dabei als ein Wissender, der in aller Ruh und Behaglichkeit ein glänzendes Geschäft macht.
Infame Halskragenknopflöcher.
Es gehört zu den selbstverständlichsten Erscheinungen, daß die Knopflöcher neuer, namentlich etwas enger Halskragen sich gegen die Aufnahme größerer Knöpfe wehren. Nach dem ersten vergeblichen Versuche pflegt der Mensch von heute »Na?!« zu rufen, nach dem zweiten »Nanu?!!«, nach dem dritten: »Na, da soll aber doch gleich –!«, nach dem vierten pflegt er sich bereits erschöpft auf das frischgemachte Bett fallen zu lassen; beim fünften bricht er sich einen Fingernagel ab; nach dem sechsten schleudert er den Kragen in die Ecke und mit dem Kragen ein wertvolles Glas vom Waschtisch hinunter, und wenn seine Frau mit dem heitersten und liebenswürdigsten Gesicht von der Welt hereinkommt und ihn lächelnd etwas fragt, so antwortet er in einem unliebenswürdigen Tone, der ihm und ihr den ganzen Abend und den folgenden Morgen verdirbt. Der arme Unwissende und Verblendete merkt nicht, daß die Schar der tückischen kleinen Knopf- und Kragendämonen sich bei jedem Fluche verdoppelt und daß ihre Gewalt und ihr Gewieher schon nach dem dritten Versuch ins Ungeheure und Unbezwingliche gewachsen ist.
Der Mensch nehme einen rundlichen, kegelähnlichen Gegenstand, z. B. ein geschlossenes Scherchen, treibe ihn in das Knopfloch und weite es ein wenig und mit Ruhe; er trete dann vor den Spiegel, und er wird sehen, daß der Knopf gefügig in sein Loch schlüpft und daß der Mann im Spiegel ihn anschaut mit der heiteren Ruhe eines Gottes, zu dessen Füßen sich die Dämonen der Hölle krümmen. Einsatz bei diesem Spiel: eine Minute Zeit; Gewinn: ein frischgemachtes Bett, ein Fingernagel, ein venetianisches Glas, eine Viertelstunde Zeit, eine liebenswürdige Frau, ein fröhlicher Abend, ein ditto Morgen, mehrere Bündel Nerven und ein gehöriges Quantum Herz und andere Muskelkraft. Was sind dagegen die Chancen in Monte Carlo?!
Vergessene Hosenträger.
Bei Menschen, welche sich auch während des Ankleidens mit der Komposition von Sonaten oder Parlamentsreden befassen, ist es gar zu leicht möglich, daß sie, in Frack, Lack, Claque und Handschuhen und schon im Begriff, in den Wagen zu steigen, an dem erbärmlichen Gefühl einer Art inneren Haltlosigkeit (nicht ihrer Reden, sondern ihres äußeren Menschen) plötzlich inne werden, daß sie die Hosenträger anzulegen vergessen haben. Ein teurer Novize, den wir bald als Konfrater in den Schoß unserer Gemeinschaft aufnehmen zu können hoffen, ist in solchem Falle die Treppen wieder hinaufgestürmt, hat sich dabei mit dem Fuß in seinen Cylinder verwickelt, hat sich unter Entwickelung einer unglaublichen Körpertemperatur fast bis auf die Haut ausgezogen, beim abermaligen Ankleiden seine Weste nicht wiederfinden können und endlich infolge alles dessen die Trauung seines besten Freundes versäumt. Und das alles um eines Unfalles willen, der für die Brüder vom geruhigen Leben in seiner Harmlosigkeit etwas ausschließlich Erheiterndes hat. Diese Brüderschaft pflegt nämlich vor dem Ankleiden sämtliche Garderobenstücke in der natürlichen Ordnung vor sich hinzulegen, so daß das Vergessen eines notwendigen Requisits nahezu unmöglich erscheint. Kommt sie aber dennoch in die Lage unseres teuren Novizen, so legt sie mit humorvoller Kühle Rock und Weste ab, legt die Hosenträger an und zieht Weste und Rock wieder an: eine Sache, die keine 5 Minuten beansprucht. Diese 5 Minuten – das ist nun das Bedeutungsvollste an der ganzen Sache –hat ein Bruder vom geruhigen Leben immer übrig, weil er sich für jede Toilette vor Abfahrt der Droschke oder Eisenbahn mindestens 10 Minuten Zeitüberschuß gestattet. Das ist wohl der einzige Grund, weshalb es noch keine Schwestern vom geruhigen Leben giebt.
Das Laster des Zeitgeizes ist von der Gemeinschaft der Brüder wegen seines besonders nervenverheerenden Charakters von je mit besonders hohen Bußen belegt und bei schwerem Rückfall wohl auf 500 Pfennige für die Armen und den gleichen Betrag für die Punschbedürftigen erkannt worden.
Geburtsscheine im Fliegenschrank, Taschenuhren unterm Sofa und Ähnliches.
Es ist für den modernen Menschen, der zum Arbeiten bestimmt ist wie nur je ein Wesen irgend einer Periode, ein wahrer Fluch, wenn er die Stiefel, die er braucht, erst im Kohlenkasten suchen muß und die Butter, deren er zum Frühstück benötigt, erst nach halbstündigem Suchen endlich im Aktenschrank entdeckt, noch dazu unter einem ganz verkehrten Buchstaben. Mehr als je bedarf der Mensch der Ordnung, wenn ihn die verwirrende Fülle seiner Pflichten nicht verrückt machen soll. Ohne Zweifel würde auch die Ordnung längst einen größeren Raum im Leben der Menschheit gewonnen haben, wenn nicht immer unnatürlicherweise verlangt würde, daß man die Ordnung »lieben« solle. Das ist nun einmal nicht zu verlangen. Es ist mit der Ordnung genau wie mit dem Verräter: man schätzt ihre Dienste, aber man hat ein Grauen vor dem, der sie leistet. Selbst von unserm Schiller, der es über sich gebracht hat, die Ordnung in vorzüglichen Versen anzusingen, ist uns bekannt, daß er zu ihr keineswegs ein intimes Verhältnis unterhielt, und obwohl er soweit gegangen ist, zu behaupten, daß die Ordnung »das Gleiche frei und leicht und freudig binde«, hat er doch wohlweislich die Heuchelei nicht so weit getrieben, von »Liebe« zu sprechen. Die Leistungen der Dame sind allerdings ganz außerordentlich, ja großartig und bezaubernd, und so mag es ja vereinzelt vorkommen, daß jemand sie um dieser Leistungen willen »liebt«, wie etwa ein Junggeselle schließlich seine alte und anspruchsvolle, aber kolossal tüchtige Haushälterin heiratet – abnorm bleibt es aber immer. Dabei wird die Gemeinschaft der Brüder vom geruhigen Leben es stets als eine ihrer vornehmsten Aufgaben betrachten, die ungeheuren Verdienste der Ordnung unermüdlich zu preisen. Tritt am Morgen in dein Zimmer, wo sie gewaltet und – wenn sie nicht übertrieben hat – welch ein alles umschwebender Glanz der Schönheit strahlt dir entgegen! Dein Arbeitstisch lockt und reizt dich wie eine köstlich gedeckte Tafel; Papier und Schreibzeug schimmern so sanft und licht wie Porzellan von Sèvres und altes Silber und Venediger Glas, und die Blumen sagen dir fühlbar »Guten Morgen«, weil eine sorgliche Hand sie gepflegt. Und wenn du dich nun zur Arbeit setzest – welch eine Ruhe legt sich tief auf den ganzen Grund deines Gemüts! Das ist wohl die erhabenste Leistung der guten Frau, daß sie, die uns durch die Milchstraße führt wie durch ein Blumengärtchen, auch den mörderischen Wirrwarr des modernen Lebens schlichtet und, wo sie ihre kühle Hand auf eine Stirn legt, dem erhitzten Gehirn die Ruhe bringt. Sie ist die barmherzige Schwester für Nervenkranke. Und wie du nun, geruhig in deinem Stuhle sitzend, auf wohlüberschauten Wegen zu deiner Arbeit fernsten Zielen schreitest, nein, springst, nein, fliegst! Man beachte doch wohl, daß gerade die kältesten, profitfreudigsten Geschäftsleute am eifrigsten auf Ordnung halten. Weil man eben in jede Gleichung die Ordnung getrost als eine Pferdekraft einsetzen kann, das sind sieben menschliche Arbeitskräfte. Mit Ordnung kannst du das römische Reich regieren, nebenher sieben schöne und sieben ritterliche Künste treiben und in freien Stunden dem Angelsport huldigen, während du als unordentlicher Mensch einen ganzen Tag vergeblich aufwendest, um eine Schusterrechnung doppelt zu bezahlen, weil du die Quittung nicht findest, und dabei noch mit einem Gefühl durch dein Zimmer rennst, als wenn ein Teufel dein Gehirn und die umgebende Welt mittels eines Quirls zu einem Urbrei verrührte. Darum lautet ein vornehmstes Gebot unserer Brüderschaft: Habe einen Menschen, der dir alle deine Sachen in Ordnung hält, und wenn du keinen findest: thue es eher selbst, als daß du dich der Unordnung ergiebst! Die Sachen innerhalb deiner Persönlichkeit mußt du ja doch selbst in Ordnung halten, und bei einigen Menschen ist dies das meiste.
Ausgeschlagene große Lose und Ähnliches.
Der moderne Mensch empfängt von Zeit zu Zeit Briefe mit Lotterielosen, die er nach der Ansicht der Absender kaufen sollte. Unsere jüngeren Brüder pflegen ein solches Los, wenn sie es nicht behalten wollen, mit abgewandtem Gesicht wieder zu kuvertieren, damit sie, wenn es später mit 300 000 Mark gezogen wird, die Nummer gar nicht wissen. Anfängern im geruhigen Leben ist diese Weise auch gar wohl zu empfehlen. Jene Brüder freilich, die bereits die höheren und höchsten Weihen empfangen haben, bedürfen solcher Vorsicht nicht mehr; ja, sie merken sich wohl gar die Nummer, um deren Schicksal aus der Ferne mit wohlwollender Objektivität zu verfolgen. Denn diese Weisen wissen nicht nur, sondern sie fühlen es auch, daß man nach Nichtgewinnung des großen Loses genau so viel besitzt wie vor Nichtgewinnung des großen Loses und also nicht der geringste Grund zur Klage vorliegt. Die Brüder vom geruhigen Leben preisen nicht die Armut, schon deshalb nicht, weil sie ein gutes Konzert und einen schönen Siran Labarde lieben; aber sie sind davon durchdrungen, ja ich möchte sagen: durchtränkt, daß es bodenlos gleichgültig ist, wie viel Einkommen andere Leute haben, wenn man selbst soviel hat, daß man auskommen kann. Ein Bruder vom geruhigen Leben, dem soviel geworden ist, wird kaum wissen, wie viel Gehalt seine Kollegen beziehen, und wenn ihm ohne Gerechtigkeit einer vorgezogen wird, so wird er sich zwar über die Ungerechtigkeit ärgern wie über alles Unrecht in der Welt; aber er wird nicht an das entgangene Geld denken; thut er es aber dennoch, so wird er am nächsten Samstag voll Freudigkeit seine Strafe zahlen. Ein Bruder, der einen erheblichen Vermögensverlust erleidet, ist für vier Wochen von der Ableistung gewisser Freudentänze und Jubelgesänge entbunden, auch darf er natürlich Versuche zur Wiedererlangung des Verlorenen machen. Trauert er aber um Unwiederbringliches oder trauert er zu lange, so verfällt er der Strafe; denn ein Bruder vom geruhigen Leben soll wissen, daß er dem verlorenen Reichtum das Zehnfache hinzulegt durch seinen Kummer. Und ein Bruder, der reich gewesen, soll wenigstens das vom Reichtum gehabt haben, daß er erkannt hat: Tägliche Austern schmecken entweder genau so wie tägliches Rindfleisch oder – schlechter, und der Schlaf, »das nährendste Gericht am Tisch des Lebens«, pflegt über einer gewissen Steuerstufe an Qualität einzubüßen. Wer aber den verlorenen Reichtum um der Wohlthätigkeit willen liebte, der bedarf keines Trostes. Denn der Schatz zum Wohlthun ist solider Reichtum und sitzt an einer Stelle, wo Kursstürze und Zahlungseinstellungen ihre Macht verlieren.
Flöhe bei Audienzen, photographischen Sitzungen &c.
Man darf in guter Gesellschaft getrost von Flöhen reden; denn bekanntlich haben sogar Könige Flöhe und zwar große. In der Umgebung der Könige giebt es oftmals Hunde, und Hunde pflegen Flöhe abzugeben. Zuweilen handelt es sich auch nicht um Flöhe, sondern um ein ganz gewöhnliches und zufälliges Hautjucken, wie es mit Vorliebe auftritt, wenn der Photograph Stillsitzen geboten hat, oder wenn man den toten Julius Cäsar spielen muß, oder wenn man vor einer heißgeliebten Dame eine besonders gute Figur machen möchte, oder wenn man vor einer sehr hohen Persönlichkeit steht und nicht gerade angeredet wird, sich aber doch beileibe nicht kratzen darf. Sobald aber die hochgestellte Persönlichkeit ein hochwichtiges Wort an einen richtet, sind Floh und Jucken sofort verschwunden, und aus dieser bemerkenswerten Erscheinung soll der Bruder vom geruhigen Leben lernen. Wie? soll er sich fragen, was ein Staatsminister vermag, das sollte dein Wille nicht vermögen, der, schlecht gerechnet, ein König ist? Ein Floh oder ein Großfürst sollten stärker sein als deine Selbstbeherrschung? Kannst du den Floh verachten, wenn dir der Kaiser eine Statthalterschaft umhängt, so kannst du's auch, wenn du daheim sitzest als dein eigener Herr! Hier giebt es nun Menschen, die dagegen ihr unbezähmbares Temperament und ihre feurige Gemütsart einwenden.
»Vengeance! plague! death! confusion! – Fiery? what quality? – My breath and blood! Fiery? the fiery duke?« |
Glaubt ihr, die Gottesgabe des Feuers sei euch ins Blut gegossen, auf daß ihr gegen Flöhe und Hosenträger kämpft? Wahrlich, wer sein Temperament an einen Halskragen verschwendet, der wird schlaff sein, wenn Handschellen und Halseisen ihm drohen. Auch sei doch der Mensch so weise, zu erkennen, daß jedes Juckteufelchen sofort erlahmt und abläßt, wenn man es verachtet. Audienzen, in denen man etwas bekommt, dauern nicht ewig, und der größte Floh wird einmal satt: das unterscheidet ihn von den menschlichen Blutsaugern. Wer aber einem Kitzeln – sagen wir: im linken Ohrläppchen – nur die geringste Beachtung schenkt, der erkennt sofort die infame Zahllosigkeit und niederträchtige Solidarität der Myriaden von Juckteufelchen, die ihn von allen Seiten wie einen Falstaff zwicken. Wer nicht herrscht an allen Nervenenden seiner Peripherie mit der absoluten Monarchie seines Hirns, der mag in dieser Welt wohl zu Grunde gehen unter eingebildeten Mückenschwärmen.
Komitees in allen Gassen.
Zu den verheerendsten Irrtümern der überregen Menschheit von heute gehört die Meinung, daß ein thätiger Mensch überall mitarbeiten müsse und daß der Ernst des Lebens niemals weniger von uns verlange als das Leben. Eine der edelsten Bemühungen ist es, sich zum Schutze der Tiere zu vereinen, und doch ist keineswegs gesagt, daß du, Cajus, dabei sein müßtest. Steure zu allem Guten so viele Obolen bei, wie du vermagst; aber wenn du zu allem Guten auch von deiner Kraft hergiebst, so bist du ein kopfloser Verschwender, der auf den leichtfertigen Bankerott hinsteuert. Unser geliebter Sempronius hat Lehrgeld bezahlt. Wo es ein Mäuslein zu schützen, einen Aussichtsturm zu errichten, ein Blindenasyl zu gründen gab, war er mit seinem lodernden Herzen dabei. Nach zwei Jahren war er ein müder Mann, den es kalt ließ, wenn ein armer Gaul von rohen Fuhrleuten gepeinigt wurde und der darum Ekel vor sich selbst empfand. Erst in den Armen unserer Brüderschaft ist er gesundet, hier, wo es heißt: Du kannst nicht auf alle Berge des Lebens steigen. Und brauchst es nicht. Suche einen möglichst hohen Gipfel zu erreichen; wenn du willst auch einige, und du wirst mit frischem Auge verstehen, was Höhen und Tiefen des Daseins sind. Auch nicht braucht es der Gaurisankar zu sein oder der Mont-Blanc – schon auf einem Rigi, einem Monte Pian, einem Brocken geht dir eine ausgebreitete Welt durch die Augen ins Herz. Auf anderen Gipfeln stehen andere und geben deinem Feuer Antwort durch Feuer, dessen Flammen mit deiner Lohe und deinem Herzen gemeinsam emporzucken zum alles vereinenden Himmel.
O daß die Menschheit immer in Extremen ihre Lebensbahn dahinwackelt und meint, weil der Mensch thätig sein soll, er müsse immer thätig sein. Künstereiche Zeit, die du eine Kunst so ganz verlernt hast: die köstliche Kunst, zu rechter Stunde zu faulenzen! Genüsse suchendes und findendes Geschlecht, daß du einen Genuß nicht wiederfanden kannst: den Genuß des Lebens! Armer Mensch, dessen ganzes Leben die Not frißt; ärmerer Mensch, der du Zeit zum Faulenzen hast und sie nicht nützest: »ärmer«, weil du krank bist! Wie ein verdorbener Gaumen die lautere Labe des klaren Wassers verschmäht, so kennen Sinn und Herz den heiter fließenden Trank des reinen Lebens nicht mehr. Nach schwerer Krankheit fühlen sie wohl in der Wonne der Genesung das Glück des reinen Seins, des Lebens an sich. Aber ist es nicht ein niedriger Sinn, der den Reichtum erst dankbar erkennt in der Armut und die Gabe erst schätzt, wenn sie ihm wieder entrückt ward? Fühlt ihr am Morgen nicht in den aufgespannten Augen das Glück des Wachens, das mit neuem Übermut den bunten Mantel der Träume verschmäht vor dem weißen Linnen der Frühe? Fühlt ihr nicht an den Lippen den morgenkühlen Becher des neuen Tags? Fühlt ihr nicht seine bewegliche Flut durch alle Glieder rieseln? Und tragen Muskel und Gebein nicht ihre wohlbemessene Last mit wohliger Lust davon, und singt nicht das ruhig schlagende Herz dazu ein bejahendes Lied? Habt ihr nie in der Glut des Mittags am Ufer des Stromes gelegen und ohne Ziel hinaufgeblinzelt in den blauen Brunnen der Unendlichkeit, in dem die Spenderin unserer Tage wohnt? Sind eure Augen nicht halbe Stunden lang mit den Wellen gewandert, und hat euer Herz nicht leichtsinnig dazu gelächelt: Zeit, fließe nur hin? Habt ihr niemals den silbernen Sand des Ufers durch die Finger rieseln lassen und also harmlos mit dem Stundenglas des Todes gespielt? Und habt ihr nie die letzte Stunde des Abends dahingegeben zum Abschiedsfest mit der Sonne und habt ihr nicht gesehen, wie sie selbst den Rest des Tages über die Höhen ausgießt und den roten Wein verschwendet zur Feier der Schönheit?
Zeit ist Geld, und Geld ist Zeit, und mit beiden haushalten zu müssen, ist Menschenlos. Aber der Zeitfilz ist so klein wie der Geldfilz. Selbst der Arme und gerade der Arme, wenn ihm Stunden der Ruhe blühen, gönnt sich die Lust, bewegungslos aus der Welle des Lebens zu treiben und den Tag ohne Zweck zu trinken als Licht und Luft. Und Du, erhabene Macht, die jeder mit anderen Namen nennt, mach' uns alle zu Brüdern vom geruhigen Leben, die auch in gesunden Tagen mit Lust das Leben an seiner Quelle trinken, die auch im ungestörten Besitz jenes Verlangen edler Herzen fühlen, ihren Dank ins Unbekannte emporzusenden. Wessen Seele den Gaben des Himmels offen liegt: jeder wärmende Strahl entzündet auf dem Herd seines Herzens ein Opfer des Dankes; sein ganzes Wesen hebt sich zum heiteren Antlitz des Tages empor, wie die Flut des Meeres sich dem schweigenden Gestirn der Nacht entgegenhebt.
Langstielige Maler, Kellner, Versicherungsagenten &c.
Im Münchener Löwenbräukeller saß einst ein Mann vor einer hohen Maß Bier. Von Zeit zu Zeit nahm er den Krug, hob den Deckel, schaute hinein, indem er den Krug schüttelte, und stellte ihn, ohne zu trinken, wieder hin. Dies wiederholte sich dreimal. Ein Bruder vom geruhigen Leben fragte ihn nach der Bedeutung solchen Thuns. Der gefragte Münchener sprach: »Wann der Schaum mitwackelt, nacha is's guat g'schenkt; aber er wackelt net.« Und sieh, als sich aller Schaum verdichtet hatte, da fehlte wohl ein Sechstel am richtigen Maß. Schweigend, aber »mit Knotenstock im Blicke« reichte er den Krug der Kellnerin; schweigend nahm sie ihn entgegen und brachte bald ein voll gerüttelt und geschüttelt Maß zurück.
Die Gemeinschaft der Brüder vom geruhigen Leben rechnet zwar ein Sechstel Liter Löwenbräu gewiß zu den Dingen, die ein großzügiger Mensch verachten darf; aber im Prinzip bewundert sie den Mann mit dem wackelnden Schaum. Denn wenn auch ein gewisses Quantum erlittenen Unrechts zur täglichen Würze des Lebens gehört und die Menschheit zur Beschaffung dieses Gewürzes eine Versicherung auf Gegenseitigkeit geschlossen hat – ein Unrecht mit Widerhaken soll man nicht verschlucken. Solch ein Unrecht will dann monatelang, jahrelang doch nicht hinunter, so viel man auch schluckt, und richtet mehr Schaden an, als die ganze Duldung wert ist. Auch kommt das meiste Unrecht in der Welt auf Rechnung derer, die Unrecht leiden. Die Brüder vom geruhigen Leben erstreben nicht die Ruhe jener Vegetabilien, die von den Ziegen gefressen werden. Sie sind groß genug, das Kleinliche zu verachten und ein paar tausend Mikroben schaden ihrem gesunden Magen nicht; aber sie entwickeln eine sanft- und stillsinnige Kratzbürstigkeit, wo sie auf Gewohnheit und System im Unrecht treffen. So trifft der moderne Mensch in Hotels und Restaurants, auf Reisen und Daheim immer häufiger auf eine Art von Wesen, die dem Gaste, was sie ihm nicht entraffen, auf jegliche Weise verekeln und es nahezu als gewiß erscheinen lassen, daß Homer und Hesiod bei den Harpyien an eine Art Oberkellner und Hoteliers gedacht haben. Auch Kellnerinnen können sehr langstielig und unangenehm sein, wenn man von ihnen Dinge verlangt, die nicht zweifellos zur Bedienung ihres jeweiligen Studenten oder Sergeanten gehören. Ein anderer, ebenfalls sehr ehrenwerter Stand hat Angehörige, die, mit der Eleganz von Gesandtschaftsattachés gekleidet, unserm Dienstboten ihre hochfeine Visitenkarte überreichen, sämtlichen Hütern unseres Hausfriedens auf das bestimmteste versichern, daß sie »den Herrn selbst« in einer wichtigen Sache sprechen müßten, endlich mit dem Anstand von Trägern diplomatischer Missionen in unser Arbeitszimmer treten, die persönlichen Grüße hervorragender Männer der Kunst, der Wissenschaft, der Politik überbringen, mit intimer Kenntnis von deren Gewohnheiten plaudern und bald bei einem großen Manne verweilen, der eine rührende Liebe und Fürsorge für seine Familie bekunde und infolge dessen erst kürzlich bei ihm, unserm geschätzten Besucher, sein Leben mit 100 000 Mark versichert habe. Eine andere Menschenart übernimmt die Anstreichung eines Hauses, erscheint pünktlich am festgesetzten Tage und beginnt den Anstrich, um dann dich und dein viertelbemaltes Haus 14 Tage oder auch 3 Wochen lang miteinander allein zu lassen, nach dieser Zeit abermals ein einmaliges Gastspiel zu geben u. s. w. in infinitum. Ein Bruder vom geruhigen Leben pflegt schon nach dem ersten Ausbleiben des Malers einen anderen kommen und von diesem das Haus zu Ende malen zu lassen, so daß es bei der Wiederkehr des ersten Mannes stets einen überraschend heiteren Eindruck macht. Die Brüder vom geruhigen Leben kennzeichnet überhaupt Heiterkeit und Handlung. Sie werfen die kleinen Ärger des Tages von sich, ohne sich zu ärgern. In all den Quisquilien des alltäglichen Lebens befolgen sie den Grundsatz: Es geht ohne Aufregung auch, und besser.
Dreiecke im Frack, Rußflecken auf der Nase u. dgl.
Es giebt eine Sorte von Unglücklichen, die mit erschreckender Regelmäßigkeit, gerade wenn sie vor eine mächtige Persönlichkeit hintreten sollen, ausgleiten und hinstürzen und denen dabei quer übers Knie das Beinkleid zerreißt, oder die just, wenn sie einem allerliebsten Mädchen eine Rose überreichen, einen schwarzen Fleck auf der Nase haben. Ein noch weit größeres Unglück aber ist die beständige Furcht vor solchen Nasflecken und Kniefällen, und diese Furcht peinigt oft die besten und anmutigsten Seelen. Sie genieren sich nicht nur, sondern sie sind bange, daß sie sich genieren könnten, und sind zeremonieller als der Zeremonienmeister, um sich nur immer tiefer in Ungemach und Befangenheit zu verstricken. Große Seelen und liebreiche Herzen haben um deswillen Beruf und Glück verfehlt. Niemand glaube, daß solchen Armen mit einer Tanzmeistererziehung geholfen wäre! Die Ruhe des Zentrums fehlt ihnen, die die Brüder vom geruhigen Leben so heiter und glücklich macht. Der unterzeichnete Bruder Schreiber sah einst, wie ein baumlanger Mensch, der bei einem wahrhaft anmutigen Mädchen einen möglichst guten Eindruck zu erwecken redlich bemüht war, seiner ganzen Länge nach vor ihr in den Sand fiel. Das Verkehrteste bei solchem Falle ist es, sich stückweise anzusammeln, die Kniee abzuputzen und Entschuldungen zu stottern, wo es nichts zu entschuldigen giebt. Unser langer Freund lachte. Er wurde so von der Komik seiner Situation geschüttelt, daß er liegen bleiben mußte und nichts vermochte, als den Kopf zu erheben und zu der Angebeteten emporzulachen, und er lachte so innerlich, so hell und strahlend, so mit der vollen, hallenden Resonanz des Herzens, daß sie in gefährlichster Weise angesteckt wurde und man deutlich bemerken konnte, wie er mit seinem Fall auf dem Wege zu ihrem Herzen einen Schritt von der ganzen Länge seiner Persönlichkeit vorwärts gethan habe. Nehmt die Dinge und euch selbst nicht schwerer, als ihr seid, dann tragt ihr leicht, dann fallt ihr leicht. Seid versichert, arme, gehetzte Selbstpeiniger: wenn ihr im Vorzimmer eines Fürsten oder einer umworbenen Dame oder ähnlicher Souveräne euch ein Dreieck in den Frack reißt, oder eure Kravatte sich löst oder der schädelsprengende Schnupfen des redlichen Albert Einhart euch überfällt und der Fürst oder die Dame euch darum abfallen lassen, dann handelt es sich um Damen und Fürsten, mit denen ein Bruder vom geruhigen Leben überhaupt nicht verkehren sollte. Resigniert mit Lachen und seid gewiß, daß euch bessere Dinge aufgehoben sind.
Diners von 3–12.
Noch verbreiteter als die Meinung, überall mitwirken zu müssen, ist unter uns armen Sterblichen die Überzeugung, daß wir überall mitessen müßten. Nicht, daß die Brüsseler Poularde mit Kompot und Salat nicht schließlich auf jeden ihre ermüdende Wirkung ausübte! Nein, es ist der Glaube an die Allmacht der »Gesellschaft«, der die Menschen feige macht und die Meinung in ihnen erweckt, sie müßten jährlich einmal bei sämtlichen Lehmanns essen, jährlich einmal sämtliche Lehmanns bei sich sehen, sämtlichen Lehmanns Verdauungsvisiten machen und von sämtlichen Lehmanns dergleichen Visiten entgegennehmen, wobei noch zu bedenken ist, daß die Lehmanns außerdem die Gewohnheit haben, sich zu verloben, zu heiraten, sich fortzupflanzen, zu avancieren und Jubiläen zu feiern.
»Die Menschen fürchtet nur, wer sie nicht kennt, Und wer sie meidet, wird sie bald verkennen.« |
Und
»Wer sich der Einsamkeit ergiebt, Ach, der ist bald allein!« |
sagt Goethe, wie immer, mit Recht; aber nicht alle Lehmanns sind Menschen, und man kann sehr wohl mit einem Menschen in demselben Ozean gebadet haben, ohne deshalb »gesellschaftliche Verpflichtungen« gegen ihn zu fühlen. Eine Dame der Plutokratie erzählte unserm Bruder Tibull mit jenem seltsamen Lachen, dessen Geheimnis in Elend und Morphium besteht: »Mein Mann und ich sind kaum drei Abende im Winter zu Hause. Sehr oft haben wir drei Einladungen an einem Tage: eine um drei, eine um sechs und eine nach dem Theater.« Die gute Frau wies überzeugend nach, daß das so sein müsse. Je wohlhabender ein Mensch, je angesehener seine Stellung, desto mehr Diners muß er geben und einnehmen: das ergab sich aus den Reden der Dame wie ein ehernes Lohngesetz. Wenn Meyers sich nämlich zurückhalten, so heißt es: »Meyers sind pauvre« oder »Meyers sind geizig« oder »Meyers sind eingebildet« oder »Meyers sind ungebildet; sie wissen nicht, was sich gehört.« Weil Meyers nämlich wissen, daß der Mensch sich gehört. Und dabei können Meyers die ganz merkwürdige Beobachtung machen, daß die Leute, die anfangs klatschten, bald mit einer unverkennbaren Hochachtung klatschen und schließlich von allem nur die Hochachtung übrigbleibt und Meyers um so höher im Preise steigen, je seltener sie zu haben sind!
Menschheit, verachte deinen Klatsch! Kennst Du die Geschichte von unserm Timotheus? Ein neidgeplagter, armer Teufel hatte seine Künstlerschaft mit so geschickter Verlogenheit verunglimpft, daß auch auf den Charakter unseres Bruders ein Schatten fiel und der Verleumder doch nicht zu fassen war. Timotheus aß nicht, trank nicht und schlief nicht. Da geschah es, daß sein Söhnchen krank wurde, todkrank. Wochenlang schwebte das Bübchen zwischen Tod und Leben. Und mitten in der flackernden Qual seines Herzens fiel ihm unvermittelt die Verleumdung seines Feindes ein. Und mitten in den tiefsten Ängsten der Nacht mußte er lächeln, und wohl zehnmal sagte er zu sich selbst: du Narr – du Narr – du Narr! – Der Knabe wurde wieder gesund, und als Timotheus eines Tages wieder an die Lügen des Neidharts dachte, da lagen sie nur noch wie ein ganz, ganz schmaler, schmutziggelber Streifen am Horizont, weit hinter Stallupönen, und die Abonnenten des Verleumders glaubten längst an andere Lügen. In jenen Tagen fand Timotheus eines der Grundgesetze unserer Gemeinschaft, das Gesetz: Gewinne die große Distanz zu den Dingen! Denn wenn der Mensch nach acht Wochen oder nach drei Jahren über ein Ärgernis lachen kann, dann ist der Mensch ein Esel, wenn er nicht schon heute lacht! Mit diesem Gesetz zwingt ein Bruder vom geruhigen Leben den Schlaf auf seine Lider, wenn die Niedertracht der Welt ihn wach zu halten droht. Er legt sich auf sein sanftes Ruhekissen und nimmt die erste Dosis seines Schlafmittels, die lautet: »Durch Schlaflosigkeit schwächst du nur deine Kraft.« Hilft das nicht, so stellt er sich deutlich vor, wie er in Zukunft einmal über die Widerwärtigkeiten dieser Tage lächeln wird, und mit dem vorgestellten Lächeln auf den Lippen entschlummert er. Nur in besonderen Fällen wendet er die dritte Dosis an, die da lautet: »Wie würden sich deine Feinde freuen. wenn du um ihretwillen wachtest.« In der nächsten Minute schnarcht er.
Bleib Herr über deinen Schlaf und gieb das Scepter auch um jenes höheren Klatsches willen, den man fälschlich»Ruhm« nennt, nicht aus den Händen. Bruder Tarquinius ist ein dramatischer Dichter; aber der Arzt hat ihm Vorsicht mit seinem Herzen geboten. Er hat einen simplen Gedanken ein für allemal zum Amulett erhoben, und diesen Gedanken zieht er vor jeder Première hervor und küßt ihn; er lautet: Herz ist besser als Ruhm. Freilich denkt er dabei an jenen Ruhm, der darin besteht, daß Hans genau dasselbe meint, was Peter meint, weil Peter meint, was August meint, der sich für seine Meinung auf jenen Hans berufen kann. Der wahre Ruhm ist freilich was ganz anderes.
Der wahre Ruhm wächst nicht aus den Mäulern der Menge, sondern aus den Herzen der Werke. Hast du Anwartschaft auf solchen Ruhm, so sei versichert, daß er in deinen Werken durchaus mündelsicher angelegt ist. Kein anderer kann an dies Vermögen herankommen, und es wird wachsen durch Zins und Zinseszinsen, langsam aber sicher. Vielleicht kommt ein richtiger Ruhm erst nach deinem Tode heraus. Aber Nachruhm ist gerade der beste. Denn dann ist man nicht mehr dabei.
Und hat doch sein fernes Kommen in einsamen Zeiten wie einen erdefremden Duft gefühlt.
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Hier schließt die Vorlesung aus den Protokollen der Brüderschaft. Niemand wird die Gemeinschaft der Brüder für eine Bier- und Ruhebank halten, die Faulenzern und Feiglingen Gelegenheit giebt, stumpfzusinnen. Die geruhigen Brüder haben ein Verständnis dafür, daß es Invaliden des Lebens giebt, die sich darauf zurückziehen, täglich an derselben Stelle dasselbe Glas bis zur bestimmten Höhe gefüllt vorzufinden, es in der immer gleichen Zeit zu leeren und dabei auf dieselbe allgemeine Schnupftabaksdose in der Mitte der Tafel zu starren und in der sanften Betäubung dieses stillen Zirkeltanzes das bißchen Lebensrest zu verdämmern – die Brüder vom geruhigen Leben respektieren die Haken, die für die Hüte dieser Invaliden ein für allemal reserviert sind – aber sie haben nichts mit ihnen gemein. Die Brüder vom geruhigen Leben sind Kämpfer. Nur wollen sie den Kampf nicht dort führen, wo er sich nicht lohnt, wollen sie das Leben nicht dort schon tragisch nehmen, wo die Tragödie noch gar nicht beginnt, wollen sie ihre Eingeweide nicht schon opfern in den Vorhöfen des Lebens, wollen sie nicht wie die thörichten Jungfrauen ihr Öl verbrennen, bevor der Bräutigam kommt. Sie wollen in dem verdammten »Objekt« keinen Machtkitzel erwecken, indem sie seine kleinen und gemeinen, niedrigen und widrigen, schäbigen und klebigen Nücken und Tücken mit nervösem Ernst behandeln und wollen ihre Kraft sparen, um das Große zu verteidigen und das Größte, das Schicksal, mit Würde zu tragen. Denn das ist der allerhöchste und allerheiligste Grundsatz unserer Brüderschaft:
»Ein Leben in Wacht und in Waffen wider die Großmächte der Finsternis ist eines Erdenpilgers tiefste Ruhe.«