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Ich, die Gred Schopperin, ward geboren im Jahre 1404 nach Christi Geburt, am Eritag nach Palmsonntag. Mein Oheim Kristan Pfinzing von der Burg, ein Witmann, dessen Hausfrau eine Schopperin gewesen, hob mich aus der Taufe.
Mein Vater, dem Gott gnädig sei, war der Franz Schopper, den man den Sänger nannte. Er starb in der Nacht des Montag nach dem Sonntag Lätare anno 1404, und seine Frau, meine Mutter selig, hieß Kristein, war eine geborene Behaim und schenkte ihm auch meine beiden Brüder Herdegen und Kunz Schopper. Sie starb am Sankt Katharinenabend des Jahres 1404, also daß ich schon als Kind die Mutter verlor, und auch damit kränkte mich Gott gar hart, daß er den Vater in seinen Gnaden von hinnen nahm, bevor ich noch die Sonne geschaut.
Statt eines lieben Vaters, wie ihn andere Kinder besaßen, hatte ich nur ein Grab auf dem Friedhof und die freundliche Kunde, die mir solche, die ihn gekannt, von ihm gaben; und ihnen zufolge ist er ein gar fröhlicher, lieber und der eigenen, sowie der Stadt Geschäfte trefflich kundiger Herr gewesen. Der Sänger ward er geheißen, weil er, auch noch, da er im Rat saß, so süß und minniglich zum Saitenspiel zu singen vermochte. Und diese Kunst hatte er im Welschland erworben, wie er daselbst zu Padua sich der Rechtsgelehrsamkeit befleißigt; auch soll ihm die Musika in der weiten Fremde großen und köstlichen Minnelohn von schönen welschen Frauen und Mägeden eingebracht haben. Ein wie weidlicher Mann, von hohem Wuchs und den Augen wohlgefälligen Ansehens er gewesen, des zum Beweis diente mir mein Bruder Herdegen, sein ältester Sohn, von dem es männiglich hieß, er sei das lebendige Widerspiel des Vaters selig, und wenn ich auch ein altes Weibsbild geworden, darf ich doch frei bekennen, daß mir wohl selten ein Mannsbild begegnet, dem das Blauauge heller aus der Stirn geleuchtet und dem das Goldhaar voller niedergequollen wäre auf Kragen und Schulter wie ihm in der Blütenzeit seiner fröhlichen Jugend.
Am Osterfest war er geboren, und der Herrgott schenkte ihm so frohgemuten Sinn, wie er nur Sonntagskindern beschieden. Er wußte die Kunst des Sanges gar hell und zierlich zu üben, und da auch mir und dem andern Bruder, meinem Spielgesellen Kunz, der Sinn nach Gesang und der Musika stund, klang und zwitscherte es in unserem verwaisten, der Eltern baren Hause wie in einem fröhlichen Grasmückenneste, und es herrschte darin mehr golden Kinderglück und tagheller Frohsinn, denn in manchem andern Hause, so sich des Vaters und der Mutter erfreuet. Und dafür bin ich dem Herrgott immer besonders dankbar gewesen; denn ein Kinderleben, dem die Mutterliebe fehlt, das habe ich oft erfahren, ist wie ein Tag mit Regengewölk vor der Sonne. Aber der Allgütige hatte, da er die Hand auf das Herz unserer Mutter legte, in eines andern Weibsbildes Brust einen großen Schatz von Liebe für mich und die Brüder geborgen.
Unsere Base Metz, eine kinderlose Witib, war es, die unsere Wartung auf sich genommen, und da sie als Jungfrau und bevor sie ihrem Seligen die Hand geboten, heimliche Minne für den Vater im Herzen getragen und später zu unserer Mutter aufgeschaut hatte wie zu einer Heiligen des Himmels, wußte sie sich nichts Lieberes, denn uns von den Eltern zu erzählen, und wenn sie es that, wurde ihr der Blick feucht, und weil ihr jedes Wort gerade aus dem Herzen quoll, fand es auch den Weg in die unseren, und saßen wir Drei um sie her und lauschten ihrer Rede, so gab es außer ihren beiden nassen Augen bald noch sechs andere, so des Tüchleins bedurften.
Sie hatte einen schweren, ungefügen Gang und ein Antlitz, wie aus grobem Holze geschnitten, also daß es recht angethan gewesen wäre, Kinder zu ängstigen, und auch in der Jugend, hieß es, sei ihr Ansehen männisch und sonder Liebreiz gewesen, weswegen auch der Vater ihrer heimlichen Minne nimmer geachtet; aber ihre Augen waren wie zwei offene Fenster, aus denen alles, was gut ist und freundlich, lieb und herzig wie Englein heraussah, und diese Augen ließen alles vergessen, was wüst an ihr war, auch die breite Nase mit dem tiefen Eindruck gerade in der Mitten und das Bärtlein am Munde, so ihr mancher junge Gernegroß neiden mochte.
Dannocht hatte der Sebald Kreß wohl gewußt, was er that, wie er die Metz Im Hoffin, da er zwischen der sechzig und siebenzig stund, zum Weibe erkor; sie aber war, wie sie mit ihm vor den Altar trat, auf nichts anderes gefaßt gewesen, als nunmehr die Pflegerin eines alten, siechen Griesgrams zu spielen. Doch sich für den Nächsten zu plagen, mutete die Metz just so süß an wie andere, sich auf Händen wiegen zu lassen; auch sollte es ihrer treuen Sorge glücken, den Alten noch volle zehn Jahre dem Tode abspenstig zu machen. Nach seinem Ende blieb sie als wohlbehaltene Witib zurück; doch statt sich zu pflegen, nahm sie alsbald ein neues Leben voll schwerer Plage auf sich, indem sie sich der Pflicht unterzog, bei uns drei Waislein an der Mutter Stelle zu treten.
Wie ich groß wuchs, hat sie mir oft mit ihrer guten Stimme, die so tief war wie die dicke Pfeife an der Orgelei, berichtet, drei Dinge habe sie sich vorgesetzt bei unserer Erziehung: uns zu guten, gottesfürchtigen Menschen zu machen, die Einigkeit unter uns zu pflegen, so daß jedes bereit sei, alles für das andere zu lassen, und uns eine frohe Jugendzeit zu schaffen.
Wie ihr das erstere gelungen, solches zu schätzen, stell' ich anderen anheim; doch einigere Geschwister, denn wir allzeit gewesen, die soll man mir weisen, und weil aus hundert kleinen Anzeichen herfürging, wie fest wir zusammen stunden, nannten uns die Leute das »Schopperkettlein«, sintemal unseres Geschlechtes Wappen drei Ringe weiset, so zu einer Kette verbunden.
Was mich nun angehet, bin ich das jüngste und kleinste unter den Ringlein gewesen, aber das mittelste war ich doch; denn wenn den Herdegen und Kunz dies oder das auseinander trieb, also daß es den einen den andern zu meiden und ihm zu trotzen verlangte, fanden sie sich immerdar bei mir und durch mich wieder zusammen. Aber wenn ich auch bisweilen das Amt der Mittlerin übte, kann mir solches doch nicht zum Ruhm gedeihen, maßen ich sie mit nichten zusammenführte aus Tugend oder löblicher Einsicht, sondern einzig und allein, weil ich es nimmer ertrug, allein zu stehen oder nur mit einem Ringlein zur Seite.
O, wie weit liegt doch die liebe, frohe Jugend hinter mir, von der ich hier berichte! Ich stehe auf der Höhe des Lebensberges, ja ich habe den Gipfel allbereit längst überschritten, und wenn ich nun rückwärts schaue und mir vergegenwärtige, was ich erlebt und erfahren, so geschieht es nicht, um daraus für mich selbst die Lehre zu schöpfen, wie man es später wohl besser mache. Denn mein altes Knochengerüst ist fest und spröde geworden, und es zu biegen, würde nimmer gelingen; nein, ich schreibe dies Büchlein zu meinem Genügen und den Kindern und Eniklein, so hinter mir den Berg ersteigen, zu Nutz und Frommen. Den Stein, an den mein Fuß gestoßen, mögen sie meiden, aber da, wo ich rüstig ausgeschritten, da sollen sie es der Alten frohgemut nachthun, obzwar ich tausendfach gewahret, daß man immer nur durch eigene und nimmermehr durch anderer Erfahrung klug wird.
So will ich denn von vorn beginnen. Aus der frohen Kinderzeit gäb' es viel zu berichten; denn in ihr ist jegliches neu. Aber was männiglich an sich selbst erfährt, taugt minder gut zum Erzählen, und was hätte ein Nürnberger Kind beim Großwerden und in der Schule vor dem andern voraus? Ist doch den Halmen aus demselben Acker und den Bäumen im gleichen Wald ohne sonderlichen Unterschied immerdar das Gleiche beschieden. Freilich hab' ich wohl in manchen Stücken ein sonderbar und den übrigen Kindern ungleich Wesen besessen; denn Base Metz sagte oftmals, von mir sei die Form zerbrochen, und des Herdegen Klage, daß ich kein Bub geworden, klingt mir noch in den Ohren, wenn ich unserer wilden Spiele gedenke. – Wer im ersten Stock unseres Hinterhauses den Erker kennt, von dem ich mit den Brüdern um die Wette in den Hof sprang, der mag sich leicht entsetzen und es ein Wunder heißen, daß ich mit heilen Gliedmaßen ungestraft davon kam; doch es wohnte mir keineswegs immer die Lust bei, mit den Buben zu toben, und ich bin schon im zarten Kindesalter ein gar nachdenklich Geschöpflein gewesen. Es gab aber auch etliches in meinem jungen Leben, so wohl angethan war, das eigene Sinnen zu schärfen.
Wir Schoppers sind nahe verwandt mit all den anderen Geschlechtern der Stadt, so man rats- und wappenfähig heißt und die für Nürnberg dasselbe vorstellen, was für Venedig die Häuser der Signoria, deren Namen im goldenen Buche verzeichnet stehen. Was dort die Barberigo, Foscari, Grimaldi, die Giustiniani und dergleichen, das sind bei uns die Stromer, die Behaim, Ebener, Im Hoff, Tucher, Kreß, Paumgartner, Pfinzing, Pirkheimer, Holzschuher und so weiter, und in ihrer Reihe gewiß nicht am untersten Ende stehen die Schopper. In etwelcher Weise sind wir, die wir wappen-, turnier- und stiftsfähig heißen und gerechten Anspruch haben, uns Adlige und Patrizier zu nennen, allsamt miteinander verschwistert, und wo ein stattlich Haus stund in Nürnberg, da gab es für uns Ohm und Muhme, Vetter und Base, oder doch Gevattern und gute Freunde der Eltern selig. Wo uns nun von selbigen eines ersah, und war es auch nur auf der Gasse, hieß es alsbald: »Die armen Waislein. Gott erbarm sich der lieben verlassenen Dinger!«, und manchem barmherzigen Weibsbilde traten dabei helle Thränen ins Auge. Auch die Herren vom Rat – denn zu ihm gehörten die meisten älteren Männer aus unserer Freundschaft – strichen mir mit der Hand über das Blondhaar und schauten dazu drein, als sei ich ein arm Sünderlein, für das es keine Gnade gebe vor dem Blutgericht oder Rugamt.
Warum die Menschen mich wohl für unglücklich hielten, da ich doch keinerlei Kümmernis kannte und mein Herz so fröhlich war wie eine trillernde Lerche? Base Metz konnt' ich nicht fragen; denn es ging ihr schon nahe, wenn mir nur ein Fingerlein weh that. Wie mocht' ich ihr da künden, daß ich ein gar so elend Würmlein sei in den Augen der Leute? Aber bald erkannt' ich selbst, aus was Grund und Ursach sie mich beklagten; denn sieben nannten mich ein vater- oder elternlos, aber siebenzig ein mutterlos Waislein, wenn sie mir ihr Mitleid erwiesen. Daß die Mutter uns mangelte, das war unser Unglück. Aber hatte ich denn nicht die Base Metz, und war sie nicht so gut wie jede andere Mutter? Freilich hieß sie nur die Base, und etwas mußt' ihr dannocht gebrechen, was einer echten Mutter eignet.
Da machte ich, obgleich ich noch ein albernes. dummes Ding war, die Augen auf, und ganz für mich allein begann ich zu forschen. Nur die Brüder zog ich ins Vertrauen, und obgleich mein Aeltester mir solches verwies und mich anhielt, der Base nur Dank zu wissen für all ihre Gutheit, legte ich mich dannocht aufs Suchen.
Bei den Stromers von der güldenen Rose gab es der Kinder genug, und sie freuten sich noch der eigenen Mutter. Die war ein gar fröhlich jung Weibsbild, rund wie eine Kirsche und weiß und rot wie Schnee und Blut, das mich auch nicht wie die anderen anfaßte, als ob ich wund sei, sondern grad aus mit mir scherzte und derb drein fuhr, wenn ich eine Unart begangen. Bei den Muffels dagegen war die Hausfrau gestorben, und der Vater hatte seinen Kleinen bald darauf eine neue Mutter gegeben, die unser Suslein, dem meine Wartung oblag, »die Stiefmutter« nannte; eine solche aber – das hatten mich die Märlein gelehret, denen ich eifrig genug das Ohr geliehen – eine solche war ebensowenig ein recht und echt Mütterlein, wie unsere herzliebe Base. Selbige »Stiefmutter« nun sah ich die kleine Els, ihres Hausherrn jüngstes Töchterlein, so nicht ihr eigen, baden und trocknen, und es auch einlullen, bis der Schlaf es umfing; und solches alles that sie gar freundlich und wie es sein muß.
Wie dann die Els die Augen geschlossen, gab sie ihr auch einen Kuß auf Stirn und Wange; aber die Stromerin von der güldenen Rose hielt es ganz anders; denn wie sie die kleine Klar, die ihr eigen, aus dem Badewasser genommen und in die warmen Tücher auf dem Wickeltisch gestrecket, da drückte sie das ganze Antlitz fest in das junge, frische Fleisch, küßte das ganze Körperlein von oben bis unten, hinten und vorn, als sei es ein süßer rosenroter Mund, und beide fanden des Lachens und ausbündigen Frohmutes kein Ende, wenn die Mutter mit den Lippen auf der weichen, duftenden Haut des Kindes prustete und trompetete, daß es schallte, oder wenn sie den Liebling mit samt den Badetüchern an die weiche Frauenbrust preßte, als lüste es sie, ihn zu zerdrücken. Und dabei brach sie in ein laut und sonderbar Lachen und Kosen aus, und rief ihm inniglich zu: »Du mein Herzblatt, mein Herrgottskäferlein, mein süß, einzig Schatzkind! – Mein, mein, mein! Ich fresse Dich auf!«
Ja, solches hatte die Muffelin der Els, ihres Hausherrn Töchterlein, nimmer erwiesen; doch ich wußte noch recht gut, daß Base Metz es mit mir ganz ähnlich getrieben, wie die Stromerin von der güldenen Rose mit dem eigenen Kindlein, und so unterschied unsere Base eigentlich nichts von einer wirklichen Mutter.
Dergleichen sagt' ich mir auch, wie ich mich zur Schlafenszeit in meinem weißen Bettlein zum Schlummer ausstreckte, und nun kam die Base und faltete mit mir die Hände, und nachdem sie wie alle Abend das Gebet von den Englein mit mir gesprochen, lehnte sie ihr Antlitz an meines und preßte mein Kinderköpfchen an das übergroße Haupt; solches aber that mir baz wohl, und ich flüsterte ihr ins Ohr: »Nicht wahr, Base Metzlein, du bist meine rechte, wirkliche Mutter?«
Da versetzte sie rasch: »Im Herzen gewißlich, und Du bist ein gar glückselig Kind, meine Gred; denn statt einer Mutter hast Du gar deren zwei: mich hier unten, um Dich zu hegen und sorglich zu pflegen, und die andere bei den lieben Englein droben, die auf Dich herabschaut, und die gnadenreiche Jungfrau, der sie so nahe ist, anruft, daß sie Dir das Herzlein rein erhalte und Dich vor Unheil bewahre; ja vielleicht – sieh nur hinauf zu ihrem Bildnis – trägt sie jetzt selbst den Heiligenschein und eine himmlische Krone.«
Hienach erhob sich die Base und hielt das Lämplein hoch, also daß sein Licht das große Gemälde vor mir ganz überstrahlte. Da hefteten sich meine Augen auf das schöne Frauenbild mir gegenüber, und es war mir, als schaue es mich an mit innigen Blicken und als streckten sich mir ein paar leibliche Mutterarme zärtlich entgegen. Da setzte ich mich auf in meinem Bettlein, und das, wovon mein Kinderherz voll gewesen, davon gingen mir die Lippen über, und ich sagte ganz leise: »O Base Metz, mein Mütterlein droben möchte mich sicherlich auch einmal küssen und mit mir kosen wie die Stromerin mit ihrer Klar.«
Da stellte die Base den Leuchter schweigend aus der Hand, hob mich aus dem Bettlein, hielt mich ganz nah' dem Antlitz des Bildes, und ich verstund ihre Meinung. Meine Lippen berührten leise den roten Mund auf der Leinwand, und wenn mir das auch selber gar wohl that, meinte ich dannocht, es sei damit dem Mütterlein im Himmel ein großer Gefallen geschehen.
Hienach murmelte die Base »So, so!« und dergleichen leis vor sich hin, legte mich in die Kissen zurück, stopfte mir die Decke recht fest ein, wie ich's liebte, gab mir noch einen Kuß, wartete, bis ich den Kopf tief in das Kissen gedrückt, und raunte mir zu: »Nun träume mir fein von der Mutter selig.«
Damit verließ sie die Kammer, doch die Lampe blieb darin stehen, und sobald ich allein war, schaute ich wieder auf zu dem Bildnis, so mir die Mutter wies in gar köstlichem Staate. Eine Rose prangte ihr an der Brust, ihr güldener Hauptschmuck sah aus wie das Krönlein der Königin des Himmels, und in ihrem Obergewand von köstlichem steifem Brokat bot sie einer hohen Heiligen Anblick. Aber das Himmlischste an ihr schien mir dannocht das weiß und rote jugendliche Antlitz und der liebe Mund, den ich vorhin mit den Lippen berühret.
O wär' es mir doch vergönnt gewesen, selbigen noch einmal zu küssen! Und plötzlich schoß es mir heiß durchs Herz, und eine innere Stimme sagte mir, daß tausend Küsse der Base einen einzigen von der jungen, liebreizenden Frau da droben nimmer ersetzten, und daß ich mit ihr fast so viel verloren, wie die barmherzigen Gevatterinnen vermeinten. Und nun mußte ich weinen und immer fort weinen, und es war mir, als hätte man mir das Allerbeste und Liebste genommen, und zum erstenmal kam mir die gute Base so wüst vor, wie den anderen Leuten, und mein dumm klein Köpfchen sagte mir, eine echte Mutter sei schön, eine unechte, ja auch die beste, holdselig und anmutsvoll sei sie nimmer.
Darüber entschlief ich, und im Traum trat mir das Bild aus dem Rahmen entgegen und nahm mich auf die Arme, wie die Madonna das Christkind, und schaute mich an mit einem Blick, als habe sich alle Liebe auf Erden darin zusammengefunden. Da schlang ich ihr die Arme um den Hals und wartete, ob sie nicht mit mir kosen und tändeln werde, wie die Stromerin mit ihrer kleinen Klar; sie aber schüttelte nur leise und wehmütiglich das Haupt mit dem blitzenden Krönlein, schritt auf die Base Metz zu und legte mich ihr in den Schoß.
Selbigen Traum hab' ich nimmer vergessen, und so oft ich fürder betete, erhob ich das Herz auch zu der Mutter selig und rief sie an, grad wie die Madonna und heilige Margareta, meine Patronin, und wie oft hat sie mich gehört und aus Not und Fährnis errettet! Was die Base angehet, so ist sie mir immer lieber geworden seit jenem Abend; denn die rechte Mutter hatte mich an sie gewiesen, und wenn sie mich fürder mitleidig anschauten und mein Schicksal beklagten, lachte ich still in mich hinein und dachte: »Wenn ihr nur wüßtet! Euren Kindern eignet nur eine Mutter, wir aber haben deren zwei, und unser recht Mütterlein, das ist unter allen die schönste; die andere aber, mag sie auch wüst sein, das ist die beste.«
Die Barmherzigkeit der Leute war es, die mich auf solche Gedanken gebracht, und es hat mich später dünken wollen, als habe selbige meiner jungen Seele mit nichten gefrommet. Jedem Hiob nahen sich tröstende Freunde, doch unter ihnen sind wenige, die da kommen, um das Leid mit zu tragen, und desto mehr, die es lüstet, das eigene bessere Geschick mit dem schlechten des andern zu wägen. Die Barmherzigkeit, wie möcht' ich es leugnen, sie gehört zu den edelsten und heilkräftigsten Gaben; doch wer sie dem andern bietet, der übe Vorsicht, und absonderlich wenn es ein Kind ist, dem er sie darreicht; denn ein solches ist ein Bäumlein, das Licht braucht, und der versündigt sich gegen sein gedeihlich Wachstum, der ihm die Sonne verfinstert. Statt es zu beklagen, macht es recht fröhlich, das ist der Trost, der ihm zukommt!
Einem großen und wichtigen Geheimnis wähnt' ich dazumal auf die Spur gekommen zu sein, und so wollt' ich denn auch die Brüder hinweisen auf unsere Mutter im Himmel; aber selbige hatten sie allbereit ohne der kleinen Schwester Zuthun gefunden.
Erst diesem, dann jenem teilte ich mit, was mich bewegte, und wie ich zu dem Herdegen, dem älteren, kam, sah ich wohl, daß ich ihm nichts Neues bringe; den Kunz, den jüngeren aber fand ich auf der Schaukel, und wie er sich grade so hoch schwang, daß ich dachte, er werde sich überschlagen, bat ich ihn, ein wenig inne zu halten, doch dieweil er die Stricke fester faßte und sich neu zusammenzog, um sich an das Brettlein zu stemmen, rief er: »Laß mich jetzt, Gredlein. Hoch, hoch muß es gehen! Bis in den Himmel, bis hinauf zu der Mutter!«
Da wußt' ich genug, und von Stund an sprachen wir oft miteinander von der Mutter selig, und Base Metz sorgte dafür, daß wir auch des Vaters gedachten. Wie das der Mutter hatte sie auch sein Bildnis aus dem Festsaal, wo es früher gehangen, in das große Kinderzimmer versetzt, wo sie mit mir schlief. Und auch von des Vaters Konterfei sollte eine eigene Wirkung ausgehen auf mein späteres Leben; denn da ich zum Ruddeln kam, und der Meister Paul Rieter, der Stadtphysikus, unser Arzt, mich besuchte, blieb er so lang, als könne er die Trennung nicht finden, vor dem Bildnis stehen, und wie er sich endlich, ganz rot im Gesicht vor innerer Bewegung, da er dem Vater zu Padua ein lieber Kumpan gewesen, mir wieder zuwandte, rief er: »Was wirst Du doch für ein glückselig Menschenkind werden, mein Gredlein!«
Da mag ich ihn wohl verdutzt genug angeschaut haben; denn glücklich hatte mich noch keiner gepriesen, wenn nicht die Base oder die Waldstromerleute im Forste; – und der Meister mußte meine Verwunderung merken, denn er wiederholte: »Ja, ein Glückskind bist Du; denn alle sind es, Mägede und Buben, die zur Welt kommen nach dem Tode des Vaters.«
Wie ich ihm hienach nicht minder erstaunt denn vorhin ins Antlitz schaute, legte er den goldenen Knopf seines Stockes an die Nase und rief: »Bedenke nur, Du Närrlein, der liebe Gott wäre ja nicht der, der er ist, ja – verzeih mir die Sünde – kein Ehrenmann wär' er, wenn er sich eines Kindes, dem er den Vater raubte, bevor es ihn sehen und die erste Wohlthat von ihm empfangen konnte, nicht annehmen wollte als seines besonderen Lieblings. Merk auf, Kind! Ist es ein Kleines, das Mündel zu sein eines Vormunds, der allmächtig ist und dazu der Getreueste aller Getreuen?«
Und diese Rede, sie ist mir nachgegangen durchs ganze Leben bis hieher und zu dieser Stunde.