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In dem von den Sternen Björnson-Ibsen beherrschten Sternbild der großen Norweger, die wir Deutschen in Anerkennung ihrer überragenden Talentstärke eine Zeitlang fast zu Führern und Fürsten unserer Bühne und unseres Büchermarktes machten, steht ein Stern, den meine Augen ganz besonders für sich herausgefunden haben, nach dem sie durch Jahrzehnte immer wieder hingeschaut. Es ist keiner von den Größten, Ganzbekannten. Aber wer ihn einmal herausgefunden hat, der sieht ihn ganz deutlich in scharfem, klarem Glanze unter den anderen Sternen stehen.
Ich meine den im Jahre 1881 jung verstorbenen, durch seine Novellenbücher »Solskyer« (Sonnenwolken) und »Farlige Folk« (Gefährliche Menschen) seiner heimischen Literatur dauernd eingereihten Christian Elster.
Jenem Sonnenwolkenbuch sind die beiden Geschichten entnommen, die ich den deutschen Lesern in diesem Bande übergebe, geradezu wie ein teueres, mir selbst unendlich liebes Geschenk.
Bis jetzt waren sie eigentlich so recht mein eigen. Keiner meiner deutschen Freunde, nicht einmal meine zweibändige Weltliteratur, kannte die starken, eigenartigen Schöpfungen, und doch müßten sie, müßte vor allem der wunderbare »Kreuzgang« jeder Frau, jeder Mutter, jedem literarischen, nein, mehr, jedem fühlenden Menschen bekannt sein. Dazu beizutragen, habe ich mich nach langen Jahren stiller Besitzerfreude endlich entschlossen.
Hätte ich auch nur einmal, nur flüchtig den »Kreuzgang« gelesen oder erzählt bekommen, hätte ich ihn doch sicher nie wieder vergessen können.
Mit tragischer Gewalt und Folgerichtigkeit wächst diese Novelle aus der wunderbaren, herrlichen und grausamstrengen norwegischen Landesbeschaffenheit heraus.
Und wiederum läßt sie die Beschaffenheit dieses harten, herrlichen Landes, wie keine Reisebeschreibung es vermöchte, vor den Augen des Lesers erstehen.
Man sieht vom Rande der hohen, jäh abfallenden Fjelde plötzlich wie mit stockendem Atem tief, tief in die bewohnten Fjordtäler hinab, als in das, was sie wirklich sind: schmale scharfe Einrisse in unendlichen, vergletscherten, vereisten Hochflächen, die das eigentliche, wahre, wirkliche Norwegen sind, das Reich des Schnees, der Einsamkeiten, der herzerstarrenden, über mehr als das halbe Jahr sich ausdehnenden Winterdunkelheit.
Ueber die Fjelde weg sendet das Leben in abenteuerlicher Art und Weise seine Kunden und Botschaften von Tal zu Tal.
Salbjorg, die Frau, die ihr unerbittliches Gewissen zu dem erschütternden Kreuzgang, der Beichte der über das Verbrechen ihres Sohnes unterrichteten Mutter, ins Tal über die Fjelde treibt, müßte einen Winter lang mit der Qual ihres schauerlichen Geheimnisses in winterdunkler, starrender Einsamkeit darauf warten, daß die tauenden Schneemassen ihren armen Füßen den Pfad an das tragische Ziel endlich freigeben, wenn sie den schauerlichen Entschluß nicht noch im ersten Schneetreiben ausführte.
In »Kjeld Horge«, der zweiten Novelle dieses Bandes, heißt es lakonisch, einer aus dem alten starken Bauerngeschlecht der Horge »wanderte eines Tages über die Fjelde«, um nach Jahren als geistlicher Hirt des verstreut liegenden Fleckens ins enge Fjordtal heimzukehren.
Das heißt: viele, viele Tage weit ist der Bauernsohn, einer inneren Stimme folgend, in einer Zeit, da noch kein Dampfschiff die stillen Fjorde furchte, also wohl über die unwegsamen, eintönigen, starrenden Hochflächen gepilgert, einem Ziel, einer Stadt zu, die ihr Gesicht vom strengen Lande nach der schimmernden See, nach der Welt, nach der Weite kehrt, die Leben und Glanz birgt, Bildung und Berufsweihe schenkt.
So knapp, gradaus und scharf, wie nur die aus unabänderlichen tragischen Zuständen erwachsenden Konflikte sich dem Erzähler in die Feder legen, erzählt Christian Elster seine Geschichten.
Diese besondere, heimatstarke, im Erdboden wurzelnde Erzählerkunst war ihm nach langem verwirrendem und entmutigendem Suchen und Irregehn im endlich erreichten bescheidenen Lebenshafen wohl gerade voll und stark herangereift, als ein früher, jäher Tod ihn aus Beruf und Kunst hinweg berief. Viel Wunderbares hätte er auf dem einmal eingeschlagenen Wege sicher noch erreicht, aber genügt nicht auch oft ein einziges überragend eindrucksvolles Meisterstück, genügt nicht ein einziges Bild, nicht ein Lied, die Strophe eines Liedes, um einen Künstler unsterblich zu machen?
Von Christian Elsters Leben und Streben sei kurz das Folgende erzählt:
Er ist im März 1841 in Namdalen als Sohn des dortigen Vogtes geboren. Mit fünfzehn Jahren kommt er auf die Schule nach Christiania, soll Offizier werden, erweist sich aber als zu kurzsichtig, will studieren, plagt sich ergebnislos mit dem Latein, stürzt sich mit ganzer Seele in die ganze ihm nur eben erreichbare neue Literatur seiner Heimat, auch des Auslandes.
Mit neunzehn Jahren schreibt er sein Schauspiel: »Durch den Fjord«. Bald danach tritt er als Debutant am Theater in Christiania auf.
Sein literarisches und sein schauspielerisches Talent werden anerkannt. Trotzdem zieht er sein Stück, an dessen Wert er zweifelt, zurück; vor seinem ersten ernsthaften Auftreten entsagt er unvermittelt auch der Bühne. Im Examen artium hat er kein Glück. Er lebt nun, nebenbei weiterstudierend, als Journalist und Mitarbeiter verschiedener Zeitungen in Christiania, schreibt hie und da kleine Geschichten, noch unselbständig und unbeholfen, aber doch schon als Dokumente norwegischer Heimatkunst ein gewisses Aufsehen erregend. Elster war Norweger – norsk – durch und durch und in jenen Zeiten sogar norsk-norsk, d. h. einer der begeistertsten Anhänger der Maalstraverie, jener die literarische Jugend der sechziger Jahre heiß entflammenden Bewegung urnationaler norwegischer Heimatkunst.
Im Jahre 1867 reist er, die Studien ganz an den Nagel hängend, nach Deutschland, um sich zum Forstmann auszubilden.
Nach seiner Heimkehr erst wieder ein journalistisches Zwischenspiel in Christiania, dann zwei Winteraufenthalte in Kopenhagen. Im Herbst 1873 bekommt er die ersehnte feste forstberufliche Anstellung: den Posten eines Forstassistenten im Trondheim'schen, mit einem Gehalt von 1200 Kronen, das nach sieben Jahren auf 1600 stieg. Im Frühling dieses siebenten Berufsjahres rief ihn nach kurzer heftiger Lungenentzündung der Tod vom Dienste und aus junger glücklicher Ehe ab. Sein ältestes Söhnchen war eben fünf Jahre, das jüngste fünf Wochen alt.
Sein Buch: »Gefährliche Menschen« war damals gerade im Druck.
Welch großes und seltenes Talent er besaß, wurde nach seinem Tode vielfach gewürdigt. Die Langsamkeit seiner Entwicklung, die Unbeständigkeit seiner Bestrebungen, die Wandelbarkeit seiner Lebenspläne und die Art, wie er sich sein Ziel höher und höher steckte, um sich dann doch wieder still zu bescheiden – sein eigenstes Charakteristikum –, findet sich sattsam häufig in seinen Novellen wieder.
Seine Menschen streben und steuern nach Hohem, Großem, Fernem, sehen hoffend in leuchtende Weiten. Aber das Leben legt sich mit seinen engen schweren drückenden Verhältnissen lastend auf ihren frohen Drang. Im Kampfe mit solchen Widerständen liebt er es, die Lieblinge seiner Dichtungen erliegen oder sich durchkämpfen zu sehen.
Er selbst sehnte sich so sehr nach einem höheren Leben, nach freierer Luft. Er fühlte, daß sein Talent der Befruchtung und Aufmunterung bedurfte, sehnte sich umsonst, aber wurde dennoch nicht bitter, bewahrte sich seinen Humor und die Liebe zu seinem Land und Volk; vor allem: sein Talent verkümmerte nicht in der Enge, sondern entwickelte sich immer tiefer und stärker.
Möchten die beiden hier vereinten Proben seiner Meisterschaft ihm auch bei uns Nordlandskunst liebenden Deutschen eine wenn auch späte, so doch nicht verspätete Anerkennung schaffen!