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Über das eine gebieten wir, über das andere nicht. Wir gebieten über unser Begreifen, unseren Antrieb zum Handeln, unser Begehren und Meiden, und, mit einem Wort, über alles, was von uns ausgeht; nicht gebieten wir über unseren Körper, unsern Besitz, unser Ansehen, unsere Machtstellung, und mit einem Wort, über alles, was nicht von uns ausgeht.
Worüber wir gebieten, ist von Natur aus frei, kann nicht gehindert oder gehemmt werden; worüber wir aber nicht gebieten, ist kraftlos, abhängig, kann gehindert werden und steht unter fremden Einfluß. Denk also daran: Wenn Du das von Natur aus Abhängige für frei hältst und das Fremde für dein eigen, so wird man deine Pläne durchkreuzen und du wirst klagen, die Fassung verlieren und mit Gott und der Welt hadern; hältst du aber nur das für dein Eigentum, was wirklich dir gehört, das Fremde hingegen, wie es tatsächlich ist, für fremd, dann wird niemand je dich nötigen, niemand dich hindern, du wirst niemanden schelten, niemandem die Schuld geben, nie etwas wider Willen tun, du wirst keinen Feind haben, niemand wird dir schaden, denn du kannst überhaupt keinen Schaden erleiden.
Wenn du nun nach so hohen Zielen strebst, denke daran, daß du nicht mit nur mäßigem Bemühen nach ihnen greifen darfst, nein, du mußt auf manches ganz verzichten, manches vorläufig aufschieben.
Wenn du aber außerdem auch auf Macht und Reichtum aus bist, so wirst du vielleicht auch hierin scheitern, weil du zugleich nach jenem strebst; auf alle Fälle wirst du das verfehlen, woraus allein Freiheit und Glück hervorgehen. Bemühe dich daher, jedem ärgerlichen Eindruck sofort entgegenzuhalten: »Du bist nur ein Eindruck, und ganz und gar nicht das, was du zu sein scheinst.« Dann prüfe und begutachte den Eindruck nach den Regeln, die du kennst, vor allem nach der ersten Regel, ob der Eindruck zu tun hat mit den Dingen, über die wir gebieten, und wenn er mit etwas zu tun hat, über das wir nicht gebieten, dann habe die Antwort zur Hand: »Es geht mich nichts an.«
Bedenke: Begehren verheißt die Erreichung des Begehrten, Meiden verheißt, nicht dem anheimzufallen, was gemieden wird, und wer mit seinem Begehren scheitert, ist unglücklich, und wer dem anheimfällt, was er meiden möchte, ist auch unglücklich. Wenn du also von den Dingen, die du meisterst, nur das meidest, was gegen die Natur ist, so wirst du dem gewiß nicht anheimfallen, was du meidest. Wenn du aber Krankheit, Tod oder Armut zu entgehen suchst, wirst du unglücklich sein. Zieh also deine Abneigung von allen Dingen zurück, die wir nicht meistern, und übertrage sie auf das, was gegen die Natur ist unter den Dingen, die wir meistern. Das Begehren aber gib vorläufig ganz auf. Denn wenn du etwas begehrst von dem, was wir nicht meistern, so wirst du notgedrungen unglücklich, und von den Dingen, die wir meistern, und die du begehren solltest, hast du noch keinen rechten Begriff. Beschränke dich auf das Wollen und Nichtwollen, doch nicht verbissen, sondern mit Vorbehalt und Gleichmut.
Bei allem, was deine Seele verlockt oder dir einen Nutzen gewährt oder was du lieb hast, denke daran, dir immer wieder zu sagen, was es eigentlich ist. Fang dabei mit den unscheinbarsten Dingen an. Wenn du einen Krug liebst, so sage dir: »Es ist ein Krug, den ich liebe.« Dann wirst du nämlich nicht deine Fassung verlieren, wenn er zerbricht. Wenn du dein Kind oder deine Frau küßt, so sage dir: »Es ist ein Mensch, den du küßt.« Dann wirst du nämlich nicht die Fassung verlieren, wenn er stirbt.
Wenn du irgendetwas unternehmen willst, so mach dir klar, welcher Art das Unternehmen ist. Wenn du zum Beispiel zum Baden gehst, so stell dir vor, wie es in einer Badeanstalt zugeht, wie sie mit Wasser spritzen, einander anrempeln, beschimpfen und bestehlen. Und so wirst du dich mit größerer Sicherheit an dein Unternehmen machen, wenn du dir von vornherein sagst: »Ich will baden und zugleich meine sittlichen Grundsätze in Übereinstimmung mit der Natur bewahren.« Und so bei allem Tun. Denn wenn irgendetwas dein Baden beeinträchtigt, wirst du alsdann den Satz zur Hand haben: »Ich wollte ja nicht nur baden, sondern auch meine sittlichen Grundsätze in Übereinstimmung mit der Natur bewahren; ich werde sie aber nicht bewahren, wenn ich mich über solche Vorkommnisse aufrege.«
Nicht die Dinge selbst beunruhigen die Menschen, sondern ihre Meinungen und Urteile über die Dinge. So ist zum Beispiel der Tod nichts Furchtbares -- sonst hätte er auch dem Sokrates so erscheinen müssen --, sondern nur die Meinung, er sei etwas Furchtbares, das ist das Furchtbare. Wenn wir also auf Hindernisse stoßen, beunruhigt oder gekränkt werden, wollen wir die Schuld nie einem anderen, sondern nur uns selbst geben, das heißt unseren Meinungen und Urteilen.
Ein Ungebildeter verrät sich dadurch, daß er andern Vorwürfe macht, wenn es ihm schlecht geht; ein Anfänger in der philosophischen Bildung macht sich selbst Vorwürfe; der gründlich Gebildete schiebt die Schuld weder auf einen andern noch auf sich selbst.
Sei auf keinen Vorzug stolz, der nicht dein eigener ist. Wenn ein Pferd in seinem Stolz sagen würde: »Ich bin schön«, so wäre das noch erträglich. Wenn du aber mit Stolz sagst: »Ich habe ein schönes Pferd«, dann wisse, daß du nur auf einen Vorzug eines Pferdes stolz bist. Was ist nun dein eigen? Der Gebrauch deiner Vorstellungen. Wenn du also beim Gebrauch deiner Vorstellungen dich in Übereinstimmung mit der Natur verhältst, dann sei stolz; denn dann wirst du auf einen Vorzug stolz sein, der wirklich dein eigen ist.
Wenn auf einer Seefahrt das Schiff gelandet ist und du aussteigst, um frisches Wasser zu holen, dann magst du nebenher ein Schalentier auflesen oder eine Meerzwiebel, aber deine Aufmerksamkeit muß auf das Schiff gerichtet bleiben, und du mußt es beständig im Auge behalten, ob nicht etwa der Steuermann ruft; und wenn er ruft, dann mußt du all jene Dinge liegen lassen, damit du nicht gefesselt wie die Schafe in das Schiff geworfen wirst. So ist es auch im Leben: Wenn dir statt einer Meerzwiebel oder eines Schalentiers eine Frau und ein Kind gegeben sind, so wird dies kein Hindernis sein. Wenn der Steuermann ruft, so laß alles liegen, eile zum Schiff und dreh dich dabei nicht um. Bist du aber alt, so entferne dich niemals mehr weit vom Schiff, damit du nicht etwa ausbleibst, wenn er dich ruft.
Verlange nicht, daß das, was geschieht, so geschieht, wie du es wünschst, sondern wünsche, daß es so geschieht, wie es geschieht, und dein Leben wird heiter dahinströmen.
Krankheit ist hinderlich für den Körper, für die sittlichen Grundsätze aber nicht, falls sie es selbst nicht wollen. Lähmung ist hinderlich für das Bein, für die sittlichen Grundsätze aber nicht. Sag dir das bei allem, was dir zustößt. Du wirst nämlich finden, daß es für irgend etwas anderes hinderlich ist, nicht aber für dich.
Bei allem, was dir widerfährt, denke daran, dich dir selbst zuzuwenden und zu untersuchen, welche Kraft du hast, dich mit ihm auseinanderzusetzen. Wenn du einen schönen Knaben oder ein schönes Mädchen erblickst, so wirst du als Gegenkraft Selbstbeherrschung in dir finden; mutet man dir eine schwere Strapaze zu, so wirst du Ausdauer, beleidigt man dich, Gleichmut finden. Wenn du dich daran gewöhnt hast, werden dich die Eindrücke und (falschen) Vorstellungen nicht mehr hinreißen.
Sag nie von einer Sache: »Ich habe sie verloren«, sondern: »Ich habe sie zurückgegeben.« Dein Kind ist gestorben? Es wurde zurückgegeben. Deine Frau ist gestorben? Sie wurde zurückgegeben. »Man hat mir mein Grundstück gestohlen.« Nun, auch das wurde zurückgegeben. »Aber es ist doch ein Schuft, der es mir gestohlen hat.« Was schert es dich, durch wen es der Geber von dir zurückforderte? Solange er es dir zur Verfügung stellt, behandle es als fremdes Eigentum wie die Reisenden ihre Herberge.
Wenn du moralische Fortschritte machen willst, gib Erwägungen wie die folgende auf: »Wenn ich mich nicht um meine Geschäfte kümmere, werde ich nichts zu essen haben.« Oder: »Wenn ich meinen Sklaven nicht züchtige, wird er ein Nichtsnutz.« Denn es ist besser, frei von Kummer und Angst Hungers zu sterben, als ständig innerlich aufgewühlt zu leben. Es ist besser, daß dein Sklave ein Taugenichts ist, als daß du selbst unglücklich bist. Fang also mit den unscheinbaren Dingen an: Wird ein bißchen Öl verschüttet, ein bißchen Wein gestohlen, so sage dir: »Das ist der Preis für Gleichmut, das ist der Preis für innere Ruhe.« Umsonst bekommt man nichts.
Wenn du deinen Sklaven rufst, bedenke, daß er dich vielleicht nicht hören kann, und wenn er dich gehört hat, daß er vielleicht gar nicht in der Lage ist, das zu tun, was du von ihm verlangst. Aber sein Einfluß ist nicht so groß, daß deine innere Ruhe von ihm abhängt.
Wenn du Fortschritte machen willst, so ertrage es, daß man dich in Hinsicht auf die äußeren Dinge für unverständig und närrisch hält, und wolle auch nicht den Anschein erwecken, etwas zu verstehen, und wenn du einigen als etwas Besonderes erscheinst, mißtraue dir selbst. Wisse nämlich, daß es für dich nicht leicht ist, deine sittlichen Grundsätze in Übereinstimmung mit der Natur zu erhalten und zugleich die äußeren Dinge ernst zu nehmen, sondern wer sich um das eine kümmert, vernachlässigt zwangsläufig das andere.
Wenn du willst, daß deine Kinder, deine Frau und deine Freunde ewig leben, bist du ein Narr; wenn du willst, daß du über das, worüber du nicht gebietest, gebietest, und daß das, was dir nicht gehört, dir gehöre. Und wenn du willst, daß dein Sklave keinen Fehler mache, bist du ebenso töricht; denn du willst, daß das Laster kein Laster sei, sondern etwas anderes.
Wenn du aber den Willen hast, das Ziel deines Strebens nicht zu verfehlen, so steht das in deiner Macht. In dem also übe dich, was dir möglich ist.
Meister über einen jeden ist der, der die Macht hat, das, was der andere will oder nicht will, ihm zu gewähren oder ihn davon zu befreien.
Wer also frei sein will, soll weder etwas erstreben noch meiden von dem, worüber andere gebieten; sonst wird er zwangsläufig zum Sklaven.
Bedenke: Du mußt dich (im Leben) wie bei einem Gastmahl benehmen. Es wird etwas herumgereicht, und du kommst an die Reihe. Strecke deine Hand aus und nimm bescheiden deine Portion. Es wird weitergereicht. Halte es nicht zurück. Es ist noch nicht bei dir angelangt. Richte nicht schon von weitem dein Verlangen darauf, sondern gedulde dich, bis die Reihe an dir ist.
So halte es auch mit dem Verlangen nach Kinder, nach einer Frau, nach Ämtern, nach Reichtum, und du wirst ein würdiger Tischgenosse der Götter sein.
Wenn du aber sogar von dem, was dir vorgesetzt wird, nicht nimmst, sondern es nicht beachtest, dann wirst du nicht nur ein Tischgenosse der Götter sein, sondern auch ihr Mitregent. So machen es Diogenes, Heraklit und ihresgleichen, und darum waren und hießen sie mit Recht göttlich.
Wenn du jemanden in seiner Trauer weinen siehst, weil sein Kind außer Landes ist oder weil er sein Vermögen verloren hat, so gib acht, daß dich nicht die Vorstellung hinreißt, er sei aufgrund dieser äußeren Ereignisse wirklich im Unglück, sondern sogleich habe den Satz zur Hand: »Nicht das, was passiert ist, bedrückt diesen Mann (denn einen anderen bedrückt es ja auch nicht), sondern seine Meinung darüber.«
Soweit es nur auf Worte ankommt, zögere freilich nicht, ihm dein Mitgefühl zu bezeigen und, wenn es sich so ergibt, auch mit ihm zu klagen; nur gib acht, daß du nicht auch innerlich ergriffen klagst.
Bedenke: Du bist Darsteller eines Stücks, dessen Charakter der Autor bestimmt, und zwar eines kurzen, wenn er es kurz, eines langen, wenn er es lang wünscht. Will er, daß du einen Bettler darstellst, so spiele auch diesen einfühlend; ein Gleiches gilt für einen Krüppel, einen Herrscher oder einen gewöhnlichen Menschen.
Deine Aufgabe ist es nur, die dir zugeteilte Rolle gut zu spielen; sie auszuwählen, steht einem andern zu.
Wenn ein Rabe unheilverkündend krächzt, laß dich nicht von deiner Vorstellung hinreißen, sondern kläre sogleich dein Denken und sage dir: »Keines dieser Vorzeichen gilt mir, sondern nur meinem armseligen Körper, meinem dürftigen Besitz, meinem bißchen Ansehen, meinen Kindern oder meiner Frau. Für mich gibt es nur glückverheißende Vorzeichen, wenn ich es will. Was auch immer davon eintreffen mag, von mir hängt es ab, ob ich Nutzen daraus ziehe.«
Unbesiegbar kannst du sein, wenn du dich auf keinen Kampf einläßt, in dem der Sieg nicht von dir abhängt. Wenn du jemanden siehst, den man dir in der Ehre vorzieht, der großen Einfluß hat oder sonst hohes Ansehen genießt, so laß dich nicht vom äußern Eindruck blenden und preise ihn nicht glücklich. Denn wenn das wahre Wesen des Guten zu dem gehört, worüber wir gebieten, dann ist weder Neid noch Eifersucht am Platz. Du selbst willst doch kein Prätor, Senator oder Konsul sein, sondern ein freier Mensch. Nur ein einziger Weg aber führt dahin: Alles zu verachten, worüber wir nicht gebieten.
Bedenke: Nicht wer dich beschimpft oder dich schlägt, verletzt dich, sondern deine Meinung, daß diese Leute dich verletzten. Wenn dich also jemand reizt, so wisse, daß es deine eigene Vorstellung ist, die dich gereizt hat. Deshalb versuche vor allem, dich vom äußern Eindruck nicht hinreißen zu lassen. Hast du erst einmal Bedenkzeit gewonnen, wirst du dich leichter bemeistern.
Tod, Verbannung und alles andere, was furchtbar erscheint, halte dir täglich vor Augen, vor allem aber den Tod, und du wirst niemals schäbige Gedanken haben oder etwas maßlos begehren.
Ist dir das Streben nach Weisheit ein echtes Bedürfnis, so stelle dich von vornherein darauf ein, daß man dich auslachen wird und daß dich viele verhöhnen und sagen werden: »Der ist uns plötzlich als Philosoph heimgekommen«, und: »Wie kommt es, daß er die Brauen so hochzieht?«
Laß du nur das Stirnrunzeln. An dem aber, was dir als das Beste erscheint, halte so fest, als wärest du von Gott auf diesen Posten gestellt. Bedenke: Wenn du treu bei deinen Grundsätzen bleibst, dann werden dich alle, die dich vorher immer auslachten, nachher bewundern. Weichst du aber ihrem Druck, so wirst du doppelten Spott ernten.
Wenn es dir einmal passiert, daß du dich der Außenwelt zuwendest, weil du jemanden für dich einnehmen willst, so wisse, daß du deine Lebensmaxime verraten hast. Darum sei damit zufrieden, immer und überall ein Philosoph zu sein; willst du überdies als solcher gelten, so betrachte dich selbst als solchen; das wird dir genügen.
Gedanken wie die folgenden dürfen dich nicht quälen: »Ohne Ehren werde ich dahinleben und nirgends etwas gelten.« Falls das Ausbleiben von Ehren wirklich ein Unglück ist: du kannst doch durch das Wirken eines anderen ebensowenig im Unglück sein wie in Schande. Hängt es etwa von dir ab, ein Staatsamt zu erlangen oder zu einem Festmahl eingeladen zu werden? Gewiß nicht. Wieso kann dies dann noch als »Ausbleiben von Ehren« aufgefaßt werden? Und wie kannst du »nirgends etwas gelten«, da du doch einzig in dem Bereich etwas bedeuten sollst, über den du gebietest, worin du der Bedeutendste sein darfst?
Aber deine Freunde werden so ohne Hilfe bleiben! Was meinst du mit »ohne Hilfe«? Sie werden von dir kein Geld bekommen, und du wirst ihnen auch nicht das römische Bürgerrecht verschaffen können. Wer hat dir denn gesagt, daß dies zu den Dingen gehört, über die wir gebieten, und nicht von andern abhängt? Wer aber kann einem andern geben, was er selbst nicht hat? »Dann verschaff dir Geld«, sagt ein Freund, »damit auch wir etwas davon haben.« Wenn ich es mir verschaffen kann, ohne dabei meine Selbstachtung, meine Verläßlichkeit und mein hochgesinntes Wesen zu verlieren, dann zeige mir den Weg, und ich werde es mir verschaffen. Wenn ihr aber von mir verlangt, daß ich diese meine Güter preisgebe, damit ihr zu Gütern kommt, die gar keine sind, so seht ihr doch selbst ein, wie ungerecht und unvernünftig ihr seid.
Was zieht ihr eigentlich vor? Geld oder einen verläßlichen und seinem Gewissen verpflichteten Freund? Verhelft mir also lieber zu diesen Eigenschaften und verlangt nicht von mir, daß ich etwas tue, wodurch ich sie gerade verlieren muß.
»Aber das Vaterland wird«, so lautet ein Einwurf, »soweit es auf mich ankommt, ohne Hilfe bleiben.« Noch einmal fragte ich: »Hilfe welcher Art?« Säulenhallen und Badeanstalten wird es von dir nicht bekommen. Aber was hat das zu besagen? Es bekommt ja auch keine Schuhe vom Schmied und keine Waffen vom Schuster. Es genügt, wenn jeder seine eigene Aufgabe erfüllt. Wenn du ihm einen Mitmenschen zu einem verläßlichen und seinem Gewissen verpflichteten Bürger heranbilden würdest, nütztest du ihm dann nichts? »Doch.« Folglich dürftest du ihm nicht unnütz sein. »Welche Stellung«, sagt er, »werde ich also im Staat einnehmen?« Diejenige, die du einnehmen kannst, ohne in dir den Mann der Verläßlichkeit und Selbstachtung aufzugeben. Verlierst du aber, in der Absicht, dem Staat zu helfen, diese Eigenschaften, was kannst du ihm da noch nützen, wenn du schließlich schamlos und unzuverlässig geworden bist?
Es wurde dir jemand bei einem Festmahl oder bei einer morgendlichen Begrüßung oder einer Einladung, Rat zu erteilen, vorgezogen. Wenn dies etwas Gutes ist, dann solltest du dich darüber freuen, daß es jenem zuteil geworden ist. Wenn es aber etwas Schlechtes ist, dann ärgere dich nicht, daß du es nicht bekommen hast.
Bedenke: Wenn du nicht dasselbe tust wie die anderen, um das zu erlangen, worüber wir nicht gebieten, kannst du auch nicht auf dasselbe Anspruch erheben. Denn wie kann einer, der nicht ständig vor den Türen eines Großen aufkreuzt, dasselbe erreichen wie einer, der das tut? Entsprechendes gilt für den, der ihn eskortiert und lobt oder der das sein läßt.
Du wirst ungerecht und unersättlich sein, wenn du den üblichen Kaufpreis nicht entrichten und diese Ehren unentgeltlich erhalten willst. Was kostet zum Beispiel der Salat? Sagen wir: einen Obulus. Wenn nun einer den Obulus bezahlt und dafür seinen Salat bekommt, du aber nicht zahlst und nichts bekommst, so glaube nicht, daß du das Nachsehen hast gegenüber dem, der etwas bekommt. Denn wie jener seinen Salat hat, so hast du noch den Obulus, den du nicht ausgegeben hast.
Und genauso ist es auch hier. Du bist nicht zum Festmahl eingeladen worden? Natürlich nicht; denn du hast dem Gastgeber den Preis nicht bezahlt, um den er sein Mahl verkauft. Um ein Kompliment verkauft er es oder eifrige Gefolgschaft. Bezahle also den Preis, um den er es verkauft, wenn dir das einen Vorteil bringt. Willst du aber nichts bezahlen und doch zu jenen Ehren kommen, dann bist du unersättlich und ein Narr.
Hast du nun nichts anstelle des Mahles? Du hast jetzt die Gewißheit, daß du den nicht gelobt hast, den du nicht loben wolltest, und daß du dir von seinen Türwächtern nichts hast gefallen lassen müssen.
Den Willen der Natur kann man aus dem erkennen, worin wir untereinander nicht verschiedener Meinung sind. Wenn zum Beispiel der junge Sklave eines andern den Trinkbecher zerbricht, dann ist man sogleich bereit zu sagen: »So etwas kann passieren.« Wisse nun: Wenn dein eigener Trinkbecher zerbricht, so mußt du die gleiche Einstellung haben wie damals, als der Becher des andern zerbrach. Übertrage sie nun auch auf wichtigere Dinge. Ein Kind oder die Frau eines andern ist gestorben. Es gibt keinen, der nicht sagen würde: »Das ist nun einmal das Los des Menschen.« Wenn aber jemandem das eigene Kind stirbt, dann klagt er zugleich: »Weh mir, ich Unglücklicher.« Wir sollten uns jedoch erinnern, was wir empfinden, wenn wir hören, daß andere ein solches Unglück getroffen hat.
Wie ein Ziel nicht aufgestellt wird, damit man es verfehle, so wenig entsteht das Böse von Natur aus in der Welt.
Wenn jemand deinen Körper dem ersten besten, der dir begegnet, ausliefern würde, dann wärest du entrüstet. Daß du aber dein Denken jedem Beliebigen auslieferst, so daß es beunruhigt und verstört wird, wenn er dich beleidigt -- dessen schämst du dich nicht?
Bei allem, was du tust, bedenke die Voraussetzungen und Folgen und geh dann ans Werk. Andernfalls wirst du anfangs voll Begeisterung an die Sache herangehen, da du ja keine der möglichen Entwicklungen bedacht hast, später aber, wenn irgendwelche Schwierigkeiten auftauchen, schmählich aufgeben.
Du willst bei den Olympischen Spielen siegen? Ich auch, bei den Göttern, denn das ist eine feine Sache. Aber bedenke die Voraussetzungen und die Folgen und dann erst pack die Sache an. Du mußt dich einer harten Disziplin unterwerfen, eine strenge Diät befolgen, mußt auf Süßigkeiten verzichten, auf Kommando trainieren -- zu festgesetzter Zeit, bei Hitze und Kälte; dann darfst du kein kaltes Wasser trinken, keinen Wein, wenn du Lust dazu hast, kurz: du mußt dich deinem Trainer wie einem Arzt ausliefern. Dann, beim Wettkampf, mußt du dich im Sand wälzen, kannst dir den Arm ausrenken, den Knöchel verstauchen, eine Menge Staub schlucken, manchmal auch Hiebe bekommen -- und mußt trotz allem vielleicht eine Niederlage einstecken.
Dies alles erwäge, und hast du dann noch Lust, dann geh zum Wettkampf. Andernfalls wirst du dich wie die Kinder benehmen, die bald Ringkampf, bald Gladiatorenkampf spielen, jetzt Trompete blasen, dann Theater spielen. So bist du auch heute ein Wettkämpfer, morgen ein Gladiator, dann wieder Redner und dann Philosoph, aber nichts mit ganzer Seele. Nein, wie ein Affe machst du alles nach, was du siehst, und bald gefällt dir dieses bald jenes. Denn du gehst eben an eine Aufgabe heran, ohne sie dir vorher überlegt und von allen Seiten in Augenschein genommen zu haben; dich treibt nur der blinde Zufall und ein frostiges Verlangen.
So haben zum Beispiel manche einen Philosophen gesehen und jemand reden hören, wie Euphrastes redet -- freilich, wer kann so reden wie er? --, und nun wollen sie selbst Philosophen sein. Mensch, überleg dir doch zuerst, worum es sich eigentlich handelt. Dann prüfe die Ausstattung deiner Natur, ob du der Sache auch gewachsen bist. Du willst Fünfkämpfer oder Ringer sein? Sieh dir deine Arme, deine Schenkel an, prüfe deine Hüften. Denn der eine ist für dieses, der andere für jenes geschaffen.
Glaubst du, daß du als Philosoph wie bisher essen und trinken und unverändert deiner Lust und Unlust frönen kannst? Du mußt auf Schlaf verzichten, hart arbeiten, deine Angehörigen verlassen, von einem armseligen Sklaven dich verachten und von jedem, der daherkommt, verspotten lassen, bei allem den kürzeren ziehen, bei Ehren und Ämtern, vor Gericht und bei jedem noch so belanglosen Geschäft. Überleg dir gut, ob du um diesen Preis Gleichmut, Freiheit und innere Ruhe gewinnen willst.
Willst du das nicht, so laß dich nicht auf die Philosophie ein, damit du es nicht wie die Kinder machst: Heute Philosophie, morgen Zollpächter, dann Redner, dann kaiserlicher Prokurator. Das paßt nicht zusammen. Du mußt ein Mensch sein, ein guter oder ein schlechter.
Du mußt entweder das leitende Prinzip in dir zur Vollendung bringen oder die äußeren Dinge, kunstvoll an der Innen- oder Außenwelt arbeiten, das heißt: entweder die Stelle eines Philosophen oder eines Durchschnittsmenschen einnehmen.
Unsere Pflichten bemessen sich im allgemeinen nach unseren sozialen Beziehungen. Da ist ein Vater: es ist einem auferlegt, sich um ihn zu kümmern, ihm in allem den Vortritt zu lassen, es zu ertragen, wenn er schimpft und einen schlägt. »Aber er ist ein schlechter Vater.« Hat dich die Natur etwa mit einem guten Vater in Beziehung gebracht? Nein, nur mit einem Vater. »Mein Bruder tut mir unrecht.« Gut, aber halte an deiner Einstellung ihm gegenüber fest; gib nicht darauf acht, was er tut, sondern was du tun mußt, wenn deine sittlichen Grundsätze mit der Natur übereinstimmen sollen. Denn kein anderer wird dir schaden, wenn du es nicht willst. Dann aber wirst du geschädigt sein, wenn du annimmst, daß du geschädigt wirst.
So wirst du auch die Pflichten deines Nachbarn, deines Mitbürgers und deines Feldherrn dir gegenüber erkennen, wenn du dich daran gewöhnst, deine sozialen Beziehungen zu ihnen richtig zu sehen.
Was die Frömmigkeit gegenüber den Göttern betrifft, so wisse, daß es hauptsächlich darauf ankommt, richtige Vorstellungen über sie zu haben: daß sie existieren und das Weltall gut und gerecht regieren und daß du die Bereitschaft haben mußt, ihnen zu gehorchen und dich allem, was geschieht, zu fügen und freiwillig zu folgen, in der Überzeugung, daß es von der vollkommensten Einsicht zum Ziel geführt wird. Dann wirst du die Götter nämlich niemals tadeln und ihnen vorwerfen, sie kümmerten sich nicht um dich.
Das ist aber nur dann zu erreichen, wenn du die Begriffe Gut und Böse von allem trennst, worüber wir nicht gebieten, und sie lediglich in dem Bereich gelten läßt, über den wir gebieten. Denn wenn du etwas von jenem für gut oder böse hältst, so wirst du zwangsläufig die Verursacher tadeln und hassen, sobald du verfehlst, was du erstrebst oder dem anheimfällst, was du nicht wünschst. Denn es liegt in der Natur eines jeden Lebewesens, das, was ihm schädlich erscheint und was den Schaden verursacht, zu fliehen und sich von ihm abzuwenden, dem Nützlichen und seinen Ursachen aber nachzugehen und es zu bewundern.
Es ist also unvorstellbar, daß einer, der sich geschädigt glaubt, über den, der ihn seiner Meinung nach schädigt, freut, wie es ja auch unmöglich ist, daß man sich über den Schaden selbst freut.
Daher wird auch ein Vater von seinem Sohn beschimpft, wenn er sein Kind nicht teilhaben läßt an den Dingen, die dieses für gut hält; und so machte auch Polyneikes und Eteokles die Vorstellung, die Alleinherrschaft sei ein Gut, zu gegenseitigen Feinden. Deshalb beschimpfen auch der Bauer, der Seemann und der Kaufmann die Götter, und dasselbe tun diejenigen, die ihre Frauen und Kinder verlieren. Denn wo Nutzen ist, da ist auch Frömmigkeit.
Wer sich daher bemüht, zu begehren und zu meiden, wie es sich gehört, der bemüht sich zugleich auch um Frömmigkeit. Aber Trank- und Rauchopfer und die Erstlingsgaben nach Vätersitte darzubringen, ist stete Pflicht -- mit reinem Herzen, nicht zerstreut, nicht nachlässig, nicht knausrig, aber auch nicht über unsere Mittel hinaus.
Wenn du zur Wahrsagekunst Zuflucht nimmst, so bedenke: wie es ausgehen wird, weißt du nicht, sondern du bist gekommen, um es vom Wahrsager zu erfahren; von welcher Art aber der Ausgang ist, das wußtest du schon, als du hingingst -- wenn du wirklich ein Philosoph bist. Denn wenn er zu den Dingen gehört, über die wir nicht gebieten, dann ist er zwangsläufig weder etwas Gutes noch etwas Schlechtes. Trag also dem Wahrsager weder Wünsche dafür noch dagegen vor und nähere dich ihm auch nicht mit Zittern und Zagen, sondern in der Überzeugung, daß jeder Ausgang gleichgültig ist und dich nichts angeht; was es auch sei, du kannst davon einen guten Gebrauch machen, und daran wird dich keiner hindern.
Mutig wende dich also an die Götter, sind sie doch deine Ratgeber; und dann, wenn dir ein Rat erteilt wird, denk daran, wen du als Ratgeber genommen hast und wen du durch deinen Ungehorsam mißachten wirst. Wende dich aber nach der Weisung des Sokrates nur in solchen Fällen an das Orakel, bei denen sich die ganze Befragung auf den Ausgang bezieht und wo weder durch Nachdenken noch irgendeine andere Technik sich Anhaltspunkte zur Klärung des vorliegenden Falles einstellen.
Wenn es also gilt, mit einem Freund oder dem Vaterland eine Gefahr zu bestehen, befrage nicht erst das Orakel, ob du es tun sollst. Denn wenn dir der Wahrsager verkündet, die Opferzeichen seien schlecht ausgefallen, so zeigt das offenbar Tod, Verstümmelung eines Körperteils oder Verbannung an; die Vernunft jedoch gebietet trotz dieser bedrohlichen Aussichten dem Freund zu helfen und mit dem Vaterland die Gefahr zu bestehen.
Halte dir also den größeren Wahrsager vor Augen, den pythischen Apollon, der den Mann aus dem Tempel jagte, der seinem Freund in Todesnot nicht zu Hilfe geeilt war.
Setz für dich gleich jetzt ein festes Gepräge und Muster fest, an dem du festhalten willst, ob du mit dir allein bist oder dich mit anderen Leuten triffst.
Für gewöhnlich herrsche Schweigen, oder es werde nur das Notwendige gesprochen und das mit wenigen Worten. Selten aber und nur, wenn besondere Umstände dich zum Reden auffordern, rede, doch nicht über die landläufigen Themen, nicht über Gladiatorenkämpfe, Pferderennen oder Athleten, nicht über Speisen und Getränke, alles hundertmal besprochen; vor allem sprich nicht über andere Leute, weder tadelnd, noch lobend oder sie vergleichend. Wenn es dir möglich ist, so lenke durch dein Gespräch auch das der übrigen Teilnehmer auf einen schicklichen Gegenstand. Findest du dich aber isoliert unter Fremden, dann schweige.
Lache nicht viel, nicht über vieles und nicht hemmungslos.
Verbitte dir das Schwören unter allen Umständen, wenn das geht, sonst aber nach Möglichkeit.
Einladung zu Gastmählern bei dir Wesensfremden und in Philosophie Ahnungslosen schlage aus. Ist deine Teilnahme aber einmal unvermeidlich, so gib angestrengt darauf acht, daß du nicht ihre Unbildung annimmst. Denn merke dir: Wenn der Freund ein Schmutzfink ist, so wird sich auch der, der mit ihm engen Kontakt hat, unweigerlich beschmutzen, auch wenn er selbst vielleicht sauber ist.
Was den Körper betrifft, ob es sich um Essen, Trinken, Kleidung, Wohnung und Bedienung handelt, so befriedige nur das nackte Bedürfnis; was nur auf äußeren Glanz und Luxus abzielt, das klammere völlig aus.
Verzichte vor der Ehe möglichst auf geschlechtliche Beziehungen; wenn du dich aber darauf einläßt, so tue es im Rahmen des gesetzlich Erlaubten. Denen, die sich sexuell betätigen, falle jedoch nicht mit Vorwürfen zur Last. Erwähne auch nicht überall deine Enthaltsamkeit.
Wenn dir jemand berichtet, der oder jener sage Schlechtes über dich, so rechtfertige dich nicht, sondern antworte: Nun, er kannte wohl meinen andern Fehler nicht, die mir anhaften; denn sonst würde er nicht diese allein anführen.«
Es ist nicht nötig, häufig zu öffentlichen Spielen zu gehen. Kommt es aber doch einmal dazu, dann zeige dich auf nichts besonders konzentriert außer auf dich selbst, das heißt, habe nur den Wunsch, daß alles sich so abspielt, wie es sich abspielt, und daß allein der siege, welcher siegt; so nämlich wirst du nicht dein seelisches Gleichgewicht verlieren.
Zurufe, beifälliges Gelächter und starke Gemütsbewegungen vermeide ganz. Und nachdem du die Arena verlassen hast, unterhalte dich nicht wortreich über die Vorführung, es sei denn, du würdest davon innerlich bereichert. Denn sonst tritt klar zutage, daß das Schauspiel deine Bewunderung erregt hat.
Zu öffentlichen Autorenlesungen geh nicht wahllos und unüberlegt. Gehst du aber hin, so bewahre deine Würde und Ausgeglichenheit, ohne die anderen vor den Kopf zu stoßen.
Wenn du die Absicht hast, jemanden zu treffen, vor allem, wenn es sich um eine angesehene Persönlichkeit handelt, dann stell dir vor, was in dieser Situation Sokrates oder Zenon getan hätten, und du wirst nicht verlegen sein, wie du der Herausforderung angemessen begegnest.
Wenn du einen sehr einflußreichen Mann besuchst, so stell dir vor: du wirst ihn nicht zuhause antreffen, man wird dich nicht vorlassen, man wird dir die Tür vor der Nase zuschlagen oder er wird dich gar nicht beachten. Und wenn du trotz allem hingehen mußt, dann geh und ertrage, was kommt, und sage nie zu dir selbst: »Das hat sich nicht gelohnt!« Denn das wäre unphilosophisch und verriete ein gestörtes Verhältnis zu den äußeren Dingen.
In Gesellschaft vermeide es, weitschweifig und maßlos von deinen eigenen Leistungen und Abenteuern zu reden. Denn wenn es dir auch Spaß bereitet, von deinen Abenteuern zu erzählen, so braucht es den andern noch lange nicht denselben Spaß zu bereiten, deine Erlebnisse anzuhören. Vermeide es auch, Gelächter zu erregen. Denn diese Neigung entartet leicht zur Stillosigkeit und ist geeignet, die Achtung deiner Mitmenschen vor dir zu schmälern.
Gefährlich ist es auch, sich zotigen Reden auszusetzen. Wenn nun etwas Derartiges geschieht, dann rede demjenigen, der soweit gegangen ist, ins Gewissen, falls sich eine passende bietet; ist dies nicht möglich, so zeige wenigstens durch dein Schweigen, dein Erröten und deine finstere Miene, daß du die Worte mißbilligst.
Hat dich die Vorstellung einer sinnlichen Lust erfaßt, dann hüte dich wie bei allen anderen Vorstellungen, daß du von ihr nicht hingerissen wirst. Laß vielmehr die Sache auf dich warten und ring dir eine gewisse Atempause ab. Dann denke an die beiden Augenblicke: an den, da du die Lust genießen, und an den, da du nach dem Genuß später alles bereuen und dir selber Vorwürfe machen wirst. Und dem stelle gegenüber, wie du dich freuen und selber beglückwünschen wirst, wenn du Enthaltsamkeit geübt hast.
Bietet sich dir aber eine günstige Gelegenheit zum Genuß, so paß auf, daß dich nicht das Einlullende, das Reizende und Verführerische daran überwältigt, sondern halte dir zum Vergleich vor Augen, wieviel schöner das Bewußtsein eines solchen Sieges für dich ist.
Wenn du etwas Bestimmtes tust in der Überzeugung, daß es getan werden müsse, so scheue dich niemals, dabei gesehen zu werden, auch wenn die große Menge wahrscheinlich darüber die Nase rümpft. Denn wenn das, was du vorhast, Unrecht ist, so laß es überhaupt sein; handelst du aber recht, was fürchtest du dann die Leute, die dich zu Unrecht tadeln werden?
Wie die Verbindung der beiden Sätze »Es ist Tag«, »Es ist Nacht« mit »oder« sehr sinnvoll, mit »und« dagegen absurd ist, so mag es zwar auch für den Körper gut sein, sich beim Essen das größte Stück zu nehmen, in Hinsicht auf die in Gesellschaft gebotene Selbstbescheidung ist dieses Betragen jedoch charakterlos. Wenn du also bei einem andern zu Gast bist, denk daran, nicht nur auf den Wert der aufgetragenen Speisen für deinen Körper zu achten, sondern auch dem Gastgeber gegenüber den gebührenden Anstand zu wahren.
Wenn du eine Rolle übernimmst, die deine Kräfte übersteigt, so gibst du dir nicht nur hierin eine Blöße, sondern versäumst auch die, die du hättest ausführen können.
Wie du beim Spazierengehen darauf achtest, daß du nicht in einen Nagel trittst oder dir den Fuß verstauchst, so achte darauf, daß du das leitende Prinzip in dir nicht schädigst. Und wen wir diese Regel bei allem, was wir tun, beachten, dann werden wir mit größerer Sicherheit ans Werk gehen.
Der Körper diene jedem als Maß für den Besitz wie der Fuß für den Schuh. Hältst du treu an diesem Prinzip fest, wirst du das richtige Maß einhalten; überschreitest du es aber, wirst du zuletzt unweigerlich gleichsam in einen Abgrund stürzen. Es ist wie beim Schuh: Wenn du einmal die Bedürfnisse deines Fußes überschritten hast, dann wählst du zuerst einen vergoldeten, dann einen purpurnen und schließlich einen gestickten Schuh. Ist ersteinmal das Maß gesprengt, dann gibt es keine Grenzen mehr.
Die jungen Frauen werden, gleich wenn sie vierzehn geworden sind, von den Männern »Damen« genannt. Und wenn sie nun sehen, daß ihre Rolle sich darin erschöpft, mit den Männern zu schlafen, fangen sie an, sich herauszuputzen und darauf all ihre Hoffnung zu setzen. Es empfiehlt sich daher, ihnen begreiflich zu machen, daß ihre Ehre auf nichts anderem beruht als auf Anstand und Treue zu ihrem Gewissen.
Es verrät geistige Armut, sich dauernd mit dem Körper zu beschäftigen, zum Beispiel zu viel Sport zu betreiben, zu viel zu essen, zu viel zu trinken, zu oft seine Notdurft zu verrichten und seinem Sexualtrieb freien Lauf zu lassen. Nein, diese Bedürfnisse sollte man nur nebenbei befriedigen, und die ganze Aufmerksamkeit gelte der Entfaltung der geistigen Anlagen.
Wenn jemand schlecht an dir handelt oder schlecht über dich redet, denke daran, daß er dies tut oder sagt, weil er glaubt, er müsse es tun. Er kann also unmöglich deiner Sicht der Dinge folgen, sondern nur der eigenen. Deshalb hat er den Schaden, wenn er die Dinge falsch sieht; denn er ist es, der sich im Irrtum befindet. Denn auch wenn jemand eine logische Verknüpfung von Urteilen für falsch hält, so schadet das der Verknüpfung nicht, sondern nur dem, der sich geirrt hat. Gehst du von dieser Einsicht aus, wirst du deinem Beleidiger gelassen begegnen. Sag dir nämlich jedesmal: »Es schien ihm eben richtig so.«
Jedes Ding hat zwei Henkel: an dem einen kann man es tragen, an dem anderen nicht. Wenn dir dein Bruder Unrecht tut, so fasse die Sache nicht von der Seite an, daß er Unrecht tut -- denn an diesem Henkel läßt sie sich nicht tragen --, sondern vielmehr von der anderen Seite, daß er dein Bruder ist und mit dir aufwuchs, und du wirst sie anfassen, wo man sie tragen kann.
Folgende Schlüsse sind falsch: »Ich bin reicher als du -- also bin ich dir überlegen.« -- »Ich kann besser reden als du -- also bin ich dir überlegen.« Folgerichtiger sind die Sätze: »Ich bin reicher als du -- also ist mein Besitz deinem überlegen.« -- »Ich kann besser reden als du -- also ist meine Redekunst deiner überlegen.« Du selbst bist doch weder dein Besitz noch deine Redekunst.
Es wäscht sich jemand eilig. Sag nicht: er wäscht sich schlecht, sondern: er wäscht sich eilig. Es trinkt jemand viel Wein. Sag nicht: das ist schlecht, sondern: er trinkt viel. Denn bevor du den Grund seiner Handlungsweise durchschaust -- woher weißt du denn, ob er schlecht handelt? So wird es dir nicht passieren, daß du von einigen Dingen untrügliche Sinneseindrücke gewinnst, andern aber voreilig deine Zustimmung gibst.
Nenne dich niemals einen Philosophen und sprich unter Ungebildeten auch möglichst nicht über die philosophischen Lehrsätze, sondern handle danach. Bei einem Gastmahl zum Beispiel sprich nicht davon, wie man essen soll, sondern iß so, wie es sich gehört. Denn denk daran, daß sich Sokrates jedes Zurschaustellen seines Wissens so völlig versagt hat, daß Leute zu ihm kamen, die von ihm mit Philosophen bekannt gemacht zu werden wünschten, und er führte sie einfach hin. So wenig machte er sich daraus, übersehen zu werden. Und wenn unter Ungebildeten die Rede auf irgendeinen philosophischen Lehrsatz kommt, so schweige möglichst. Denn die Gefahr ist groß, daß du sogleich wieder von dir gibst, was du noch nicht verdaut hast. Und wenn jemand zu dir sagt, daß du nichts weißt, und du dich dadurch nicht gekränkt fühlst, dann wisse, daß du den ersten Schritt getan hast. Denn auch die Schafe zeigen den Hirten nicht dadurch, daß sie ihnen das Futter zurückbringen, wieviel sie gefressen haben, sondern sie verdauen inwendig ihre Nahrung und liefern dann nach außen Wolle und Milch. So stelle auch du vor Ungebildeten nicht die philosophischen Lehrsätze zur Schau, sondern laß sie deren Wirkung sehen, nachdem du sie verarbeitet hast.
Bist du, was deine körperlichen Bedürfnisse betrifft, anspruchslos geworden, so bilde dir darauf nichts ein, und wenn du nur Wasser trinkst, so sage nicht bei jeder Gelegenheit, daß du nur Wasser trinkst. Wenn du dich einmal abhärten willst, so tue das für dich und nicht für die Zuschauer. Umarme nicht (vor aller Augen) die (eiskalten) Standbilder, sondern wenn du einmal heftigen Durst hast, nimm einen Schluck kalten Wassers, spei es wieder aus und sage es keinem.
Zustand und Charakter eines Ungebildeten: Niemals erwartet er Nutzen oder Schaden von sich selbst, sondern nur von äußern Einwirkungen. Zustand und Charakter eines Philosophen: allen Nutzen und Schaden erwartet er von sich selbst.
Kennzeichen eines Menschen, der Fortschritte macht: er tadelt niemanden, lobt niemanden, schilt niemanden, macht niemandem Vorwürfe, spricht nicht über sich selber, als ob er etwas Besonderes sei oder wüßte. Wenn ihn etwas hindert oder hemmt, macht er sich selbst Vorwürfe. Und wenn ihn jemand lobt, so lächelt er im stillen über den Lobspender. Und wenn ihn jemand tadelt, verteidigt er sich nicht. Er geht einher wie einer, der von der Krankheit noch schwach ist und hütet sich, etwas von dem, was gerade in die richtige Lage gebracht wird, zu bewegen, ehe es endgültig fixiert ist.
Jegliches Begehren hat er aus seinem Wesen verbannt und seine Abneigung auf das beschränkt, was widernatürlich ist von den Dingen, über die wir gebieten. Für nichts zeigt er eine ausgeprägte Leidenschaft. Hält man ihn für närrisch oder unwissend, so kümmert ihn das nicht. Mit einem Wort: Vor sich selber ist er auf der Hut wie vor einem hinterlistigen Feind.
Wenn jemand sich damit brüstet, er könne die Bücher des Chrysipp verstehen und erklären, so sage zu dir selbst: »Wenn Chrysipp nicht schwer verständlich geschrieben hätte, so hätte dieser nichts, womit er sich brüsten könnte.« Ich aber, was will ich? Die Natur verstehen lernen und ihr folgen. Ich suche daher nach einem, der sie mir erklärt; und da ich dabei den Namen Chrysipp höre, wende ich mich an ihn. Aber ich verstehe seine Schriften nicht. Also suche ich jemanden, der sie mir erklärt. Bis dahin besteht noch kein Grund, stolz zu sein. Wenn ich aber einen gefunden habe, der sie mir erklärt, dann bleibt noch die Aufgabe, die Vorschriften auch anzuwenden. Allein darauf darf man stolz sein. Wenn ich aber nur das Auslegen selbst bewundere, was bin ich da zuletzt anderes als ein Philologe, aber kein Philosoph, nur daß ich statt Homer den Chrysipp erkläre? Ich erröte daher noch mehr, sobald jemand zu mir sagt: »Lies mir aus Chrysipp vor«, wenn ich nicht imstande bin, die Taten aufzuweisen, die seinen Worten entsprechen und mit ihnen übereinstimmen.
An den Vorschriften der Philosophie halte fest wie an Gesetzen und sei überzeugt, daß du dich schwer vergehst, wenn du sie übertrittst. Was man auch über dich sagt -- kümmere dich nicht darum; denn das entzieht sich nun deinem Einfluß.
Wie lange willst du es noch aufschieben, dich der Erfüllung höchster sittlicher Ansprüche für wert zu erachten und in keinem Fall gegen die Vernunft zu verstoßen, die die grundlegende Unterscheidung der Dinge erlaubt? Du hast die philosophischen Lehren empfangen, denen du zustimmen mußtest, und du hast ihnen zugestimmt. Auf was für einen Lehrer wartest du jetzt noch, um ihm die Aufgabe zu übertragen, deine sittliche Besserung zu bewirken? Du bist kein Knabe mehr, sondern schon ein erwachsener Mann. Wenn du jetzt nachlässig und leichtsinnig bist, immer nur einen Vorsatz nach dem andern faßt und einen Tag nach dem andern festsetzt, von dem an du auf dich achten willst, dann wirst du, ohne es zu merken, keine Fortschritte machen, sondern immer ein Ignorant bleiben im Leben wie im Sterben. Trau es dir doch endlich zu, wie ein erwachsener Mensch zu leben, der moralische Fortschritte macht; und alles, was dir als das Beste erscheint, sei dir ein unverbrüchliches Gesetz. Und wenn dir etwas Aufreibendes oder Vergnügliches, Ruhmvolles oder Ruhmloses begegnet, so denk daran: jetzt gilt es zu kämpfen, nun sind die Olympischen Spiele da und mit dem Aufschieben ist es nun aus, und an einem einzigen Tag, durch eine einzige Handlung wird der erzielte Fortschritt zerstört oder bewahrt.
So wurde Sokrates, wie er war, weil er bei allem, was ihm begegnete, auf nichts anderes achtete als auf die Vernunft. Du aber, auch wenn du noch kein Sokrates bist, solltest so leben, als ob du einer sein wolltest.
Der erste und notwendigste Bereich der Philosophie ist der von den Anwendungen ihrer Lehren, wie zum Beispiel nicht zu lügen. Der zweite handelt von den Beweisen, zum Beispiel, aus welchem Grund man nicht lügen darf. Der dritte begründet und zergliedert diese Beweise, zum Beispiel: Woraus ergibt sich, daß dies ein Beweis ist? Was ist eine logische Folgerung? Was ist ein Widerspruch? Was ist wahr? Was ist falsch? Der dritte Bereich ist also notwendig wegen des zweiten und der zweite wegen des ersten. Der notwendigste aber, bei dem man verweilen soll, ist der erste. Wir hingegen machen es genau umgekehrt. Denn wir verbringen unsere Zeit mit dem dritten Bereich, und ihm gilt unser ganzer Einsatz. Den ersten aber lassen wir völlig außer acht. Deshalb lügen wir zwar; wie man aber beweist, daß man nicht lügen darf, ist uns geläufig.
Bei allem was geschieht, sollten uns folgende Kernsätze stets abrufbar sein:
»O Zeus, und du, allmächtiges Schicksal, führt mich zu jenem Ziel, das mir einst von euch bestimmt wurde. Ich werde folgen ohne Zaudern. Sträubt' ich mich, ein Frevler wär ich dann, ein Feigling, und müßte doch euch folgen!«
Und weiter:
»Wer dem unausweichlichen Schicksal sich in rechter Weise fügt, der gilt als weise uns und kennt der Götter Walten.«
Und drittens:
»Nun mein Kriton, wenn es so den Göttern lieb ist, mag es so geschehen.«
Und zuletzt:
»Antyos und Meletos können mich zwar töten, schaden aber können sie mir nicht.«