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Ruhig, aber in lohnsamer Geschäftigkeit flossen dem jungen Buchbindermeister die Tage dahin. Wie schnell die Zeit verging. Schon bräunte und pflückte der Herbst die Blätter der Linden vor dem Hause. Ein welkes Häuflein nach dem andern fegte Matthias zusammen, und indem er mit dem Besen kräftig über das Pflaster strich, so daß die Erde zwischen den Steinen frischbraun wurde, summte er sich im Takte nach dem Hin und Her der Arme sein Lied. Zu allermeist sein fröhliches: ›Der dich erhält, wie es dir selber gefällt.‹ – Und diesem Liede geschah selbst durch die ja recht gewöhnliche Arbeit des Fegens an seiner Würde kein Abbruch. Dazu war der Sinn dessen, der mit dem Besen hantierte, viel zu ehrlich fromm. Alles an Matthias atmete Zufriedenheit. Er schrieb die glücklichsten Briefe nach Hause:
Liebe Mutter! Nun schon über ein Vierteljahr, und wie gut habe ich mich eingefunden. Da ist keiner, so weit ich es denn sehen kann, der mir nicht wohl will. Jetzt habe ich die große Lieferung für die Aktenbücher auf dem Amtsgericht bekommen, und die Leihbibliothek hat schon ihre dreihundert Bände. Denke mal! Fünfzig mehr, als wie ich kam. Mit den Schulbüchern, das ist ein Kreuz. Zu Ostern, sagt mir der Herr Hauptlehrer, soll wieder eine neue Fibel eingeführt werden, und von der alten liegen mir noch eine Menge da. Die kann ich nun als Makulatur verbrauchen. Nun, das sind so Verluste, die unsereins tragen muß, und Gott sei Dank, ich kann sie ja auch tragen. Es ist mir leicht geworden, Dir die Zinsen zu schicken. Und außerdem habe ich mir noch einen schönen Anzug machen lassen können, langen Rock mit samtenem Kragen. Wie würdevoll ich darin aussehe. Damit empfange ich Dich nächsten Ostern, wenn Du herkommst, um zu revidieren. Die Wäsche wird hier gut besorgt. Die Manschetten sind freilich ein bißchen ausgefranst von dem scharfen Plätten, aber ich habe es der Waschfrau gesagt, und sie will sich nunmehr in acht nehmen. Das sind ja alles Kleinigkeiten. Die Hauptsache ist, daß ich vorwärts komme, und mit Gottes Hülfe: ich komme vorwärts. Tweetenhorn, wenn es auch still aussieht, ist doch ein betriebsamer Platz. Mit dem Herrn Pastor bin ich recht befreundet. Wenn ich es irgend möglich machen kann und Frau Clasen Zeit hat, auf die Kundschaft aufzupassen, so gehe ich Mittwochs in die Bibelstunde. Mir scheint, da hat man manchmal noch mehr davon als von der Predigt am Sonntag. Gesund bin ich – rein strotzend, liebe Mutter. Mir kommt es vor, als wenn ich schon etwas bequem zu werden anfange. Dagegen arbeite ich natürlich mit aller Macht an, und weil ich fleißig die Hanteln gebrauche, so kriege ich allmählich auch eine breitere Brust. Im Hause steht soweit alles gut. Frau Amundsen, – nun, warum sollte ich auf eine alte Frau nicht Rücksicht nehmen? Ich habe gegen alle Frauen eine heilige Ehrfurcht, das kommt, weil ich eine so liebe, gute Mutter habe, den festen Punkt auf Erden für mein Herz. Wenn ich an Dich denke, Mutter, dann kommen mir die Tränen. Das sind aber doch Freudentränen, nichtwahr? Solche Tränen aus Liebe, die bedeuten das reinste Glück. – – –
So schrieb Matthias nach Kappeln an jedem Sonntage, den Gott werden ließ. Für seine Schwester fand er allerdings nicht die gleichen warmen Töne wie für seine Mutter. Die Schwester wurde von einer Eifersucht beherrscht, weil die Mutter dem Sohne so viel Geld für das Haus und das Geschäft gegeben hatte. Es wollte ihr immer nicht recht einleuchten, daß Matthias später, wenn das Traurigste von der Welt, Mutters Tod, geschah, in seinem Erbe genau um die schon erhaltenen Summen verkürzt würde. Sie fürchtete immer, daß sie selbst es schließlich sei, die zu kurz kam, und ihr Bräutigam war nicht der Mann danach, sie hierüber zu beruhigen. Was hatte es alles gekostet, bis der Bruder ausgebildet worden war! Für den wurde kein Taler gespart. Was hatte die Schwester gehabt? Sie hatte zu Hause sitzen und in der Wirtschaft helfen, das heißt: das Dienstmädchen ersparen müssen und dafür ein paar Groschen Taschengeld gekriegt. Das war, so legte sie es sich zurecht, das Ganze.
Dieser Neid machte es kalt zwischen den Geschwistern, kälter jedenfalls, als Matthias es gern ertrug. Aber er konnte wenig tun, um sich das schwesterliche Herz zu erringen. Sie waren zu verschieden von einander. Ihm galt das Geld nur insoweit etwas, als es ihn förderte, als er damit zu arbeiten und sich zu regen vermochte. Ihr war es ein Wert, ein Zweck an sich. Sie wollte es sammeln. Er wollte es wagen. Nun, es war doch jedes Wort, das Matthias der Schwester sandte, von Freundlichkeit beseelt. Er versicherte ihr ein über das andere Mal, daß ihr volles Anteil am Erbe ihm heilig sei, daß er sogar noch hier und da zu ihren Gunsten auf etwas verzichten würde. Er wußte auch den künftigen Schwager durch ein hübsches Geburtstagsgeschenk, etwa eine Schreibmappe mit grünem Tuch auf der einen und feiner Lederarbeit auf der andern Seite, für sich einzunehmen. So bewahrte er sich auch an dieser gefährlichen Stelle das Gleichgewicht. Mit Frau Clasen lebte er sich ordentlich ein. Sie hielt ihm die Kundschaft zusammen, denn das Geschäft hieß nach ihr doch immer noch: bei Clasen. An den fremden Namen Tedebus gewöhnten sich die Tweetenhorner nicht so leicht, und sie wären am Ende zu dem anderen, viel kleineren Buchbinderladen in der Langen Straße gegangen, wenn sie nicht im Laden am Markte Frau Clasens altgewohntes Gesicht begrüßt hätte. Großmutter blieb bis auf die Stunde des Kirchganges unsichtbar. Aber sie herrschte, härter, als Matthias es nach seinem Gewissen eigentlich hätte erdulden dürfen. Die Haustür sollte des Morgens nicht so aufgestoßen werden. Denn das war zu laut. Die Pumpe im Hofe aber sollte nicht geschmiert werden, – sie mußte knarren, wie sie alle Jahre geknarrt hatte, denn sonst war es zu totenstill. Die Bäume im Garten sollten gekappt werden, denn sonst hatte Großmutter von ihrer Schlafkammer hinten heraus keine Aussicht und konnte keine Luft kriegen. Die Linden aber vor dem Hause durften ja nicht angerührt werden, denn sonst war es zu grell und alle Leute sahen Großmutter in die Wohnstube. Mit derlei Anliegen und Wünschen kam Frau Clasen zu Tedebus. Sie hielt, wenn sie so etwas vorbrachte, die Hände über der Brust gefalten, und ihre Augen schauten so leidend, so unerbittlich Mitleid erweckend auf den Buchbinder.
»Wenn Sie es vielleicht einrichten wollten, Herr Tedebus … Gott, die zwei, drei Jahre die wir unsere Mutter noch haben!«
Und Matthias gab nach. Er fühlte wohl: auf Erden lebt nichts Stärkeres als die Schwachen. Ihre Sanftheit und Wehleidigkeit ist ein ärgerer Zwang, als wenn einem Daumenschrauben aufgesetzt werden.
Ins Haus zu den Frauen kamen nur wenige. Frau Clasen war nicht gesellig, und Großmutter hatte nur eine einzige Bekannte, die bisweilen, ganz in ein schwarzes Umschlagetuch eingehüllt, hereinhuschte. Das war Adelaide Poggenstohl, die Weißwarenhändlerin, drüben auf der andern Marktseite, ein altes Fräulein, von dem die Sage ging, daß sie in der Jugend sehr schön und geistvoll gewesen sei. In ihrer Kommode sollte sie einen Band von der Wochenschrift: ›Die melancholische Abendröte für zarte Gemüter‹ aufbewahren, – darin stand, so hieß es, ein Gedicht von ihr, ein Gedicht über den Schmerz, der ihren Busen durchbebt hatte, als ihr Verlöbnis mit einem vornehmen Bürgersmanne, – wer weiß aus welchen Ursachen? – zurück gegangen war. Seit diesen Jugendtagen verkaufte sie Leinen, Strickgarn und Spitzen, und ihr Gesichtchen wurde von Jahr zu Jahr runzliger. Das war Frau Amundsens Umgang. Was sich die beiden erzählten, bekam niemand zu wissen. Aber es fiel Tedebus auf, wie sehr höflich und schier demütig Frau Clasen das alte Fräulein immer empfing. Ja, ja, wer Großmutters Ohr hatte, – das war eine mächtige Person!
Fine und Matthias kamen einander nicht näher. Das Mädchen blieb in ihrer fast trägen, verhaltenen Weise. Nur wenn ihr Bräutigam da war, wachte sie auf. Und auch nachher, wenn er sie verlassen hatte, lebte in ihr die Lust, zu sprechen und sich an jemand anzuschmiegen, noch fort. Dieser Mann, der sich laut rühmte: ›Ich habe was Dämonisches in mir‹, rührte sicherlich in Josefine eine Saite an, die sonst nicht ertönte, und der Klang, den die Saite dann gab, mußte herzerregend sein, denn des Mädchens Wangen röteten sich, wenn sie den Ton vernahm, und sie schaute auf Beowulf mit dem ein wenig leidenden und doch sehnsüchtigen Ausdruck einer gern Gefangenen. Der dämonische Bräutigam aber schritt nach solchem Besuche bei seiner Braut stolz über den Platz auf sein Haus zu. Er hatte wieder einmal seine Gewalt über das Frauenherz gespürt. In der Tat: nicht nur Josefine, sondern auch viele andere Mädchen und Frauen in Tweetenhorn beugten sich unter dieser seiner Gewalt. Es war manche, die sich einen Zahn bessern oder beseitigen ließ, nicht so sehr wegen der Schmerzen, die sie sonst etwa zu ertragen gehabt hätte, als aus Schwärmerei für den schönen Beo, wie der Zahnarzt in der Stadt hieß. So war seine Patientschaft groß; die meisten Männer freilich reisten lieber nach Eutin, wenn sie der zahnärztlichen Hülfe bedurften. Der schöne Beo war ihnen gar zu … ja, sie wußten selber nicht, wie sie es ausdrücken sollten … zu süß und dabei zu aufgeblasen. Beowulf lächelte über die Ärmsten, die seinem Dämon Widerstand leisten wollten. Ihm war es genug, die Frauen auf seiner Seite zu haben. Dabei versäumte er aber nicht, sich, wo er nur konnte, auch unter dem widerspenstigen Geschlechte Freunde zu machen. Bei etlichen, namentlich bei den jüngeren Leuten gelang ihm das. Denn der Mensch tut viel, wenn ihm ein paar Glas Bier und gute Zigarren dazu gespendet werden. Tedebus gehörte zwar zu denen, die sich gegen den Zahnarzt wehrten, aber es gab sich doch aus Rücksicht auf Clasens so, daß er ihn nicht gut links liegen lassen konnte, und schließlich: der schöne Beo tat ihm ja nichts Schlimmes. Er kam nur ein bißchen häufig mit guten Ratschlägen herbei: Tedebus sollte eine Tintenfabrik anlegen, dann wollte er, Beowulf, schon alles leiten, denn bevor er zur Zahnheilkunde ging, habe er eigentlich Chemie studiert und wisse ein geradezu prachtvolles Tintenrezept: Galläpfel und rostige Nägel kochen und dann noch eine Essenz hinzutun, die sein eigenstes Geheimnis war, – das wurde eine Tinte, die selbst von einer neuen Sündflut nicht weggewischt werden konnte, – und in drei Jahren waren sie beide reich. Dann hielt Beowulf es für nötig, daß hier noch eine Zeitung neben dem Wagrischen Boten entstünde, – ein Blatt, weltstädtisch, wie es sich für einen Ort ziemte, der demnächst sein großes Luxusbad und seinen Spielsaal, genau wie in Monte Carlo, haben würde. Matthias hörte sich diese Ratschläge sehr ehrbar an, – im Innern kam er nicht davon los, den schönen Beo mit seinem Dämon zu belächeln.
Aber der schöne Beo war ein feiner Kopf. Da strengte er nun sein Gehirn an, um dem jungen Buchbinder die vorteilhaftesten Pläne mitzuteilen, – verdiente das etwa keinen Lohn? Schien ihm doch.
Also trat er eines Nachmittags, als er von Clasens herunterkam, in den Laden ein. Matthias hatte viel um die Ohren. Dieser Besuch war ihm nicht gelegen. Er fing schnell an, noch eifriger, als er es brauchte, im Papier herumzukramen. Daran störte sich aber ein Mann wie Zahnarzt Beowulf nicht. Wenn er kam, mußte alles andere ruhen.
»Einen Moment, bitte,« fing er an.
»Ja?« fragte Matthias.
»Vielleicht drüben in Ihrem Privatzimmer, wie?«
Matthias trat ärgerlich hinter der Theke hervor und schloß seine Stube auf.
»Nun?«
Der schöne Beo nahm, ohne weiter gebeten zu sein, im Lehnstuhl Platz, stemmte den Hut gegen das Knie und strich sich den Bart.
»Es ist nämlich,« begann er, »für einen Kavalier eine etwas peinliche Angelegenheit.«
Matthias horchte auf. Ihm ahnte, was da kommen sollte. Beowulf fuhr fort:
»Ich komme nämlich mit Kassa ein bißchen zu kurz.«
Matthias machte unwillkürlich einen Schritt rückwärts. Beowulf aber stand auf, ging feierlich auf den Buchbinder zu und streckte ihm die Hand hin: »Freunde, nichtwahr?« – Gleichzeitig ließ er seinen Blick scharf in Tedebussens Augen eindringen, und dieses starre Hineinsehen tat auch seine Wirkung. Matthias wurde verlegen und senkte die Lider. Beowulf jedoch, mit der Kraft seines Dämons zufrieden, meinte nun so ganz beiläufig: »Wenn Sie mir vielleicht eine Kleinigkeit … so vielleicht zwanzig Taler? … Ehrenwort für pünktliche Rückzahlung.«
»Zwanzig Taler? Die hab' ich nicht so einfach liegen!«
»Das müßte aber ein Geschäft Ihres Ranges,« bemerkte der schöne Beo verletzt, als täte es ihm leid, daß er mit einem Menschen verkehrte, der nicht einmal so eine geringe Summe zum Verleihen liegen hatte.
Matthias kämpfte mit sich. Sollte er das Gesuch ganz ablehnen? Lieber nicht. Weshalb sich den Zahnarzt zum Feinde machen? Und wenn der das Vertrauen zu ihm besaß, daß er ihn in diese seine Verlegenheit einweihte, nun, so wäre es am Ende kleinlich gewesen, das Vertrauen zu enttäuschen. Verloren gehen konnte ihm ja doch nichts. Wer war nicht einmal in der Lage, etwas leihen zu müssen?
»Zwölf, dreizehn Taler könnte ich zur Not entbehren.«
»Brülljant! Geben Sie her!« sagte der schöne Beo und ließ sich beruhigt abermals im Stuhle nieder. Matthias öffnete die Lade, hob das Geld heraus und bekam seinen sauber geschriebenen Schein dafür.
»Freunde!« wiederholte der Zahnarzt. »Natürlich bitte ich, ganz unter uns. Namentlich meine Braut …«
»Ich spreche mit keinem darüber, Herr Beowulf,« versicherte Matthias.
Der schöne Beo war schon an der Tür, da drehte er sich noch wieder um: »Apropos. Ich gebe heute Abend ein kleines Herrensouper in der ›Post‹. Entenbratenessen. Wenn es Ihnen Vergnügen macht, – lauter erste Leute der Stadt. Sie können sich in die beste Gesellschaft einführen. Kleine Erkenntlichkeit von meiner Seite.« –
Matthias kam zur ›Post‹. Im Hinterzimmer war eine große, ovale Tafel gedeckt. Vierzehn, fünfzehn Männer saßen herum. Matthias wurde vorgestellt und fühlte eine Ehre dabei, denn da waren der Herr Advokat, zwei Herren vom Rathause, Herr Eenboom, der das Manufakturwarengeschäft hatte, ein paar Lehrer, Postbeamte, … wahrhaftig, angesehene Personen alle zusammen; er hatte nicht nötig, sich zu schämen, mit ihnen am Tische zu sein. Obenan thronte der schöne Beo, verzehrte eine Ente für sich allein und schüttete reichlich Wein hinzu. Auch die andern schmausten, daß die Entenknochen krachten. Der fette Geruch von der Tunke und der scharfe Rotkohlduft lagerten schwer über den Häuptern, die von der Arbeit des Essens und von dem Trunk tiefrot wurden. Die Stimmen drangen wirr durcheinander. Nach jeder Flasche Wein wurde es im Zimmer lauter. Matthias ließ es sich schmecken, aber er trank wenig, und so wunderte er sich, was die feinen Herren für unfeine Redensarten gebrauchten. Als der Käse in dicken Stücken aufgetragen wurde, hieb der schöne Beo mächtig hinein und stach dann das Messer bis an das Heft in die weiche Masse. Dabei lachte er auf.
»Ja, wahrhaftig,« erzählte er, »das erinnert mich! Brülljant! Wir lagen da vor Paris. Nee. Dies war bei Orleans. Es gibt ja eigentlich keine Schlacht, an der ich nicht teilgenommen habe. Lagen da an der Kirchhofsmauer, ich und meine vierzig Mann. Mit einem Male: dicht vor uns in dem Hohlweg – mindestens sechshundert rote Beine. All unser Pulver längst verschossen. Donnerwetter, sag' ich, Bajonett – pflanzt auf! Und dann, ich voran, wir ein Geheul angestimmt,« – er verzerrte sein Gesicht und schrie vornübergebeugt mit einer Stimme, daß die andern erblassend zurückfuhren: »Hurra! Hallo! Hui, hui, huiiii!«
Der Wirt kam angstbebend hereingestürzt: »Um Gottes willen, wenn das die Polizei hört!« Aber der schöne Beo ließ sich nicht stören: »Auf die Kerle wir! Ihnen das Eisen in den Bauch gebohrt,« – und abermals zerfetzte er den Käse, daß die Stücke herumflogen. Dem Wirt ging es durch Mark und Bein. – »In den Bauch, daß es quietschte. Die Kerle denken, wir sind mindestens fünftausend Mann. Umdrehen und davon, das ist eins. Wir haben den Sieg. Brülljant!«
Alle waren begeistert und ließen den schönen Beo, den Helden von Orleans, hochleben. Je mehr man austrank, desto mehr wurde ja auch wieder eingeschenkt.
Nach dem Essen zeigte der schöne Beo seine dämonischen Künste. Malermeister Schenks Sohn, ein junger, träumerisch aussehender Mensch, der wallendes Haar und um die hohen Vatermörder einen fliegenden Schlips trug, war ein vortreffliches Medium. Der Zahnarzt hielt ihm die Finger vor das Gesicht. Gleich sank der junge Schenk in Schlaf. Der Zahnarzt ging rückwärts, immer die Finger vor sich hinstreckend, Schenk folgte ihm willenlos über Tische, Stühle, Bänke. Die andern sahen mit angehaltenem Atem zu. Den Buchbinder aber wollte es bedünken, als habe der junge Schenk die Augen doch nicht ganz geschlossen, sondern blinzele an gefährlichen Stellen, um sich zu vergewissern, ob er auch nicht in ein Weinglas träte. Als der schöne Beo sein Medium schließlich wieder erweckt hatte, brauste der Beifall um ihn. Das trug der Gesellschaft eine Bowle ein. Dann wurde Matthias auserwählt, damit der Zahnarzt sein Licht leuchten lassen könnte. Matthias sollte ganz fest an irgend etwas denken. Beowulf wollte es dann schon erraten. Aber damit wurde es nichts. Matthias konnte seine Gedanken auf nichts anderes richten als auf das Eine: Was ist das all für alberner Kram. Beowulf starrte ihn von vorne an, bohrte ihm den Blick von hinten in den Scheitel, um das Gehirn zu durchdringen, fing an zu schwitzen und riet hintereinander: Entenbraten … Schönes Mädchen … Pappkarton. Matthias aber mußte, obschon ihm Beowulf so zuplinkte, daß er es wohl verstand, jedesmal nein sagen. Warum sollte er unehrlich sein?
Auf den ›albernen Kram‹, an den Matthias dachte, kam der schöne Beo nicht, und der Buchbinder wurde wegen zu geringer Fähigkeit, das Dämonische zu empfinden, abgesetzt.
So ging der Abend hin. Immer heißer wurden die Köpfe, immer wirrer und häßlicher die Reden, immer stickiger die Luft, immer stärker der Trunk. Ein Schauder überlief Matthias inmitten dieser aufgeregten, jeden Unsinn bejubelnden Menschen. Das Treiben widerte ihn so an, daß er eine halbwegs passende Gelegenheit benutzte, um sich zu entfernen.
Auf dem Heimwege fiel ihm ein: das war doch eine schnurrige Mode von diesem Herrn Beowulf. Pumpte sich Taler und lud einen dann ganz unverfroren ein, sie mit durchzubringen.
Ja, so waren sie, diese Dämonischen.
*
Es ereignete sich in der nächsten Zeit noch ein paarmal, daß der schöne Beo, wie er es milde nannte, ein bißchen mit Kassa zu kurz kam, und Matthias ließ sich auch herbei, ihm auszuhelfen, denn der Zahnarzt schwor hoch und heilig, er werde an den ersten Tagen des nächsten Jahres alles auf Heller und Pfennig und sogar mit Zinsen zurückgeben.
»Was soll man machen?« meinte er. »Man stopft den Menschen so für hundert Mark Gold in die Zähne, aber ehe man dann sein Honorar dafür bekommt, nichtwahr? In meinen Büchern habe ich fünf, sechstausend Mark Außenstände. Ehrenwort! Aber Portemonnaie? Essig. Schließlich kann man doch nicht allein von Kartoffeln und Hering leben.«
Nein, das sah Matthias ein, ein wenig mehr mußte sich solch ein Mann standesgemäß schon gönnen. Es hatte ja damit auch keine Not. Der schöne Beo verkümmerte nicht an unzureichender Nahrung. Der Wirt von der ›Post‹ wußte ihm immer einen Herrentisch zu decken, auf dem Kartoffeln und Hering nur eine sehr bescheidene Rolle spielten. Und freigebig wie er war, ließ der Zahnarzt jeden, der Lust hatte, an seiner wohlbesetzten Tafel teilnehmen, und welcher Gast ihn dann noch Herr Doktor oder Herr Leutnant benamste, der konnte sicher sein, daß der St. Julien in seinem Glase so leicht nicht ausging.
Matthias lehnte jede fernere Einladung ab. Er hatte mit dem einen, in Wüstenei endigenden Abend genug gehabt.
Unter allen, mit denen er damals zusammen war, wurde nur der junge Schenk sein richtiger Bekannter. Vom Laden, wo er Schenk öfters mit Bleistiften, Zeichen- und Durchpauspapier zu bedienen hatte, lud er diesen melancholisch blickenden Menschen zu sich in seine Stube ein. Da saß der junge Mann, den Kopf in die Hand gestützt, und klagte dem Buchbinder mit weicher Stimme sein Leid:
»Wenn man Eltern hat wie ich, muß man eben zu Grunde gehen. Ich weiß, daß ich Bildhauer bin. Was habe ich gebeten, damit mein Vater mich auf die Akademie läßt! Aber nein! Ich versaure hier als Anstreichergeselle. Das Geschäft soll ich übernehmen. Das ist die Hauptsache. Das scheußliche Geschäft! Was aus mir wird, – ganz einerlei. Früher hab' ich mich aufgelehnt. Aber jetzt ist mir, ich glaub', das Rückgrat gebrochen.«
Das tat Matthias leid. Warum die alten Schenks nur keinen Bildhauer zum Sohne haben wollten?
»Vielleicht käme es Ihren Eltern zu teuer?«
Der junge Mensch lachte auf: »Teuer? Die haben Geld wie Heu. Was mein Alter sich alles zusammengepinselt und -tapeziert hat!«
»Na ja, und nun meint Ihr Vater gewiß, Handwerk hat einen goldenen Boden, aber so das Künstlerdasein …«
»Ja, das Volk vergeht in Simpelheit. Aber das schwöre ich: bin ich einmal Herr in der Bude, dann tu' ich doch noch, was ich will. Hier als Stubenmaler endigen, – brr! Heimlich arbeite ich jetzt schon in der Kunst. Ihnen will ich es anvertrauen. Ich modelliere. Eine Venus.«
»O,« sagte Matthias mit dem Ausdruck hoher Achtung.
»Ja, wenn Sie sie mal sehen wollen …« –
Gern ging Matthias mit dem jungen Schenk, um das Kunstwerk zu betrachten. In einem verfallenen Schuppen hinten auf dem Hofe des väterlichen Geweses hatte sich der heimliche Künstler sein Atelier eingerichtet. Dort stand auf einer Kiste in Lebensgröße etwas wie eine menschliche Figur. Da der junge Mensch sie eine Venus nannte, mußte man ja annehmen, daß die Gestalt als Weib gedacht war. Zu sehen war das sonst schwer, obschon die Glieder von keinem Gewande umschlossen wurden. Nebenbei, auf einer Staffelei, lehnte ein eingerahmter Stahlstich, darauf war eine Göttin abgebildet, wie sie sich anschickt, in die Fluten zu tauchen. »Damit muß ich mich als Modell behelfen,« erklärte der junge Schenk.
Matthias warf keinen vollen Blick hin – weder auf das Bild, noch auf die Statue. Dies – ohne Kleider … beklemmte ihn. Aber er war höflich und wollte doch auch Kunstverständnis zeigen. Deshalb bemerkte er: »Sehr ähnlich.«
»Ja, wenn man nur erst nach lebendigen Modellen arbeiten könnte. Aber in diesem Nest gäbe sich natürlich keine dazu her.«
»O,« meinte Matthias, und das klang wie ein Schreckensruf, »dies … so … ja … in dieser Art ginge das doch wohl nicht gut an.«
»Warum nicht?« fragte Schenk. »Meinen Sie, daß die richtigen Bildhauer nicht nach Fleisch und Bein arbeiten? Ich habe einmal von einem gelesen, dem kamen die vornehmsten Damen massenhaft auf die Bude gerückt und sagten noch bitte, bitte, daß sie ihm nur Modell stehen durften.«
Matthias errötete: »So hab' ich mir das mit der Bildhauerei nie gedacht.«
Schenk lächelte spöttisch: »Sie sind wohl ebenso wie meine Alten? Die halten auch alles, was nicht in Wolle gewickelt ist, für unanständig.«
»Nein, so am Ende doch nicht,« wehrte sich Matthias. »Ich kann es mir nur nicht vo0rstellen …« Nun faßte er sich und vertrat ehrlich seine Meinung: »Doch wohl! Ja, offen gestanden, – es wäre nichts für mich.«
Schenk zuckte die Achseln: »Dann entschuldigen Sie nur, daß ich Ihnen dies hier gezeigt habe, und verraten Sie mich nicht. Wenn meine Mutter es entdeckt, schlägt sie mir die ganze Geschichte mit dem Besenstiel zusammen.«
Er nahm ein Tuch, feuchtete es im Wassereimer an und umhüllte die Venus. Das war eine Wohltat für Matthias. Gleich wurde er wieder munterer:
»Bei mir ist Ihr Geheimnis gut aufgehoben, und ich freue mich auch, daß ich es sehen konnte. Ganz sicher, wenn ich es sagen soll, Sie müßten Künstler werden.«
Dieser Ausspruch tat der Bildhauerseele wohl. Der junge Schenk erhob den Buchbinder zum Vertrauten, und wenn Matthias auch vor manchem lockeren Worte, das seinem Bekannten entschlüpfte, Scheu empfand: es reizte ihn doch, mit dem Malermeisterssohne zu verkehren. Erst einmal brauchte der Mitleid, weil er nicht das werden und sein durfte, was er gern wollte, und wo Matthias von der Herzensgabe des Mitgefühls zu spenden vermochte, da war er stets bereit dazu, – dann aber: er konnte vieles von dem jungen Schenk lernen, in Geschmacksdingen und Ansichten. So ein Künstler sah doch manches anders, gewissermaßen poetisch an. Matthias in seiner gesunden Nüchternheit und Einfachheit bewunderte oft, wie empfindsam und zart der junge Schenk fühlte und dachte. Der litt von einem grell bemusterten Papier schon Schmerzen. Das wäre Matthias nie eingefallen. Ja, fein besaitet, diese Künstler!
Matthias erfuhr allerhand Neues und bereicherte sich daran. Die beiden jungen Leute, von denen Schenk stets etwas herablassend weltschmerzlich tat, freundeten sich mehr und mehr an, und Matthias wagte es schließlich auch, vor der Venus die Augen aufzuschlagen. Er hätte sich ja sonst schämen müssen, weil er nichts von Kunst begriff. Nur – recht behaglich wurde es ihm angesichts des hüllenlosen Tongeschöpfes doch nie zu Mute. Seine Keuschheit, mochte Schenk sie als Philisterei verspotten und sich bemühen, sie dem Buchbinder abzugewöhnen, verlangte es nun einmal nach ehrsamen Kleidern. –
Weihnachten kam, und wenn sich die Tweetenhorner Jugend auf dem Eise des Pferdebornes die Beine müde gelaufen hatte und mit den aneinander klirrenden Stahlschuhen nach Hause trollte, so machte sie erst noch bei Clasen Halt: was da für eine wunderschöne Krippe im Ladenfenster zu sehen war! Vom Jesuskinde strahlte natürliches Licht auf den ganzen Stall aus, und dahinten die Stadt Nazareth hatte zur Feier der hochheiligen Nacht alle ihre Fenster rot, grün, gelb illuminiert. Vor der Hütte aber weideten die Öchslein und die Schäflein, und über dem Palmenbaume schwebten die Engel mit goldenen Flügeln und schwangen ein breites Band, worauf die frohe Botschaft zu lesen war.
Für dies Werk, das Matthias mit Liebe zusammengeklebt hatte, erntete er viel Lob. Überhaupt konnte er recht zufrieden sein. Seine Kasse füllte sich in dieser Zeit tüchtig. Es brauchte ja doch schließlich jeder, selbst der Ärmste, seinen Bogen Seidenpapier für die Weihnachtsbaumrosen und sein Tüpflein Schaumgold für die Nüsse. Klapperten auch meist Pfennige durch den Spalt im Ladentische, – ihrer hundert gaben schon eine Mark, und von dieser Münze dann wieder zehn genommen, – so rundete sich schon ein goldenes Stück.
Der Weihnachtsabend war wenig erquicklich. Zwar die Kiste von Haus: das war eine Wonne, Mutters Herrlichkeiten auszupacken und Stück für Stück zu streicheln, als sei es Mutters liebe Wange selbst. Aber nachher mußte Matthias oben bei Clasens sitzen. Da gab es kein Vergnügen. Die alte Amundsen hatte sich erbitten lassen und war hinunter gekommen. Sie saß mürrisch und stierte scheinbar vor sich hin, in Wahrheit jedoch beobachtete sie alles. Der Zahnarzt legte Fine den Arm um die Hüfte.
»Dat hört sick nich,« sagte die Alte.
»Na aber, Großmutter!« meinte Beowulf gemütlich, »wenn man doch bald Mann und Frau ist!«
»All nich wohr!«
Da war schwer gegenan zu reden. Matthias begann: »Jetzt wo die Bäume kahl sind, haben Sie doch wenigstens ein bißchen Aussicht auf den Markt, Frau Amundsen.«
»Bruuk ick gornich. Will gor keen Lüüd sehn. De richtigen olen Tweetenhorner gifft dat doch nich mehr.«
»Na, die neuen sind auch nicht schlecht, Frau Amundsen,« meinte Matthias.
»All nich wohr.«
Achselzucken … Schweigen. Frau Clasen machte nur immer: »Sch, sch.« Es sollte ja niemand Großmutter widersprechen. Fine häkelte nach Kräften und schob ihren Bräutigam, wenn er sich ihr näherte, möglichst weit beiseite. Es schien Matthias, als ob die Lichter am Baum nur unlustig brannten, so dick war die Luft.
»Gute Nacht.« Das war das Wort, das ihm an diesem Abend am leichtesten über die Lippen kam.
Am nächsten Sonntage ging er mit dem jungen Schenk auf der Straße. Da öffnete sich beim schönen Beo das Fenster, der Zahnarzt lehnte heraus, machte ein Sprachrohr aus seinen Händen und rief hinter den beiden her, daß ganz Tweetenhorn davon gut hatte:
»Du! Arthur!«
Der junge Schenk drehte sich um: »Na?«
»Heute Abend … nicht verpassen. Kolossaler Weihnachtspunsch!«
»Pünktlich zu Stelle,« war die Antwort. »Meinst du, daß ich dir die ganze Terrine allein überlasse?«
»Brülljant! Jetzt sind wir schon fünfzehn Mann. Herr Tedebus, wenn Sie Lust haben –«
»Nee, nee,« winkte Tedebus ab.
Er und Schenk schritten weiter.
»Bin bloß neugierig, wie lange der sich hier noch hält,« sagte der heimliche Bildhauer.
»Wie denn? Er hat doch große Praxis.«
»Ja. Aber –! Hat er Sie noch nicht angepumpt?«
Matthias wollte verschwiegen sein: »Ich …«
»Selbstverständlich. Hier ist ja keiner, dem er nicht das Portemonnaie erleichtert hat.«
»Nun, wenn er richtig wieder bezahlt –«
»Da können Sie lange lauern. Den kenn' ich.«
Matthias war verwundert. Melancholisch, wie Arthur Schenk sonst sprach, klang das gar nicht. Hämisch klang es. Matthias fragte stutzig: »Ich denke, Sie sind Freunde.«
»Wieso?«
»Nun, Sie nennen sich doch du.«
»Ach, was das sagen will! Das ist mal so bei einer Kneiperei gekommen.«
»Und Sie helfen ihm bei seinen Kunststücken.«
Arthur Schenk lachte wieder auf und schüttelte dabei den Kopf, damit ihm die langen Haare von den Schläfen nach hinten fielen:
»Als ob ich an den Schwindel glaubte!«
»Nein? Neulich, als er Sie hypnotisierte …«
»Ich und mich hypnotisieren lassen! Von dem! Ich tu' ihm den Gefallen, weil es mir Spaß macht, und stelle mich so an.«
»Ja, das wollte mir freilich auch so scheinen.«
»Aber er denkt am Ende selber, er kann mich in Schlaf kriegen. Der ist eben so eingebildet wie dumm.«
»Viele Reisen hat er doch gewiß gemacht. Und dann die Kriegsjahre.«
»Der? Krieg? Der weiß ja kaum aus der Landkarte, wo Frankreich liegt.«
Matthias war empört: »Nein, nein, Herr Schenk! So dürfen Sie nicht hinter seinem Rücken reden. Wenn Sie ihm nicht glauben, dann können Sie doch auch nicht mit ihm umgehen.«
»Ach, man kann noch ganz was andres,« entgegnete Arthur Schenk wegwerfend.
Was er da hörte, das wollte dem ehrlichen Matthias nicht in den Kopf. Er suchte, sobald als möglich von Schenk loszukommen. Dann, als er allein war, dachte er nach. Heute hatte er den jungen Schenk in einem ganz andern Lichte gesehen als gewöhnlich. Zart besaitet? Nun, wer solche Redensarten führte und so schlecht über seinen Nächsten sprach, den mußte man doch eigentlich eher, – wie sollte man sagen? – ja, eher grobdrähtig nennen. Und dann die Unaufrichtigkeit in Arthur Schenks Gebaren gegen den Zahnarzt. Die war es, über die sich Matthias am meisten entrüstete. Mit jemand Brüderschaft trinken und ihn dann eingebildet und dumm heißen, – nein, das ging nicht an. Da war ein Falsch in der Künstlerseele, den der herzenseinfältige Buchbinder nicht verzieh. Im Augenblicke wurde er kalt gegen den jungen Schenk gesinnt. Er verteidigte auch den schönen Beo bei sich. Es konnte doch nicht alles gelogen sein, was der vom Kriege erzählte, wenn er denn auch allerhand Zutaten zu seinen wirklichen Taten fügte. Und auch sonst: ein so gewissenloser Mensch, wie Schenk behauptete, war das sicherlich nicht.
Derlei Erwägungen machten ja nun dem Buchbinder alle Ehre, und gewiß war es nur gerecht, daß er den Zahnarzt wider Arthur Schenks allzustarke Herabsetzung und Gehässigkeit bei sich in Schutz nahm, aber in einem, noch dazu für Matthias schmerzlichen Punkte hatte Arthur Schenk doch wahrgesagt: die ersten Januartage kamen, indessen wer dem Buchbinder nicht die geliehenen Taler nebst Zinsen zurückgab, um auf die Art sein hohes und heiliges Ehrenwort einzulösen, das war der schöne Beo.
Ganz unbefangen trat er zu seinem Gläubiger hin: »Tut mir schauderhaft leid. Bin aber leider wieder ein bißchen mit Kassa zu kurz gekommen. Na,« – und würdevoll strich er sich die Bartenden über die Schultern hin, »schließlich kommt es ja unter Ehrenmännern auf ein paar Wochen früher oder später nicht an. Übrigens,« – er richtete sich auf und sah Tedebus mit seinem dämonischen Blick an, »wenn Sie mir heute für alle Fälle wieder mit zehn, zwölf Talern …«
Der dämonische Blick versagte.
»Das ist mir unmöglich,« entgegnete Matthias trocken.
»Ja, sehen Sie,« sagte der schöne Beo, »so was kann mich nun als Kavalier verstimmen.«
Kaum grüßend schritt er von dannen.
Der will wohl hier noch den Beleidigten spielen, dachte Matthias. Nun ja, ein bißchen stimmt es schon mit der Eingebildetheit. Hm. Man soll sich in acht nehmen. Vielleicht taugen sie alle beide nicht viel, die Punschbrüder da.
*
Matthias bekam es wohl zu merken, daß er den schönen Beo verstimmt hatte. Fine wurde auf einmal merkwürdig kühl gegen ihn. Viel sprach sie ja auch sonst nicht, jetzt aber wandte sie bei Tisch den Kopf halb von dem Buchbinder weg und richtete ihre Worte nur an die Mutter. Diese, die da fühlte, daß irgend etwas in der Luft lag, bemühte sich nun, um so redseliger zu sein und vor allem ihrem Tischgaste Angenehmes zu sagen, damit Finens Unfreundlichkeit aufgewogen würde. So war sie unruhig und hastig und aß kaum, vor Sorge, daß das Gespräch je stocken könne.
Für Tedebus waren das beides Qualen: die sich überstürzenden Reden der Mutter und das eisige Schweigen der Tochter. Gegen beides sah er sich machtlos. Ihm ahnte, ja, er war überzeugt davon, daß der Zahnarzt, der ihn jetzt beinahe wegwerfend behandelte, irgend etwas Ungünstiges von ihm berichtet hatte. Die reine Wahrheit hatte er seiner Braut jedenfalls nicht eingestanden. Aber wie sollte Matthias eine Aussprache mit Fine herbeiführen? Er konnte doch nicht davon anfangen, daß Beowulf zum so und so vielten Male habe Geld von ihm leihen wollen, und ebenso wenig konnte er Frau Clasen, die ihn beim Essen unaufhörlich nötigte, zur Ruhe bringen.
Es war ein unbehaglicher Zustand.
Matthias hätte am liebsten seine Mahlzeiten anderswo eingenommen, aber das brachte er aus Rücksicht auf die Witwe auch nicht über das Herz.
Äußerlich blieb alles, wie es gewesen war, innerlich aber wurde Matthias den Frauen fremder als zu Anfang. Sein gutes Gewissen ermahnte ihn, stolz zu sein. War Fräulein Josefine schnippisch, so brauchte er sie ja nur nicht anzusprechen. Dann konnte sie ihm beim besten Willen nichts tun, was ihm peinlich sein mußte. Matthias reckte sich auf, warf den Kopf in den Nacken und nahm einen etwas kurzen Ton an, der ihm freilich nicht recht lag, der aber jetzt hier notwendig war.
Er ließ hin und wieder, sich gegen sein eigenes, bescheidenes Empfinden auflehnend, durchblicken, daß er doch der eigentliche Herr des Hauses sei. Ja, er spielte sogar darauf an, daß er nun doch in etlicher Zeit daran denken müsse, sich in diesem seinem Heim auch einen eigenen Herd zu setzen. Dann kam in Frau Clasen die fliegende Angst auf. Sie machte sich im Laden nützlich und übernützlich. Sie säuberte Matthiassens Stube, daß auch nicht ein Stäubchen dalag, schmückte sie mit allen möglichen Decken und Bildern aus, und ihr Gesicht glühte, – solange stand sie vor dem Feuer, um das Beste zu kochen. Auf die Art wollte sie Matthias eine Frau ersetzen, damit er die häßlichen Heiratsgedanken beiseite schob.
»Nur so lange Großmutter noch bei uns ist!« war ihre ständige Bitte. Matthias versprach nichts.
Fine zuckte die Achseln. Was ging es sie an, wie es hier im Hause wurde? Sie war ja jetzt bald Frau Zahnarzt Beowulf.
Weil aber das Leben in den vier Wänden nun nicht mehr mit dem Behagen und der Harmlosigkeit erfüllt war, die früher herrschten, so suchte Matthias außerhalb ein wenig Vergnügen. Er trat in die Harmonie ein; das war er schließlich auch seiner Stellung und seinem Geschäfte schuldig. Er mußte sich schon unter den Leuten sehen lassen, und da er des Gesanges nicht unkundig war, so empfing ihn Hauptlehrer Fromm, der den Harmoniechor leitete, mit Freuden. Schon beim nächsten Konzerte sang Matthias ein Duett zusammen mit Arthur Schenk, und die Tweetenhorner fanden, daß die beiden Stimmen – der frische, helle Bariton des Buchbinders und der weiche Tenor des unterdrückten Bildhauers – herrlich zu einander paßten. Der Erfolg stachelte Matthias an. Er vergaß so ziemlich, daß er sich eigentlich von Schenk hatte zurückziehen wollen. Die zwei übten sich manches Lied ein, und die Liebe zur Musik, in der sie übereinstimmten, bewirkte dann, daß zuletzt doch so etwas wie ein freundschaftliches Denken für den Malermeisterssohn in Matthias aufkeimte. Das hielt ihn auch im Übrigen an diesem Menschen fest. Was er aus Schenks Munde nicht gern hören mochte, – nun, er gab sich Mühe, es zu überhören. Manche guten Winke über Tweetenhorner Leute und Dinge bekam er doch von Arthur, und es konnte ihm wahrhaftig nicht schaden, wenn er ein bißchen weltklüger wurde, als er bisher gewesen, war.
So trat Matthias Tedebus ins Leben hinaus. Es war, als ob er noch wüchse. Tapfer und fest, die Nase selbstbewußt in die Luft streckend, zog er seiner Wege und war bald ein Mann, mit dem man rechnete. Weder der Pastor noch der Doktor verschmähten es, sich mit dem Buchbinder eine Stunde zu unterhalten, und die Familienväter, die unbegebene Töchter hatten, stießen in der Harmonie mit ihm an und luden ihn zu einem netten Pot Sechsundsechzig nach ihrem Hause ein.
Ein richtiger Weltmann wurde Matthias Tedebus, und so kam er über die paar Minuten bei Clasens immer leichter hinweg, zumal da Fine, als sie beobachtete, wie wenig er sich aus ihrer Kühle machte, nun wieder anfing, sich zu ihm zu wenden und noch freundlicher zu sein als früher.
Frau Clasen atmete darüber auf und ließ in ihren Anstrengungen um Matthias herum etwas nach. Der aber behielt seinen kurzen Ton bei und lehnte es auch in aller Höflichkeit ab, als der schöne Beo, der jetzt in dem Buchbinder ein am Tweetenhorner Himmel aufgehendes Gestirn sah, ihn mit seiner dämonischsten Liebenswürdigkeit einzuhüllen versuchte. Matthias mahnte den Zahnarzt sogar, ganz geschäftlich, an die Schuld, und er bekam dann wenigstens die eine Hälfte des Seinigen zurück.
Ja, man sollte nur auftreten, dann hatte man die Leute schon in der Tasche! –
Um Pfingsten kamen Frau Tedebus und ihre Tochter Clara nach Tweetenhorn. Matthias hatte ihnen das beste Zimmer in der ›Post‹ gemietet und war mit seiner ganzen fröhlich-kindlichen Liebe geschäftig, um seiner Mutter und auch seiner Schwester die Tage so reich und so schön zu machen, als nur anging. Sein Schaufenster war zu Ehren des hohen Besuches mit dem feinsten rosa Briefpapier ausgeziert.
Mutter Tedebus, eine kleine, stille, feine Frau, deren Blick den Menschen leicht ins Herz drang, schaute sich die Hausgenossen ihres Sohnes aufmerksam an und meinte dann:
»Es wird doch gut sein, Matthias, daß du dir eine bezahlte Hülfe für den Laden nimmst.«
»Warum?« warf Clara ein. »Er kann ja auf diese Art sparen.«
»Das Sparen kann ihm noch einmal teuer zu stehen kommen,« entgegnete die Mutter. »Ich würde mich nicht so von Frau Clasen zu Dank verpflichten lassen.«
»Ja, Mutter,« gab Matthias zögernd zu, »du magst Recht haben. Es hat sich nur diese Ostern mit dem Lehrling noch nicht gemacht. Aber nächstes Jahr …«
»Ich würde nicht so lange warten, mein Junge.«
Der schöne Beo, der ihr die Hand küßte und es brülljant fand, daß sie aus dem hohen Norden hierher gekommen war, zwang Frau Tedebus nur eine geringe Achtung ab.
»Wenn Fräulein Clasen nur eine glückliche Frau wird,« sagte sie bedenklich.
Clara, weil sie auch Braut war, fühlte eine gewisse Gemeinsamkeit des Standes mit Fine. Die Mädchen waren viel zusammen. Es gab genug zu besprechen, was man alles in der Aussteuer haben mußte.
Frau Tedebus bat, daß sie und ihre Tochter auch der Großmutter, wie es sich ziemte, die Aufwartung machen dürften. Sobald sie aber davon anfing, geriet Frau Clasen in ihre Unruhe und strebte danach, diesen Besuch immer wieder hinaus zu schieben. Das war für Matthiassens Mutter Grund genug, in aller Sanftheit ihren Willen durchzusetzen, und so wurde denn wirklich der alten Amundsen eines Nachmittags feierliche Visite abgestattet.
Frau Clasen wich den Besucherinnen nicht von der Seite.
Nachher saßen alle fünf, die Witwe, Fine und Matthias mit den Seinigen, beim Kaffee in Frau Clasens Wohnstube. Frau Tedebus war befremdet. Erst drängte sie ihre Worte zurück, dann aber ließ es ihr keine Ruhe. Sie wollte klar sehen.
»Sagen Sie mir, liebe Frau Clasen,« begann sie, »es ist mir so aufgefallen bei Ihrer lieben Mutter: die sprach immer von fremden Leuten hier im Hause.«
Fine zuckte zusammen; sie eilte der Mutter zu Hülfe: »Ach, an solche Redensarten soll man sich bei Großmutter nicht kehren.«
»Aber sie ist sonst doch so scharf in ihrem Denken,« beharrte Frau Tedebus.
»Ja, ganz,« bestätigte Clara.
»Fremde Leute hier im Hause,« wiederholte Matthiassens Mutter, »das klingt beinahe, als ob sie denkt …«
Da brach Frau Clasen plötzlich in lautes Weinen aus. Fine ging zu ihr, um sie zu stützen: »Laß doch, Mutter! Nimm dich zusammen!«
Das hörte sich mehr ärgerlich als besorgt an. Frau Clasen aber hemmte ihre Tränen nicht und barg das Gesicht ins Taschentuch.
»Gute Mutter,« bat Matthias, »sollen wir nicht lieber …? Frau Clasen ist angestrengt …«
»Gewiß, gewiß,« sagte Frau Tedebus und erhob sich. »Weh tun wollte ich Ihnen nicht, liebe Frau Clasen.«
Die schluchzte noch immer, dann aber, als sie sah, daß Frau Tedebus mit Matthias und Clara sich anschickte, die Stube zu verlassen, winkte sie ihnen:
»Es hat mir ja immer beinahe das Herz abgedrückt. Ich muß es ja doch einmal sagen.«
»Nein, Mutter!« rief Fine.
»Was denn?« fragte Clara scharf.
»Ach, – ganz überflüssig. Geht niemand was an,« erwiderte Fine und setzte eine so mürrische Miene auf, daß Matthias sie der Großmutter ähnlicher fand als je.
»Seien Sie mir nur nicht böse, Herr Tedebus!« flehte Frau Clasen. »Ich konnte ganz gewiß nicht anders!«
Matthiassens Mutter redete ihr gütlich zu: »Wenn irgend etwas ist, vertrauen Sie es uns doch an. Wir meinen es alle gut mit Ihnen.«
Frau Clasen warf noch einen scheuen Blick auf ihre Tochter. Die drehte sich um: »Tu, was du nicht lassen kannst.«
Claras Züge waren vor Wißbegier gespannt. Matthias wurde bei dem Weinen und bei dem Streit zwischen den Clasenschen Frauen verlegen. Seine Mutter aber streichelte jetzt Frau Clasen die Wange, und so erleichterte die Witwe denn endlich unter manchem Aufschluchzen ihr Herz:
»Großmutter meint ja, daß wir nur das Geschäft verkauft haben. Von dem Haus weiß sie nichts. Sie hätte es nie gelitten, daß das Haus aus der Familie kam. Sie hat es von ihren Eltern geerbt, und mein Mann hat es dann gekauft, als er hier die Buchbinderei übernahm.«
»So gehörte es doch Ihnen, und Sie konnten damit vornehmen, was Sie wollten,« sagte Frau Tedebus.
»Ja, aber … mein Mann hat nicht viel gespart. Wir könnten davon nicht leben. Wenn meine Mutter uns nichts zugäbe …«
Fine spielte mit den Fingern auf der Fensterscheibe herum und atmete beklommen. Frau Clasen fuhr fort: »Und wenn Mutter uns böse wird, – das ist schon einmal so gewesen, – dann behält sie alles für sich. Und sie würde furchtbar böse, wenn sie das mit dem Haus hörte.«
»Aber,« fragte Matthias, »warum haben Sie denn eigentlich beides aus der Hand gelassen, Haus und Geschäft?«
»Ja,« erzählte Frau Clasen, »Fine wollte sich verloben, und da wäre am Ende nichts danach gekommen, wenn –«
»Nein!« stieß Fine hervor, – »das brauch' ich nicht mit anzuhören! Hier vor allen Leuten –!«
Sie ging aus dem Zimmer und schlug die Tür heftig hinter sich zu.
»So ist es doch,« versicherte Frau Clasen, »Herr Beowulf brauchte Geld, damit er sich hier einrichten konnte. Die Zahnarztmaschinen sind teuer. Und dann will er ja ein Haus für die Quelle in seinem Garten bauen und hat was drucken lassen über Tweetenhorn. Ich weiß mit alledem nicht Bescheid. Bloß das weiß ich: wenn wir ihm nicht hätten die tausend Mark geben können, so wäre aus der Verlobung nichts geworden. Und wo Fine ihn doch so gerne leiden mochte …«
»Tausend Mark!« rief Matthias bestürzt. »Die hat er schon von Ihnen?«
»Ja,« antwortete Frau Clasen, »und die andern tausend kriegt er bei der Hochzeit. Woher sollten wir das Geld nehmen? Da habe ich hinter Mutters Rücken auch das Haus angezeigt. Aber bitte, bitte, verraten Sie mich nicht! Ich lebe ja so schon in einer Angst, daß jemand hier herauf kommt und es ihr sagt. Sie muß glauben, daß das Haus noch unser eigen ist. Sonst geht es uns schrecklich, und Großmutter stirbt uns, ehe wir uns umsehen. Sie hält es nicht aus, bei Fremden zu wohnen. Sie will es eben nicht aushalten.«
Frau Tedebus sah mitleidig auf die Weinende. Was hatte diese arme Frau für einen harten Kampf zu kämpfen gehabt und kämpfte ihn noch. Als Tochter wollte sie der Mutter, der sie trotz aller erfahrenen Härte ein langes Dasein wünschte und von deren guter Laune sie abhing, dienen und gehorsam sein und ihr alles so bewahren, wie die Alte es Zeit ihres Lebens gewohnt war, und als Mutter hatte sie alles getan, um der eigenen Tochter zum Glück zu verhelfen. Gar zu billig wäre es da zu predigen: ›Du sollst nicht lügen.‹ – War nicht hier die Unwahrheit das einzige Mittel gewesen, damit Tochterliebe und Mutterliebe wenigstens einigermaßen nebeneinander bestehen konnten? Aber trotzdem, wenn man auch in der Witwe beides, die Tochter wie die Mutter, und dann dazu noch die um ihr Auskommen bangende Frau verstand: die Lüge blieb nun doch einmal die Lüge, und es bekümmerte Frau Tedebus schwer, daß ihr Sohn unter einem Dache wohnte, wo es derlei Unreinigkeit gab.
Dieser Kummer schob ihr Mitleid mit Frau Clasen etwas zurück. Sie sprach ein paar tröstliche Worte: Frau Clasen sollte keine Furcht hegen, – sie selber würden, so lange es nur irgend anging, alle Rücksichten auf Frau Amundsen nehmen. Aber als sie nachher mit ihrem Sohn und Clara allein war, warnte sie Matthias:
»Da oben wuchert Schwamm an der Mauer, mein Junge. Halte dir wenigstens die Wände hier frei davon.«
»Ich würde es mir überhaupt nicht gefallen lassen,« bemerkte Clara. »Du hast hier im Hause zu sagen, und das muß jeder wissen.«
Die letzten Tage, daß Mutter und Schwester bei Matthias waren, verliefen nicht ganz so fröhlich wie die ersten. Was sie von Frau Clasen erfahren hatten, bedrückte sie alle drei, und es war für Matthias noch besonders peinvoll, daß er sich gegen Claras unmilde Reden wehren mußte.
Beim Abschiedskusse sah er aber der Mutter mit seiner ganzen, gesunden Zuversicht ins Auge:
»Keine Bange! Ich werde schon mit denen da fertig!«
»Bleib' du mir nur, wer du bist, mein Junge.«
»Ich und mich ändern!«
»Ich glaub' es ja auch nicht.«
»Paß auf! So bin ich!« Matthias stellte sich stämmig hin. »Wer mit mir auskommen will, für den heißt es einfach: biegen oder brechen!«
Da legte die Mutter noch einmal ihren Arm zärtlich um seinen Nacken, und ihr Antlitz überflog ein Schatten … von Wehmut … von Ahnung … wer weiß?
»Gott bewahre denn nur meinen lieben Jungen davor, daß es jemals für ihn selber heißt: biegen oder brechen!«
*
Nun wurde das ein seltsames Spiel. Matthias wollte sich anders, weiter entfernt zu den Clasens stellen, aber er war nun doch mal ins Vertrauen gezogen. Das ließ sich nicht wieder auslöschen, nicht vergessen. Es war sogar selbstverständlich, daß er jetzt noch mehr von den Clasenschen Familiengeschichten erfuhr. Denn worüber sollte die Witwe mit ihm reden? Tedebus war in ihren Augen der Herr ihres Geschickes geworden. Ein Wort von ihm, und alles, was sie künstlich genug um ihre Mutter herum aufgebaut hatte, brach in sich zusammen. Dann konnte sie am Ende ins Elend wandern. Darum galt es, diesen Herrn günstig und gnädig zu stimmen. Das ging aber am besten, wenn sie ihm von der Herzensseite kam. Er war ja so gut … Und so nützte sie dem Vertrauten, um ihm immer vertrauter zu werden.
Er hielt sich zurück, soviel er vermochte. Er mied jede Frage. Aber die Ohren konnte er nicht verschließen, und sein Herz, wie sehr ihn das auch ärgerte, war noch hellhöriger als seine Ohren: wo es nur etwas zu bemitleiden gab, da ging es seinem Besitzer durch.
Ja, Matthias vernahm manches: Freude hatte noch nie in diesem Hause gewaltet. Weshalb war Großmutter so verbittert geworden? Das hatte seinen schlimmen Grund. Sie hatte ihren Mann, den Amundsen, der als wandernder Buchbinder nach Tweetenhorn gekommen war, gegen den Willen ihrer Eltern geheiratet, weil sie wähnte, ohne ihn nicht leben zu können. Die Eltern hatte sie sich dadurch beinahe zu Feinden gemacht. Es dauerte lange, bis die den Schwiegersohn überhaupt nur grüßten. Und dann erlebte die junge Frau die schwere Enttäuschung: Amundsen hatte es nur auf ihr Erbe abgesehen. Er war ein roher, jähzorniger Mensch, der einen schlechten Streich auf den andern häufte und die ganze Familie in bösen Ruf brachte. Frau Amundsens Eltern siechten unter diesem Kummer dahin, und die junge Frau selbst, wenn nicht ihr Ererbtes in wenig Jahren vergeudet sein sollte, mußte sich gegen ihren Mann mit aller Kraft zur Wehr setzen. Damals war der Geiz in ihr aufgewachsen. Amundsen machte Schulden über Schulden. Wollte sie das Geld nicht hergeben, um seine Verbindlichkeiten zu lösen, so gab es schreckliche Dinge hier im Hause.
»Mein Gott! Ich habe mich hinter die Bettstellen verkrochen,« erzählte Frau Clasen, »und ewig seh' ich, wie mein Vater mit dem Hammer auf meine Mutter losfuhr. Eben und eben wich sie ihm noch aus, sonst wäre das Schrecklichste passiert. Aber dann fiel sie in Ohnmacht und wäre auch so fast gestorben. Zuletzt hatte mein Vater in der Stadt so viel Unheil angerichtet, daß er vor Gericht geführt werden sollte. Da ist er bei Nacht und Nebel davon gegangen, und wir haben nie mehr was von ihm gehört. Soll ich meine Mutter, wo sie das alles durchgemacht hat, nicht verstehen, und soll ich nicht alles tun, um ihr Liebe zu beweisen?«
An diesen traurigen Eindrücken aus ihrer Jugend haftete Frau Clasen. Was später geschehen war, ihre eigene Ehe und der frühe Tod ihres Mannes, – das war alles blaß dagegen. Matthias begriff nun, warum die alte Frau da oben sich hinter den dichten Linden verborgen hielt und nicht gern fremde Leute im Hause sah. Er begriff es, aber er wünschte doch, es möchte erst soweit sein, daß er dem ganzen Hause ein anderes Gesicht geben konnte. Ihm wollte es vorkommen, als sei so ein Haus ein lebendiges Ding und als müßten sich die Menschen, die darin geboren waren und ihre Wohnung hatten, nach dem Wesen ihres Obdaches formen.
Nun, ausharren! Die paar Jahre, die es wirklich mit Großmutter nur noch dauern konnte, wollte er sich schon sein eigenes Wesen bewahren und sich nicht von den Mauern um ihn herum gestalten lassen. Nachher kam die Zeit, wo er hier Luft und Licht hereinbrachte. Dann war es ein anderes, ein fröhliches Heim für fröhliche Menschen. In diesem Gedanken fand Matthias seine Ruhe. Er war freundlich gegen Frau Clasen und auch gegen Fine, die ihm bald mit einer Art Trotz und dann wieder sich einschmeichelnd gegenübertrat. – Auch jetzt blieb es also in diesem Hause am Tweetenhorner Markte, wie es gewesen war.
Das Schicksal wollte nicht, daß der junge Buchbinder die Scheidewand zwischen sich und den Frauen aufrichtete.
Wir Menschen aber, die wir gern stolz tun und zum Troste über das wahre Gefühl unserer elenden Gebundenheit damit prahlen und uns damit betrügen, daß wir uns unsere Wege selber aussuchen können, wir geben solch einem Schicksale, wenn das Leben erst unter seinem Zwange zerbrach, in lauter Scheinweisheit und Selbstgerechtigkeit den Namen Schuld.
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