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VII
Bei der Witwe Hjelm.

Die beiden Herren saßen plaudernd etwa noch eine Stunde auf. Der Detektiv wollte sich nicht zu Bett legen, ehe er Nachricht vom Telegraphenamt erhalten hatte.

Endlich vernahm er aus weiter Ferne das Schlittengeläut durch die Nacht schallen. Nach einem kleinen Weilchen schwenkte der Kutscher auf den Hof, und Krag rief ihn zu sich herauf.

Er brachte zwei Telegramme, eins aus Kristiania, ein anderes aus Amerika.

Krag las das letztere sehr genau, und der Arzt erkannte an seinem Gesichtsausdruck, daß der Inhalt nichts Unangenehmes besagte.

Nun war Doktor Rasch aber so müde, daß er Mühe hatte, die schweren Augenlider offen zu halten. Die gewaltsame Anspannung des vergangenen Tages hatte ihn zu sehr angegriffen. Er stand auf und verließ seinen Freund mit einem herzlichen gute Nacht.

Asbjörn Krag aber war nach wie vor körperlich und geistig gleich frisch und elastisch.

Als er allein war, nahm er die Kiste mit den Spiegelscherben aus dem Schrank, wo er sie verschlossen gehalten hatte. Vorsichtig breitete er nun die einzelnen Stücke auf dem Fußboden aus, mit der Rückseite nach oben, und versuchte sie zusammenzufügen. Anfangs wollte es ihm nicht gelingen; aber er probierte es beharrlich immer wieder, bis es endlich zu einem glücklichen Resultat führte und er etwa den halben Spiegel wiederhergestellt hatte.

Je weiter das Ergebnis fortschritt, desto befriedigter schien der Detektiv, und je mehr Stücke er aneinandergepaßt hatte, desto rascher ging ihm die Arbeit von der Hand. Schließlich hatte er festgestellt, was er wollte: In einer Ecke des Spiegels war das Quecksilber mit einem Messer von dem Glase abgekratzt. Und zwar mußte das erst vor kurzem geschehen sein.

»Nun wüßte ich gern«, murmelte Krag, indem er vorsichtig die Stücke auf einen Haufen legte, »was man den armen alten Mann in diesem Viereck lesen ließ. Ich hege den Verdacht, daß es eine entsetzliche Anklage gewesen sein muß.«

Nachdem er die Kiste wieder an ihren Platz gestellt hatte, zog er das heimlich vom Schreibtisch genommene kleine Buch aus der Tasche. Während er Aakerholms nervöses Blättern und Suchen in dem Büchlein beobachtet, hatte er zwar die Seiten nicht zählen können. Doch er vermutete nach ungefährer Berechnung, daß der alte Herr die betreffende Stelle schließlich auf den Seiten 200 bis 250 gefunden haben müsse. So begann er von Seite 200 an zu lesen. Er las sorgfältig Wort für Wort. Es war ein englisches Buch, offenbar eine sehr unterhaltende Lektüre leichterer Art. Aber Krag achtete nicht auf den Zusammenhang und hatte nicht das geringste Interesse für den Inhalt, denn er war vollkommen damit beschäftigt, in dem, was er las, einen versteckten Sinn zu finden. Aber er mußte lange lesen, ehe ihm das gelingen sollte. Keinem Wort, keinem Satz begegnete er, den er auch nur mit der geringsten Wahrscheinlichkeit mit diesem traurigen Drama hier in Verbindung hätte bringen können. Endlich sollte sein Forschen aber mit Erfolg gekrönt werden. Ganz unten auf Seite 248 fand er eine Zeile, die ihn stutzig machte. Es war ein Ausruf einer der Gestalten des Buches. Und Krag schien es, als ständen diese wenigen Worte ganz für sich allein und schrien laut, so deutlich standen sie in engstem Zusammenhang mit den Geschehnissen, die er nun hier mit erlebte.

Asbjörn Krag barg das Buch in seiner Reisetasche. Er wollte nun noch eine oder zwei Stunden ruhen. Aber ehe er sich zu Bett legte, öffnete er das Fenster, um ein wenig frische Luft zu atmen. Die Nacht war nach wie vor klar und kalt. Die Landschaft war in Mondlicht gebadet, fleckenlos weiß leuchtete der Schnee, in bläulichem Dunkel lagen die Häuser und Wälder, in tiefem Kohlschwarz die Schatten. Wie ein schwarzer Gürtel umschloß der alte Park das stille, tote Gutshaus. Nur Bengts Fenster waren noch erhellt. Sonst war alles Licht in dem großen Gebäude gelöscht, kein Laut, kein Anzeichen verriet, daß es von Menschen bewohnt war.

Der Detektiv schloß das Fenster und zog den Vorhang vor. Dann untersuchte er, ob die Tür verschlossen sei, nahm den kleinen schwarzen Kasten hervor und legte einen der goldbeschlagenen Revolver auf den Nachttisch. In dem Augenblick, da er sich zu Bett legte, waren alle Gedanken und Grübeleien aus seinem Kopf wie fortgeweht. Er schlief sofort ein.


Am nächsten Morgen um zehn Uhr war Asbjörn Krag bei der schönen Witwe Hjelm. Sie hatte bereits von dem Todesfall erfahren und war, wie sie Krag sagte, sehr schmerzlich davon berührt.

Als Arzt des Verstorbenen während seiner letzten Tage, behauptete Krag die Pflicht zu haben, möglichst alles ans Licht zu ziehen, was eine Erklärung geben könnte für die Ursachen, die Aakerholm zu seiner verzweifelten Tat veranlaßt hätten.

»Sie ist mir ebenso unerklärlich, wie Ihnen«, antwortete die Witwe.

Krag fragte sie, ob ihr an Aakerholms Benehmen während der letzten Zeit nichts aufgefallen sei.

»In den letzten vierzehn Tagen war er allerdings ein wenig absonderlich«, antwortete sie. »Ich weiß zwar nicht, was ihm fehlte, aber mit Selbstmordgedanken trug er sich sicher nicht, soweit ich es beurteilen kann.«

»Wann sollte Ihre Hochzeit sein?«

Krag bemerkte sofort, daß seine Frage ihr peinlich war und sie nur ungern auf dieses Thema einging, aber nach einem kurzen Nachdenken antwortete sie dennoch:

»Sie sollte in vier Wochen stattfinden. Aakerholm wollte den Termin möglichst beschleunigen.«

»Warum das?«

»Ich weiß es wirklich nicht. Aber besonders in den letzten Tagen sprach er häufig davon, die Hochzeit auf einen noch früheren Zeitpunkt verlegen zu wollen. Er behauptete, es sei von großer Bedeutung.«

»Kennen Sie Aakerholms Pflegesohn?«

»Bengt? Ja, natürlich kenne ich ihn.«

»Wie stellte er sich zu dem Verhältnis zwischen Aakerholm und Ihnen?«

»Es behagte ihm nicht. Er arbeitete ihm aus aller Kraft entgegen.«

»Wäre es nicht denkbar, daß sein Verhalten schuld war an Aakerholms Verstimmung während der letzten Wochen?«

Frau Hjelm antwortete ausweichend:

»Aakerholm war nicht immer verstimmt; er hatte manche vergnügte Stunde.«

»Sie haben mir meine Frage nicht beantwortet.«

Sie wurde ein wenig unruhig. Nach kurzem Besinnen sagte sie:

»Aakerholm sprach häufig mit Bitterkeit von seinem Pflegesohn. Ich glaube tatsächlich, daß der Gedanke an seinen beharrlichen Widerstand ihn veranlaßte, die Hochzeit möglichst zu beschleunigen.«

»Aakerholm fürchtete also seinen Pflegesohn?«

»Nein, absolut nicht. Doch ich hatte den Eindruck, als fürchtete er etwas anderes.« »Etwas anderes?«

»In der letzten Zeit sprach er oft von einer Begebenheit in seinem Leben, die vielleicht sein Alter verdunkeln könnte.«

»Erwähnte er je, was das war?«

»Nein, aber es muß etwas sehr Ernstes gewesen sein.«

»Baten Sie ihn nicht, es Ihnen zu erzählen?«

»Ja.«

»Und was antwortete er dann?« »Daß ich sein volles Vertrauen genießen solle.«

»Das heißt, er wolle Ihnen alles erzählen?«

»Ja.«

»Aber wann?«

Die junge Witwe ging nervös im Zimmer auf und ab.

»Ja, das eben ist so merkwürdig«, sagte sie.

»Inwiefern?«

»Ich erwartete Aakerholm gestern abend.«

»Um elf Uhr«, ergänzte Krag.

»Ja. Woher wissen Sie das?«

»Und da wollte er Ihnen das Geheimnis seines Lebens erzählen?«

»Ja, das hatte er mir versprochen. Doch er kam nicht.«

»Nun, ich kann Ihnen berichten, Frau Hjelm, daß es seine Absicht war, zu kommen.«

»Wirklich? Aber er ist ja um elf Uhr gestorben.«

»Ja, zehn Minuten nach elf. Doch um halb elf verließ er das Haus, um Sie zu besuchen. Man sah ihn in der kleinen Allee.«

»Ach, dann wollte er ganz bestimmt zu mir.«

»Und als er das Haus verließ, dachte er sicher absolut nicht daran, sich das Leben zu nehmen. Folglich sieht es aus, als sei ihm in der Zeit zwischen halb elf und elf etwas zugestoßen, etwas völlig Unvorhergesehenes. Und das muß in der kleinen Allee geschehen sein.«

»Die pflegt sonst niemand zu benutzen. Aber da Sie alles zu wissen scheinen, können Sie mir vielleicht auch sagen, wo Bengt zu dieser Zeit war?«

»Er war mit mir zusammen im Klub. Wir wurden beide durch die Nachricht von Aakerholms unerwartetem Tod nach Kvamberg zurückgerufen.«

»Das ist ja alles sehr merkwürdig, es ist für mich ganz unfaßlich.«

»Halten Sie es für wahrscheinlich, daß Aakerholm auf dem Wege zu Ihnen, plötzlich von Selbstmordgedanken gepackt, kehrt gemacht haben, in den Park gegangen sein und sich erschossen haben könnte?«

»Nein, das halte ich für ganz unmöglich. Es muß ihm etwas zugestoßen sein.«

»Was, glauben Sie, kann das sein?«

»Ich glaube, daß er jemandem begegnet ist.«

»In der Allee?«

»Ja.«

Die Witwe dachte nach. Es fiel Krag auf, daß sie immer unruhiger wurde. »Wer könnte das denn sein?« fragte er. Er sah sie scharf an. Sie fuhr zusammen, und ihr Gesicht nahm einen halb erschrockenen und halb flehenden Ausdruck an.

»Wollen Sie mir nicht zunächst die näheren Umstände angeben?« fragte sie.

»Ja, das will ich tun, sobald Sie mir gesagt haben, wer die Person war, der Aakerholm gestern abend auf dem Wege zu Ihnen begegnete.«

»Wie kann ich das wissen?«

»Sie wissen es, denn der Mann, dem er in der Allee begegnete, die sonst von niemandem benutzt zu werden pflegt, dieser Mann kam von Ihnen

»Das ist nicht wahr. Hier war niemand!«

»Sagen Sie mir die Wahrheit«, sagte Krag nun sehr ernst. »Liebten Sie Aakerholm?«

»Ich war ihm sehr zugetan. Er war ein feiner alter Herr.«

Es entging Krag nicht, daß sie während er mit ihr sprach, wiederholt unruhig zur Tür blickte, als erwarte sie jemanden.

Er fuhr fort:

»Aber Aakerholm hatte Feinde, die ihn schließlich in den Tod trieben.«

»Ich beginne es zu verstehen«, erwiderte sie.

»Wollen Sie mir behilflich sein, seine Feinde zu entlarven?«

Sie trat rasch auf ihn zu und reichte ihm die Hand.

»Das will ich«, sagte sie herzlich.

Krag erkannte, daß sie es auch ernstlich so meinte.

Aber plötzlich sank sie zusammen. Krag vernahm draußen auf der Treppe ein Geräusch. Es kam jemand.

Frau Hjelm wollte zur Tür eilen, Krag aber ergriff rasch ihre Hand und hielt sie fest. Sie wollte schreien, doch in demselben Augenblick öffnete sich die Tür, und ein Herr trat ein.

Es war Bengt.

Nicht ihn hatte Krag hier zu sehen erwartet, und aus Frau Hjelms erstauntem Ausruf erkannte er, daß auch sie einen anderen als Bengt erwartet hatte.

Dieser brach das Schweigen.

»Sie hier?« fragte er. »Sie sind doch ein merkwürdiger Mensch.«

Krag hatte sofort wieder seine ganze Geistesgegenwart zurückgewonnen.

»Sie werden mir doch wohl gestatten«, sagte er, »daß ich einer alten Bekannten meinen Abschiedsbesuch mache. Ich war ein guter Freund von Frau Hjelms verstorbenem Manne.«

Er sah die Witwe an, und diese antwortete rasch, wenn auch ein wenig verwirrt:

»Ja, ich freute mich außerordentlich, Sie einmal wiederzusehen.«

»Ihren Abschiedsbesuch? Sie wollen also heute abreisen?« fragte Bengt.

»Ich reise in zwei Stunden.«

»Und Ihre Untersuchungen haben Sie befriedigt?«

»Jawohl. Ich fand, was ich suchte.«

Krags Stimme hatte einen Klang, der Bengt die Augenbrauen zusammenziehen machte.


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