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Erzählungen.


Der Fink.

»Lux! Lux! Herein da! Gleich da herein! Garstiges, grausliches, miserables Tier!« In allen Winkeln ihres Gedächtnisses suchte sie nach einem tödlich beschämenden Schimpfwort, um es dem Hunde an den Kopf zu schleudern, noch ehe sie selbst bei ihm ankam und ihm all das Üble antat, das sie gegen ihn im Sinn führte.

Der Hund war ein großer, weißer, kurzhaariger Spitz. Er hatte einen rabenschwarzen Fleck über dem halben Gesicht und dem halben linken Ohr, was ihm etwas ungemein Herausforderndes gab, und er konnte so verächtlich dreinschauen wie kein zweiter Hund auf der Welt. Ganz flüchtig sah er sich nach dem schlanken Persönchen mit den blonden, nach Knabenart geschnittenen Haaren um, das auf ihn zugeeilt kam, und wendete seine Aufmerksamkeit gleich wieder etwas Kleinem, Lebendigem zu, das sich im Grase regte, beschnüffelte es, betupfte es mit seiner Pfote.

»Marsch!« – Das R in dem Worte klang wie eine lange Reihe von R, die nacheinander ausgesprochen worden wären, also fast wie rollender Donner. Zugleich erhielt der Spitz einen mit aller Kraft, über die ein achtjähriges, eher zartes als starkes Mädchen disponiert, geführten Faustschlag in die Flanke. Pia tat sich dabei mehr weh als ihm, denn der Hund mußte irgend einen Vorfahren vom Geschlecht der Wale haben, wenigstens schien er aus lauter Fischbein zu bestehen.

Puterrot und die Augen voll Tränen, kniete Pia jetzt im Grase und hielt das kleine Lebendige in ihren Händen, streichelte, küßte, bedauerte es. Das liebe, das arme, ach so klein! so arm! Ein ganz junges Finklein. Zu früh hatte es sich aus einem der Nester auf der großen Rüster gewagt, dem ältesten unter den alten Bäumen des Gartens, der gar vielen Vögeln Obdach gewährte. Fast so hoch wie der Schloßturm ragte sein Wipfel, seine Äste und Zweige bildeten einen Hain. Wie konnte das verirrte, erschöpfte Vögelchen den Weg zurückfinden ins Vaterhaus?

Es schien sich der ganzen Größe seines Unglücks bewußt, stieß von Zeit zu Zeit jämmerliche Piepse aus, zwinkerte in Qual und Todesangst mit den dunklen glänzenden Äuglein. Sein Körperchen zuckte, sein Herz schlug mit rasender Schnelligkeit. Es war gewiß schwer verletzt. Der garstige Lux hatte es gebissen oder ihm vielleicht die Brust eingedrückt ... was wußte Pia, was er ihm getan! Und jetzt hatte das miserable Tier noch die Unverschämtheit, heranzutreten, ganz vertraulich die Schnauze auf ihre Schulter zu legen, nachdem er diese selbe Schnauze mehrmals rasch nacheinander mit der Zunge abgeleckt, und ihr mit seinen sehr sprechenden Augen und seiner naiven Missetätermiene zu sagen:

»Gib mir das Ding zurück. Ich hab's gefunden, 's ist mein. Ich brauch's zum Spielen. Es quietscht so nett, wenn ich drauf tupfe mit meiner Pfote!«

»Marrrsch!« Wieder rollte das R wie Donner. Pia sprang auf und gab dem Lux einen Tritt, bei dem sie sich fast den Fuß verrenkte, und der ihn lächeln machte.

Sie rannte ins Schloß, in die Küche, ließ sich Milch und Weißbrot geben und versuchte das Finklein zu füttern. Sie verstand sich auf die Kunst. Drei aus dem Nest gefallene Spatzen hatte sie im vorigen Sommer prächtig aufgebracht, und zwei von ihnen waren in noch zarterem Alter gestanden als das Finklein. Aber freilich, das waren eben Spatzen gewesen, zäh und ordinär, solche, wie es Hunderttausende gibt, nichts Feines, Exquisites, das auf ganz andere Lebensbedingungen gestellt ist als die große Masse.

Das Finklein verschmähte die Nahrung, die seine Wohltäterin ihm bot, und wenn sie ihm den Schnabel mit sanfter Gewalt öffnete und ihm ein Tröpfchen Milch einflößte, schluckte es nicht einmal.

Die Köchin, eine majestätische, dicke Person, mit einem Suppentellergesicht und blauen, schmachtenden Augen, hatte von ihrer großen, blanken Werktafel aus den Bemühungen Pias mitleidig zugesehen.

»Sie plagen das arme Tier umsonst,« sagte sie sanft und freundlich. »Geben Sie's her. Ich mach's tot.«

»W–as? totmachen?« Pia hob das schmucke Köpfchen, streckte sich, wurde ordentlich größer vor Entrüstung. » Sie wird man totmachen, Sie Grausame ...«

Die Mörderin unzähliger Tauben, Hühner, Perlhühner, Truthühner zuckte mit ruhigem Selbstbewußtsein die Achseln: »Ich bin nicht grausam, ich könnt ein armes Tier, dem nicht mehr zu helfen ist, nicht so leiden sehen, weil's mich freut, mit ihm zu spielen.«

Pia schauderte; sie stürzte aus der Küche hinaus, fort von der Entsetzlichen, der Totmacherin von Beruf, die so schreckliche Dinge sagte und vielleicht sogar – recht hatte:

Weil es sie freut, mit ihm zu spielen?

Wenn das wahr ist, dann ist sie ja viel schlechter als Lux, der keine Vernunft hat und ein Nebentier quält, ohne zu wissen, was er tut ... Menschen haben einen andern Standpunkt und eine andere Verantwortlichkeit.

Was ist neulich geschehen, als der Tierarzt zum alten Jagdhund Flock gerufen wurde und erklärte, daß er unheilbar krank sei? Da hat die Großmutter zu Papa gesagt: »Erlös ihn! Spend ihm eine gnädige Kugel! Er soll den Tod eines braven Jagdhundes sterben.« – Und Papa, dieser engelsgute Papa, hat ein Gewehr genommen, ist hingegangen und hat den alten Flock erschossen. Und Flock war Papas Lieblingshund.

»Du bist auch mein Liebling,« flüsterte sie dem Vogel zu, »und ich will dich von deinen Leiden erlösen. Und ich weiß den schönsten Tod für dich, den schönsten Vogeltod. Im letzten Augenblick noch sollst du glauben können: ›jetzt flieg ich‹. Und dann wird alles aus sein. Bei einem Vogel ist dann alles aus.«

Sie lief über den Hof, in den Gang und die Stufen hinauf, die zur Wohnung des Turmwartels führten.

Kein wirklicher Wartel. Er hieß nur so und war ein greiser, pensionierter Hausdiener. Er tat auch nichts mehr, außer Tabak schnupfen und schlafen. Den Turm sah er als seine eigenste Domäne an, und weil er selbst nie mehr hinaufstieg, war sein schwarzer Kater angewiesen, die Besucher zu begleiten.

Die Tür des Wartelzimmers war nur angelehnt und hatte ein großes Guckloch. Pia warf im Vorübergehen einen Blick hindurch. Der Alte schlief in seinem Lehnstuhl, der Kater saß neben ihm auf dem Tisch und lauerte. Die Kleine erblicken und auf den Boden springen war eins. Er zwängte sich durch den Türspalt wie eine Schlange aus Samt und schlich hinter Pia her, unhörbar auf seinen elastischen Pfoten. Immer näher kam er heran, schmiegte sich an sie, warf ihr aus den großen, runden Topasaugen forschende Blicke zu.

Ob er den Vogel witterte? Ob er ahnte, was Pia in der Hand trug?

Auf der Treppe lag der Staub fingerdick, und ein unheimliches Zwielicht herrschte. Die wenigen Fenster waren nicht viel breiter als eine Zaunlatte und mit Schmutz und Spinngeweben überzogen. Manchmal huschte etwas vorüber – eine Ratte gewiß. Dann schoß der Kater drauf los, und dann gab's einen kurzen, wütenden Kampf, ein schrilles Pfeifen gellte, ausgestoßen in Schmerz und Todesnot. Und das Raubtier war wieder da, und seine gelben Augen leuchteten und sahen wieder und wieder zu Pia hinauf und schienen zu sagen: »Die rechte Beute hab ich noch nicht, die möchtest du mir vorenthalten. Wart nur, ich hole sie mir, ich bin stark, ich habe Krallen.«

Der Kleinen wurde bang, sie hastete, sie lief die Stiege hinauf. Ach, die wollte heute kein Ende nehmen! Und die Stufen waren so steil, und so schwindelig wurde man bei dem ewigen Rundherum und Rundherum!

Seit einer Weile schon hatte das Finklein kein Lebenszeichen gegeben. Plötzlich rührte sich's, sträubte seine Federn, seine Füßchen zappelten und zuckten ...

Vorüber ... nichts mehr. Das war vielleicht das Letzte. Das Finklein war vielleicht jetzt gestorben. Pia trug eine kleine Leiche in ihrer Hand ...

Schrecklich, schrecklich, der Tod ist etwas Schreckliches, und ihn da haben, ihn fühlen ... Ein Grauen überrieselte sie, und sie flüsterte dem Vogel zu:

»Stirb nicht, stirb nicht in meiner Hand!« Sie legte seinen Kopf an ihre Wange, hauchte leise über ihn hin, und – schrie auf. Der Kater war mit einem wilden Satze heraufgesprungen, ihr fast ins Gesicht, und fauchte und dräute. Eine feige Regung stieg in dem Kinde auf: Gib es ihm! Gib ihm das Vögelchen! Es ist ja tot ... Aber vielleicht doch noch nicht ganz tot und kann sich noch fürchten, noch etwas davon fühlen, wie es zerfleischt wird. Nein, und – nein! Man hat doch seinen Kopf, man wird nach seinem eigenen Kopf tun und nicht nach dem eines ekelhaften alten Katers.

»Fort, Unkatz! Unkatz!« ruft sie, und daß sie einen so verletzenden Namen für ihn gefunden hat, freut sie, stärkt sie. Sie stürmt die Stufen hinauf.

Da endlich war sie angelangt beim Pförtlein, das auf die Plattform führt. In seinem altersgrauen, von oben bis unten geborstenen Holze bildete das hereinströmende Sonnenlicht goldene und diamantene Stäbe.

Pia stieß es auf und betrat die Plattform. Der Kater ihr auf den Fersen. Sie fürchtete ihn nicht mehr, sie küßte den Vogel noch einmal auf sein Köpflein.

»Jetzt erlös ich dich, bald wirst du nicht mehr leiden. Du wirst fallen – fallen – es wird dir sein wie im Traum.«

Über die Mauerbrüstung gebeugt, blickte sie hinab.

Lauter Wipfel, und der alle überragte, war der der alten Rüster, und schien so nah, daß man meinte, ihn greifen zu können. Und ganz oben in den feinsten Zweiglein seiner Krone huschte es unstet hin und her, ward ein banges Schreien und Klagen laut, und so klein die Brust, der es entquoll, so groß und verzweiflungsvoll der Schmerz, der sich darin aussprach.

»Bist du's, Finkenmutter? Bist du's, Arme? Du wirst dein Kind wiedersehen, es kommt, aber es ist tot.« Pia streckte den Arm aus, und im Augenblick war der Kater dicht an sie heran auf die Mauer gesprungen.

»Du bekommst ihn nicht, du nicht!« rief das Mädchen, drückte einen Moment die Augen fest zu und öffnete die Hand.

Das Vöglein entglitt ihr und sank eines Atemzugs Dauer. Dann ... Herr Jesus, Herr Jesus – es war nicht tot, es lebte! Seine Flügel spreizten sich, aus seiner Kehle drang ein leises, halb banges, halb freudiges Zwitschern, es flog, ein bißchen ungeschickt und wie trunken, aber flog dem Wipfel der Rüster zu, und dort erschallte ein Jubeln, ein Jauchzen seligen Entzückens. Dazwischen ein eifriges, fragendes, besorgtes Piepsen: »Wie geht's? Bist gesund? Fehlt dir nichts?«

»Nein, jetzt fehlt ihm nichts mehr!« Pia brach in helles Lachen aus. Sie lachte dem Kater ins runde, flache, ins kläglich bestürzte Gesicht.

»Spring nach! Hol dir's, alter dummer Kater! Es ist gerettet vor dir, vor allen seinen Feinden, es ist bei seiner Mutter!«

Sie hielt plötzlich inne, sah nachdenklich in die Feme und wiederholte langsam: »Bei seiner Mutter.«

Wie einem da ist, wußte sie schon lange nicht mehr ... Sie war damals so gar klein gewesen ... aber herrlich muß es sein, für einen Vogel und für ein Kind.


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