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» Mrs. Augustus Jones – Belinda Jones –Mr. und Mrs. Jones, Clapham!«
So variirte Belinda, als sie allein war, ihre künftigen Titel als verheiratete Frau, ohne daß eine dieser Zusammenstellungen ihr wohlklingend erschien. Aber dann kam der Gedanke an die zu erwartenden Diamanten-Reflectionen, welche das Verhalten so mancher klügeren, besseren und älteren Frau bestimmt haben. «
Belinda war in den letzten Jahren ihres Lebens mit den äußeren Attributen des Reichthums kaum in Berührung gekommen. Major O'Shea hatte allerdings einen ungeheuren Diamanten im Halstuche getragen, aber es ließ sich Zehn gegen Eins wetten, daß er unecht gewesen. Papa hatte ja oft, wenn er in philosophischer Laune war, geäußert, daß Alles in diesem entarteten neunzehnten Jahrhundert Täuschung und Humbug wäre. »Es hat eine Broncezeit und eine Eisenzeit gegeben, mein Kind,« pflegte Cornelius O'Shea bei solchen Gelegenheiten zu sagen, »jetzt leben wir in der Zeit der nachgemachten Diamanten, und am Ende thun sie dieselben Dienste wie die echten.« Wenn aber unechte Diamanten dieselben Dienste verrichteten, warum sollte sie denn um der echten willen Mr. Jones heiraten und in Clapham leben? Freilich hatte sie dort auch noch Kutschpferde zu erwarten, seidene Kleider, eine Loge im Opernhause …
Gedankenvoll durch das offene Fenster nach dem gestirnten Himmel blickend, erinnerte sich Belinda der Tage in Belgravia, als ihr Papa zuerst in den Besitz von Rose's Vermögen gekommen war. Der Tage, wo man Bälle und Diners gab, wo selbst sie, Belinda, schöne Kleider trug und sich gelegentlich in Gesellschaft liebenswürdiger Frauen befand, die ausgeschnittene Kleider, seidene Schleppen und Fächer trugen und von Anbetern umringt waren – Frauen, die sie heute nur verstohlen von draußen hatte beobachten dürfen. Wie würde sie selbst in ausgeschnittenem Kleide, mit Blumen im Haar, mit einer Schleppe und einem Fächer aussehen? Konnte sie nicht vielleicht mit den ungenügenden Materialien, die sie zur Hand hatte, und in Erwartung der Anbeter eine Probe machen?
Miß Burke hatte den Schlüssel ihres Reisekoffers zufällig stecken lassen und – wie selten fehlt uns die Gelegenheit, Unrecht zu thun, wenn wir einmal den Willen dazu haben! – in diesem Koffer lag, sauber zusammengefaltet, das beste schwarzseidene Kleid der Dame. In weniger Zeit, als wir brauchen, um dies schreiben, eilte Belinda mit dem Licht in der Hand in das anstoßende Zimmer, in Miß Burke's Allerheiligstes, öffnete den Koffer, blickte hinein, schwankte einen Moment und – bemächtigte sich des Kleides..
Der Rock war zu lang, denn Miß Burke war größer als Belinda, aber die überflüssige Länge bildete die Schleppe. Die Aermel mußten aufgestreift werden, die Taille wurde mit Nadeln enger gesteckt, hier und da wurden weiße Spitzen angeheftet, die ebenfalls Miß Burke gehörten. Belinda hatte Nadel und Zwirn bis dahin nur unter dem eisernen Gebot der Nothwendigkeit angerührt – jetzt weckte der erste Strahl der Liebe, welcher in das Herz des jungen Mädchens fiel auch den Instinct für Putz und Nadelarbeit. Sorgsam fügte sie zusammen, was ihr passend schien, hier machte sie enger, dort weiter, hier nähte sie eine Falte, dort entfernte sie eine, bis sie endlich behende aus ihrem Aschenbrödelcostüm herausschlüpfte und eine Minute später, vor Glückseligkeit strahlend, in der ganzen Pracht rauschender Seide dastand – mit kurzen Aermeln, entblößtem Nacken, mit einer Schleppe – jeder Zoll eine Lady!
Daß sie nicht häßlich aussah, hatte ihr das blinde Glas von Miß Burke's Toilettespiegel schnell verrathen. Nacken und Schultern erschienen, im Vergleich zu dem sonnenverbrannten Gesicht, lilienweiß; ihre Arme waren schön geformt und ziemlich voll für ihre siebenzehn Jahre. Aber die Zöpfe! Sie riß die abscheulichen grünen Bänder heraus, löste die Flechten auf und das schlecht gekämmte, vernachlässigte Haar fiel in kastanienbraunen, weichen Wellen um ihre schlanke Gestalt. Aus einem Paar von Miß Burke's Handschuhen ließen sich mit Leichtigkeit Unterlagen improvisiren, über welche sie die Haare über der Stirn in der Weise aufbauschte, wie es heute die kleine blonde Spanierin in rosa Atlas, die Roger so hübsch fand, getragen. Eine dunkelrothe, thaufrische Passionsblume, vom Balcon gepflückt, vollendete die Toilette.
Nicht häßlich? Sie war sogar hübsch, war vielleicht in einem Jahre oder in zweien schöner, als Rose in ihrer besten Zeit gewesen sein konnte, dachte Belinda, als sie ihr so gänzlich umgewandeltes Selbst mit Entzücken betrachtete. Das Einzige, was ihr jetzt noch fehlte, war Schmuck: Ohrringe, Armbänder und eine Halskette – mit einem Worte, die Diamanten von Mr. Jones. Ließ sich aber, ehe sie diese in Besitz nahm, nicht etwas finden, was wenigstens einen annähernden Ersatz für ihren Glanz bot?
Ist das weibliche Gewissen einmal durch die Eitelkeit getödtet, so geschieht jeder weitere Schritt auf der abschüssigen Bahn nur mit zu großer Leichtigkeit Wenn man eine Halskette braucht, so muß sie herbeigeschafft werden, natürlich auf ehrliche Weise, wenn dies möglich ist, aber sie muß auf jeden Fall herbeigeschafft werden.
Auf dem Treppenabsatze des zweiten Stockwerkes stand, wie man weiß, die lebensgroße Figur einer Heiligen, die mit den blutigen Zeichen ihres Martyriums, mit Atlasschuhen und falschen Steinen geschmückt war. Ob die gute, alte Beata wohl ihren Halsschmuck auf eine halbe Stunde, auf zehn Minuten, nur auf so lange herlieh, daß man sich einen kleinen Vorgeschmack von dem Eindruck und dem Effect wirklicher Diamanten verschaffen könnte! Wenn man nun –ihre Bewilligung voraussetzend – den Borg wagte!
Der Glaskasten ließ sich, wenn man den Vortheil kannte, von hinten öffnen, eine Thatsache, von der sich Belinda überzeugt hatte, als die Miether des ersten Stockwerkes an Ostern die Heilige mit einem neuen Taschentuche beschenkt. Und im Hause war keine Seele mehr wach – auch konnte die Sünde nicht gar zu groß sein, denn die Heilige war ja nichts als eine Wachspuppe mit Augen von Perlen …
Wenn es aber selbst eine Sünde sein sollte … war es denn nicht von größter Wichtigkeit für Belinda, sich praktisch zu überzeugen, ob Diamanten zu ihrem Teint paßten und ob es wirklich der Mühe lohnte, ein ganzes Leben dafür hinzugeben?
Belinda schlich die steinerne Treppe hinab, auf der jeder Schritt laut wiederhallte; ihr Herz schlug heftig, ihre Füße verwickelten sich jeden Augenblick in der ungewohnten Schleppe, aber glücklich erreichte sie die zweite Etage. Da stand die heilige Beute, die bleichen Hände über der Brust gekreuzt, die Perlenaugen weit offen. Da schimmerten die falschen Steine. Ein zitternder Strahl des Mondenlichtes spiegelte sich in ihnen – sie glänzten so entsetzlich verführerisch und verlockend – aber Belinda verlor den Muth und ihr Herz erstarrte zu Eis.
Wenn nun die Heilige einmal Nachts kam, an ihr Bett trat und ihr die kalte Hand auf das Gesicht legte! Eine Heilige bestehlen, das wußte sie, war das todeswürdigste aller Verbrechen, und –. »Aber Verbrechen hin, Verbrechen her – ich thu' es doch!« entschied Belinda mit der ihrem Geschlecht eigenen krampfhaften Courage des Feiglings. Möge das Glück ihr günstig sein! Möge kein Bewohner des Hauses die Treppe passiren, während die Entweihung des Heiligthums vollzogen wird!
Die Bänder der Glasthür knarrten, als Belinda sie öffnete, und das junge Mädchen schrak im Bewußtsein ihres Frevels zusammen – aber kein Ohr außer dem ihrigen hatte das Geräusch gehört. Sie öffnete das Collier und schauerte zusammen, als ihre Hand den glatten, kalten Wachshals berührte; dann flüchtete sie mit ihrer Beute die Treppe hinauf, während die Knie unter ihr zitterten.
Oben angekommen ließ sie die Steine einen Moment im Lichte ihrer einzigen Kerze spielen und bewunderte ihren falschen Glanz; dann legte sie die Kette mit behenden Händen um ihren warmen, weichen Nacken und stellte sich auf die Zehen, um die Herrlichkeit in dem blinden Spiegel über dem Kamin zu bewundern.
Und wo blieb nun ihr Gewissen, wo waren ihre Scrupel? Diese Warner pflegen sich erst einzustellen, wenn wir durch den Besitz gesättigt sind – so lange noch der Apfel zwischen unseren Zähnen süß schmeckt, schweigen Gewissen und Reue!
Belinda war beinahe erschrocken über ihre eigene Schönheit. Sie fühlte, daß sie, um echte Diamanten zu besitzen, mit Freuden Mrs. Augustus Jones werden und morgen nach Clapham abreisen könnte. Jetzt fehlte ihr nichts mehr als ein Fächer und ein Anbeter.
Den Fächer konnte sie haben; auf dem Kaminsims lag als Zierde ein schwarz lackirtes und vergoldetes, ungeheures Gestell dieser Art, das vielleicht dreißig Jahre alt sein mochte, und Belinda bemächtigte sich desselben.
Aber die Anbeter! Pah, bei jeder Probe fehlt irgend eine unwichtige Kleinigkeit! Wenn die Vorbereitungen vorüber waren und das Stück ernstlich begann, stellten sich die Anbeter wohl von selbst ein.
Mit ausgebreiteter Schleppe, den Fächer schwingend, mit den Augen der allerliebsten schlanken Gestalt folgend, die der staubige Spiegel nur matt wiederzugeben vermochte, spazierte Belinda im Zimmer auf und ab.
»Wenn Capitän Tempel mich sehen könnte – mich so wie jetzt sehen könnte!« sagte die Eitelkeit. »Er würde sich überzeugen, daß ich nicht immer zerrissen, häßlich und gassenjungenhaft bin.« – »Und wenn er sich davon überzeugte, was würde es ihn kümmern?« sagte eine andere, strengere Stimme. »Was kümmert ihn neben Rose und Rose's Schönheit die ganze übrige Welt?«
Belinda fühlte, wie sich plötzlich ein erdrückendes Bleigewicht auf ihr Herz senkte. Sie war nichts für Capitän Tempel und hatte heute keinen größeren Antheil an ihm, als in Zukunft. Es schien ihr, als müsse sie ersticken. Die unechten Steine der Heiligen mußten sehr schwer sein, woher konnte sonst die unangenehme Empfindung in ihrer Kehle kommen! Sie wendete sich plötzlich von dem Anblick ihres Glanzes ab, löschte das Licht aus und trat mit nackten Armen und entblößten Schultern mit Diamanthalsband und Schleppkleid hinaus auf den Balcon.
Mitternacht war vorüber und eine etwas kühlere Luft fing an, über die schlafende Stadt dahinzuwehen. Ein balsamischer Duft erfüllte die Atmosphäre, denn jedes Stockwerk des ungeheuren Hauses war mit Balconen versehen und jeder Balcon mit Blumen besetzt. Der Himmel war mit glitzernden Sternen besäet, die Berge, der Fluß, die Ebene lagen in eine Decke von Purpur gehüllt. Belinda stützte ihren Arm auf die eiserne Balustrade, richtete ihre Augen gegen Westen, nach der zerrissenen Kette der spanischen Berge, und fragte sich noch einmal:
»Spanien oder Clapham?«
Sie hatte, seit sie sich heute Nachmittag die Frage vorlegte, viel gelernt. Ohne ihr Wissen vielleicht hatte sie die Grenze überschritten, wo das Kind und die Jungfrau sich begegnen; hatte die Werbung von Mr. Jones beinahe angenommen, hatte sich mit kaltem Blute für Clapham entschieden – für Clapham, Respectabilität und Reichthum – und doch, und doch! Wenn jetzt Maria José oder irgend ein Anderer vor sie hingetreten wäre – wer weiß …
Klick, klick! ging es in diesem Moment. Der scharfe Klang, welchen Stahl und Feuerstein hervorbringen, entstand dicht neben Belinda's Ohr. Erschrocken zusammenfahrend, drehte sie sich um – und da nebenan, auf dem benachbarten Balcone, stand im Schlafrocke, ruhig seine Pfeife rauchend, Roger Tempel.
Roger konnte mit Rose frühstücken, mit Rose zu Mittag essen, mit ihr spazieren gehen, täglich so viele Stunden mit ihr allein zubringen, als er wollte, aber es würde der Gipfelpunkt der Indiscretion gewesen sein, mit ihr unter demselben Dache zu wohnen. So hatte die Wittwe, welche die Forderungen des äußern Anstandes bis auf das Tipfelchen kannte, entschieden – und so, um aus der Scylla in die Charybdis zu gerathen, hatten das Schicksal und der Wirth des Hotels »Isabella« es gefügt, daß Roger mit Belinda unter einem Dache wohnte. Das Palais Lohobiague besaß nämlich zwei Treppenhäuser, man hatte es neuerlich in zwei ganz gesonderte Etablissements abgetheilt, wovon das eine pachtweise an den Besitzer des Hotels »Isabella« übergegangen war und von ihm während der Saison als Dependence für überzählige Gäste benützt wurde.
Belinda sah Capitän Tempel, überschaute in einem Augenblick die ganze dramatische Situation, verrieth sich aber durch keinerlei Zeichen.
Wir haben schon gesagt, daß das Kind ein großes Nachahmungstalent besaß, und die tägliche Berührung mit den Basken, dem für Aufregungen und jede Art von Spiel empfänglichsten Volke der Erde, hatte das Talent zu einer Art von Leidenschaft ausgebildet. Hier sah sie die herrlichste Gelegenheit zur Ausführung einer kleinen Comödie vor sich und hatte sogar einen Zweck dabei. Ein Blick auf Roger Tempel's Gesicht überzeugte sie, daß er unter dieser civilisirten Maske Rose's zigeunerhafte, erbärmlich gekleidete Stieftochter nicht erkannte. Hier bot sich ihr eine seltene Gelegenheit, hinter die eine oder die andere Wahrheit zu kommen, hier war sie vielleicht im Stande, den praktischen Werth des Wortes: »ewige Treue« zu ergründen; konnte versuchen, diesen ergebenen Sklaven Rose's zu einem vorübergehenden Interesse zu entflammen – und Mondenschein, Einsamkeit und die Gewißheit, nicht entdeckt zu werden, begünstigten diesen Plan..
Indem sie sich den Anschein gab, nichts bemerkt zu haben, nahm Belinda ihre frühere Stellung wieder ein und begann nach einigen Minuten des Schweigens mit halber Stimme eine Strophe aus jenem Liede des »Bettelstudenten« zu singen, das von einem Ende der Halbinsel bis zum andern wohl bekannt ist:
»
Desde que soy estudiante,
Desde que llevo manteo,
No he comido mas que sopas
Con suelas de zapatero.«
Belinda hatte eine süße, sympathische Stimme, und Melodie und Stimme standen in wunderbarer Harmonie mit der äußern Umgebung.
» Brava, brava!« rief Roger, nachdem sie geendigt. »Diese erste Strophe wurde so wunderschön gesungen, daß ich begierig bin, die zweite zu hören.«
Belinda drehte sich bei dieser unceremoniösen Anrede mit der ganzen selbstbewußten Würde eines Schleppkleides und einer unechten Halskette um.
»Señor!« rief sie stolz den Kopf erhebend, so daß der volle Mondenschein auf ihr fein gezeichnetes, junges Gesicht fiel.
»Bitte tausendmal um Entschuldigung!« sagte Roger, indem er schnell seine Pfeife bei Seite brachte. »Aber der Gesang der Señora war so bezaubernd, und ich vergaß, daß hier kein Ceremonienmeister ist, der mich vorstellen könnte. Hat das Lied keinen zweiten Vers?«
»Das Lied hat einen zweiten und dritten Vers,« entgegnete Belinda in englischer Sprache, aber mit einem starken Anklang castilianischer Gutturallaute. »Ich muß indessen Ew. Lordschaft bemerken, daß ich mich allein glaubte. Ich singe nie vor Fremden, außer auf der Bühne.«
»Auf der Bühne!« wiederholte Roger, indem er ein Auge prüfend über Gesicht und Gestalt des jungen Mädchens gleiten ließ. »Ist es möglich?«
»Ich habe der Bühne angehört, so lange ich denken kann,« entgegnete Belinda mit erstaunlicher Keckheit. »Wenn Excellenz auf Ihren Reisen die Hauptstädte Spaniens besuchten, müssen Sie mich gehört haben.«
»Wenn die Señora mir die Gunst erweisen wollte, Ihren Namen zu nennen, würde ich mich gewiß erinnern;« erwiderte Roger.
Belinda schwieg einige Augenblicke.
»Mein Theatername ist Lagrimas,« sagte sie dann; »in's Englische übersetzt würde er ›Thränen‹ heißen. Ein trauriger Name, nicht, wahr? Aber ich möchte ihn nicht ändern. Wer würde nicht lieber Weinen heißen, als Lachen.«
Sie seufzte, wandte sich halb ab und lehnte ihre Wange an die nackten Arme, welche graziös auf der Balustrade lagen. Wie sie so dastand im Mondenscheine, ihr schönes Haar auf ihre Schultern niederfiel, ihr Kindergesicht einen nachdenklichen Ausdruck annahm, erschien sie Roger als ein so reizendes, kleines Geschöpf, wie nur je eines in dieser prosaischen Welt das Auge eines Mannes erfreuen konnte – und seine Pulse fingen an lebhafter zu schlagen.
Die Balcone waren etwa vier bis fünf Fuß von einander entfernt, und zwei Menschen, die nicht zum Schwindel geneigt waren, konnten sich, wenn sie sich über die Balustrade hinauslehnten, zur Noth die Hand geben, oder sich wenigstens mit den Fingerspitzen berühren. Die Beiden waren allein, so allein, wie das erste Menschenpaar im Paradiese und doch waren sie durch unübersteigliche Hindernisse getrennt, wie sie ja auch in alle Zukunft getrennt bleiben sollten.
Roger's Pulse schlugen immer schneller.
Während der langen Jahre in Indien hatte ihn – davon sind wir fest überzeugt, ohne Rose's sentimentalen Ansichten sonst beipflichten zu wollen, – der Gedanke an seine erste Liebe für alle anderen Frauen blind gemacht. Aber das war, wohlgemerkt, zu Lebzeiten seiner Rivalen, der beiden einander folgenden Ehemänner, gewesen zu einer Zeit, wo seine Leidenschaft noch eine gänzlich hoffnungslose war.
Jetzt, nachdem die Hindernisse gefallen, blieb er zwar seiner Liebe treu – wenigstens drohte seiner Treue keine ernste Gefahr – aber er war empfänglicher für den Eindruck weiblicher Reize, als in Indien. Jeder Mensch, der in uncivilisirten Ländern gelebt, empfindet ein Bedürfniß nach Contrasten, das beinahe ebenso stark und ebenso unabweislich ist, wie das Bedürfniß des Körpers nach Speise und Trank. So lange sich Roger Tempel in Indien aufhielt, bildete Rose Shelmadeane, die zarte, schüchterne Rose, wie sie in seiner Phantasie lebte, den Contrast, den idealen Gegensatz zu den Frauen, unter welchen er sich bewegte. Jetzt, ja jetzt, besaß leider jedes frische, natürliche, ungekünstelte Geschöpf, das kein Perlpulver brauchte und keine leeren Complimente verlangte, für Roger Tempel die verhängnißvolle Anziehungskraft eines solchen Gegensatzes.
»Ihre Philosophie ist älter als Ihre Jahre, Señora,« begann er wieder. »Gewiß kann die Jugend nichts Besseres thun, als lachen!«
»Die Jugend!« rief Belinda, indem sie lebhaft den Kopf erhob und sowohl den spanischen Accent, wie ihre angenommene Maske vergaß. »Was habe ich mit der Jugend zu thun, Sir? Wann war ich jung? Als ich dreizehn Jahre zählte –«
Hier begegneten ihre Augen denen Roger's im vollen Mondlicht. Sie stockte und ließ mit tiefem Erröthen den Kopf sinken.
»Ich habe viel Schlimmes erlebt, Señor!« fuhr sie nach einer Weile fort, ohne indessen ihre Augen wieder zu ihm zu erheben. »Ich empfinde es zuweilen sehr schmerzlich, wie gut der Name Lagrimas für mich paßt. Aber warum spreche ich von solchen Dingen? – Sie kennen mein Vaterland Spanien bereits?« fügte sie hinzu, indem sie sich mit der ganzen unwiderstehlichen Coquetterie zu ihm wandte, die aus der Unerfahrenheit hervorgeht. »Nicht? dann sollten Sie jetzt, da Sie so nahe sind, die Zeit zu einem Ausfluge über die Grenze benutzen. Wenn Sie wollen, werde ich Ihre Führerin sein.«
»Abgemacht!« rief Roger heiter. »Wir unternehmen einen Streifzug nach Spanien zusammen, Señora Lagrimas; ich halte Sie beim Wort.«
»Ich glaube nicht, daß ich sagte, wir wollten die Tour zusammen unternehmen;« entgegnete Belinda »Aber gleichviel. Wir können also zuerst nach Granada gehen. Die Alhambra allein wird uns eine Woche Zeit kosten – dann – aber sind Sie auch ganz sicher, Señor, daß die Zeit Ihnen gehört; daß Ihre Freunde in Ihre Abwesenheit willigen werden?«
»O, daran ist kein Zweifell« rief Roger mit der heitern Zuversicht eines unabhängigen Mannes. »Die Frage ist nur, ob Señora Lagrimas ihr Versprechen halten wird?«
(»Daran ist also kein Zweifel. Er ist nach einer Versuchung von drei Minuten bereit, sich von der ersten besten hergelaufenen Schauspielerin, die ihn von einem Balcon anspricht, fangen zu lassen!« dachte Belinda. »Das ist also der Mann, der einer Frau ewige Treue gelobt hat! Das ist also die Elegie zweier junger Herzen u. s. w. Gut, wir wollen diesen Anbeter Rose's noch ein wenig mehr in Versuchung führen.«)
»Ich erwähnte Ihre Freunde, Señor, weil ich weiß, daß Sie nicht allein hier sind;« fuhr sie fort. »Sie bemerkten mich vielleicht nicht, aber ich erinnere mich, Sie diesen Abend mit Damen im Casino gesehen zu haben.«
Roger sah aus wie die Unschuld selber.
»Im Casino?« wiederholte er. »Mit Damen? Ach, ja, ich glaube, ich sprach kurze Zeit mit einigen Damen meiner Bekanntschaft.«
»Die eine war ein häßliches, kleines Mädchen, von der Sonne verbrannt und schlecht angezogen. Sie tanzten einen Walzer mit ihr. Die andere Dame war älter. Wahrscheinlich Ihre Mama, Señor?«
»Stiefmama!« bestätigte Roger ohne alle Verlegenheit. »Sie ist auch die Stiefmama des kleinen braunen Mädchens, mit dem ich tanzte.«
»Auf diese Weise wären Sie und das Mädchen –«
»O, das ist ein schwieriger Punkt. Die Verwandtschaft zwischen mir und dem jungen Mädchen läßt sich schwer feststellen. Aber ich erlaube Ihnen nicht, sie häßlich zu nennen, Señora Lagrimas. Sie ist von der Sonne gebräunt, schlecht gekleidet, – aber häßlich? Nein, das kann ich nicht zugeben.«
»Ich meinestheils kann nicht einen einzigen hübschen Zug in dem Gesicht entdecken,« sagte Lagrimas mit verächtlichem Achselzucken. »Die Haut einer Zigeunerin, großer Mund, niedrige Stirn –«
»Aber wunderschöne Augen und Augenlider; Zähne wie von Elfenbein, schöngeformte Hände und Füße und, wenn sie will, das reizendste Lächeln, das ich jemals gesehen.«
»Ich würde ihr, nach dem Ausdrucke ihres Gesichts und nach ihren Manieren, eine schlimme Gemüthsart zutrauen. Ich bin nämlich schon seit einiger Zeit hier, Señor, und kenne das Mädchen vom Ansehen und dem Rufe nach. Sie spielt mit Knaben Knabenspiele, beraubt mit ihrem Hunde Hühnerställe; sie spricht und flucht, wie Ihnen die Leute sagen werden, gleich einem Straßenjungen, und –«
»Und für jede und alle diese kleinen Unarten habe ich sie nur um so lieber;« fiel Roger mit Wärme ein. »Gerade Belinda wird sich mit der Zeit zu einer reizenden Erscheinung entwickeln.«
»Zu einer reizenden Erscheinung! Meinen Sie zu einer Art von weiblichen Wesen, wie die andere Dame, die nicht mehr ganz jung ist, zu einer Art von Wesen, wie die Stiefmama?«
»Nein; nicht gerade zu dieser Art, Señora. Bei Ihrer reifen Erfahrung müssen Sie ja wissen, daß es mehr als eine Art reizender Frauen in der Welt giebt. Belinda ist vernach– man hat sie ein wenig wild aufwachsen lassen; aber – und das macht mich sehr glücklich – die Verhältnisse erlauben mir jetzt, sie unter meine Leitung und Führung zu nehmen.«
(»Wirklich, wirklich, Capitän Tempel!« sagte Belinda zu sich selbst. »Das wollen wir doch einmal abwarten.«)
»Sie wird in meinem Hause leben, und in dem Verhältnisse einer Tochter zu mir stehen;« fuhr Roger fort. »Ich denke, sie wird sich ändern und bessern!«
»Himmel, welch' ein gutes Werk! Wie christlich es ist, Belinda bessern zu wollen! Sie werden ohne Zweifel eine strenge, englische Gouvernante zu Hilfe nehmen und mit Unterstützung von Geistlichen und Lehrern Ihren Zweck erreichen.«
»Das Alles werde ich nicht thun;« entgegnete Roger. »Ich habe kein großes Vertrauen zu strengen, englischen Gouvernanten, und Pastoren und Lehrer sind ebenso wenig nach meinem Geschmack. Soweit Belinda einer Umwandlung bedarf, werde ich sie nur durch Güte zu erreichen suchen. Es scheint mir, daß das arme Kind weniger Strenge als Liebe braucht.«
Belinda wendete mit einem Rucke den Kopf zur Seite. Thränen traten ihr in die Augen und sie fühlte einen Druck in der Kehle. Er hätte Alles sagen können, nur das nicht. Sie würde es viel leichter ertragen haben, wenn er sie häßlich und böse genannt, oder mit Härte von ihr gesprochen hätte.
»Belinda wird Ihnen sehr dankbar sein, für – für Ihr Mitleid,« sagte sie, als sie ihre Stimme wieder genug in der Gewalt hatte, um reden zu können. »Was mich betrifft, so lege ich einer daraus entspringenden Freundlichkeit nicht den geringsten Werth bei.«
»Nicht? Und welche Art von Freundlichkeit würde Ihnen, wenn man fragen darf, werthvoll erscheinen?« fragte Roger Tempel sanft.
»Welche Art? Nun später einmal, wenn unsere Bekanntschaft etwas älter ist, als zehn Minuten, will ich es Ihnen sagen.«
»Vielleicht sagen Sie es mir, wenn wir die Alhambra zusammen besuchen?«
»Vielleicht. Inzwischen danke ich Ihnen in Belinda's Namen tausendmal für das Mitleid, das Sie ihr so gütig widmen. Gute Nacht, Señor. Ich lasse Sie allein, damit Sie über Ihre schönen Erziehungspläne in Muße nachdenken können.«
Lagrimas machte eine spöttische Verbeugung, richtete sich dann mit dem Anstand einer Prinzessin auf, und verließ, mit einer stolzen Bewegung ihre rauschende Schleppe herumwerfend, den Balkon.
Sie verließ ihn, wie schon gesagt, mit dem Anstand einer Prinzessin, aber kaum war sie Roger aus dem Gesicht, so drehte sie sich um, legte das Auge an eine Spalte des zerbrochenen venetianischen Ladens und lauschte mit athemloser Neugier, was er jetzt wohl thun würde.
Capitän Tempel blieb einige Minuten stumm.
»Señora – Señora Lagrimas!« rief er dann leise.
Keine Antwort folgte dem Rufe.
»Nur noch ein Wort, Señora! Sagen Sie mir nur, ob Sie hier wohnen und ob ich Aussicht habe, Sie morgen Abend wieder zu sehen?«
Belinda blieb stumm, wie das Schicksal.
»Ich werde Sie morgen Abend gegen elf Uhr hier erwarten. Und wenn Sie kein Mitleid mit mir haben, werde ich die ganze Nacht draußen bleiben und mein Herz wird brechen.«
»Das also ist die Treue der Männer!« dachte Belinda. »Und wenn ich nun wirklich schlecht wäre – nur halb so schlecht, als man glaubt, ließe sich dann nicht eine ernstliche Intrigue anspinnen?«
Sie zog sich in die Mitte des Zimmers zurück und sang mit halber Stimme, die zweite Strophe der Serenade.
»
Es tanta la hambra quo tengo.
Que ahora mismo me comiera,
Los hierros de ese balcon,
Y el cuerpo de mi morena!«
Dann stahl sie sich abermals an das Fenster, um zu lauschen. Ihr Herz klopfte so heftig, daß sie die Schläge hörte; selbst in den Fingerspitzen prickelte es ihr vor Erwartung, so hingenommen war sie durch ihre Rolle als Versucherin.
»Die Balkone sind nicht weit von einander entfernt, Señora;« flüsterte Roger, »und einem verzweifelten Menschen dürfte es leicht möglich werden, von einem auf den andern zu springen.«
Ein halb unterdrücktes, spöttisches Lachen war die einzige Antwort auf diese Drohung.
»Jedenfalls werde ich den Versuch machen – und wenn ich fehl springe, wenn ich hinunter falle und in dem Schlamme des Hafens da unten meinen Tod finde, so werden Sie das auf Ihrem Gewissen haben.«
Ein noch spöttischeres, lauteres Lachen als das erste bildete die Antwort.
»Señora Lagrimas, ich frage zum letzten Male, wollen Sie herauskommen und mit mir sprechen oder nicht?«
Noch einmal sagte Belinda's Schweigen »Nein.«
»Ich werde Sie noch dreimal fragen. »Señora Lagrimas!«
Schweigen.
»Lagrimas!«
Schweigen.
»Liebe Belinda!«
Wie ein Sturmwind flog das Mädchen hinaus.
Ihre Lippen bebten und ihre Augen blitzten, daß sie selbst die Diamanten der Heiligen an ihrem Halse verdunkelten.
»Sie – Sie wagen doch nicht etwa, zu sagen, daß Sie die ganze Zeit gewußt hätten, wer ich bin?« rief sie, sobald die Empörung sie zu Worte kommen ließ.
»Freilich erkannte ich Sie gleich,« gestand Roger demüthig. »Ich erkannte Sie schon, als ich meine Pfeife anzündete, noch ehe Sie mich sahen. Warum in aller Welt sollte ich Sie auch nicht erkennen, liebes Kind?«
»Weil ich thöricht genug gewesen war, mich mit diesen Lappen zu verkleiden!« rief sie auf Miß Burke's schöne seidene Robe deutend. »Weil – o, wenn ich gewußt hätte – wenn ich hätte ahnen können, daß Sie, gerade Sie, mich sehen würden! Und welchen Unsinn haben Sie gesprochen. Solchen Unsinn wagten Sie zu sagen, obgleich Sie mich kannten!«
»Wir haben uns sehr angenehm unterhalten;« entgegnete Roger Tempel. »Ich erinnere mich nicht, besondern Unsinn gesprochen zu haben.«
»Wie, es,wäre kein Unsinn, daß Sie mir sagten: Die Umstände gestatteten Ihnen, mich unter Ihre Leitung und Führung zu nehmen, und Sie wollten mich bessern. Sie mich bessern!«
»Es war ein übereiltes Wort, das gebe ich zu; aber ich weiß doch nicht, ob es Unsinn war.«
»Und dann unsere Reise nach Spanien! Aber Sie sollen beim Worte gehalten werden, Capitän Tempel – Sie sollen beim Worte gehalten werden. Was Rose auch immer sagen mag, und ob der Plan, von Miß Ingrams Standpunkte aus, für schicklich gilt oder nicht – ich halte Sie beim Wort. Wir werden auf eine Woche zusammen nach Granada gehen, Capitän Tempel.«
»Gewiß, und Rose wird mit uns gehen. Was könnte amüsanter sein? Rose begleitet uns und –«
»Und vielleicht auch Mr. Augustus Jones,« unterbrach ihn Belinda mit plötzlich verändertem Ton. »Sie und Rose scheinen im Egoismus des Glückes gar nicht mehr an andere Leute zu denken! Ich gehe nirgends hin, ohne Augustus.«
»Sie gehen nicht ohne Augustus!« wiederholte Roger starr vor Staunen. »Ist es denn möglich, Belinda? Meinen Sie im Ernst –«
»Ich meine, daß ich ohne Mr. Jones nirgends hingehe. Und nun, Capitän Tempel, da wir einmal auf Familienangelegenheiten gekommen sind, möchte ich Ihnen schon heute den traulichen Namen geben, mit dem ich Sie in Zukunft nennen soll. Also: lieber Stiefpapa, stellen Sie sich nicht unwissend. Wozu wollen Sie sich den Anschein geben, als ob Sie und Rose Alles, was meinen armen Augustus betrifft, nicht ebenso gut wüßten, wie ich? Keine Verstellung unter so nahen und lieben Verwandten.«
»Eins würde mir sehr leid sein, wenn ich es erfahren müßte,« entgegnete Roger, der seine Pflicht, die künftige Stieftochter unter die Haube zu bringen, sträflich außer Acht ließ. »Es würde mir sehr leid sein, wenn ich hören müßte, daß Sie, noch so jung und noch so unbekannt mit dem Leben, sich ernstlich für einen Menschen interessirten, wie – wie dieser Jones.«
Es schien, als ob er den verhaßten Namen nur schwer über die Lippen brächte.
»Ernstlich interessiren! Wer hat denn davon gesprochen? Ich werde Mr. Jones heiraten – wir haben das Alles diesen Abend abgemacht; ich werde ihn heiraten, aber ich interessire mich nicht für ihn.«
Ihn heiraten, aber sich nicht für ihn interessiren! Roger fühlte sich in diesem Augenblicke von Belinda O'Shea so abgestoßen, wie sich ein Mann theoretisch nur immer von einem verwirrend hübschen Mädchen, das keine fünf Fuß von ihm im Mondenscheine steht, abgestoßen fühlen kann. Rose hatte Recht. Das Blut der Vansitarts rann in den Adern des armen Kindes und dies Blut ist kein gutes. Kaum siebzehn Jahre alt, besaß sie den berechnenden Instinkt einer dreißigjährigen Frau, und sogar einer verdorbenen dreißigjährigen Frau.
»Nun, warum gratuliren Sie mir nicht, Stiefpapa? Die Partie ist doch eine sehr wünschenswerthe – nicht wahr? Eine ganz neue Villa in Clapham,« fuhr sie den Ton ihres Anbeters parodirend fort; »eine ganz neue Villa in Clapham, eine Loge in der Oper und Diamanten. Nicht wahr, Diamanten verschönern mein Aussehen sehr?« fragte sie auf den Halsschmuck der Heiligen zeigend.
»Gewiß. Welches junge Mädchen würde nicht durch ein wenig Schmuck verschönert! Das blitzende Ding ist, wie ich vermuthe, das erste Geschenk von Mr. Jones?«
»Nein,« entgegnete Belinda ruhig. »Für Geschenke war noch keine Zeit. Mr. Jones begleitete mich, nachdem ich Sie und Rose am Casino verlassen, nach Hause – der gute Augustus mochte wohl merken, daß man seiner nicht länger bedurfte! – und ich lud ihn ein, mir Gesellschaft zu leisten, während ich zu Abend aß. Dabei machte er mir einen Heiratsantrag.«
»Er machte Ihnen seinen Antrag. Und Sie –«
»Ich nahm ihn an, Stiefpapa. Was konnte ich wohl anderes thun? Und dann, nachdem er gegangen war, kam mir der Gedanke, mir Miß Burke's Sonntagskleid zu borgen, um zu sehen, wie ich mir in feinen Kleidern gefiele. Dazu stahl ich diesen Schmuck von dem Halse der alten Beata, welche auf dem Treppenabsatze unseres zweiten Stockwerkes wohnt. Es sind nur nachgemachte Steine, keine echten Diamanten, wie ich haben werde, wenn ich erst Mrs. Augustus Jones bin! War das sehr schlecht von mir?« Und wie in plötzlicher Reue über das begangene Sacrilegium setzte sie hinzu: »Glauben Sie, Capitän Tempel, daß sich die lieben, alten Heiligen, wenn sie erst glücklich im Himmel sind, noch viel um die Schmucksachen kümmern, die sie hier auf Erden zurückgelassen haben?«
Roger blieb stumm. Er fühlte sich durch Belinda's nur auf äußere Dinge gerichteten Sinn so peinlich berührt, daß er nicht im Stande war, ihr Geplauder zu belächeln – und dennoch bezauberte sie ihn mehr und mehr. Sie war nicht kindlich, denn vollkommen überlegt, mit kaltem Blute hatte sie sich an einen Mann verkauft, den sie mißachtete und sie rühmte sich dessen noch. – Weiblich war sie ebenso wenig. Er konnte sich sehr gut vorstellen, wie bei einem Stiergefecht ihre Augen in wilder Erregung blitzten und ihre Lippen zuckten und bebten. – Auch unschuldig war sie nicht. Er erinnerte sich der Geschichten, die sie im Casino erzählt und des Behagens, mit dem sie noch vor etwa, zehn Minuten die Rolle der Lagrimas gespielt – und dennoch mochte sie alle diese Vorzüge entbehren, dennoch lag ein Reiz in ihrem Wesen, der anziehender war, als eine Vereinigung aller Cardinaltugenden es hätte sein können.
Es giebt einige Menschen, einige Ausnahmsexistenzen in der Welt, die ihre eigenen Gesetze haben; Menschen, denen die seltenste aller Gaben, die Wunderblume vollkommener Originalität, verliehen ist, und deren Eigenschaften sich deshalb nicht nach dem gewöhnlichen Maßstabe von gut und böse beurtheilen lassen. Belinda war eine solche Persönlichkeit und Roger Tempel gerade der Mann, der die wilde Bitter-Süßigkeit ihres Wesens zu erkennen und voll zu schätzen wußte. Poetische Naturen seiner Art verlieben sich oft, wie er gethan, in conventionelle Puppen, heiraten conventionelle Puppen, wie er zu thun willens war, und haben dabei dennoch das Bewußtsein, daß der beste Theil ihres Wesens und ihres Lebens unausgefüllt bleibt. Sie sterben, ohne das Glück, eine wirkliche Leidenschaft gekannt zu haben; nur weil es ihnen an Gelegenheit fehlte. Aber bietet ihnen das Schicksal diese Gelegenheit, kreuzt eine ungewöhnliche Frau ihren Lebensweg, so –
Aber unsere kleine Erzählung ist noch nicht bis zu diesem Punkte vorgeschritten. Roger ist mit Rose verlobt, Belinda mit Mr. Jones; und Belinda und Roger sind im Laufe der nächsten Viertelstunde jedenfalls nichts für einander.
Aber sie sprechen weiter und weiter und bald sind Augustus und Rose vergessen. Belinda ist wieder Lagrimas und Roger der reisende Engländer, welcher nur zu schnell ein Opfer der Reize Lagrimas geworden ist. – Nach und nach wird die Luft indessen frischer, ein rosiger Lichtschimmer beginnt sich über den Spitzen der prächtigen Bergkette zu zeigen – und erschrocken emporfahrend wird sich Belinda bewußt, daß der Morgen anbricht – daß Miß Burke um neun Uhr zurückkehrt – daß Roger der Verlobte ihrer Stiefmutter ist, und daß sie sich entschieden hat, ihr Leben in Clapham an der Seite von Mr. Augustus Jones zuzubringen.
»Wissen Sie, daß die Sonne aufgeht, Capitän Tempel und daß wir Beide seit Mitternacht hier sind?« fragte Belinda. »Hoffentlich sprechen Sie jetzt nicht mehr davon, mich bessern zu wollen. Wenn das Rose wüßte! Werden Sie es ihr erzählen?«
»Werden Sie es Mr. Jones erzählen, Belinda?«
Ihre Augen begegneten sich mit einem süßen Blick des Einverständnisses und des Vertrautseins – sie kannten sich seit etwa zwölf Stunden – und das junge Mädchen fragte nicht weiter.
Sie sagten sich Lebewohl und trennten sich mit dem stillschweigenden, durch kein Wort angedeuteten Versprechen, sich morgen an derselben Stelle wiederzufinden.
Roger Tempel fühlte – allein mit seinem Gewissen und seiner Pfeife zurückbleibend – vielleicht einige Zweifel über das Gelingen seines ersten Erziehungsversuches und die Zuträglichkeit so naher Balkonnachbarschaft. Was Belinda anbetrifft, so hatte die Atmosphäre, in der sie ihr siebzehnjähriges Leben zugebracht, keine Neigung zu casuistischen Grübeleien in ihr ausgebildet. Sie fühlte sich nur im siebenten Himmel der Glückseligkeit.
Belinda hatte nach der nächtlichen, coquetten Unterhaltung auf dem Balkon keine wirkliche Liebe zu Roger gefaßt, aber sie befand sich in dem gefährlichen Stadium, welches bei sehr jungen, sehr natürlichen Mädchen der echten Liebe voranzugehen pflegt. Geschmeichelte Eitelkeit und erregte Einbildungskraft paarten sich mit jenem angenehm prickelnden Gefühl, das uns beschleicht, wenn wir eine dünne Eisdecke betreten.
O Dank, Dank der klugen Vorsicht, welche Rose bestimmt hatte, ihn nicht unter dem Dache ihres Hotels wohnen zu lassen! Dank dem gütigen Zufall, der ihn in ein Balkonzimmer des Lohobiague-Palastes führte! Noch einmal lächelte sie im Morgengrauen vor dem erblindeten Glase dem Spiegelbilde zu – dann löste sie, wenn auch nur ungern, die halbvertrocknete Passionsblume aus ihrem Haar und vertauschte Miß Burke's seidenes Schleppkleid gegen ihr eigenes schäbiges Aschenbrödelcostume. Dann schlich sie sich mit dem geborgten Schmuckstück in die zweite Etage hinab und küßte, nachdem sie es wieder an Ort und Stelle gebracht, der Heiligen voll Dankbarkeit die kalte Hand.
Arme alte Beata; wie war sie in ihrem gläsernen Schrein abgesperrt von Mondlicht, Blumenduft und hübschen Gesichtern – von allen den schönen und guten Dingen, an denen wir uns noch erfreuen und durch die wir sündigen. In dem Geruche der wächsernen Hand war etwas, das Belinda an ihren Aufenthalt in dem irischen Kloster erinnerte, wo es als höchste Belohnung für außergewöhnlich gutes Betragen galt, wenn man in die Höhe gehoben wurde und die Finger oder Zehen einer Heiligen in einem Glaskasten küssen durfte.
Diese Erinnerung führte zu einer andern. Am Ende des Klostergartens befand sich ein gewisser von dichtem Gebüsch beschatteter Weg, von welchem aus man durch ein eisernes Gitter hindurch in die Welt sehen konnte – in die böse, schlimme Welt der Männer und Frauen, welche durch die schmalen Straßen von Cork gingen. Keiner der jüngeren Schülerinnen war es erlaubt, diesen Weg zu betreten, den die alte französische Nonne, welche die Spiele der Kinder überwachte, um sie abzuschrecken: » le bout du monde« nannte. – Gewiß konnte kein gutes, kleines Mädchen wünschen, nach dem » bout du monde« zu gehen. Aber Belinda wünschte es leidenschaftlich, und obgleich sie aus Liebe, ihrem einzigen und höchsten Gesetz, das Gebot nicht übertrat, so konnte sie doch nicht aufhören, sehnsüchtige Blicke nach dem Orte zu senden, gegen dessen verbotene, in der Phantasie ausgemalten Reize alle Annehmlichkeiten der übrigen, erlaubten Gartenplätze fade erschienen.
Sind die Lockungen dieses ersten sündigen Verlangens noch immer in ihrem Herzen mächtig?
Nach oben zurückgekehrt, schaute sie noch einmal durch den schadhaften Fensterladen nach dem Balkon ihres Nachbars. Sie roch den Duft seines Tabaks und dachte noch ein wenig an Lagrimas, an Granada und die Alhambra, jetzt ihr » bout du monde« ….
Dann legte sie den Kopf auf ihre Kissen und träumte – träumte weder von Rose's Verlobten noch von ihrem eigenen, sondern von Boleros und Stiergefechten, von Diebstählen und Einbrüchen Costa's in Hühnerställe und ähnlichen tagtäglichen Vorkommnissen ihres Vagabonden-Lebens.