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Der junge Missionar, der mir Ratgeber auf meinen Reisen durch das Hochland der Insel Hawaii sein sollte, traf am dritten Tage in Keanhou ein. Ich begrüßte in ihm einen Sohn der Berge, Andreas Tascher aus Brixen in Tirol. Als er von meinem Plan hörte, gingen ihm die Augen über. Nicht etwa wegen seiner Schilderungen des schwierigen Aufstiegs auf die Vulkane, sondern im vergleichenden Angedenken an seine geliebten heimatlichen Berge. Ein leises Heimweh bemächtigte sich seiner, als er in mir einen gleichgesinnten Freund der Tiroler Alpen fand. Als die Uhr schon längst die Mitternachtstunde verkündet hatte und alles im Hause schon zur Ruhe gegangen war, stand er immer noch auf der Veranda und blickte sinnend zu den Umrissen der Berge empor. Seine Gedanken weilten daheim, zwanzigtausend Meilen weit weg von seiner einsamen Station.
Die beiden Missionare empfingen mich, als ich von dem morgendlichen Seebade heimkehrte, mit einem sonnigen Lächeln.
»Wäre Ihnen die Begleitung meines jungen Amtsbruders angenehm?« fragte Pater Stapelfeldt, während er mir den duftenden Kaffee reichte.
»Aber selbstverständlich!« rief ich aus. »Wohin darf ich mich dem Bruder Andreas anschließen?«
»Nun, sie planen doch einen Besuch der Vulkane. Andreas wird sich Ihnen gern anschließen, und da er der Sprache mächtig ist, dürfte er Ihnen gute Dienste leisten können.«
Erfreut nahm ich das Anerbieten entgegen. Dann aber kamen mir Zweifel.
»Wird Bruder Andreas aber auch so lange fortbleiben können? Die Tour kann mehrere Tage in Anspruch nehmen ....« »Andreas ist an keine Zeit gebunden. Er wird bei der Gelegenheit unsere auf der Höhe zerstreut lebenden Christen besuchen und denen ein Stündchen widmen. Später werden Sie doch an der Westküste das Meer zu erreichen suchen und dann wird Andreas bei den Amtsbrüdern in Puako oder Kawaikae weiteres erfahren.«
»Dann wird mich Bruder Andreas auch zum Mauna Kea begleiten?« fragte ich, nach einem Blick auf die Karte.
»Allerdings, wenn Ihnen dort der Schnee kein Hindernis bietet.«
Der nächste Tag fand uns reisefertig. Andreas besaß alles, was zu einer regelrechten Bergbesteigung erforderlich ist. Als er aber Seil- und Schneereifen hervorsuchte, mußte ich lachen.
»Aber, bester Bruder, wozu denn dieser Ballast! Wir werden doch keine Gletscher oder Schneefelder finden – hier fast noch im Tropengürtel.«
»Sie werden Gelegenheit haben, meine Vorsicht zu loben,« erwiderte lächelnd der junge Mann. »An Schnee fehlt es dort oben nicht.«
»Aber die Schneedecken sind doch nur mäßig stark – wenigstens vermute ich das bei der Höhe der Schneegrenze, die ich bei 4500 Metern suche.«
»Der Mauna Loa hat oberhalb 4000 Meter sehr oft tiefen Schnee. Mauna Kea ist fast das ganze Jahr über mit einer Schneekappe bezogen. Die weniger hohen Berge, wie Hualalai und Kohala, sind allerdings schneefrei. Sie bieten nicht viel, wenn man die ›Riesen‹ vorweggenommen hat.«
»Man hat mir auch den Haleakala auf der Insel Maui gerühmt. Kennen Sie den auch näher?«
»O ja! Den Berg dürfen Sie nicht versäumen. Und mehr noch wird Sie das Jao-Tal begeistern, das sich an den Flanken des Haleakala hinzieht. Allerdings« – fügte er zögernd hinzu, »leben dort oberhalb der Dörfer noch Kanaken, denen es auf ein Menschenleben nicht ankommt. Die Bewohner von Nahiku sind nicht sehr geachtet.«
»Und wie sieht es auf den übrigen Inseln dieser Gruppe aus?«
»Auf den größeren, wie Molokai, Oahu und Kauai sind herrliche Wälder bis hinauf zu den höchsten Bergspitzen, die allerdings 1500 bis 1800 Meter nicht überschreiten. Die kleinen Inseln: Lanai, Kahoolawe und Niihau sind nur an den Küsten bewohnt. Im Innern treiben sich Flüchtlinge herum, mit denen König Kalakaua gern ein ernstes Wort reden möchte. Dort sind sie aber selbst für den König unerreichbar, denn sie lassen keinen Menschen wieder an die Küste zurückkehren ....«
Unter derartigen Gesprächen erreichten wir gegen Abend den Ort, an dem wir vor wenigen Tagen unser Nachtlager aufgeschlagen hatten. Wir rasteten auch jetzt wieder im Schutze der grotesken Felsen. Heute mußten wir jedoch die Decken fest um uns ziehen, denn vom Gipfel des Mauna Loa blies ein frisches Lüftchen herunter, das uns zwang, das Lagerfeuer die ganze Nacht hindurch zu unterhalten.
Mit dem ersten Sonnenstrahl brachen wir auf. In der Nacht schon hatten wir uns die abwärts fließenden Lavaströme gemerkt, und wir konnten mit einiger Sicherheit darauf rechnen, daß uns kein derartiges Hindernis auf unserm Wege begegnen würde.
An einer Stelle, wo kleine Rauchsäulen die Luft mit salzsauer riechenden Schwaden durchsetzten, ließen wir die Träger zurück. Sie wären auch um keinen Preis zum Weitergehen zu bewegen gewesen. Bis hierher begleitete uns auch die Vegetation. Dann aber mußten wir in der inzwischen zur Gluthitze angewachsenen Sonne schutzlos auf dem grau gefärbten Gestein aufwärtsklettern. In der ersten Stunde deutete keinerlei Anzeichen darauf hin, daß unser Fuß über der wer weiß wie dünnen Kruste eines Feuermeeres schritt. Später aber, als der Blick frei über den Kilauea hinweg in die Ferne schweifen konnte, wurde der Boden wärmer. Es taten sich kleine Risse auf, denen heißer Atem entströmte. Bald zwang uns ein kaum noch erkalteter Lavastrom zu einem größeren Umweg, und nun begann es auch im Innern des Berges lebendig zu werden. Gurgelnde Geräusche, wie sie kochendes Wasser in einem geschlossenen Behälter zu erzeugen pflegt, drangen aus dem Boden.
Unsere Unterhaltung wurde einsilbiger. Trotz der Gewißheit, daß wir keinen Auswurf von Steinmassen zu gewärtigen hatten, blickten wir doch mit geheimer Scheu zu dem nun sichtbaren Krater Mokuaweoweo hinauf. Wir unterschieden deutlich die langsam überkochende Feuermasse und erblickten hin und wieder den ins Tal abfließenden glühenden Bach.
Nach zweistündiger Wanderung, die uns auf die Nordseite des Berges geführt hatte, umkreisten uns plötzlich glühendheiße Winde. Sie schienen aus dem Berginnern in Spiralen emporzusteigen und sich im Äther zu verlieren. Unmittelbar darauf zwang uns ein sausender kühler Luftzug, unsere Decke umzuhängen.
Plötzlich übergoß ein blauglänzender, wie mit Brillanten besäter Abhang das ganze Luftmeer mit blendendem Lichte. Wir hatten die Schneegrenze erreicht. Die wie Inseln aus dem weißen Mantel herausragenden, breitgedrückten, zerklüfteten Gesteinsmassen strahlten in wunderbarem Blau. Durch eine Täuschung des Auges sahen wir alles um uns her in einem Farbenspiele, das aus dem Blau über Grün und Rot in ein dem Auge äußerst wohltuendes Violett überging.
Ich war gebannt von diesem einzigartigen Anblick. Dann fühlte ich aber eine immer zunehmende Schwere in den Gliedern, und als ich mich nach meinem Gefährten umsah, bemerkte ich, wie sich dieser an einen Stein anklammerte und ebenfalls mit einer Schlafsucht kämpfte. Da fuhr mir blitzschnell ein fürchterlicher Gedanke durchs Hirn. Ebenso schnell ergriff ich die nötigen Maßregeln. Mit Aufbietung aller Kräfte sprang ich den Schritt zu Bruder Andreas hinüber, faßte ihn am Arm und riß ihn zurück. Er ließ sich den Angriff auch ruhig gefallen. Er wehrte sich nicht einmal, als ich ihn, wie er stürzte, mit Gewalt den Berg hinunterzog. Rücksichtslos schleifte ich ihn etwa zwanzig Meter abwärts, bis der frische Abendwind uns frei umwehte. Dann atmete ich recht tief auf und beugte mich zu meinem Begleiter hinab.
»Wie geht es Ihnen, Bruder Andreas? Fühlen Sie sich noch krank?«
Der Angeredete hob den Kopf, blickte mich verwundert an und fragte:
»Was ist denn mit mir geschehen? Ich habe wohl geschlafen? Wo bin ich denn?«
Dabei schluckte er heftig, benetzte die Lippen und sagte dann:
»Ich habe einen so merkwürdigen Geschmack im Munde. Mir ist, als ob ich ein bitteres Metall gegessen hätte. Erklären Sie mir doch, was mit mir vorgegangen ist.«
»Lieber Andreas, danken Sie Gott, daß ich noch rechtzeitig auf die Ursachen des prachtvollen Farbenbildes aufmerksam wurde. Wenige Minuten später, und wir stünden vor Gottes Thron.«
»Ach ja, jetzt erinnere ich mich. Der Berg zeigte ein herrliches Bild ..., aber ich muß dann wohl unwohl geworden sein?«
»Das herrliche Bild wurde durch die dem Berginnern entströmenden giftigen Gase hervorgebracht, die auf ein Haar unser Verderben geworden wären. Unmerklich bemächtigten sie sich unserer Sinne. Während wir in begeistertem Schauen versunken waren, suchte der Tod in unsere Lungen einzudringen und uns in sanften Schlafbewegungen in die Ewigkeit hinüberzutragen! Doch wie befinden Sie sich jetzt? Können Sie aufstehen und ein Stück weiter abwärts gehen?«
»Ich werde es versuchen. – Ah – ich glaube, ich bin irgendwo verwundet. Nein, es geht schon – so! Ein wenig schwindelig bin ich und – sehen Sie meine Kleider an ....«
»Kommen Sie, Andreas! Atmen Sie einige Male recht tief, damit das Kohlenoxyd aus dem Körper herauskommt – so – nochmal .... Und die Kleider? Nun, die müssen Sie auf meine Rechnung schreiben, denn ich zog Sie sehr unsanft aus dem Bereiche der tödlichen Giftschwaden.«
Die Nacht legte sich auf das Tal. Unten am Strande leuchteten schon die nächtlichen Feuer, während hier oben noch einige Strahlen der in das Weltmeer tauchenden Sonne den Gipfel umspielten. In diesem Halbdunkel bot der Feuersee Halemaumau dort unten zu unsern Füßen ein feenhaftes Bild. Aus dem rotglühenden Feuerbrei schossen die weißen Metallstrahlen der »Springbrunnen« wie Leuchtkugeln in die Luft, während die weißflüssigen Fäden, vom Winde gefaßt, als Goldgeflecht über die schwarzen Lavazacken gesponnen wurden.
Eine hehre Stille lagerte sich mit den dunkeln Schatten über die Insel, von weitem trug die Brise das regelmäßige Donnern der Brandung in kaum vernehmbaren Lauten hinauf in unsere luftige Höhe. Von dem weiter unten bemerkten Rollen und Arbeiten der Gewalten im Innern des Berges spürten wir an dieser Stelle nichts. Der Berg war so ruhig, als ob er mit granitenen Massen aufgebaut wäre. Nichts verriet an dieser Stelle, daß wir unser Nachtlager im wahren Sinne des Wortes auf einem tätigen Vulkane aufgeschlagen hatten, der in jedem Augenblick sich an dieser Stelle öffnen und uns in seine weißglühenden Massen hineinziehen konnte. Unsere Nachtruhe war auch keineswegs eine sanfte, denn unter dem doppelten Eindruck der überstandenen Lebensgefahr und des, durch vielleicht winzig dünne Erdschichten getrennt, unter uns wogenden Feuermeeres schlief es sich nicht gar ruhig. Faktisch teilten wir uns auch in die Nachtwache, obgleich wir genau wußten, daß es weder aus den schleichenden Gasen noch aus einem plötzlich hervorbrechenden Lavastrome eine Rettung gab.
Bei Tagesanbruch lagerte eine helle Wolke über dem Mokuaweoweo, die wie ein in sich wirbelndes Schneegebilde aussah. Bruder Andreas deutete kopfschüttelnd auf die Erscheinung und sagte:
»Als ich voriges Mal hier oben war, sah ich eine ähnliche Erscheinung, die man an der Küste nicht wahrnahm. Ich mußte damals umkehren, denn alle die sonst gut sichtbaren Risse des Berges lagen unter einer feinen Schneeschicht verborgen. Hoffentlich ist das heute nicht der Fall.«
»Wenn Sie irgendeine Gefahr in der Besteigung des Gipfels sehen, wollen wir lieber darauf verzichten. Das, was uns hier von dieser Stelle aus geboten wird, kann auch von dort oben gesehen nicht schöner sein.«
»Ich sehe keinerlei Gefahr in dem Aufstieg selbst,« erwiderte Andreas. »Es gibt aber hier oben unvorhergesehene Zwischenfälle, von denen kein Mensch bisher etwas geahnt hat. Ich erinnere nur an unser gestriges Erlebnis. Ich hörte bisher noch nie etwas von der Entwicklung giftiger Gase auf dem Mauna Loa und war daher nicht darauf vorbereitet. Auch ist mir nie zu Ohren gekommen, daß ein Mensch in den Spalten verunglückt wäre, obgleich vor zwei Jahren, kurz vor meiner ersten Besteigung, ein englischer Geistlicher von einem Besuche des Kilauea und Mauna Loa nicht zurückgekehrt ist. Die geschäftige Fama behauptete damals, der Mann habe sich in den Feuersee gestürzt, aber eine sichere Kunde über sein Ende gelangte nie bis zu uns.«
Gegen sieben Uhr morgens verließen wir den Granitwürfel, hinter dem wir die Nacht verbracht hatten, und stiegen aufwärts. Das Gehen auf der durch nächtlichen Tau glatten Lava gestaltete sich anfangs mühsam und beschwerlich wegen der starken Neigung des Berges. Der Bergstock glitt oft mit einem silbernen Klingen ab, und mehr als einmal fanden wir uns auf den Knien. Bald aber wurde die Neigung geringer, die Fläche ebener, und nun konnten wir mit sicherem Tritt rüstig ausschreiten. Der Schnee, der nun die Gipfelzacken bedeckte, verhinderte ein Ausgleiten. Anfangs begrüßten wir die dadurch gebotene Erleichterung. Gar bald aber blieb Andreas mit bedenklichem Kopfschütteln stehen.
»Ich fürchte, der Schnee spielt uns auch dieses Mal wieder einen Streich. Beachten Sie dort den goldgelben Strich auf dem Schnee. Der zeigt doch sicher einen Spalt an, aus dem sich Dämpfe empordrängen. Lassen Sie uns vorsichtig den Streifen untersuchen. – Sehen Sie,« fügte Andreas hinzu, »der Stock findet keinen Widerstand. Wir stehen vor einem der vielen Risse, mit denen der Berg durchfurcht ist.«
»Das ist allerdings fatal,« sagte ich. »Unter diesen Umständen verzichte ich doch lieber auf den Weitermarsch. Wenn die Sonne höher steigt, blendet uns der Schnee derart, daß wir die gelben Warner unmöglich wahrnehmen können. Und ich gestehe aufrichtig, daß ich mir doch etwas Schöneres denken kann, als in einer vulkanischen Esse eines grauenvollen, wenn auch schnellen Todes zu sterben.«
»Nun, gar so schlimm wollen wir uns die Gefahren nicht ausmalen. Ich will uns aber jetzt durch den Lederriemen sichern, damit für alle Möglichkeiten gesorgt ist. Gleichzeitig wenden wir uns der Südostseite zu. Dort schmilzt der Schnee rasch, und wir sind weniger gefährdet.«
Wir gingen in einem seltsamen Kontraste. Unter uns blühte und grünte alles wie im ewigen Sommer, und hier oben umgab uns der tiefe Winter. Andreas hatte mir das eine Ende des Lederseils um die Brust geknotet und nahe am andern Ende band er sich selbst daran fest. Ich war noch nie an einem Seil gegangen. Daher empfand ich ein unangenehmes Gefühl, als ich so, meines Selbstbestimmungsrechtes beraubt, dem Willen eines andern folgen mußte. – Den Weisungen des vorangehenden, berggewohnten Tirolers entsprechend, mußte ich eine größere Entfernung zwischen uns einhalten.
Wir mochten wohl eine halbe Stunde lang gestiegen sein, als uns ein Sausen zum Gipfel emporschauen ließ. Dort erhob sich eine langgestreckte, feine Wolke, die wirbelnd über einer einzigen Stelle kreiste. Sie war schneeweiß, und als sie sich aus dem Schatten herausschälte, funkelte es in dem reinen Äther, als ob Millionen strahlender Brillanten von unsichtbarer Hand in der Luft umhergeworfen würden. Nach kurzer Zeit ging die Erscheinung in ein sattes Blau über und verschwand, wie vom Berge eingesogen, in der Lavakluft.
»Dort kämpfen die verschiedenen Temperaturen ihren ausgleichenden Kampf,« sagte ich, als der Himmel wieder blendend rein über uns stand. »Wir müssen ganz besonders vorsichtig sein, damit wir den Gasen nicht zu nahe kommen, die auch heute noch nicht zur Ruhe gekommen sind. Jedenfalls lassen Sie uns immer die windigen Seiten suchen; dort laufen wir weniger Gefahr als an der geschützten Nordseite.«
Wir standen bald vor den ersten Rissen. Sie waren nicht breit und leicht zu überspringen. An ihren Rändern zeigte sich eine ganz schwache gelbe Färbung, die, je höher wir kamen, ganz aufhörte. Das sagte uns, daß wir die Gasregion hinter uns gelassen hatten.
Eine etwas unregelmäßig laufende schwarze Linie prüfte Andreas vorsichtig mit dem Bergstock. Zu seinem Glück. Denn eben dort, wo in der nächsten Sekunde sein Fuß stehen sollte, glitt der Stock widerstandslos in das Leere, und bald stellten wir fest, daß diese Spalte mit einer verräterischen Decke überzogen war. Mit vereinten Kräften stießen wir Loch an Loch in die Schneedecke und erweiterten dadurch den Raum so, daß wir die Breite des Risses genau übersehen konnten. Nun erst wagten wir den Sprung.
Kurze Zeit später rief mir Andreas zu:
»Achtung! Wieder eine Kluft!«
Unmittelbar darauf hörte ich einen dumpfen Schall. Aufblickend sah ich meinen Begleiter bis zum Gürtel im Schnee stecken – er griff mit den Armen um sich – dann war er verschwunden!
In demselben Augenblick spürte ich einen Ruck. Der Riemen, den ich zufällig aufgerollt in der Hand trug, fuhr durch meine Finger. Ich stürzte und fiel vornüber. Dann glitt ich rasend schnell der gähnenden Öffnung entgegen. Instinktiv warf ich mich quer und suchte einen Halt mit den Füßen. Ich fühlte keinen Schmerz, aber in buntem Wechsel schossen mir tausend Bilder durch den Kopf. Mein Auge blieb fest auf das schwarze Loch gerichtet, dem ich in schneller Fahrt entgegentrieb.
Das alles dauerte natürlich keine Minute. Plötzlich fanden meine Füße einen Halt. Blitzschnell umklammerte ich jetzt den Riemen, um den beengenden, quälenden Druck von der Brust loszuwerden. Ich fühlte den Körper des Gefährten in der Schwebe. Das Gewicht war in der Lage, in der ich mich befand, ein gewaltiges, und es bedurfte äußerster Kraftanstrengung, um den einmal gewonnenen Vorteil zu sichern.
Es gelang mir, mich auf die Knie zu heben. Nun ergriff ich den Riemen mit beiden Händen, um den verunglückten Freund herauszuziehen oder ihm doch eine Stütze zu sichern, falls er in seiner Gruft nach einer Rettungsmöglichkeit suchen sollte.
Ob er noch lebte?
Der Riemen blieb unbeweglich liegen. So sehr ich auch zog, er wich um keines Haares Breite. War er eingeklemmt? Ich hätte Gott weiß was darum gegeben, wenn ich einen Blick hätte hinunterwerfen können. Die Ungewißheit verursachte mir förmlich körperlichen Schmerz. Ich rief! Mit zusammengebissenen Zähnen lauschte ich auf Antwort. – Jetzt gerade rollte und rauschte es irgendwo im Berge. Ich lachte grimmig über die Warnung. Gebt mir den Gefährten wieder, ihr vulkanischen Mächte!
Nochmals und wiederum gellte mein Ruf in die Leere. In der dünnen Luft kam er mir vor wie das Gewimmer eines Kindes. Und doch! horch!
Ein Laut drang aus dem Spalt! Mein Herz hämmerte hörbar in meiner Brust. Angstvoll schrie ich nochmals: »Andreas – hören Sie mich?«
»Helfen – ziehen!« tönte es kaum vernehmbar herauf.
Mit Anspannung aller Kräfte warf ich mich auf den Riemen und zog. Endlich kam er. Zwei-, dreimal ruckte die Last aufwärts. Dann wurde der Riemen plötzlich schlaff.
»Um Gotteswillen, was ist geschehen? Haben Sie einen Halt?« brüllte ich hinunter. Ich mußte die Frage oft wiederholen, bis die Antwort kam.
»Nachlassen – ich habe einen Halt!«
»Gott sei Dank!« Aus warmem Herzen drang mir das Wort auf die Lippen. Dann hörte ich deutlich die Warnung:
»Nehmen Sie sich in acht! Kommen Sie keinen Schritt näher an den Spalt! Ich binde den Riemen los. Folgen Sie dem Riß abwärts, bis ich rufe. Ich kann hier gehen.«
Diese Worte erfüllten mich mit unsäglicher Freude, wußte ich doch jetzt, daß dem Kameraden kein ernsterer Unfall zugestoßen war.
Die Freude war jedoch nur von kurzer Dauer. Als ich das andere Ende des Riemens in den Händen hielt, war es klebrig von Blut. Ich rief nochmals hinunter:
»Sind Sie verwundet, Andreas?«
Nach dreimaligem Anruf hörte ich die Worte:
»Unbedeutend – aber gehen Sie rasch abwärts, bis ich wieder rufe!«
Ich folgte dem Riß, der fast schnurgerade nach Süden verlief und merklich enger wurde, bis mir ein starrer Zacken Halt gebot. Jenseits desselben gähnte ein tiefer Abgrund, der in dem Krater das Mokuaweoweo enden mußte. Von Andreas hörte ich keinen Ton. Ich konnte mich, durch den Zacken gesichert, dem Riß nähern und versuchte hinunterzublicken. Entsetzt fuhr aber mein Kopf zurück, denn ich blickte in eine gähnende, unergründliche Tiefe, aus der mir ein roter Faden entgegengrinste. Ein Feuerstrom? – Und mein Kamerad?
»Andreas, um Gottes willen, antworte!« schrillte mein Verzweiflungsschrei in den Schlund, der hohnlachend das Echo in dumpfem Schall zurückgab.
Keine Antwort!
Nun sank ich in die Knie und erbettelte von dem Lenker unserer Geschicke das Leben des Gefährten.
»Andreas!«
Und nun – war es Täuschung, war es Wirklichkeit? – drang aus weiter, weiter Ferne ein Ruf an mein Ohr. Der leise Wind trug die Worte über den Rand des Abgrundes hinauf. Deutlich vernahm ich die Aufforderung, den Riemen hinabzuwerfen. Aber wo? Wo befand sich der Freund? Es war mir nicht möglich, mich nach dem Schalle zurechtzufinden. Einmal schien mir der Ton aus dem Abgrund zu kommen, ein anderes Mal aus dem Spalt.
Ich band mich vom Riemen los, befestigte ihn an dem Zacken und kroch auf dem Bauche bis an den äußersten Rand des Abgrundes. Dort rief ich hinunter:
»Geht zurück, Andreas! Hier kann ich nicht weiter.«
Und als ich einen dumpfen Laut vernahm, ließ ich den Riemen dort, wo ich stand, in den Spalt hinunter.
Bange Minuten verstrichen, bis ich endlich den Freund hörte.
»Haben Sie den Riemen?« fragte ich.
»Ja – ziehen Sie!« schallte es zurück.
Jetzt hatten meine Füße einen Halt. Der Zacken unterstützte meine Anstrengungen und langsam, ruckweise, kam die Last höher. Mir schwanden fast die Kräfte. Ich warf mich hintenüber, um besser arbeiten zu können, aber ich mußte einen Augenblick verschnaufen. Ich legte abermals das gewonnene Stück Riemen um den Zacken und hielt mit dem Ziehen inne. Meine Stimme versagte. Ich konnte dem Freunde nicht mehr rufen.
Dieser aber bemerkte kaum das Stocken, als er mit dringenden, jetzt klar vernehmbaren Worten rief:
»Nur jetzt nicht auslassen – ziehen – ziehen ...«
Eine solch unsagbare Angst sprach aus den Worten, daß ich zur Verzweiflung getrieben wurde. Und diese verlieh mir übermenschliche Kräfte. Ich riß wieder an dem Riemen und legte die neu gewonnene Schlinge um den Halt. Dann schöpfte ich eine einzige Sekunde Atem. Aber auch diese schien mir das Geschick nicht zu gönnen.
»Nicht auslassen – o Gott – bitte ...« schrie es mit angsterfüllten Worten aus dem gräulichen Schlund. Und wieder legte ich mich hintenüber und zog und zog.
Wie lange das dauerte, weiß ich nicht. Ich weiß nur, daß ich gellend aufschrie, als das kreidebleiche Gesicht des Verunglückten über den Rand blickte. Entsetzen und Verzweiflung in dem stieren Blick. Als die Hände sich fiebernd in das harte Lavabett krallten ...
Noch ein letzter übermenschlicher Ruck. Bruder Andreas lag neben mir auf dem Schnee – gerettet! Ich selbst lag auf dem Rücken. Helle Blutstropfen färbten den weißen Hang und zogen eine feine Linie nach dem Spalt, der fast das Grab meines Gefährten geworden wäre.
So lagen wir eine ganze Weile wortlos nebeneinander, wir bedurften beide der Sammlung, um uns bewußt zu werden, daß nun tatsächlich jede Gefahr vorüber sei. Ich streckte dem braven Manne die Hand entgegen und beglückwünschte ihn zu seiner Errettung.
»War die Spalte sehr tief?«
»Nach meiner Schätzung muß sie bis auf das Kraterbecken des Mokuaweoweo hinuntergehen, also etwa achtzig bis hundert Meter tief sein. Unten sah ich deutlich einen flüssigen Lavastrom, der irgendwo einen Weg nach außen sucht. Ein frischer Luftzug rettete mich vor dem Ersticken, denn als ich auf dem äußersten Ende zufällig einem Lavablock gegenüberstand und dadurch vor dem Winde geschützt war, empfand ich sofort den metallischen Geschmack und kletterte, so rasch es mir möglich war, wieder zurück.« -
»Wie fanden Sie denn nach dem Sturze einen Halt?«
»Der Berg ist in unregelmäßigem Bruch auseinandergesprengt worden. Überall ragen Zacken und Kanten aus der Bruchstelle. Ein schmaler Rand ermöglichte mir sogar eine Strecke zu marschieren. Das war, als ich mich von dem Riemen löste. Der Gang war zwar der gefährlichste, den ich mir vorstellen kann, da das Gesimse kaum vierzig Zentimeter breit ist, aber mit dem Riemen war er noch schlimmer, da dieser überall an den Vorsprüngen hängen blieb. – wie ich es überhaupt fertigbrachte, ohne Stütze auch nur wenige Schritte zu gehen, ja sogar wieder umzukehren, das weiß ich nicht. Der geringste Fehltritt, ja die leiseste seitliche Bewegung hätte mich in die Tiefe und in den Bach flüssigen Feuers geworfen.«
Während seiner Erzählung hatte ich den Tee gekocht und flößte ihm das heiße Getränk löffelweise ein. Dann reichte ich ihm die Kognakflasche.
»Jetzt brauchte ich ein wärmendes Feuer, denn ich bin naß vor lauter Angstschweiß,« sagte er, »aber Holz ist hier weit und breit nicht zu finden. Ein Glück ist es, daß Sie den Spirituskocher mitnahmen, sonst sähe es schlimm um uns aus.«
Ich trat an den Gefährten heran und bot ihm die Hand:
»Kommen Sie, Andreas. Die Sonne wird uns bald wieder erwärmen, und an unserm letzten Nachtlager finden wir Holz. Bergab können wir es in einer Stunde schaffen.«
»Wie? Sie wollen umkehren?« fragte er. »Jetzt, wo wir kaum noch zweihundert Meter zum Gipfel haben? Das kann Ihr Ernst nicht sein.«
»Ich sage es ja auch nur Ihretwegen,« erwiderte ich. »Trauen Sie sich denn noch die Kraft zu, ohne vorherige Ruhepause den Gipfel zu ersteigen?«
»Natürlich! Kommen Sie! Aber wir wollen uns erst wieder anbinden, denn ich bin jetzt etwas vorsichtiger geworden.«
Nun ging es wieder aufwärts. Die verhängnisvolle Kluft übersprangen wir an einer schmalen Stelle. Dann folgten wir einigen Zacken, die hier wie Leuchttürme gefährliche Risse anzeigten, und nun standen wir vor einer blendendweißen, sanft geneigten Schneefläche, die sich bis zur höchsten Spitze des Mauna Loa hinaufzog.
Vor uns lag die Insel in ihrer ganzen prächtigen Schönheit ausgebreitet. Nach Norden drängte sich der um etwa hundert Meter höhere Mauna Kea in das Bild. Auch sein Gipfel warf die gleißenden Sonnenstrahlen von weiten Schneeflächen zurück. Obgleich über dreißig Kilometer in der Luftlinie entfernt, schien er so nahe, daß man glaubte, ihn mit einem Steinwurf erreichen zu können. Den Zwischenraum zwischen den beiden Bergen füllen weite Wälder aus. Im Nordwesten reckt sich der Hualalai, ein zerrissener Berg von annähernd dreitausend Meter in die Höhe. An seinen Flanken wiegen sich hochstämmige Palmen. Die gegen das Meer schroff abfallenden Felsmauern lassen an der Küste eine ganze Anzahl kleiner Dörfer erkennen, unter denen Kealakekua einige Berühmtheit erlangt hat. Dort wurde Cook von den Kanaken ermordet.
Im Osten hatten wir den leider in dichte weiße Dämpfe gehüllten Krater des Mokuaweoweo dicht unter uns. Eine heiße Luftströmung ließ uns die Erinnerung an seine Tätigkeit nicht vergessen. Weiter hinunter, gegen die Küste sanft abfallend, gähnte die offene Mulde des Kilauea mit dem berühmten Feuersee. Von hier sah man deutlich, daß vor undenklichen Zeiten einmal die Spitze des Berges in sich zusammengesunken sein mußte und vom ewigen Feuer verschlungen wurde.
Weit im Norden zeichnete die Insel Maui ihren höchsten Punkt, den Haleakala, an den Horizont. Dort lag unser nächstes Reiseziel – wenn uns ein gütiges Schicksal beim Abstieg vom Mauna Loa gnädig sein würde.
Bei dem Beraten über diesen Plan begannen sich nämlich die Flanken unseres Berges unvermittelt an zwei Stellen zu öffnen. In ruckweisen Stößen quoll eine mehrere Meter breite, flüssige Lavamasse über den Schnee und hüllte in wenigen Minuten den Gipfel in weiße Wasserdämpfe. Der Ausbruch war von einem gläsernen Klange begleitet, dem ein Knirschen und Knistern folgte. Gleich darauf erschien der feurige Bach. Die Erdkruste konnte an der Durchbruchstelle keine besondere Stärke haben, denn sonst hätte dem Ausbruch eine Detonation vorausgehen müssen.
Man kann sich leicht vorstellen, daß wir nun darauf bedacht waren, unsern Aufenthalt hier oben so viel als möglich abzukürzen. Die herrliche Szenerie verlor ihren Reiz angesichts der nahen Gefahr. Hatten wir schon vorher unsere Gedanken über die zahlreichen Rippen ausgetauscht, die frühere Ausbrüche bei Erkaltung ihrer dickflüssigen Masse an den Seiten des Berges hinterlassen hatten, so widmeten wir jetzt diesen Überbleibseln erhöhte Aufmerksamkeit. Soweit es die nach der Schneeschmelze durchsichtiger werdenden Dämpfe gestatteten, suchten wir den Lauf der heutigen wie früherer Lavaströme mit den Blicken zu verfolgen. Bald fanden wir auch eine gewisse Regelmäßigkeit in deren Bahn heraus. Wir stellten fest, daß der Westabhang am wenigsten den Feuerflüssen ausgesetzt war. Dort ließen nur ein paar verwitterte Brocken auf frühere Ausbrüche schließen. Der gegebene Weg lag dort.
Bruder Andreas kam mit wenig erfreulichen Nachrichten von der Erkundung einer Abstiegsmöglichkeit an jener Seite zurück.
»Nach meiner Schätzung können wir ein paar hundert Meter bequem absteigen. Dann aber sperrt, soviel ich sehen kann, eine breite Kluft den Weg. Sie zieht vermutlich bis an das südliche Ende des Berges, wenn nicht bis in den Krater selbst. Sollen wir es versuchen?«
»Unbedingt!« erwiderte ich. »Bedenken Sie, daß wir in drei Stunden Sonnenuntergang haben – und eine Nacht möchte ich hier oben nicht verbringen ohne Decken und ohne Feuer! Schon jetzt fühle ich im Schatten die Eisbildung. Einen stärkeren Frost überstehen wir keinesfalls ohne Schaden für unsere Gesundheit. Gehen wir also!«
Mit diesen Worten schritt ich voraus. Da ich allein noch mit dem Bergstock versehen war, oblag es mir, das Terrain genau zu untersuchen. Vorsichtig tastete ich jeden Meter Boden ab, ehe ich den Fuß weitersetzte. Andreas mußte genau in meine Fährten treten, damit er nicht ein zweites Mal einbrach. Die trügerische weiße Decke verbarg auch mehrere schmale Sprünge, und trotz aller Vorsicht hätte uns beinahe ein neues Unglück betroffen. An einer Stelle, die ich dem grauen Streifen nach für eine Lavarippe hielt, waren die Schneemassen durch die Wirbelwinde zu einem Damm zusammengeschichtet worden. Unmittelbar dahinter klaffte ein etwa dreißig Zentimeter breiter Riß. Als ich nun festen Fuß auf dem vermeintlichen Lavastrom gefunden hatte, wollte ich weiterschreiten. In demselben Augenblick gab aber die Masse nach und verschwand vor meinen Augen in der Tiefe. Nur ein schneller Sprung rückwärts rettete mich vor einem Sturze.
Die Sonne stand schon tief, als wir endlich die vermeintliche Kluft vor uns sahen. Es war eine Bruchstelle. Ein Abgrund tat sich vor uns auf, in dessen Grunde bereits die abendlichen Schatten lagerten.
»Was nun?«
Die Frage drängte sich von unsern Lippen, als wir ratlos vor diesem Hindernis standen.
»Absteigen!« erwiderte Andreas. »Die Wand ist nicht gar zu steil. Es ragen Zacken genug heraus, um unsern Händen und Füßen Stützpunkte zu bieten ...«
»Und wenn wir unten in einem Krater landen?« fragte ich. »Es läßt sich von hier aus nicht erkennen, was der Abgrund birgt. Er kann ebensogut fester Boden, wie elastischer Schlamm sein. Da gehe ich doch lieber nach der Nordseite hinüber. So Gott will, treibt der östliche Abendwind die Gase wieder fort ...«
»Uns entgegen, da wir von Westen kommen! Aber Sie haben Recht, es ist zu gefährlich, heute noch da hinunter zu klettern. Lassen Sie uns versuchen nach der Nordseite zu gelangen. Gar so schlimm wird es dort nicht sein – im übrigen vertrauen wir auf Gottes Schutz.«
Abendliches Dunkel warf seine langen Schatten über das Schneefeld und machte unsere Wanderung noch gefährlicher. Einmal traf uns aus nächster Nähe eine ungeheuere Hitzewelle, die das Schneefeld vor uns in eine weite starre Fläche verwandelt hatte. Wir sahen sie von weitem und glaubten bereits die Schneegrenze erreicht zu haben, als uns die drohende Erscheinung zu einem überstürzten Rückzuge veranlaßte. War es die Nähe einer Lavawelle oder stand der Boden im Begriff, dem feurigen Magma seine Rinde zu öffnen – wir sehnten uns nicht danach, hierüber aufgeklärt zu werden.
Die Nacht brach herein. Mit dem letzten Dämmerscheine überschritten wir die winterliche Region und betraten den schwarzen starren Lavaboden, dessen gefahrbringende Zerklüftungen uns nun entzogen wurden.
Wieder drängte sich uns die Frage auf:
»Was nun?«
»Vorwärts – es gibt keine andere Möglichkeit! An dieser Stelle sind wir den giftigen Schwaden ausgesetzt. Ich erkenne die Örtlichkeit wieder an dem Umrisse des Hualalai, den wir gestern in derselben Richtung vor uns hatten. Halten wir uns östlich, dann treffen wir unser letztes Nachtlager wieder. Wir finden dort auch eine Magenstärkung, die ich mehr als je nötig habe. Auf eine so lange Abwesenheit war ich nicht vorbereitet.«
»Seien Sie froh, daß wir kein Gepäck mitnahmen. Ich stände jetzt nicht hier,« erwiderte Bruder Andreas mit einem dankbaren Blick zum Himmel.
Bald nahm die Nacht eine schwarze Färbung an. Und nun wurde die uns umgebende Szenerie zu einem packenden, schaurig-schönen Bilde. Es ließ uns sogar für Minuten unsere gefährliche Lage vergessen.
Über uns wölbte sich der sternenbesäte Himmelsdom, in dessen tiefdunklen Fernen eine eben aufstrebende Mondsichel das Sternenlicht zu überstrahlen versuchte. Zu unserer Rechten wogte in ewig gleichbleibender Regelmäßigkeit der in Feuer getauchte Krater Halemaumau, und neben und über uns rollten zwei gewaltige feurige Schlangen ihre Glutmassen dem Ostrande zu, während zahlreiche blaue Flammen die langsam dahingleitenden Bäche umspielten. Die entzündeten Gase gaben ihnen das Geleite.
Andreas hob den Fuß, um weiter abzusteigen.
»Halt!« rief ich. »Es wäre Selbstmord, jetzt weiterzugehen. Wir sehen keine zwei Schritte weit und sind rettungslos verloren, wenn ein Riß unsern Weg kreuzt. Suchen wir den großen Block dort zu erreichen und erwarten wir das Tageslicht. Es bleibt uns nichts anderes übrig.«
Es war ein gefährliches Unternehmen, in der stockfinsteren Nacht auf dem glatten Lavaboden den in Aussicht genommenen Ruhepunkt, zu erreichen. Schon beim zweiten Schritt stieß der Stock ins Leere. Vorsichtig tastete ich die Öffnung ab. Es war ein größeres ovales Loch, in das ich ohne weiteres hätte hineinstürzen können. Andreas mußte sich, obwohl wir angeseilt blieben, nun dicht auf meinen Fersen halten. Jeder Tritt seitwärts konnte Verderben bringen.
Einmal traf mein Stock auf eine hohlklingende Stelle. Unter dem Einflusse der gewaltigen Nervenanspannung glaubten wir nun auch eine schwankende Bewegung unter unsern Füßen wahrzunehmen. Der ausbrechende Schweiß ließ uns an eine dem Boden entströmende starke Hitze glauben.
Ich hieb stärker auf den Lavaboden. Kein Zweifel – wir standen auf einem Hohlraum. Zurück? Vorwärts? Ängstlich erwogen wir die Frage. Wir fühlten, daß wir hier nicht stehen bleiben durften. Jede Minute konnte der Boden unter der Belastung brechen – und dann? Die über uns dahinziehende, dunkelrot glühende Feuerschlange gab uns die Antwort.
»Ich halte die Ungewißheit nicht mehr aus, Andreas!« rief ich. »Ich gehe weiter. Bleiben Sie hier stehen und retten Sie sich, wenn mir ein Unglück zustoßen sollte. Haben Sie das Messer bereit?«
»Aber, liebster Doktor, beruhigen Sie sich doch. Nehmen Sie die Sache doch nicht so ernst. Wir haben ja noch gar keine Gewißheit, daß der Boden hier unterminiert ist ...«
Er vollendete den Satz nicht. Von oben her kam eine Kette blauer, winziger Pünktchen den Berg hinuntergehüpft. Sie sprangen lustig von einer Seite zur andern, und überall, wo sie ihren Fuß hinsetzten, wuchsen bläuliche, haarfeine Strahlenbündel aus dem Boden. Kaum bemerkt, sahen wir sie in rasendem Laufe auf uns zustreben. Leises Knistern lief ihnen voran ...
»Fort, Andreas, mir nach!« rief ich, den Gefährten zur Seite reißend, und mit einem Sprung in die Dunkelheit den sich entzündenden Gasen ausweichend. »Fort von hier. Wir stehen auf einem Feuerherd. Sehen Sie, wie sich die Gase entzünden? Da – was sagen Sie dazu?«
Genau an der Stelle, die ich soeben abgeklopft hatte, schoß jetzt eine meterhohe Stichflamme aus dem Boden, die wie eine blaue Gasflamme emporzüngelte und dann zuckend in regelmäßigen Stößen bald hoch, bald niedrig brannte. Inzwischen setzte der Reigen den Tanz fort. Er bog bei dem von uns angestrebten Blocke um und umkreiste diesen in zahllosen kleinen Flammen.
Wir waren stumm vor dem unerwarteten, geisterhaft-magischen Schauspiele an den Boden gebannt. Keiner wagte zu sprechen. Die Grabesstille, die uns umgab und die durch das gespenstische Erscheinen der Lichtbündel noch unterstrichen wurde, lähmte für Minuten unsere Denkkraft. Erst als die Flammen ihren Geisterreigen um den Lavablock aufnahmen, gab uns die Gewißheit, daß wir durch die Hindernisse einem sicheren Tode entronnen waren, die Sprache wieder.
Andreas preßte meinen Arm mit nervösem Druck.
»Sehen Sie den Finger Gottes! Was wäre aus uns geworden, wenn wir den Block dort ohne Aufenthalt erreicht hätten? Es ist nicht auszudenken.« Und betend dankte er dem Herrn der Welten für die Errettung aus Todesgefahr.
»Lassen Sie uns nun den Weg fortsetzen, Andreas,« sagte ich, als das Geisterlicht seinen Endpunkt erreicht hatte, »wir können jetzt gefahrlos abwärts wandern, denn wo nur irgendwie gefährliche Stellen sind, hat sich das Gas entzündet und leuchtet uns auf unserer Bahn. Wir haben nur dem Leuchten der Fanale zu folgen.«
Leider führte uns das Gaslicht nicht weit. Immerhin fanden wir aber Schutz auf einem hohen Würfel, dessen Ränder ein leichtes Hinaufsteigen ermöglichten. Dort umwehte uns ein frischer Wind, der uns zwar unangenehmes Frösteln durch die Glieder jagte, aber auch die Gewißheit bot, daß die Giftschwaden uns nichts anhaben konnten.
Von hier oben bot sich uns ein weiter Blick in die Umgebung. Vor allem fesselte uns der Mauna Loa, an dessen oberem Teile, den wir heute früh noch beschritten, zwei mächtige Lavaströme ihren seit Jahrtausenden vorgezeichneten Weg in die Abgründe an der Ostseite nahmen. Ihre Bahn bezeichneten die dem Boden entströmenden Gase, die sich an dem hervorquellenden Feuerstrom entzündeten und den ganzen Hang in ein hüpfendes Band blauer Flämmchen einhüllten.
Das Bild war so einzigartig, so schaurig-schön, daß sich das Auge nicht davon zu trennen vermochte. Unbeweglich saßen wir da, dicht aneinandergeschmiegt, um uns besser zu wärmen, und blickten in die stets wechselnden Flammenspiele.
Da trug der Wind einen Laut den Berg hinauf. Wir unterschieden eine Menschenstimme:
»A – lo – ha!« tönte es durch die Nacht. »Ho – ha! Aloha!«
Andreas sprang auf. »Der Kanakenruf! Unsere Träger suchen uns. Gott sei Dank. Nun werden wir bald am Feuer lagern.«
Laut schallte die Antwort meines Gefährten durch die Stille. Sie wurde vernommen. Rufe näherten sich. Der Schall leitete die sonst so furchtsamen Menschen auf ihrem Wege. Bald sahen wir die lodernden Feuerbrände, und nun konnten wir unsern Weg im Scheine der Fackeln fortsetzen.
Es hatte der ganzen Willensstärke des einen Kanaken, Andreas' Diener, bedurft, um die beiden andern Träger zur Suche ihres Herrn in der Wildnis zu überreden. Hätten sie jedoch die kleinen Flammen bemerkt, so würde sie keine Macht der Erde dort hinauf gebracht haben. So tief wurzelt der Geisterglaube in dem Volke, der übrigens auch in unserm aufgeklärten Europa, ganz besonders in dem weibischen Franzosenvolke, sehr viele Anhänger zählt.
Der nächste Tag mußte vollkommener Ruhe gewidmet werden. Es galt die Wunden zu verbinden und Ersatz für Bruder Andreas' Kleidung zu schaffen, wir schrieben einen kurzen Bericht an den Pater Stapelfeldt und sandten einen der Träger damit nach Keanhou. Der zweite Träger erhielt den Auftrag, den Westhang auf seine Abstiegmöglichkeit hin zu prüfen. Wir waren, nach dem soeben Erlebten, auf den »großen Bruder« des Mauna Loa, den nordöstlich gelegenen höheren Mauna Kea, nicht mehr so erpicht. Auch die beiden andern hohen Gipfel Hawaiis, den Hualalai und den Kohala, strichen wir zugunsten eines längeren Besuches auf der Insel Maui aus unserm Programm.