Marie von Ebner-Eschenbach
Der Säger
Marie von Ebner-Eschenbach

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Es war am Spätherbstabend nach einer sehr ermüdenden Treibjagd. Man saß schon lange gemächlich im Rauchsalon beim schwarzen Kaffee; den jungen Damen entschwand mehr und mehr die Hoffnung, daß es noch zu einem Tänzchen kommen werde. In schleppendem Tempo drehte sich die Unterhaltung um lauter rasche Dinge: Luftfahrzeuge, Autos, Rennpferde, und geriet endlich – wieso, hätte niemand sagen können – ins Gebiet des Übernatürlichen. Ahnungen, eingetroffene Prophezeiungen kamen an die Reihe; zuletzt tauchten sogar Gespenster auf.

Die Hausfrau zwang sich, ernst dreinzusehen: «Ach die! Von dem Glauben an die Gespenster hat mich schon meine alte Kinderfrau geheilt. Denn, sagte sie, nackt gehen sie nicht, und wer möchte ihnen Kleider machen?»

Einige lachten, andere meinten, das sei eben ein Kinderfrauenscherz, und damit ließe sich «so etwas» nicht abtun.

Ein langer, dürrer Staatsbeamter mit dem Profil einer Krähe faßte die Hausfrau, die bürgerlicher Abkunft war, scharf ins Auge und sprach belehrend: «Gespenstische Erscheinungen sind nichts mehr und nichts weniger als eine Tatsache. Familientraditionen uralter, erlauchter Geschlechter verbergen sie.»

Die liebenswürdige und geistreiche Frau verstand die Belehrung und erwiderte: «Ja, wenn ich nicht so skeptisch wäre! Vielleicht ließe ich dann gelten, daß Familientraditionen gute Bürgen sind. Übrigens – und das ist nun mein Ernst – wenn ein Mensch, Mann oder Frau, ein gebildeter, mutiger, wahrheitsliebender Mensch, der sehr gesund, der weder nervös noch ein Dichter ist, mir sagt: ‹Ich habe mit diesen meinen eigenen Augen ein Gespenst gesehen› – dann glaube ich an Gespenster.» Mit eigenen Augen – nein, dessen konnte sich niemand rühmen; aber der eine berief sich auf das unwidersprechliche Zeugnis eines weltberühmten Gelehrten, der andere hatte einen Freund, die Zuverlässigkeit selbst, der ihm ein Erlebnis mitgeteilt...

«Gilt nicht! Gilt nicht!» unterbrach ihn die Hausfrau. «ich habe meine Bedingung gestellt, und die muß aufs Jota erfüllt werden.»

Da erhob sich eine sonore Stimme. Sie gehörte dem Gutsbesitzer Josef von Justin, einem vierzigjährigen, kräftigen Manne mit dichtem Haar- und Bartwuchs, mit vollen, bräunlichroten Wangen. Wenn er eifrig sprach, schimmerten unter dem weichen Schnurrbart zwei Reihen makelloser Zähne wie hochpoliertes Elfenbein hervor, und von seinen Augen behauptete eine moderne Dichterin, ihr blaues Lachen sei entzückend.

«Gnädige Frau», sagte er, «Muß man das Gespenst durchaus mit eigenen Augen gesehen, darf man es nicht mit eigenen Ohren gehört haben?»

«Man darf. Ich hätte dagegen nichts einzuwenden.»

«Dann will also ich die Gespenstersache führen.»

«Sie, Herr von Justin? Sie ein Gespensterhörer?»

Nun lachten alle, nur er blieb ernst. «Ich, wie ich dasitze und wie Sie mich alle kennen – wahrheitsliebend bis zur Grobheit, nicht feige, nicht nervös, nicht ganz ungebildet...»

Einige höflich berichtigende «Oho!» ertönten; er ließ sich nicht unterbrechen.

«Und wirklich auch kein Dichter. Vater von fünf Kindern, so gesund, prosaisch und phantasielos wie ich selbst. Erscheine ich Ihnen glaubwürdig?»

«Unbedingt», war die allgemeine Meinung, und man wünschte seine Gespenstergeschichte zu hören.

«Nun denn», begann er, «ich war zwanzig Jahre alt...»

«Zwanzig Jahre? O je!»sprach ein junges Fräulein.

«Es ist lange her, meinen Sie, und Sie haben recht. Dennoch entsinne ich mich so genau, als hätte die Sache sich gestern begeben, jeder Einzelheit.»

«Er wird Ihnen auch keine ersparen», fiel seine kleine, behäbige Frau ein, die es schon überflüssig gefunden, daß er seine Kinder prosaisch und phantasielos genannt hatte. «Mein Mann ist kein Schwätzer; wenn er aber diese Geschichte zu erzählen anfängt, wird er sehr, sehr ausführlich, und da gibt es kein i, das um sein Tüpfelchen zu bitten brauchte.»

«Um so besser», sagte die Hausfrau, «die Ausführlichkeit wird das Unheimliche etwas mildern.» «Wie schon gesagt», nahm Justin wieder das Wort, «ich war zwanzig Jahre alt und hatte meine Maturitätsprüfung gut bestanden. Es gelingt manchem Mittelmäßigen nur deshalb, weil ihn kein himmelstürmendes Talent, das nach Ausübung lechzt, im Lernen behindert. Im Herbste sollte ich – mein Vormund befahl's, und ich wünschte es – die Universität Bonn beziehen, vorher jedoch acht Tage auf dem Gute meiner Großtante im nördlichen Mähren zubringen. Die Ferienzeit verrann mit entsetzlicher Schnelligkeit; ich hatte sie auf großen und kleinen Bergtouren in unseren Alpenländern verbummelt. Es war dort so schön, und ich konnte mich reicht losreißen und verschob, verschob die Heimkehr immer wieder, bis für meinen Besuch bei der Tante nur drei Tage übrigblieben. Vorwürfe über meine Unpünktlichkeit brauchte ich von ihr nicht zu besorgen. Sie war ein grandioses altes Fräulein, gescheit, mutig und klar, jeder Art Sentimentalität abhold und vollkommen anspruchslos. Ich verdankte ihr viel, hatte, früh verwaist, meine Kindheit unter ihrer Obhut verlebt, nie besondere Zärtlichkeit, aber immer treue Sorgfalt von ihr erfahren. Nie hat ein Wort aus ihrem Munde mich zur Dankbarkeit gegen sie ermahnt; sie hat mich nie zu einer Rücksichtnahme aufgefordert und Entschuldigungen nahezu gehaßt. Dessen konnte ich gewiß sein, wenn ich geschrieben hätte: ‹Verzeihe, daß ich nicht pünktlich komme›, würde sie geantwortet haben: ‹Mache keine Geschichten und komm, wenn und wann du willst.› So traf ich denn mit dem glorreichsten Gewissen, aber nicht eben rosig gelaunt, aus dem märchenhaft schönen Hochgebirge in der unwirtlichen Gegend meines engsten Vaterlandes ein.

Das burgartige Schlößchen der Großtante lag auf dem Plateau einer steilen Anhöhe, die im Volksmunde der Zuckerhut hieß, von der letzten Eisenbahnstation fünfzehn Kilometer entfernt. Eine armselige Station, auf der ich vom Bahnbeamten erstaunt empfangen wurde. Was – was? Da sei ich nun doch! Man erwarte mich wohl nicht mehr auf dem Schlößchen. Alle die Tage hatten sie von dort einen Wagen geschickt, um mich abzuholen. Heute zum ersten Male keinen.

Da hieß es denn im nächsten Dorfe ein Fuhrwerk auftreiben, das mich und meine Reiseeffekten zum Transport übernähme, und das war nicht leicht, gelang aber endlich doch. Fragt mich nur nicht wie! Die Pferde meines Wagenlenkers erwiesen sich als eingefleischte Schrittgeher. Wir kamen auf den elenden Wegen kaum vom Flecke. Um so mehr beeilte sich die Dunkelheit, an dem verwünschten naßkalten Abend hereinzubrechen. Ich geriet in höchst gereizte Stimmung und ärgerte mich über alles, was mir gerade einfiel. Zum Beispiel, daß ich mich, statt zwischen elenden Sturzfeldern einherzukutschieren, im Ampezzotal befinden könnte oder daß es eigentlich nichts so Tyrannisches gebe wie die anspruchslosen Großtanten mit dem moralischen Zwang, den sie auf feinfühlende Großneffen ausüben. Widerstrebend nur gab ich zu, daß meiner daheim doch auch manches Angenehme warte: der Einzug in meine lieben, trauten Zimmer, das Wiedersehen mit einstigen Spielgefährten aus dem Dorfe, mit den alten Dienern, in erster Reihe unter ihnen mit Rudosch, dem seltsamen, dem armen Rudosch!

Wir langten bei Nacht und Nebel am Fuße des Zuckerhutes an, und wenn mein Koffer nicht gewesen wäre, so hätte ich den Fuhrmann jetzt schon verabschiedet und den Aufstieg per pedes unternommen. Aber ich rief die heilige Geduld an und blieb sitzen. Erst als wir das Plateau erreicht hatten, auf dem, von einer Mauer umgeben, das Schlößchen steht, sprang ich aus dem Wagen, lief auf das Tor zu und vollführte einen Höllenlärm mit dem eisernen Klopfer.

Nach wenigen Minuten kam der dicke Türhüter laut brummend aus seiner Klause angestapft, wußte trotz der Finsternis sogleich, mit wem er's zu tun hatte, und öffnete. Auch der noch dickere Schloßwärter (alle Diener in diesem Hause wurden dick) kam herangerollt, leuchtete mir mit seiner Laterne ins Gesicht und mißbilligte, daß ich mich mit solchem Spektakel und so spät einfände. Das ganze Haus schlafe schon. Natürlich, die alte Turmuhr zeigte eben mit mühsam holpernden Schlägen zehneinhalb Uhr an, und um zehn hatte jedermann die Ruhe zu suchen; ob er sie fand oder nicht, war seine Sache.

Die beiden Damen nahmen meine Bagage in Empfang; ich verabschiedete den verschlafenen Kutscher und die schlafenden Pferde, und der Burgfrieden umfing mich. Wir überschritten den geräumigen Hof, stiegen die Stufen, die zur Torhalle führen, hinauf. Der Schloßwärter zündete die Ampel an und schickte den Pförtner in die Küche, um ein Abendessen für mich zu besorgen. Die Halle ist ein länglicher, gewölbter Raum, von dem aus eine Treppe in das obere Geschoß emporsteigt. Rechts und links führt je eine Tür in die Zimmer des Hochparterres. Die meinen lagen rechts, und vor dem Eingang zu ihnen blieb ich stehen. Der Schloßwärter hatte aber die gegenüberliegende Tür geöffnet und forderte mich auf, in eines der Fremdenzimmer einzutreten.

‹Warum dahin? Warum denn nicht in meine alten Zimmer?›

Ja, das ginge nicht – ja

Ob jemand anders drin wohne, ob sie ausgeräumt wären?

‹Gott behüte – das nicht – ja!›

‹Warum also, warum?› fragte ich nochmals. Und er näherte sich und erwiderte zögernd:

‹Sie hätten keine Ruhe – ja!›

‹Vor wem oder vor was keine Ruhe? Habt Ihr am Ende Ungeziefer drin?›

Nun hatte ich's verschüttet mit dem guten Kiwala, ihn tief gekränkt in seiner Schloßwärterehre. Er setzte seine trotzige Miene auf und fragte herausfordernd:

‹Ungeziefer? Wie meinen?›

‹Ich meine, daß ich in meine Zimmer will›, sagte ich, ging auf die Tür zu, fand sie verschlossen, ärgerte mich und rief: ‹Sperren Sie auf! Sperren Sie sogleich auf!›

Er, ohne Widerrede, plötzlich verstummt, wie immer, wenn er sich bis aufs Blut beleidigt fühlte, holte das Schlüsselbund herbei und hatte eben meinen Befehl ausgeführt, als der Pförtner mit dem Abendessen aus der Küche kam. Mitten in der Halle blieb er stehen und fragte ganz erschrocken: ‹Herr Jesus, wohin denn?›

Der auch? Hatten mich die Herren definitiv ausquartiert? Da mußte ich doch sehen, was es gäbe, zog mein Feuerzeug hervor, machte Licht und trat ins Zimmer. Ich fand die Leuchter an ihrem gewohnten Platz auf dem Schreibtisch neben der Tür, setzte eine der Kerzen nach der anderen in Brand, sah mich um, ging in das anstoßende Schlafgemach, fand alles unverändert und überall die Spuren von Kiwalas bewährtem Reinlichkeitsinn.

Die Diener waren mir gefolgt, der eine schweigend und grollend, der andere bleich und verstört. Auf dem Servierbrett in seinen zitternden Händen klirrten Glas und Geschirr.

Nun machten sie sich an die Arbeit, brachten meine Sachen herein, bestellten den Waschtisch und das Bett. Ich hätte den gekränkten Kiwala gern wieder gut gemacht und suchte ihn in ein Gespräch zu ziehen, während er meinen Koffer auspackte, erkundigte mich nach dem Befinden seiner Frau, seiner Kinder, bekam aber nur einsilbige Antworten; und als ich endlich fragte: ‹Wie geht's meinem Rudosch? War er fleißig, hat er wieder eine Überraschung für mich bereit?›, verzog Kiwala nur den Mund und wechselte mit dem Pförtner einen bedeutungsvollen Blick.

‹Wie geht's meinem Rudosch?› wiederholte ich.

Abermaliges Achselzucken; dann kam es zögernd heraus: ‹Ja, wer weiß, wie's dem geht.›

‹Wieso? Reden Sie doch! Warum weiß man's nicht?›

‹Ja – weil er tot ist, ja.›

‹Tot?... Mein lieber Rudosch gestorben! Wann gestorben?›

‹Im Dezember wird's ein Jahr.›

‹Woran gestorben? Wie gestorben?›

‹Im Rausch. Erfroren auf dem Wege aus dem Wirtshaus. Ja. Im Wald, ja.›

‹Wo im Wald?›

‹Unter den Buchen, wo's zu den Fichten geht, haben sie ihn gefunden.›

‹Und ich wußte nichts, und man hat es mir nicht geschrieben?›

Dem Herrn Vormund hatte man's geschrieben, und er, in seiner unüberwindlichen Scheu vor der Mitteilung einer unangenehmen Nachricht, verschwieg es mir.

Die beiden Diener hatten ihres Amtes gewaltet, ich entließ sie, und sie empfahlen sich.

Hinter der Tür hielten sie noch eine Beratung ab. Ich unterschied deutlich die Worte des einen: ‹Ihm doch sagen›, und des anderen: ‹Ist verboten›. Schon wollte ich sie zurückrufen und sie zur Rede stellen, ließ es aber gut sein. Ich hatte einen Wolfshunger und einen Bärendurst; der Wein und die kalte Küche, die sie mir aufgetragen hatten, schmeckten mir vortrefflich; ich aß und trank, ohne dabei auch nur einen Augenblick mein tiefes Leidwesen um den armen Rudosch weniger schmerzlich zu spüren. – Den Armen, ja den sehr Armen!... Er hatte nichts, nicht einmal einen Familiennamen, nicht einmal die Erinnerung an seine Eltern, wußte nur, daß er zu den Seiltänzern, mit denen er herumzog, solang er dachte, nicht von Geburt an gehöre. Bei einer Vorstellung in unserm Dorfe verunglückte er, und die Truppe wollte ihn beim Abzuge in ihrem Karren mitschleppen, elend, wie er war, mit gebrochenen Gliedern. Meine Großtante nahm sich seiner an, und die fahrenden Künstler überließen ihr gern die Sorge um das unnütz gewordene Mitglied. Rudosch wurde ins Schlößchen gebracht und gesundgepflegt.

Seitdem blieb er da; ich habe das Haus nicht ohne ihn gekannt. Er war das Ideal eines Dieners der Diener und eine sehr beliebte Persönlichkeit. Daß er jemand geliebt hätte, außer vielleicht mich, habe ich nie bemerkt. Die Frauen waren ihm so wenig gefährlich, wie er es ihnen, begreiflicherweise, war; er hatte ja mehr Ähnlichkeit mit einem Gorilla als mit einem Apoll. Unvergeßlich bleiben mir seine kleine, breitschulterige Gestalt, sein bleiches, eingefallenes Gesicht mit den schwarzen Bartstoppeln, die behaarten Hände, die Haare, die glanzlos wie Pech ihm tief in die niedrige Stirn wuchsen. Wenn man ihn ansprach, glotzte er einem erstaunt und fragend ins Gesicht, als ob er kaum glauben könne, daß man sich mit ihm beschäftige oder etwas von ihm wolle. Und jeder wollte doch etwas von ihm, hieß ihn tun, was der Betreffende selbst hätte tun sollen, oder nahm seine Geschicklichkeit in Anspruch; denn er war ein Naturgenie für mechanische Arbeiten. Mein schönstes Spielzeug, eine famose Armbrust, einen schlanken, großen Bogen, feine, buntbefiederte Pfeile verdankte ich seiner Kunstfertigkeit. Nie war eine Arbeit ihm zuviel, er verhielt sich bei jeder gleich emsig, gleich ernst und vertieft. Nur wenn er aufgefordert wurde, einen dürren Ast auf einem hohen Baume in Wipfelnähe abzusägen, ging das Herz ihm auf. Ein Freudenglanz blitzte aus seinen schwermütigen Augen. Er schwang sich behende von Ast zu Ast, baumelte tollkühn an einem Zweige. Und wenn ich starr vor Angst unten stand und zu ihm hinauf rief: ‹Gib acht, um Gottes willen, gib acht!›, führte er in der Höhe ein Seiltänzerkunststückchen nach dem andern auf. Seine eigentliche und auch seine liebste Beschäftigung bestand im Sägen des Brennholzes für den Hausbedarf. Es wurde aus dem Walde zugeführt, und Tag für Tag konnte man Rudosch, im Winter durch lange, im Sommer durch kürzere Zeit, unter dem vorspringenden Dache des Schuppens bei der Arbeit sehen. Er verrichtete sie mit der Unermüdlichkeit und Gleichmäßigkeit einer im besten Stande befindlichen Maschine, immer rastlos, immer schweigend, besonders um die Zeit, in der sein böser Dämon ihn zu ergreifen drohte. Sie kam viermal im Jahre; mein armer Rudosch war ein Quartalsäufer. Das klägliche Ereignis kündigte sich durch sichere Vorboten an: aufs äußerste getriebenen Fleiß, tiefere Traurigkeit. Er sprach nicht, aß kaum, starrte und starrte ins Leere, stand vor mir und sah mich nicht, ging umher wie einer, der einen schweren Fluch nachschleppt – und war plötzlich verschwunden. Jetzt wußte man, er sitzt in irgendeinem Wirtshause, möge ihn suchen gehen, wer Lust hat, und trinkt und trinkt. Nach einigen Tagen kam er wieder, mehr oder weniger verwundet nach einem schweren Fall, den er unterwegs getan. Einmal hatte er ein Loch im Kopf, die mit Blut getränkten Haare klebten drüber wie eine Kruste. Ich schrie auf, als ich es bemerkte: ‹Rudosch, wer hat dir das getan?› Er schüttelte den Kopf, sah zu Boden und sägte und sägte. Ich ging oft fort von ihm, weil ich seine Todestraurigkeit nicht mit ansehen konnte, versteckte mich in einem Winkel und weinte über ihn.

Was irgend geschehen konnte, um ihn zu heilen, geschah, in Güte wie in Strenge, durch meine Großtante, durch den Arzt, den geistlichen Herrn. Umsonst. Man nahm endlich den Quartalrausch des armen Rudosch wie ein Elementarereignis hin.

Du Armer! Du Armer! Man soll dir deine Ruhe gönnen, soll dich nicht zurückwünschen in ein Leben, das dir nichts Gutes zu bieten hatte. -

In den Zimmern war es wohlig warm geworden. Die Diener hatten viele Kerzen angesteckt; hell und freundlich sah meine alte Umgebung mich an. Die Möbel mit den spindeldünnen Füßen und den bunten Überzügen, der Glasschrank mit den Büchern, die mich einstens entzückten, der kleine Werktisch, an dem ich mich so fleißig mit Tischlerarbeit mühte, alle die alten Bekannten heimelten mich an. Auch das Schlafzimmer war gut gehalten, und alles befand sich darin auf dem alten Fleck. Es lag gegen Westen in einer stumpfen Ecke des unregelmäßig gebauten Schlößchens, war lang und schief und hatte durch ein hohes, schmales Fenster, das in einer tiefen Mauernische lag, die Aussicht auf den Zwinger. Einige schöne alte Bäume, unter denen eine Fichte die Königin war, schmückten ihn. Mein Bett stand in der Nähe des Fensters, mit dem Kopfende an der Wand, und mein erster Blick beim Erwachen fiel auf die immergrüne Majestät. Die Spitze ihres Wipfels glänzte wie ein Stern, wenn drüben die Sonne aufging. Langsam glitt das Licht an ihren Zweigen herab und vergoldete allmählich den ganzen Baum. Ein paar kleine Wirtschaftsgebäude, darunter die Werkstatt des armen Rudosch, bildeten seine Umgebung.

Ich trat ans Fenster, wollte einen Blick nach dem Schauplatz seines unermüdlichen Fleißes werfen, doch war in der tiefen Dunkelheit durchaus nichts zu unterscheiden. So ging ich denn zu Bette und schlief sogleich ein. Ich konnte aber nicht lange geschlafen haben, als ich plötzlich geweckt wurde. Wodurch, hätte ich nicht sagen können. Durch das heftige Zuschlagen einer Tür, durch den Fall eines schweren Gegenstandes? Ein knisterndes Geräusch folgte, ein regelmäßiges Hin und Her, das von einer in Bewegung gesetzten Säge zu kommen schien. Merkwürdig, daß sie jetzt Holz sägen in der Nacht, dachte ich, wenn man das denken nennen kann, was einem in der Schlaftrunkenheit durch den Kopf schwebt... Ach was, ach was! – nicht draußen, in meinen Ohren sägt's -, bin Wein zu trinken nicht gewöhnt, habe vielleicht ein Räuschlein... Ein Räuschlein, das mir eine besonders gute Nacht verschaffen wird. Und ich legte mich aufs Ohr und schlief weiter, erquickend und tief, und als ich am Morgen erwachte, war, wie ich sah, Kiwala schon da gewesen. Meine Kleider hingen sauber ausgebürstet am Rechen, der Waschtisch und die Wanne waren mit Wasser versorgt. Bevor ich noch mit meiner Morgentoilette fertig geworden, fand der Schloßwärter sich wieder ein, sah mich scheu mit neugierigen Augen an, fragte, wie ich geschlafen habe, und nahm mein ‹Gut, vortrefflich!› erstaunt und ungläubig auf.

Die Großtante empfing mich freundlich wie immer, aber um einen Grad weniger kühl als sonst. Auch ihre erste Frage war, wie ich geschlafen habe; meine befriedigende Antwort machte ihr sichtlich Vergnügen. Sie hatte einspannen lassen, und nach dem Frühstück fuhren wir in den Wald. Er war zum großen Teil unter ihrer langen Regierung angelegt worden und mit gutem Rechte ihr Stolz. Sie verstand sich auf die Forstwirtschaft trotz eines Professors der Waldbaulehre. Ihre ‹Baumkinder›, wie sie sagte, belohnten die Pflege, die sie erfuhren, und strotzten von Gesundheit und Kraft. Wir hatten den Wagen verlassen und schritten unter alten, graustämmigen Buchen einem prächtigen Nadelholzbestande, der Lieblingsschöpfung der Großtante, zu. Auf diesem Wege fiel mir der Tod des armen Rudosch wieder ein, und ich fragte, ob wir nicht in der Nähe der Stelle wären, an der man seine Leiche gefunden hatte. Die Großtante antwortete kurz, es sei möglich, und lenkte sofort das Gespräch ab. Offenbar wollte sie an die traurige Begebenheit nicht erinnert werden, und ich hütete mich, ihrer nochmals zu erwähnen.

Wir kamen knapp vor dem Mittagessen von unserer Ausfahrt zurück und fanden im Speisezimmer eine junge Dame, in die ich mich sogleich verliebte. Sie hieß Ellen Merton und fungierte seit einem Jahre bei meiner Großtante als Vorleserin. Ein entzückendes Geschöpf, frisch und heiter wie ein Maimorgen, geistreich und verständig. Ich unterhielt mich so gut mit ihr, daß es mich verdroß, als am Nachmittag Besuch erschien, noch dazu mir zu Ehren geladene Gäste aus der Nachbarschaft, denen ich Zeit und Aufmerksamkeit widmen mußte. Zur Entschädigung las Miß Merton am Abend schöne Gedichte von Longfellow reizend vor. Der Tag war zu rasch verflogen; ich wollte protestieren, als die Großtante um zehn Uhr aufstand und mich verabschiedete. Aber von einem Sündigen gegen die Hausordnung wollte sie nichts hören, es blieb dabei; sie reichte mir die Hand, riet mir, so bald und so rasch einzuschlafen wie gestern, und verließ den Salon, begleitet von ihrer allerliebsten Vorleserin.

Nun tröstete ich mich: morgen ist auch noch ein Tag! und wußte nichts Besseres, als die Stunden, die mich von ihm trennten, in angenehmer Bewußtlosigkeit zu verbringen. So begab ich mich denn in bester Laune zur Ruhe und befolgte aufs Haar den Rat der Großtante. Eine gute Weile mochte ich wohl im ersten, tiefsten Schlafe gelegen haben, als ich aus ihm aufgeschreckt wurde wie gestern. Ich fuhr in die Höhe und horchte gespannt und war mir im ersten Augenblick bewußt: nicht das Zuschlagen einer Tür, nicht der Sturz eines schweren Gegenstandes hatten mich geweckt, sondern das kräftige Geschleudertwerden eines solchen auf eine harte, aber bewegliche Masse, die unter dem Anprall knisterte... Einen Augenblick Stille, und dann ein sägendes Geräusch – es kam von außen, das war mir heute sofort ausgemacht; es kam von der Stelle her, wo die Werkstatt meines armen Rudosch sich befand.

Dort hatte einer eine Säge in Bewegung gesetzt. Sie glitt gleichförmig und behend hin und her und hatte eine eigentümlich scharfe, hohe, boshafte Stimme und sagte ganz deutlich: Mit Fleiß! mit Fleiß! – und das lebendige Holz stöhnte unter ihr: 's tut weh! 's tut weh!... Nun kam ein Knack, ein Wurf, die Scheite flogen auf den Holzstoß, er knisterte – dann folgte die Pause... Er spannt ein neues Scheit ein. Er – wer? Wem fällt es ein, Holz zu sägen mitten in der tiefschwarzen Nacht?

Wie lange er's schon treibt? – Wie lange er's noch treiben will? – Mir klopft das Herz vor Ungeduld und noch einem anderen Gefühl, das ich mir nicht eingestehen will... Und der Unermüdliche sägt und sägt, es knackt, die Scheite fliegen, der Holzstoß knistert... alles still. Jetzt, jetzt! Ich atme auf, zähle die Sekunden – jetzt wird Ruhe sein... Noch nicht! Das verdammte Sägen fängt von neuem an. Wieder eine Pause, wieder Hoffnung auf Ruhe, durch zehn, durch zwölf Sekunden – wieder die Enttäuschung. Sie tanzt einem auf den Nerven, diese Abwechslung zwischen erlösender Ruhe und dem aber- und abermals erhobenen Gekreische der eisernen Zähne. Sie singen ihr schrilles Lied: Mit Fleiß! mit Fleiß! – und das lebendige Holz stöhnt: 's tut weh! 's tut weh! Ich machte Licht, stand auf, trat ans Fenster und sah hinaus. Es war, wie wenn ich in ein verschlossenes Rohr hinein gesehen hätte. Der drüben, der Säger, hatte keine Laterne angesteckt, verrichtete seine Arbeit im Dunkel. Was das heißt? – Was das nur heißt?... Ich hatte einen närrischen Einfall, über den ich selbst lachen mußte. Lachen – nun, im ganzen war mir nicht danach. – Rieselnde Schauer durchfröstelten mich. Ein Ende! Ein Ende! Der Wahnwitz muß ein Ende haben...

Ich riß das Fenster auf. Ein eisiger Luftstrom blies mir entgegen, löschte das Licht. Ich beugte mich hinaus – keine Veränderung. Das sägende Geräusch blieb sich gleich, hörte sich bei offenem Fenster nicht anders an als bei verschlossenem. Konnte das sein? Mein Verstand war noch rege genug, um zu denken: Es kann nicht sein... Aber ich höre, höre ja, daß es so ist. Es kann nicht sein, und es ist... Endlich überkam es mich: So sei es denn! Nimm das Unerklärliche hin – was kümmert's dich? Geh schlafen und laß den Spuk sägen, soviel er mag. Ja – was es mich kümmerte? – Daß es mich nicht losließ, sich anklammerte an jeden Lebensnerv, an jede Faser meiner Wesenheit, mich mit übermenschlicher Stärke festhielt und mich zwang: Hör zu! Hör zu! Höre die Säge hin und her schleifen, gleichförmig, rastlos, unermüdlich, so wie nur einer sie gehandhabt hat, höre die Scheite knacken und auf den Holzstoß fliegen... In mir bäumte sich alles auf gegen den gebieterischen Zwang; ein Grimm, ein wildes Wollen zu drohen, zu überwältigen erfaßte mich in meiner Todesangst... Ich raffte mich zusammen und stieß mit aller Kraft meiner Lungen den Schrei hinaus ‹Rudosch!›

Aber – mein Schrei erstarb auf meinen zuckenden Lippen, weckte keinen Ton; die schwarze, gespenstische Nacht verschlang ihn, verschlang jeden Laut außer dem einen, geheimnisvoll grauenhaften. Den trug sie, der schwebte heran auf eisernen gezahnten Flügeln, kälter als kalt, leiser als der Flug der Fledermaus, der strich über die Wurzeln meiner Haare, strich mir über Stirn und Augen, nahm meinem Mund den Atem, meinem Herzen den Schlag. -

Und nun – nun alles still, um mich, in mir, totenstill, und mein Bewußtsein entschwunden...

Aus tiefer Ohnmacht – ob bald, ob spät, könnte ich nicht sagen – erwachend, noch halb betäubt, erhob ich mich vom Boden, auf den ich gesunken war, und schleppte mich in mein Bett.

Der schönste Herbstmorgen begrüßte mein Erwachen. Vor einer Weile schon mußte die Sonne am Horizonte erschienen sein; denn Königin Fichte prangte in Gold und Purpur vom Wipfel bis zum Saume ihres ringsum und weithin auf dem Boden ausgebreiteten Nadelkleides. Mir gegenüber war indessen der Vollmond rot aufgegangen; da stand Kiwala, betrachtete mich mitleidsvoll und sagte etliche Male: ‹Ja, ja!›

Als ich bei meiner Morgentoilette in den Spiegel sah, erschrak ich über meinen Anblick; es war der eines Menschen, der eine schwere Krankheit überstanden hat.

Von der Großtante wurde ich mit einem Blick begrüßt, in dem der Ausdruck von Enttäuschung lag. Sie fragte heute nicht, wie ich geschlafen habe. Nach dem Frühstück schlug sie mir vor, mit ihr einen Besuch bei Verwandten zu machen, die in der Nähe wohnten, meine zwei letzten Ferientage dort zuzubringen und dann direkt nach Wien zu fahren.

‹Und Miß Merton?› fragte ich.

‹Fährt mit uns, und sogar recht gern. Sie hat sich, mußt du wissen, vor kurzem halb und halb mit deinem Vetter Eduard verlobt.›

Es war ein kleiner Schmerz, den ich aber bald überwand. Miß Merton heißt seit neunzehn Jahren Ellen Justin und ist unsere sehr liebe Kusine.

Im Winter ließ meine Großtante mir durch meinen Vormund mitteilen (sie selbst war eine Feindin des Briefschreibens), daß sie das Schlößchen verkauft und sich in Südtirol, in der Nähe von Rovereto, angesiedelt habe. Dort besuchte ich sie noch manches Mal. Sie war immer gleich heiter, lebhaft, angeregt; aber von ihrem ehemaligen Gute, von ihrem geliebten Walde durfte man nicht sprechen. Nur der alte Kiwala, dessen Gesicht immer runder, dessen Leibesfülle immer ansehnlicher wurde, teilte mir einmal flüsternd mit, das Schlößchen habe oft den Besitzer gewechselt, sei aber jetzt in festen Händen.»

«Damit wollen Sie andeuten», sprach die Hausfrau, «der spukhafte Säger sei der Arbeit doch endlich müde geworden?»

«Ich deute nichts an, gnädige Frau, ich berichte Tatsachen.»

«Und Ihre Großtante hat nie mit Ihnen von diesen ‹Tatsachen› gesprochen?»

«Nie.»

«Warum nur?»

«Vielleicht aus demselben Grunde, aus dem es in Westfalen verboten war, vom ‹zweiten Gesicht› zu reden.»

Eine Pause entstand, dann fragte die Hausfrau ernst und eindringlich: «Also wirklich, Herr von Justin, Sie wollen diese Sägerei wirklich gehört haben?»

«Ich habe sie wirklich gehört», erwiderte Justin.


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