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V.

»Komm, Hedwig – willst du nicht mit in die Kirche?« fragte am nächsten Morgen der Pächter, indem er im Sonntagsrock, das Gesangbuch unter dem Arm, in das Wohnzimmer trat, in welchem Hedwig vor dem Fenster saß und las.

Die Gefragte blickte auf. Sie sah heute abgespannt und blaß aus, und auch der Pächter mißfiel ihr in seinem langen, schwarzen Gehrock. Die Tracht ließ ihn altfränkisch, kleinbürgerlich erscheinen. – Früher, in dem Pensionat würde Hedwig über eine solche Figur gelacht haben.

Was war nur aus ihr geworden?

»Guten Morgen, Hedwig, willst du mich nicht in die Kirche begleiten?« wiederholte der Landmann dringender. Ihm erschien der Kirchgang am ersten Feiertag als selbstverständlich.

Hedwig schwieg, drehte an dem Reif, den er ihr gestern geschenkt, und lehnte dann seine Aufforderung mit kurzen Worten ab.

»Du willst nicht?« stotterte Wilms, als wenn er es nicht glauben könne.

Das Mädchen tippte auf ihr Buch und schüttelte den Kopf. »Geh nur allein, Schwager. In der Kirche ist es mir zu voll. Die vielen Leute stören mich dort.«

»Stören dich?«

»Auch kann ich keine vorgeschriebenen Gebete absagen, weißt du, der Gott, an den ich glaube, der kümmert sich um das Singen gar nicht.«

Verständnislos, mit weitaufgerissenen Augen starrte sie der Pächter an. Eine tiefe Trauer zog allmählich über sein ehrliches Gesicht. – Sie war so schön, wenn sie so heftig sprach, der kleine volle Mund zuckte so trotzig dabei. Schwer seufzte der Landmann auf und erwiderte kleinlaut:

»Ich hab' dir das Gesangbuch meiner Frau mitgebracht – – ich wußte ja nicht, daß du – daß du so gesonnen bist – – und also –« er drehte das kleine Buch hin und her, »du begleitest mich also nicht?«

Es sprach soviel schwermütige Bitte daraus, daß Hedwigs Herz unwillkürlich schneller schlug. Aber ein Blick auf den altväterlichen Bratenrock und das abgegriffene Gebetbuch stimmte sie wieder um.

Ihre heftig brennende Neigung kam ihr plötzlich wie ein Traum vor. Nach Liebe sehnte sie sich, nach Sturm und Trotz gegen den Mann, nach irgend etwas, was sie noch nicht kannte, – und nun dieser schwarzgekleidete, unbehilfliche Mann mit seiner Atmosphäre von dumpfer Kirchenluft.

Sie erwachte förmlich. Die Stunde in dem Pensionsstübchen fiel ihr ein, – und – –

»Nein, ich gehe nicht,« entschied sie entschlossen.

Wilms nickte und ließ noch einmal seine blauen Augen voll auf ihr ruhen. »Wie du willst. – Dann ruh' dich hier aus, Heting. Und wenn ich wiederkomm', singst du wieder so schön wie gestern.«

Er konnte ihr Erröten nicht mehr wahrnehmen, ebenso wenig wie die heftige Bewegung, als wenn sie ihn dennoch zurückhalten wolle.

Langsam schritt er über den Hof in den klaren Wintertag hinein, während das Mädchen ihm durch das Fenster ernst und düster nachschaute.

In der Kirche von Boltenhagen, zwischen den hohen Eichenstühlen blieb ein Platz neben Wilms frei. Hier hatte Else früher gesessen, und der Pächter hatte es sich reizend ausgemalt, heute am hohen Festtag diesen Raum von Hedwig eingenommen zu sehen.

Wie silberhell würde ihre Stimme, die ihm gestern abend das ganze Herz gerührt hatte, wohl geklungen haben, wenn sie beide zusammen, Haupt an Haupt, aus dem kleinen Büchlein die Psalmen verfolgt hätten. Und nun – – – die Orgel rauschte, die Gemeinde stimmte ein, aber Wilms Lippen bewegten sich nur mechanisch, er dachte immerfort an das schöne, junge Geschöpf daheim, das an dem Christenglauben keine Freude fand.

Er wunderte sich, warum er nicht ungehalten auf sie sein konnte, warum sich nicht zwischen dem Frommen und ihr, der Gottlosen, eine noch höhere Scheidewand aufrichte – aber seltsam, auch ihn erbaute heute der Dienst des Herrn nicht, keine Tröstung fand er in den Worten des kleinen Pastor Schirmer, immer wieder beschäftigten sich seine Gedanken mit dem Mädchen, er empfand eine heftige Sehnsucht nach ihr und verstand es nicht, warum er nicht bei ihr geblieben sei. Und doch brauste die Orgel so herrlich und doch feierte man die Geburt des Herrn.

Er entsetzte sich. Er dachte schon ganz mit ihren Gedanken. Er besaß auch keinen Gott mehr, nur ein Weib, das er umfassen und küssen und immer wieder küssen wollte, sein Heiland war ein Mädchen, das ihn fortlockte, fort zu Lust und Leben und Arbeit.

»Wirf die Last von dir,« zuckte es durch seine Sinne.

Hatte es der Pastor gesprochen? – War es ein Bibelwort? – Er wußte es nicht.

§§§

Als Wilms seine Schwägerin verlassen hatte, war Hedwig noch einige Zeit regungslos am Fenster sitzen geblieben. Bald betrachtete sie den schmalen, silbernen Reif an ihrem Finger, bald sah sie sich erstaunt in dem weiten Zimmer um, als begriffe sie gar nicht, wer sie hierher versetzt hätte. Ihr war plötzlich alles zu eng und dumpf. Die entsetzliche Angst von gestern drückte noch auf ihr Gemüt, ihr dämmerte es, als wäre sie bis jetzt von einem häßlichen Zauberschlaf umsponnen worden.

»Luft – Licht.«

Sie spähte an sich herunter. Das einfache, schwarze Kleid kam ihr ärmlich vor.

Was war nur in der Zwischenzeit aus ihr geworden? Draußen blitzte und funkelte die Landschaft. – Die dickbeschneiten Bäume der Straße sahen wie ungeheure, weiße Korallen aus.

Das Mädchen befiel ein ungestümer, heißer Drang, dort draußen hinzustürmen, sich auszutummeln, ihre frische, schwellende Kraft zu betätigen. Ja, sie wollte ebenfalls das Fest begehen. Es war ja ein kleiner winziger Schlitten im Hause. Den selbst lenken und dann hinfliegen auf der glatten Bahn, das würde sie wieder gesund machen.

Kaum gedacht, war sie in ihr enges, kleidsames Pelzjäckchen geschlüpft, hatte sich ihr keckes Barett aufgesetzt und lief jetzt über den einsamen, menschenverlassenen Hof.

»Ich glaube, ich bin ganz allein in diesem frommen Hause.«

Jedoch sie täuschte sich.

Vor dem Stall saß der alte Krischan, der Zauberer des Hofes, und zitterte vor Frost oder vor Schwäche. Neben ihm hielt der Rabe seinen beständigen Schlaf und zitterte ebenfalls.

Hedwig war dieses Paar von Anfang an unsympathisch.

»Alterchen,« befahl sie, »holen Sie mir mal den Schlitten aus dem Stall und das braune Handpferd dazu.«

Der Alte erwachte aus seinem Schlummer und grinste sie an.

»Willen dat Fräulen utführen?« hustete er.

»Ja, und nun schnell.«

Allein der Greis hatte nicht gehört, oder wollte den Befehl nicht ausführen. Langsam schlich er zur Seite und schüttelte den Kopf.

Das Mädchen blickte ihn an: »Was soll das heißen? Haben Sie mich denn nicht verstanden?«

Der Alte schüttelte wieder und steckte die Hände in die Hosentaschen. Dann begann er von neuem zu zittern, wie ein Knochengerüst, das im Winde klappert.

Ein widerwärtiger Anblick.

Hedwig stieg das Blut ins Gesicht, sie trat dicht an den häßlichen Alten heran und sagte scharf und bestimmt:

»Christian, es wird Zeit, daß Sie vom Hof herunter und in das Gemeindehaus kommen. – Verstehen Sie mich? Hier können Sie nichts mehr leisten, dort dagegen können Sie sich ausruhen. – Mein Schwager wird Sie beköstigen. Wollen Sie?«

Ganz genau hatte der Alte verstanden. Er zitterte, kaute weiter und murmelte gelassen:

»Ick bliew hier. Se sünd nich de Fru. Se hewwen hier nix tau seggen.«

»Was?« entgegnete Hedwig erblassend, »das wird sich finden.« Mit schnellem Atem betrat sie den Stall, wo sie einen Hofjungen fand, der sein flachsblondes Haupt an die Krippe lehnte und eingeschlafen war. Sie rief ihn an und mit seiner Hilfe war der kleine, blaue Schlitten bald herausgehoben und mit dem schönen braunen Pferde bespannt.

Hedwig setzte sich hinein.

»Aber der Kutscher is in die Kirche,« meinte der Junge.

»Schadet nicht – ich fahre allein – adieu!«

Sie hieb mit der Peitsche zu, der Braune, ein Renner mit halbenglischem Blut, machte einen Seitensprung und flog mit ihr vom Hofe herunter.

Windschnell ging es über die weiße Landstraße. Die kleinen Schlittenglocken klangen und klingelten, ringsum war keine Menschenseele zu erspähen, alle hatten die Kirche aufgesucht, nur sie, sie allein genoß jetzt die weiße, blitzende Landschaft.

Wie ihre Wangen sich röteten, wie die Augen vor Lust und Freude blitzten. Die letzten, dumpfen Wochen waren vergessen, das war wieder die Hedwig von ehemals.

Als sie bei der Kirche von Boltenhagen vorbeiglitt, kamen die Gläubigen gerade heraus, der ganze Platz wimmelte von festlich gekleideten Männern und Frauen. Ihr war es auch, als hätte sie auf der Portaltreppe ihren Schwager erkannt, der in seinem langen, schwarzen Rock und seinem wolligen Zylinder auf den Stufen stand und nach dem Gespann hinübersah.

Hui! Ein neuer Schlag traf den Braunen, so daß das kleine Gefährt wie ein Gedanke vorüberschoß. Sie wollte einmal allein sein, alles vergessen, alles abschütteln.

»War sie's? – War sie's nicht?« dachte Wilms und strengte seine Augen aufs äußerste an. »Nein, sie hat ja auch versprochen, mich zu erwarten,« beruhigte er sich dann. Die Sehnsucht von vorhin ergriff ihn immer heftiger. Mächtig schritt er aus, um heimzugelangen.

Währenddem war Hedwig auf freies Feld gelangt. Wie ein ungeheures, erstarrtes Meer dehnte es sich zu beiden Seiten der Chaussee, die Grenzbüsche und die kleinen eisbereiften Tannenschläge schienen enorme Sturzwellen, die in der Höhe festgebannt waren. Nur leichte Schaumflocken trieb der Wind manchmal ab.

Tief aufatmend fuhr Hedwig dahin und gönnte ihrem dampfenden Braunen jetzt größere Ruhe. Und Schritt vor Schritt, manchmal mit lautem Wiehern, zog das Tier den Schlitten durch den tiefen Schnee, wohl zwei Meilen Wegs, bis sie ein winziges an der Landstraße liegendes Gasthaus erreicht hatten, das man in dortiger Gegend »Krug« nennt.

Hier warf das Mädchen dem Braunen eine Decke über, stieg ab und betrat die niedrige weißgetünchte Gaststube. Ein kolossaler Kachelofen verbreitete hier eine enorme Hitze. Ein derber, weißgescheuerter Kieferntisch stand vor dem Fenster, ein paar ungefüge Stühle davor, sonst bildeten nur noch ein schwarzes, fettglänzendes Ledersofa und mehrere Öldruckbilder, welche glückliche Familienszenen darstellten, das Meublement der verlassenen Gaststube.

Und verödet blieb sie noch eine Weile. Hätte nicht eine unsichtbare Klingel bei Hedwigs Eintritt hell geläutet, die Krugwirte würden überhaupt nichts von ihrem Besuch erfahren haben.

So jedoch erschien nach einiger Zeit ein kleines blasses Weib, an deren Röcken sich zwei Kinder festklammerten, während es ein drittes, einen Säugling, auf dem Arm trug, und versprach, auf Hedwigs Wunsch, ein Glas Milch zu bringen.

Hedwig ließ sich an dem weißgescheuerten Tisch nieder, streifte sich die Handschuhe ab und sah durch das kleine pappgeflickte Fenster der Gaststube auf das blinkende Feld hinüber.

Draußen stand ihr Brauner, schüttelte sich und wieherte laut.

Das gab ihren Gedanken die Richtung.

»Am besten wär's,« überlegte sie sich, »ich bestieg wieder den Schlitten, und dann rasch, weit fort von hier in die Stadt und von dort wieder weiter, viel weiter, wo ich nichts mehr höre von alledem, was ich hier zurückgelassen. O, es wäre so gut, wenn ich jetzt ginge, bevor – ja bevor irgend etwas Schlechtes sich ereignet. Denn kommen wird es. Ich weiß nicht weshalb, aber es ist alles so ungesund in Wilmshus, so ansteckend, ich wünschte, ich wäre nie dort eingekehrt. – Warum mir das heut wohl gerade einfällt?«

Sie stützte den Kopf in beide Hände und saß eine Zeitlang regungslos. Das eiserne Blech vor dem Ofen knackte und bog sich regelmäßig hin und her. Durch den Hausflur schallten streitende Stimmen hinein. Hinten auf dem Hof des Hauses schienen mehrere Männer miteinander zu sprechen.

Das Mädchen regte sich. Sie war also nicht allein hier? Auch brachte die Krugwirtin das Verlangte noch immer nicht. Sie wurde ungeduldig. Endlich erschien das blasse Weib wieder und stellte einen Seidel frische Milch vor ihrem Gast nieder. Hedwig erkundigte sich, ob sie noch andere Gäste beherberge.

»Nein, Fräulein, mein Mann hat bloß Besuch. Wir woll'n Pferd verkaufen.«

Damit ging sie wieder hinaus.

Aber während Hedwig an dem Glase nippte, wurde draußen wiederum die Flurtür geöffnet, und das Mädchen hörte eine kräftige Männerstimme sprechen.

Sie griff nach ihren Handschuhen und horchte. Allein sie vernahm nichts mehr. Das laute Gespräch hatte sich wieder verloren. Dennoch wurde sie von einer merkwürdigen Unruhe ergriffen. Sie wollte aufbrechen. Rasch schritt sie zur Tür und rief die Wirtin: die erschien auch bereitwilligst mit ihrem Säugling auf dem Arm und wischte mit einem Tuch den Tisch sauber.

»Nun, ist das Pferd schon verkauft?« fragte Hedwig.

»Ja, sie sind woll schon einig.«

»Wer ist denn der Käufer?«

»Je, ich kenn' ihm auch nich. Mein Mann sagt ja woll 'Herr Graf' zu ihm.«

»Graf?« stotterte die andere erblassend, »vielleicht Graf Brachwitz?«

»Ja, so kann er woll heißen,« antwortete die Wirtin gleichgültig und trocknete sich die Hand ab, um die Bezahlung entgegenzunehmen.

»Hier, liebe Frau, hier haben Sie – – hier haben Sie.« Hedwigs Bewegungen wurden immer hastiger. Vergeblich durchwühlte sie ihre Taschen, ohne jedoch ihr Portemonnaie finden zu können. Wahrscheinlich hatte sie bei ihrer eiligen Ausfahrt überhaupt vergessen, Geld zu sich zu stecken.

»Na, das schad't ja nich,« tröstete die Krugwirtin verwundert, »das Fräulein schickt mich's dann.«

»Ja, ja, ich schicke es Ihnen.«

Nur noch das Barett aufgesetzt, das sie abgelegt hatte, und sie konnte hinauseilen. Mit hastigen Fingern rückte sie es sich zurecht, da schallten Tritte den Flur entlang, und gleichzeitig sah Hedwig durch das Fenster, wie der Krugwirt ein gesatteltes Reitpferd dicht neben ihren Schlitten hinausführte.

Jetzt hoffte das Mädchen nur noch, daß der Mann, dem das Roß dort draußen gehörte, an der geschlossenen Tür der Gaststube vorübergehen würde. Aber das Schicksal wollte es anders. Die Tür wurde aufgemacht, ein schlanker Mann, in grauem Wams und Pelzmütze, guckte herein und rief gutmütig:

»Sie, Frau Wirtin, ich hab' doch noch die paar Taler zugelegt – wir sind jetzt einig. Aber wehe Ihnen, wenn's nicht wirklich eine Whalebonestute ist. – Na, guten – – –«

»Morgen,« wollte er sagen, indessen mitten im Wort fiel sein Blick auf die Dame, die ihm zuvor den Rücken wandte, deren Gestalt ihm aber so einzig vorkam, daß er sie sofort erkannte. Da erblaßte auch er und verlor die Herrschaft über sich. Allerlei Entschlüsse fuhren ihm wild durcheinander. Sollte er nicht lieber einfach aufbrechen? Oder wollte er es doch noch einmal wagen, vor das schöne Mädchen, das er so beleidigt hatte, hinzutreten?

Wenn sie ihm nun vor der Krugwirtin die Tür wies?

Er starrte ungewiß auf sie hin und merkte, daß über ihre abgewandte Figur ein Zittern lief, als wenn sie ebenfalls mit sich kämpfe. Plötzlich kehrte sie sich hastig um. »Wie gesagt, ich habe das Geld vergessen – ja, ich – ich schicke es Ihnen aber, liebe Frau,« brachte sie verworren hervor, um nur irgend etwas zu äußern, und schritt rasch auf die Tür zu, auf deren Schwelle ihr Bedränger von ehemals noch immer verharrte.

Sie blickte nicht auf. Jedoch in ihrer ganzen Art drückte sich soviel Trotz, Kraft und Selbstbewußtsein aus, sie war in ihrer Verwirrung so eigenartig schön, daß Brachwitz vollkommen überwältigt zurücktrat und die Mütze vom Kopf riß.

»Guten Morgen,« murmelte er mit einer respektvollen Verbeugung, während sie an ihm vorüberschritt.

Sie neigte unmerklich das Haupt, und flog dann auf die Landstraße hinaus. Dort hatte der Krugwirt ihrem Braunen einen Futtertrog umgehängt, und hielt nun den Rappen seines vornehmen Gastes, so daß er dem Mädchen nicht behilflich sein konnte, ihr Tier von der umgehängten Blechbüchse wieder zu befreien.

Sie stampfte vor Ungeduld mit den Füßen, in der Eile überhastete sie alles. Auch die Decke konnte sie nicht schnell genug zusammenfalten.

Am liebsten wäre sie zu Fuß durch den Schnee davongerannt.

Der junge Graf Brachwitz stand unterdessen auf den niedrigen Stufen des Gasthauses und beobachtete das Treiben des Mädchens eine Zeitlang gespannt. Dann strich er unmutig seinen Schnurrbart. Es tat ihm ehrlich leid, daß Hedwig eine so schlechte Meinung von ihm hatte, und er verwünschte sein ungestümes Blut, das ihn damals zu dem offenbaren Frevel gegen sie getrieben. Entschlossen sprang er zu Hedwigs Braunem, nahm unbeirrt von ihrem Zurückweichen dem Tiere den Trog ab, dann faltete er die Decke und trat höflich an den Schlitten, den Hedwig inzwischen ratlos bestiegen hatte.

»Darf ich die Decke hier hereinlegen?« murmelte er kleinlaut.

Sie nickte und wandte sich ab, als er ihr den wollenen Fries leicht über die Füße warf.

»Keinen Kutscher?« fragte er dann erstaunt, während er ihr die Zügel in die Hände gab.

»Nein,« versetzte sie fest, »ich fahre selbst.«

Sie hob die Peitsche.

Allein bevor der Braune anzog, war Brachwitz auf die Schwelle des Schlittens getreten. »Ich möchte Sie bitten – gnädiges Fräulein, daß Sie mir die Zügel überlassen,« bat er leise und verwirrt.

Der Ton war ehrlich, die Anrede ehrerbietig.

Hedwig wandte ihre großen, braunen Augen auf den hübschen Menschen. Ihr Blick war seltsam. Es schien, als wollte sie sein ganzes Wesen lesen. Und nach kurzer Frist sagte sie kurz und herb, jedoch mit zitternder Stimme:

»Treten Sie dort herunter, Herr von Brachwitz, ich muß Ihre Begleitung bestimmt ablehnen. – Ein für allemal.«

»Ein für allemal?« wiederholte er.

»Vorwärts!«

Wiederum hob sie die Peitsche, aber die Hand des Grafen legte sich sanft auf den Griff.

Hedwig fuhr zusammen und richtete sich schwer atmend auf.

»Liebes Fräulein,« bat er dringend, »ich bitte Sie – bitte Sie von Herzen – hören Sie mich doch nur ein paar Minuten an. Sie wissen ja gar nicht, wieviel mir daran liegt, mich vor Ihnen zu – – nun ja, zu rechtfertigen. Darf ich denn nicht, wenn Sie mich nicht bei sich im Schlitten dulden wollen, wenigstens nebenher gehen, natürlich nur so lange es Ihnen gefällt, langsam zu fahren? – Ich möchte doch gar zu gern Ihre Verzeihung erhalten, darf ich?«

Er ergriff die Zügel seines Pferdes, und da Hedwig nichts antwortete, so hielt er es für Zustimmung und schämte sich nicht, zu Fuß neben dem langsam gleitenden Schlitten herzuschreiten und sein Tier mit sich zu führen.

Hedwig selbst kam es wie eine Art Bußwanderung vor, als wenn der junge Mann, der sie so beleidigt hatte, sich allein demütigen wollte. Mit Interesse blickte sie auf ihn hin. In demselben Moment aber fiel ihr ein, wie heiß und wahnsinnig dieser fremde Mensch sie schon einmal geküßt hatte. Das empörte sie plötzlich wieder so ungestüm, daß sie der Szene ein Ende zu machen beschloß.

»Was wollen Sie also von mir?« forschte sie hart.

»Endlich Ihre Verzeihung erlangen,« erwiderte der Graf treuherzig. – »Ich schäme mich aufrichtig, daß ich so häßlich gegen Sie gehandelt habe; Fräulein Hedwig – gnädiges Fräulein, wollen Sie mir nicht die Versicherung geben, daß Sie mir nicht mehr zürnen?«

»Ja, das will ich. Aber unter der Bedingung, daß damit unsere Unterredung zu Ende ist, und sich unsere Wege nie mehr kreuzen.«

»Nie mehr?«

»Nein.«

»Und warum nicht?«

»Das wissen Sie doch – weil es zwecklos wäre, Herr Graf.«

Sein dunkles Gesicht färbte sich höher, er sah sie voll an und empfand wieder ihre Schönheit. Leicht seufzte er auf und legte die eine Hand auf die Lehne des Schlittens.

»Sie haben recht,« gab er endlich in sich gekehrt zu, und über seine frischen, offnen Züge legte sich ein Schatten. »Ach, Unsinn, Fräulein Hedwig, ich muß es Ihnen einmal sagen, wir wollen ehrlich miteinander handeln. Es ist tatsächlich zwecklos. Obgleich ich Ihnen wirklich gut war – nein, werden Sie mir nicht böse, Ihnen war ich wirklich gut, wenn ich Sie auch in meiner Tollheit geradezu mißhandelt habe, ich unterschätzte Sie vielleicht – – aber das ist es nicht allein –«

»Nun, aber?« fragte das Mädchen hastig. Ihr Herz klopfte. Unvermittelt blitzte es ihr auf, als ob dieser junge Aristokrat, der ihr eben so treuherzig seine Liebe gestand, die Hände ausstrecken würde, um sie vor dem Fall zu bewahren, den sie ahnte. »Nun, aber?« kam es zitternd über ihre Lippen. »Was wollen Sie mir noch mitteilen?«

Sie wußte jetzt, sie liebte ihn nicht, aber sie wollte gerettet werden.

»Aber,« murmelte er widerwillig und riß an dem Zügel seines Pferdes – »man hat mich da vorige Woche in der Hauptstadt verlobt.«

»Sie?«

Sie rief es beinahe entsetzt. Alles Blut entwich ihren Wangen. Und doch durchschauerte sie es nur deshalb so kalt, weil sie sich jetzt vom Schicksal zum Untergang bestimmt hielt.

»Und wer ist Ihre Braut?« wollte sie stammeln, aber in demselben Augenblick hatte sie ihrem Braunen mit voller Wucht die Peitsche versetzt, das Tier zuckte in die Höhe und raste dann in voller Wut mit dem Schlitten die schneebedeckte Chaussee herunter. Kaum hörte sie noch, was ihr überraschter Begleiter ihr nachrief.

Mit aller Kraft riß und zerrte sie an den Zügeln, jedoch sie hatte ganz die Gewalt über das schäumende Tier verloren. Wie jagende Traumbilder schossen Bäume, Häuser und Menschen an ihr vorüber, die vorübersausende Luft nahm ihr den Atem.

§§§

In dem Pachthaus hatte der Landmann die Gesuchte nicht gefunden. Er fragte den alten Krischan. Der zuckte die Achseln und wies auf die Landstraße hinaus.

»Da is sie fortgefahren, Krischan?« forschte Wilms betroffen – »allein? Saß sie nicht im Schlitten?«

Der Alte nickte und schlotterte weiter.

»Fort?« murmelte Wilms, während er in sein Haus zurückschritt. Und er hatte sich so gefreut, mit ihr zusammen zu sein. Das einsame große Zimmer schien ihm ohne sie unwirtlich. Als das Mädchen nach einer Stunde nicht zurückgekehrt war, warf er sich in seine gewöhnliche Joppe, band den Hofhund los und wanderte die Landstraße nach Boltenhagen zu.

In dem harten Schnee sah man noch die Schlittengleise, in denen sie gefahren war. Wilms Herz zog sich zusammen. Da er das Mädchen jetzt schon entbehrte, wie sollte es werden, wenn sie ihn gänzlich verließ, sobald sein Weib zurückgekehrt war?

Kurz vor Boltenhagen hörte er etwas über die Chaussee klingeln. Der ferne Punkt, den er wahrnahm, wurde größer und größer, schon vernahm er das Schnaufen und Keuchen des gereizten Pferdes.

Er sprang zur Seite.

»Halt!« rief er mit harter Stimme den Anstürmenden entgegen.

Hedwig sah ihn, hörte ihn, aber dem Durchbrenner konnte und wollte sie keinen Einhalt tun. Nur vorbei, nur nicht gefragt werden, nur weiter sich austoben können, hart begleitet von der Gefahr.

Schon waren sie nahe.

»Halt,« schrie Wilms noch einmal.

Sein ganzer Kopf rötete sich. Er hielt dieses Vorübersausen für beabsichtigt, um ihm zu entgehen. Schon heute früh war sie an der Kirche so vor ihm entflohen.

»Ich bin's, Hedwig,« brüllte er noch einmal.

Keine Antwort.

Immer näher.

Da erhebt sich das Rohe, Gewaltsame in dem Bauern. Er springt vor, seine gutmütigen Augen drohen, ein mächtiger Faustschlag trifft das Pferd vor die Stirn, daß es hoch in die Höhe steigt. Der Schlitten wird umgeschleudert und das Mädchen schlägt hart in den Schnee, wo es mit weitaufgerissenen Augen liegen bleibt, als hätte sie der Blitz getroffen.

»Wilms,« murmelt sie betäubt.

Er hob sie auf, und noch halb über sie gebeugt, gurgelte er heiser vor Aufregung: »Hedwig, dir is doch nichts? Sag' doch, Heting, dir is doch nichts?«

Er wußte gar nicht, was er getan hatte.

»Nein, nein – Wilms, ich will nach Hause.«

»Ja, wir wollen nach Hause, Heting,« brachte er bestürzt heraus, »komm', ich heb' dich in den Schlitten.« Und während er das Mädchen in das wieder aufgerichtete Gefährt niederließ, befühlte und betastete er sie ängstlich, ob sie auch keinen Schaden genommen hätte.

»Heting, sag' mir bloß, wo bist du denn gewesen?«

Allein sie saß wie erstarrt.

»Frag' mich jetzt nicht – ich will nach Haus.«

»Wie du willst, dann will ich dich jetzt auch nicht fragen,« gab er sofort nach. »Aber nicht wahr, Heting, dir fehlt doch nichts?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Dann kommt es bloß vom Schreck,« tröstete er sich und sie. Er nahm neben ihr Platz, ergriff die Zügel, und der gebändigte Braune begann folgsam im Trabe zu laufen.

Kein Wort wurde mehr zwischen den beiden gewechselt. Gedankenlos saß Hedwig neben dem Pächter und hörte auf das Läuten der Glöckchen. Nur einmal stieg ihr schwache Verwunderung auf, warum jetzt das Tier jeder Bewegung des Lenkers folge, das vorher so wild gewesen.

Verstohlen blickte sie auf den Mann an ihrer Seite und merkte, daß seine Augen gleichfalls auf ihr hafteten, voller Angst.

Er sah jetzt ganz anders aus, wie vorhin, als er das Pferd zurückgeschlagen hatte.

Als sie daran dachte, zuckte sie zusammen, als habe sie selbst der Faustschlag getroffen.

Was sollte daraus noch werden?

Es war ihr, als hätte er damit auch sie gebändigt.


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