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Alles war still. Dunkel zog sich der Wall des Laufgrabens, der wie ein langgestreckter Hügelrücken aussah, in die Nacht und verschwand darin. Der niedrigstehende, dunstigrote Neumond warf schwache Helligkeit auf die im Graben schlafenden Soldaten; einige Gewehrläufe blinkten.
Marks lag mit dem Rücken gegen den Wall, blinzelte in den mächtigen Lichtkreis und mühte sich dann, die ferne Bergkette der Vogesen zu erkennen; je länger er hinsah, desto mehr flimmerte es vor seinen Augen; und glaubte er, etwas zu unterscheiden, so zerfloß es schon wieder, und die Nacht stand wie eine grenzenlose schwarze Wand vor ihm. Er lag so seit neun Uhr und konnte nicht schlafen; die Gewißheit, daß es um zwei Uhr nachts zum Hauptangriff gehen sollte, hatte ihn, der sonst immer gleichmütig war, doch etwas unruhig gemacht. Er hatte ja auch außer einigen unbedeutenden Plänkeleien nichts mitgemacht – aber diesmal galt es den ersten großen Kampf im Kriege. Ungerufen bohrte Nachdenken in seinem Hirn, und es sauste vor seinen Ohren.
Er hatte erst vor einem halben Jahre seine einjährige Dienstpflicht abgeleistet und hatte dann gleich wieder sein Medizin-Studium in Göttingen aufgenommen. Da brach der Krieg aus. Um nicht vorläufig untätig bei seinem Truppenteil stehen zu müssen, hatte er sich mit einigen anderen Studenten sofort als Freiwilliger an die Grenze gemeldet. Man hatte sie in diese Kompanie gesteckt, um den Mannschaftsbestand, der bei dem ersten, blutig zurückgeschlagenen Ansturm auf die Südforts der Festung sehr gelichtet war, zu ergänzen. Die Infanterie hatte sich nach dem verfehlten Angriff rings um die Festung eingegraben, schweres Haubitzenmaterial war herbeigeschafft worden, und seit fünf Tagen hatte ununterbrochen das Bombardement gedröhnt. Die Belagerungstruppen waren durch das unaufhörliche Donnern schon apathisch geworden; verwundert hatten alle aufgehorcht, als in den letzten zwei Nächten die rauchenden Eisenmäuler verstummten und auch der eingeschlossene Feind nichts erwiderte. Das Nordfort hatte seit vorgestern lange Pausen geschwiegen und zwischendurch unregelmäßig und schwach gefeuert. Man vermutete hier den wunden Punkt und hatte daher, nachdem noch bayrische Verstärkung eingetroffen war, heute, den ganzen Tag über, fast sämtliche Kräfte vor dies Fort konzentriert. In den verlassenen Verschanzungen waren nur Reservetrupps und die Artillerie zurückgelassen, die durch fleißiges Schießen den Feind zu täuschen hatten. Die Pioniere mußten nachmittags, trotz unangenehmen Kleingeschützfeuers des Forts, neue Schanzrillen vorgraben, um den gefährlichen, dem schlimmsten Kugelgeprassel ausgesetzten Weg in der aufsteigenden Ebene für den nächtlichen Sturmmarsch abzukürzen. Alle Truppen wurden nach und nach in die neuen Stellungen vorgeschoben. Dann wurde um neun Uhr abends zum Schlafen geblasen, und endlich trat Ruhe ein. Dort, in den ersten Verschanzungen, schliefen nur die Pioniere, die müden Burschen, ihre paar Stunden. Dahinter lag die Infanterie.
Plötzlich fährt Marks erschrocken zusammen und faßt krampfhaft nach dem Gewehr – ein dumpfes Rutschen und Metallklingen hört er nicht weit von sich – er sieht scharf hin – es war nur ein Soldat, der sich zu hoch an den Wall gelegt hatte und in unruhigem Schlaf heruntergesunken war. Der Helm war über Seitenkoppel und Gewehr gekollert – der Mann aber wachte nicht auf. Marks zog die Uhr hervor und hielt sie gegen den Mond: genau zehn! Langsam drehte er sich herum und schob sich hinauf – er sah eine verschwommene, dunkel ausgebreitete Silhouette: die Bodenerhebung, auf der die Festung lag – er hörte von irgendwo den Tritt des Wachtpostens, aber er sah niemanden – leise kroch er wieder hinab, zwischen den Schläfern hindurch, legte sich dann auf die Seite, schloß die Augen und versuchte einzuschlafen. Aber es ging nicht; sein Gehör überschärfte sich, und es sauste erregt darin. – Tiefe Atemzüge und hier und da eine unwillkürliche Bewegung oder wirres, aus gequältem Träumen kommendes Gestammel – und wieder tiefes, todmüdes Atmen weithin! Scharrendes unbestimmtes Geräusch dringt her, und ein Klirren – wahrscheinlich sind es die Pferde von den Proviantwagen oder leichten Geschützen, dachte er. Neben ihm schnarchte jemand immer röchelnder und unheimlicher. Marks gähnte, ohne jedoch müde zu sein; es zuckte und hämmerte in seinen Schläfen. Der Nachbar schnarchte furchtbar, und irgendwoher begann noch ein Mann stoßweise zu glucksen. Er richtete sich auf und blickte ärgerlich zur Seite, doch er hätte fast gelacht über dies dumme, hilflos verzerrte Gesicht des Schlafenden, aus dessen Mund, der wie eine dunkle Höhle gähnte, fortwährend Eruptionen wie große Luftblasen herausplatzten; es hörte sich an, als ob ihm eine Faust den Hals zusammendrückte und er dicht vor dem Ersticken wäre. Dann wälzte Marks sich auf seine rechte Seite, und – erblickte ein paar wache Augen, die auf ihn gerichtet waren. »Sieh«, dachte er, »kann der auch nicht schlafen?«
Nachdem sie sich beide eine Weile angesehen und Marks allmählich erkannt hatte, daß es der pessimistische junge Lehrer war, der auch als Ersatzsoldat, einen Tag später als er selbst, dicht neben ihm eingereiht worden – rief er ihn gedämpft an:
»Heh!« –
Der andere kroch näher, stieg über den Nächstliegenden, setzte sich dann neben Marks und drückte ihm die Hand.
Sie sahen sich an – und jeder wußte vom anderen, daß ihn Gedanken quälten.
»Na, Gott sei Dank, morgen geht es endlich ins Gefecht.« Als der Lehrer nichts hierauf erwiderte, sah Marks ihn von der Seite an – er glaubte Wasser in seinen Augen zu sehen.
»Ja –«, seufzte dieser schließlich, »es ist entsetzlich.«
»Entsetzlich?« fragte der Student. – »Haben Sie Angst?«
»Ach nein, das ist es nicht«, lächelte der junge Lehrer wehmütig. – »Haben Sie noch an Ihre Eltern und Verwandten geschrieben?«
»Ach was«, meinte Marks gleichmütig, »die werden schon früh genug erfahren, ob ich unter oder über der Erde bin.«
»Ich habe auch nicht geschrieben – es ist so vielleicht besser.«
Sie schwiegen.
Marks sah sich um – der Schnarcher war verstummt und lag mit friedlichem, mondbeglänztem Gesicht da; die Knie hatte er heraufgezogen; die beiden obersten, blankgeputzten Messingknöpfe am Rock flimmerten im Licht.
Weiter oben schlug einer mit dem Arm um sich, der getroffene Nebenmann ächzte dumpf auf.
Tiefe Atemzüge.
Der Mond stand jetzt hoch und sah silbergelb aus.
»Ja –«, fing der Jüngere wieder an, »das Blut wird zu dick und satt im schläfrigen Frieden – wir hatten auch schon zu viel Kraft in den Friedensjahren seit: achtzehnhundertsiebzig aufgespeichert, jetzt will und muß es mal wieder explodieren.« Er hatte die Hand emphatisch erhoben und schlug, während er weitersprach, immer bei den Kraftpunkten in die Luft. »Was sind wir für graue Menschen geworden, wir sind Krämer und Gewerbetreibende, Industrieleute und sonst alles mögliche – aber wir haben nicht mehr den großen Sinn in die Ferne, die wilde Lust nach Abenteuern, Besitzergreifungen, wie sie unsere Vorväter hatten.
Wir wollen nicht wissen, daß unser Blut immer Kampf will, immer! Freie Faust und Kampf!«
Der Lehrer hatte ihm einige Male auf den Arm geklopft, während er so laut sprach, aber er hatte es nicht gemerkt; er stieß nun mehrmals den Atem prustend heraus, als ob er schwitzte.
»Wir dürfen nicht so laut reden«, sagte der Lehrer. Marks sah etwas verwirrt nach beiden Seiten – aber nichts rührte sich.
»Das ist alles ganz gut, wie Sie es sagen«, meinte ruhig der Ältere. »Aber warum nicht ein friedlicher Kampf: Klugheit gegen Klugheit – statt dieser barbarischen, von den niedrigsten Urinstinkten des Menschen genährten Kriege? Das ist ja nun gar kein Kampf mehr: Kraft gegen Kraft des anderen, Faust gegen Faust wie früher – das ist eine maschinenmäßige Schlächterei; Maschinengewehre, Schnellfeuergeschütze, gepanzerte Luftschiffe, Minen wüten gegeneinander. Der Kampf ist unpersönlich, riesiger und entsetzlich geworden – und das Ende ist: grenzenlose Zerstörung alles Lebens. Bedenken Sie, daß der Sieger – das ist der, der die jungen Männer des feindlichen Staates am kunstgerechtesten niedermäht – durch seine erfolgreichen Schlachten dessen ganze Zukunft für hundert oder viele hundert Jahre vernichtet?«
Der Student schwieg sinnend; seine Finger trommelten mechanisch auf dem Seitengewehrkoppel.
»Ich kenne kein rührseliges Bedauern mit einem Unterliegenden, nur der Stärkste hat das Recht zum Leben; Sie sehen das überall in der Natur und unter den Menschen. Und wer hier der Kräftigste, der Sieger und Zukunftserbauer ist, das wird sich von morgen ab schon zeigen.«
Der Lehrer zog die Knie an und legte die Ellbogen darum und antwortete dann vor sich hin: »Wir müssen ja diesen Krieg noch austragen; aber später soll alles besser werden. Keine Heere, keine wahnsinnig gesteigerten Rüstungen.« »Aber es kommt dadurch doch Geld unter das Volk«, warf Marks ein.
»Gewiß kommt dadurch Geld unter das Volk, aber das Geld könnte für humanere Zwecke angewandt werden. – Ja, später – da soll es nur Polizeitruppen und Gerichte geben, die Recht und Sitte aufrecht halten, und ein großes Schiedsgericht für die ganze Welt, das alle aufkeimenden Streitigkeiten unter den Ländern schlichtet und die Kriege von der Erde schafft. Jeder Krieg ist zu vermeiden – auch dieser wäre beizeiten zu verhindern gewesen, jetzt ist es zu spät.« Der Lehrer unterdrückte einen Seufzer.
»Und wenn Ihr schöner Traum in Erfüllung geht«, sagte Marks, »dann kann die ganze Menschheit ruhig schlafen gehen –«, er bereute jedoch gleich seine Ironie und sagte: »Doch – Ernst: Sie wissen doch auch, daß die großen Ideale nie reale Wirklichkeit werden, wenigstens nicht vollkommen.«
»Ja – leider, aber die Sehnsucht hofft doch immer, und wir glauben doch noch immer, am Anfang zu stehen und ...«
Da riß Marks ihn am Arm: »Der Posten!«
Sie warfen sich beide nieder. Marks lag auf dem Bauch und schielte nach oben – er sah, wie die schwarze Silhouette des Soldaten reglos stehenblieb; das Gewehr lag über seiner Schulter, und das aufgesteckte Seitengewehr blinkte. Jetzt nahm er seinen Gang wieder auf; seine schweren Schritte verhallten weich – – vorbei. Eine Weile stierten die beiden ins Dunkel.
»Na«, flüstert der Lehrer vorsichtig«, ich glaube, wir schlafen noch ein paar Stunden.«
»Ja«, sagt Marks und hält die Uhr in die Höhe, »es ist zehn Minuten nach elf, wir haben nun noch drei Stunden.«
Einen schweren Augenblick schwiegen beide.
»Gute Nacht«, sagt Marks.
»Auf Wiedersehen«, antwortet der andere bedeutungsvoll, drückt ihm die Hand – und kriecht dann leise zur Seite auf seinen Platz.
Tiefe Atemzüge weithin; hier und da Schnarchen; der Mond ist ganz hinaufgerückt und glänzt merkwürdig und friedestill.
Marks spürte eine sonderbare dunkle Erschütterung–jetzt wieder – er riß die Augen auf: man hatte ihn an der Schulter gerüttelt, der Wecker war schon weitergegangen – um ihn her sprangen und krochen die Soldaten hoch – es wimmelte überall. Marks blickte auf und besann sich – der Mond war ganz tief zur Seite gerutscht – weiter hinauf hörte er eine Stimme: »Vorwärts hoch!« – Nun mußte er wohl. Er stand auf, seine Beine waren steif, er fror. Er rollte den grauen Feldmantel, auf dem er gelegen hatte, zusammen, schnürte ihn um den Tornister und warf dann diesen schweren Rucksack über den Rücken. Mantel, Rock, Tornister – alles war feucht und klamm. Er schüttelte sich und schlug die Arme mehrmals überkreuz um den Rumpf. »Einrücken! ausrichten!« brüllte hinter ihm jemand; er faßte schnell sein Gewehr, stieg über den Wall und sprang nach vorn, wo schon eine dunkle Masse stand. Knöpfe und Waffen blitzten auf – rundher gedämpftes, schwirrendes Gemurmel – und weit in die Nacht schrille Kommandorufe. Er suchte sich in dem kribbelnden, dicken Schwarm zurechtzufinden. Da kam einer auf ihn zu – es war der Lehrer – doch nein, er erkannte seinen Gefreiten Möller: »Verflucht duster«, sagte der; Marks hatte nichts verstanden und stellte sich neben ihn. Mann an Mann schob sich langsam zum langen Glied zusammen. Jemand prahlte roh und laut. Marks sah sich um – er konnte aber keinen erkennen in der unruhig trappelnden Soldatenmenge; bis tief hin schienen helle Gesichter, und darüber blinkerten Helmspitzen.
»Ruhe!« dröhnte es von vorn – wie abgeschnitten verstummte alles.
»Stillgestanden!« – ein dumpfer gliedlang zuckender Ruck ging durch die Reihen. Nichts rührte sich.
»Ge – wehr über!« ein klirrend aufschlagender Krach, einige Gewehre klapperten nach.
Offiziere liefen aufgeregt vor die Front und riefen abgerissen; Marks verstand es nicht.
Tief vor sich, dicht über dem schwarzhingedehnten Boden sah er in der Ferne kleine, sich bewegende Lichter: die Pioniere – dachte er.
»Mit losem Schritt, vorwärts Marsch!«
(Links und rechts schrie man den gleichen Befehl.) Schwer, dumpfdunkel, stampfend schob sich die unübersehbare Truppenmasse in die Finsternis.
Tritt vor Tritt, vorwärts – Tritt vor Tritt, vorwärts – ab und zu stolperte Marks.
Weiter: Tritt vor Tritt vorwärts. – Er hörte, wie der Gefreite neben ihm stark gähnte und hinterher schimpfte.
Der Boden stieg in unregelmäßigen Wellen an. Vor der Linie tanzten ein paar Schatten – es waren die Unteroffiziere und Leutnants; die grauen Uniformen machten sie fast unerkennbar in der Nachtdämmerung.
Brrr – tönte etwas – Marks horchte; er glaubte, es käme vom Fort her – Barrrr kam es näher – von hinten aber – über die Marschierenden weg, ein starkes metallisches Brummen, nach vorn; ein schwarzes Etwas sah Marks wie eine große Fledermaus dahinschatten. Der Äroplan mußte ziemlich hoch sein; die einzelnen, sonst scharf knatternden Motorzündungen waren zu einem schwachen Surren verwischt. Man hörte schon nichts mehr.
Jetzt ging es durch einen Weinberg; halbmannshohe Stöcke brachen unter den strauchelnden schweren Stiefeln, sie wurden niedergeknickt und zerstampft. Weiter!
Marks hatte das Gefühl, als müßten sie so in alle Ewigkeit marschieren; Tritt vor Tritt, Tritt vor Tritt, vorwärts.– Vom linken Flügel kam eine Bewegung her, ein »Weiter«-Ruf sprang von Mann zu Mann, einer nach dem anderen nahm im Gehen den drückenden Helm ab. – »Helm bedecken!« rief Marks' linker Nebenmann ihm zu, er gab es rechts weiter und nahm den Helm ab, zog den grauen Stoffbezug aus der Hosentasche und streifte ihn über den verräterisch blinkenden Helm.
Es war einige Unordnung entstanden; nachdem aber alle Helme wieder fest auf den Köpfen saßen, fielen alle Füße wieder in den gewohnten schweren Schritt.
Der Anmarsch wurde mühsamer, der taunasse, schlüpfrige Grasboden setzte in kurzen Sprüngen zu Wällen und Blöcken an, die hier und da von Löchern unterbrochen wurden: es hieß aufpassen. Diese kleinen Anstrengungen, das beklemmende Dunkel und das Ungewisse, das vor ihnen stand, hatte die Truppen warm gemacht; schweißiger Dunst strömte von einem zum anderen – und aus der ganzen bewegten schwerbepackten Menschenmasse stieg es wie warmer Rauch in die naßkalte Nachtluft.
Marks fror nicht mehr; sein Rock, überhaupt die ganze Kleidung roch muffig, wie sonst Zeug im Regen riecht. Er zerrte den Tornister, der allmählich drückte, nach der rechten Schulter hin, denn die Packung in ihm hatte sich verschoben, so daß er bei jedem Ruck des Körpers nach links rutschte. Dies monotone Dahinmarschieren wurde Marks langweilig, er fing an »Auf in den Kampf, Torero« halblaut vor sich hin zu flöten; er hörte aber gleich wieder auf, weshalb wußte er selber nicht. Der Atem ging kurz und stoßend: das Gelände wurde steil. Die Reihen lockerten sich: man sprang, ging, kroch, zog ein Bein nach – marschierte wieder einige Schritte und so fort: vorwärts.
Was war das? – ein langer Lichtstreifen ging in die Nachtwolken – sank tiefer und kam tastend über die Erde hinstreichend näher – »Nieder!« brüllte Marks' Nebenmann, er schrie es nach rechts weiter. Regungslos lag alles keuchend mit dem Bauch auf dem nassen Felde. »Das muß wohl Kohl sein«, dachte Marks nervös, als er große dicke Blätter zwischen den Fingern fühlte. Gespenstisch huschte der Scheinwerferstrahl, schärfer leuchtend von der Seite her – jetzt! – zuckend riß Marks die Augen zu – als er sie nach einem Augenblick wieder öffnete, war er noch ganz geblendet; ein großer Lichtkreis schwamm vor ihm – aber der Strahl war schon weitergewandert und suchte weit rechts im Dunkel.
Alles setzte sich wieder in Marsch: vorwärts.
Da! Brummen – es kam erstickt vom Fort da oben; sie mußten wohl etwas gemerkt haben. In längeren Pausen murrte ein dunkler Knall – er klang aber verwischt, weit entfernt – man schoß wahrscheinlich nach einer anderen Richtung.
Von hinten her schmetterte gellend ein Trompetensignal. »Das Ganze halt!« »Halt!« – »Halt!« schrien die Unteroffiziere vor allen Reihen.
»Tornister abwerfen! Bajonette aufgepflanzt!« wurde weiter kommandiert. Ein Wald von scharf geschliffenen Messern blitzte auf den Gewehrläufen; krachend flogen die Tornister nach hinten.
Ein erwartungsheißer Augenblick Ruhe. – Mann an Mann standen alle mit sturmklopfenden Herzen da. Das stoßweise Brummen vom Fort nahm zu.
Fuiih! – grellrote Leuchtraketen pfiffen vor ihnen im Schwarzen hoch: das Zeichen zum allgemeinen Sturm.
Hinten in den Truppenmassen, vor der Front, links und rechts und ganz weit rechts hinauf – überall schrillten durchdringend die kleinen Pfeifen der Zugführer:
Zum Sturm! Laufschritt marsch marsch!
Wie eine riesige, murrende Herde stürzte alles hastig und heiß vornaufwärts.
Unaufhörlich sauste Donner an allen Ohren vorbei: man schoß wie wahnsinnig vom Fort. Geschosse sausten jetzt auch dicht über die Anstürmenden weg; Feuerkreise zuckten blitzähnlich oben auf: das ganze Nachtdunkel brüllte: ein gewitterndes mörderisches Chaos.
Da schlug es mitten unter ihnen ein:
Krach! – eine Fontäne von Erde, Fleisch und Rauch sprang spritzend und heulend hoch – mit den Nächsten wurde Marks von dem ungeheuren Luftdruck hingeschleudert – er riß sich wieder hoch, er fühlte nichts – er fing wieder an zu laufen: nur vorwärts, vorwärts! Granatsplitter regneten auf die Helme.
Es galt, so schnell wie möglich durch diese Feuerzone zu kommen. Instinktiv rannten alle wie besessen; warum? weshalb? wußte niemand – nur weiterstürmen! schnell! schnell!
Man mußte schon ziemlich dicht vor dem Fort sein, denn der Geschützdonner wurde ohrensprengend; man lief blind durch schwelenden, beißenden Pulverqualm wie durch Gewitterwolken.
Jetzt brach überall in der Ferne ein neues, wühlendes Donnern los und wurde zu einem Brummen, zum dunkelsten Unterton alles anderen Zischens, Krachens und Prasselns: die Zweiundvierzig-Zentimeter-Belagerungsgeschütze nahmen ihre unheimliche Tätigkeit wieder auf; sämtliche Forts wurden unter Feuer gehalten.
Die von Pulverrauch und -geruch zerquirlte dicke Luft wurde von Getöse und pfeifenden Geschossen und hochoben platzenden Feuern zerschnitten; immer mehr und dichter einschlagende Schrapnells rissen entsetzliche Trichter in die aufdrängenden Massen und bohrten sich weiterrasend in die Erde.
Vorn zu beiden Seiten stürzten Soldaten; Marks rannte in wahnwitzigem Rausch weiter – zwischendurch; über einen Menschen wegspringend – einen Getroffenen, der schräg auf ihn zu fiel, zur Seite stoßend; nur eins brannte stärker in seinem Hirn als das Fieber in allen hinhastenden Gliedern: Vorwärts! nur dies.
Was war das? Er prallte zurück, andere fielen hin. Stacheldraht war hier gespannt – Pioniere sprangen hervor und zerschnitten mit großen Hackscheren das gefährliche Hindernis – durch! er merkte nicht, daß er sich eine große blutige Schramme quer über die Hand gerissen. Doch zehn Schritte weiter warf er sich mit aller Gewalt rückwärts, so daß er dumpf hinfiel und mehrere auf ihn traten: im letzten Augenblick noch hatte er eine unheimliche Tiefe erkannt, eine Wolfsgrube, die mit spitzen Pfählen und Drähten angefüllt war; Schreien und Ächzen hörte man, es mußten viele hineingefallen sein. – »Bohlen rüber!« kommandierte jemand –und weiter wälzte die Masse über die von Pionieren hinübergeworfenen Balken und Bretter. Sie standen am Fuße des Walles; wie eine schwarze Mauer stieg er vor ihnen auf.
Maschinengewehre prasselten jetzt monoton und heftig von oben, spritzten scheffelweis Kugeln wie Erbsen hinunter.
Die Wirkung war furchtbar; wie hingemäht fiel ein Drittel aller Laufenden.
»Vorwärts Sturm! Hurrah!« hörte man durch den Dampf die vom Schießlärm fast verschluckten schreienden Stimmen der Offiziere – und mit wild brausendem Hurrah! rasen, wühlen alle aufwärts! –kriechend; auf allen vieren; springend; fallend; Hurrah! Hurrah! in das Handgemenge auf den Wall.
Zehn Mann schlagen rücklings hinunter – zwanzig drängen mit zusammengebissenen Zähnen nach – und wieder stürzen zehn Durchbohrte in die Tiefe und reißen Kameraden mit – doch wieder springen dreißig mit blutigheiserem Hurrah auf die Schanze – und mehr, immer mehr – Hunderte!
Die Verteidiger ziehen sich in die Mitte des Forts zurück, hinter Mauern, in die Panzertürme, in die Trümmerhaufen der Kasematten – überall laufen und springen welche. – Die Stürmer liegen hinter den Kuppen der Wälle und feuern in das offenliegende, schrecklich verwüstete Fort. Wieder und wieder drückt Marks ab; der Lauf wird schon warm und die rechte Schulter schmerzt ihm vom fortwährenden Rückschlag des Kolbens. Blutrotes Brausen sprengt seinen Kopf fast und verdrängt jeden Gedanken und Bewußtsein; es ist ihm, als ob er im Sonnenbrand läge und furchtbar schwitze. Ganz mechanisch reißt er den Auswurfhebel herum und schiebt einen neuen Patronenrahmen in die Kammer – wieder sechs Schüsse durch den mit heiß verkrampften Fingern gerichteten Lauf – Hebel herunter – ein neuer Rahmen eingeschoben – wieder sechs Schüsse – unaufhörlich.
Vereinzelter knallen die Schüsse der ins Innere geflohenen Verteidiger. Zwischen den in Beton- und Mauerwerktrümmern gebildeten Lücken stapeln sich Tote auf; kreuz und quer sind sie übereinandergefallen, und tief unter ihnen röcheln vielleicht noch Verwundete.
An mehreren Stellen dringen die Stürmer, mit einem Satz von den Schanzen springend, auf die Mitte des Forts zu. Da rennen plötzlich zehn Mann hinter dem geborstenen Panzerturm hervor und laufen, die Bajonette gefällt, mit irrsinniger Bravour auf den Wall zu, auf die verhaßten Schützen zu; ehe sie einige Meter gelaufen sind, kollern neun, jeder von mehreren Kugeln durchlöchert, wie Strohpuppen ineinander – der Letzte stürzt weiter, einige unverständliche Laute stoßweise herausgurgelnd, so als ob er singen wollte – dann schlägt auch er nach rückwärts lang hin, zuckt mit einem Bein und liegt still.
Das Fort ist genommen. Der letzte Mann fiel.
Auf den Schuttplätzen stehen die Eroberer in Gruppen und schreien wie betrunken ein »Hurrah!« nach dem anderen. Marks wollte auch rufen, aber es blieb ihm würgend in der Kehle stecken; er schlich zur Seite und setzte sich in eine Ecke auf einen Mauerblock. Er spürte keine Müdigkeit, nur Durst; ohne abzusetzen, trank er den schwarzen Kaffee aus seiner stoffüberzogenen Blechflasche.
Einige Kommandos; ein lautes Hin- und Hertrappeln; die Besetzungsposten wurden aufgestellt; die anderen sollten nun endlich ruhen. Vollständig erschöpft fielen die meisten Soldaten, wo sie gerade standen oder saßen, in verwirrten blutschweren Halbschlaf; die einen mit fiebrig geröteten, andere mit grünlichblassen Gesichtern.
Von den anderen Forts, die in der dumpfgrauen Ferne wie große Maulwurfshügel aussahen, brummten noch gedämpft und nachlässig Kanonen; ab und zu noch einmal ein scharfer Knall; dann wurde es ruhiger, überall lagerte drückende Mattigkeit.
Zwei Tote lagen neben Marks; dem einen sickerte noch immer Blut, wie ein winziger Quell, aus der Stirnwunde über das Gesicht; an den Rändern war es eine schwarze Kruste. Voll Ekel drehte Marks sich um und sah durch eine große Bresche des Walles nach außen. Unbestimmte, trübgraue, fröstelnde Helligkeit des Morgens dämmerte schweigend über den ganzen Himmel herauf; an einer Stelle färbte es sich grünlich-violett, und darunter, ganz tief, wurde es schon gelb.
... Nun saß er hier; auch ein Sieger – er wußte nicht, ob er froh oder voll Trauer sein solle – ziellose Gedanken schwankten in ihm; er fühlte sich so leer und kam sich eigentlich recht nutzlos vor.
... Er sah in der Reichshauptstadt, in allen Heimatstädten die Menschen sich scharenweise um die Anschlagsäulen, vor den Zeitungsredaktionen drängen und die Siegestelegramme heißhungrig lesen – und dann: Geschrei, Geschrei, Siegesjubel! Wer dachte da wohl an die unzähligen Opfer der Sieger? an die Toten, die mitgesiegt hatten? – die Verlustlisten kamen ja immer viel später heraus.
Wehmütige, zweifelnde Beklommenheit beengte seine Brust: »... dieser Krieg... dieser Krieg!« Ächzen entfuhr ihm. Er hob den starrenden Blick vom Steinboden und sah wieder in die Weite –
Scharlachrot glühte die Sonnenkugel zwischen zartangelaufenen Wölkchen.
Wie ein blutiger Klumpen hing sie da; so entsetzlich rot, als habe sie sich vollgesogen mit all dem schwimmenden Blut da unten. Es war ihm, als ob die Bergkuppen in der Ferne, die langabwärts gezogenen zerstampften Felder und Weinberge – als ob der ganze Morgenhimmel und er selbst – mit Blut, mit brüllendem Blut übergossen seien!
Er merkte, daß ihm übel wurde; er wurde schwindlig – er stand auf und wollte... da! – er stößt mit dem Fuß an die andere Leiche – und – das – das ist – der Lehrer!
Er schwankt, greift in die Luft und bricht mit einem dumpfen Aufstöhnen zusammen.
Golden strahlte ein herrlicher, stiller Morgen.
29. 8. 14
(Geschrieben in Faaborg, Dänemark)