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Conrad Elje ging mit langen Schritten in den Anlagen auf und nieder. Er hatte seiner Gewohnheit nach die Hände um die Stockkrücke auf den Rücken gelegt. Ab und zu blieb er stehn, atmete tief die laue feuchte Herbstluft und blickte mit leicht ermüdeten Augen um sich in eine Umgebung, die er von Kindheit an kannte und in der sich wenig verändert hatte.
Von der kleinen Brücke aus Birkenholz, die einen schmalen, sanft durch die Auen verrieselnden Arm des Hauptflusses überspannte, sah er linker Hand zwischen den Bäumen hindurch die Schlote der väterlichen Hochöfen ragen. Nach rechts herüber, da, wo das Gelände sich abwärts der Ebene zu neigte, in der die Nachbarstadt lag, schimmerten die Dächer der Arbeiterhäuser durch das herbstliche Laub. Nur undeutlich waren sie um diese stunde noch erkennbar, denn merklich schnell sank die Dämmerung in den früh hereinbrechenden Abend.
Conrad Elje stand noch einen Augenblick auf dem schmalen Steg, die eine Hand auf das weißliche Birkengeländer gestützt. Er machte eine Bewegung, als ob er sich wieder umwenden wolle, den eben zurückgelegten Weg noch einmal zu gehen, als er in der Ferne, in fast gerader Richtung auf die Brücke zu, Licht aufschimmern sah. Es kam aus dem Giebel seines eigenen kleinen Blockhauses. Da richtete er sich straffer in den Hüften auf und schlug den Rückweg ein. Die Arbeit lockte und rief. Lange genug war er schlaff und träumerisch in der weichen, lauen, müde machenden Abendluft umhergegangen.
Drüben aus der Hecke drang der verschlafene Ruf eines Nachtvogels. Wiederum stand er sinnend und lauschend still. Dann lächelte er ein wenig ironisch über sich selbst. Daß er sich das Träumen mit wachen Augen noch immer nicht abgewöhnen konnte! Er war doch gerade kein Jüngling mehr, nahe an Dreißig, und hatte ein gutes Stück von der Welt und dem Leben kennen gelernt, und noch immer, wie als Kind und Knabe, verlor er sich von der geraden, breiten Straße des Wirklichkeitsdaseins ab in seine eigenen verschlungenen, verträumten, idealistischen Welten, noch immer überkam es ihn, daß er die Dinge nicht sah, wie sie wirklich waren, sondern wie seine Phantasie sie sich schuf.
War man doch zu schwach gegen seine Schwächen gewesen? Hatte das Leben bisher ihn allzu sanft angefaßt?
Als der einzige Sohn Richard Eljes, des Schmiedekönigs, wie man ihn in der Landschaft hieß, ward er ursprünglich naturgemäß zum Mitarbeiter des Vaters, zu seinem einstigen Nachfolger bestimmt. Aber schon da Conrad noch ein zehnjähriger Knirps gewesen, hatte der Vater ein kleines resigniertes Lächeln um den klug und energisch geschnittenen Mund gehabt, wenn die Mutter, die so früh Dahingegangene, von solchen Plänen sprach.
»Den lass' heraus aus der Fabrik, Liebste,« hatte er oft gesagt. »Für einen Träumer ist die harte Arbeit an unseren Hochöfen nicht geschaffen und er nicht für sie. Beide würden nur Schaden darunter leiden.«
»Wenn er nicht noch anders wird.«
Dann hatte der Vater den Kopf geschüttelt, den starken, schönen, männlich geschnittenen Kopf. »Der wird nicht anders. Er kann keine Tränen leiden, keinen Menschen sich plagen, körperlich hart arbeiten, gar hungern sehen, ohne gegen die schlechte Weltordnung aufzumucken, die solches zuläßt. Was soll er mit seiner sensitiven Seele unter einem Haufen hart arbeitender Menschen, denen Sorgen und Mühen und plagen naturgemäß nicht fern bleiben können, so gut und menschlich man sie auch behandelt und stellt? Wie willst du, daß er einmal über einen solchen Haufen Menschen regiert? Dazu gehört ein eiserner Wille, aber kein zärtliches Mitgefühl. Wir werden ihn seine eigenen Wege gehen lassen müssen. Durch Zwang ward noch niemals Gutes und Haltbares gezeitigt.«
Und so war es geschehen. Conrad Elje war den Schmiedewerken fern geblieben. Er hatte ein paar Jahre studiert, hatte große Weltreisen gemacht und lebte nun als Privatgelehrter in dem kleinen Blockhaus, das der Vater ihm bei seiner letzten Rückkehr aus Asien zum Geschenk gemacht. Zwischen diesen, mit Büchern und allerhand seltsamem ausländischen Kram vollgestopften Wänden, fand er seine Welt.
Ans Heiraten, das sein Vater ihm so oft nahegelegt, hatte er nur selten und flüchtig gedacht. Wo war die Frau, die dies einsame, weltabgeschiedene Dasein gern mit ihm geteilt hätte? Und wie hätte sie beschaffen sein müssen, damit er ihr einen Anteil daran gegönnt? Dennoch ließ der Vater, trotzdem er ihm sein Leben lang den Willen getan hatte, hier nicht nach.
Richard Elje war ein stattlicher, rüstiger Mann in den besten Jahren. Ohne optimistisch zu sein, durfte er sich's erlauben, seine Hoffnung auf einen Enkel zu setzen, den er sich noch selbst für die Fabrik würde heranbilden können.
Langsam war Conrad an der Hecke vorübergegangen. Dann wendete er sich nach links und schlug den schmalen Pfad zwischen den Weiden am Flußarm ein. Es war schon fast dunkel. Drüben von den Wiesen und aus dem engen Flußbett fingen die Nebel an aufzusteigen und machten für den, der den Weg nicht kannte, die schmale Spur fast unkenntlich. Conrad hätte sie im Schlaf verfolgen können, so oft war er sie gewandert, so genau kannte er jede Wurzel, jede Vertiefung, den allmählichen Aufstieg zu dem breiteren, festeren Weg, der den Flußarm verließ und an dem schwarzen Weiher vorüber in etwa zehn Minuten zu seinem Blockhaus führte.
Er ging sehr langsam und tief in Gedanken; der Lockruf zur Arbeit war ihm wieder verklungen, seit er sich in die Vergangenheit verloren hatte.
Plötzlich drang durch die tiefe Stille und den dichten, fast greifbaren Nebel etwas Merkwürdiges an sein immer waches, scharfes Ohr. Ein weher, wunder, schluchzender Laut und dazwischen unzusammenhängende, unverständliche Worte, dem Klange nach, der jetzt immer deutlicher zu ihm drang, die Stimme eines bittenden, vertröstenden Kindes.
Conrad Elje blieb stehn und streckte den Kopf weit vor, um deutlicher zu hören, wie er es auf seinen einsamen Gängen durch die Wildnis zweier Erdteile zu tun gelernt hatte. Dann ging er wieder um zwei Schritte vorwärts.
Die Sprechenden und Schluchzenden mußten sich jetzt dicht in seiner Nähe befinden, denn ganz deutlich vernahm er zu seiner Rechten die Worte aus dem Munde eines Kindes.
»Ach du, bitte, bitte, wein' doch nicht so.«
Elje wußte im Augenblick, wo er war und woher die Stimme kommen mußte. Rechter Hand lag der schwarze Weiher. In dem dichten Weidengebüsch am Ufer stand eine Bank; von dort drang der Stimmenklang her. Zehn Schritte weiter und Conrad Elje stand vor dieser Bank, nahe genug, daß er ein zusammengekauertes weibliches Wesen und an sein Knie gelehnt ein etwa zehnjähriges Mädchen unterscheiden konnte.
»Ist hier ein Unglück geschehn?«
Das Weib schrak zusammen und preßte die Hand vor den Mund, um das Schluchzen zu ersticken.
Das Kind aber trat furchtlos auf den Fremden zu.
»Wir haben nichts zu essen und kein Bett für die Nacht. Er hat uns an die Luft gesetzt, der Lu –« Eine Hand hatte sich fest auf den Mund des Kindes gelegt.
»Still!« schluchzte eine leise zerbrochene Stimme. Durch den Nebel sah Elje jetzt dicht vor seinen Augen ein junges, schlankes Geschöpf, welches das Kind haltsuchend umklammert hielt, blondes, wirr und feucht in ein verstörtes, feines Antlitz fallendes Haar, einen Anzug, der auf Armut und Entbehrung deuten ließ.
»Kann ich Ihnen in irgend etwas helfen?« fragte Elje leise und teilnahmsvoll.
Die Blonde schwieg und blickte aus traurigen, hilflosen Augen vor sich hin; das Kind aber trat dicht auf ihn zu und sah ihm gerade ins Gesicht, als ob es ergründen wolle, was von dem Fragenden zu erwarten sei. Dann sagte es zutraulich:
»Wir sind sehr hungrig, wir möchten zu essen haben.« Wieder wollte das junge Weib dem Kinde die Rede verweisen. Diesmal aber ließ Elje es nicht dazu kommen. Er nahm das Mädchen bei der Hand und sagte rasch: »Komm', Kleine, wir holen etwas zu essen. Die Mutter wartet hier auf uns. Wir haben keine zehn Minuten bis zu meinem Hause.«
Das Mädchen kicherte und schüttelte sich vor Vergnügen.
»Freust du dich so aufs Essen?«
»Mächtig. Aber gelacht hab' ich, weil –« Die Kleine trat an das Weib heran und legte ihm den Arm um die schlanke Hüfte. »Sie ist nämlich gar nicht meine Mutter – sie ist bloß meine Schwester – lumpige zehn Jahre älter als ich – aber sie sorgt für mich. Nun wollen wir aber gehen – Lotte hungert auch.«
Die Kleine griff nach Eljes Hand, um ihn fortzuziehen.
»Sie werden –? Es ist Ihnen nicht unheimlich, hier allein zu bleiben – es kann Ihnen nichts geschehen?«
Sie strich das wirre Haar aus dem Gesicht und schüttelte den Kopf.
»O nein.«
»Es ist acht Uhr vorüber. Die Laternen müssen gleich angezündet werden. Es kommt wohl auch jetzt niemand hier des Wegs, der Sie belästigen könnte – die Arbeiter sind vorüber –«
Da sie nicht noch einmal Antwort gab, faßte er das Kind fester bei der Hand.
»Komm', wir laufen schnell. In einer Viertelstunde sind wir wieder hier. Wie heißt du, Kleine?«
»Christine.«
»Also schnell, Christel, trab, trab, daß die Schwester etwas zu essen bekommt.«
Lotte sah ihnen einen Augenblick nach, wie sie im Nebel verschwanden, der wie ein grauer Vorhang zwischen ihnen und ihr herabsank. Dann schlich sie auf die feuchte Bank zurück und blieb zusammengekauert in der Ecke sitzen, in der Conrad Elje sie vor kaum zehn Minuten gefunden hatte. Sie legte die Hand auf die Lehne und den schmerzenden Kopf darauf. Dann schloß sie in müder Verzweiflung die Augen, schlafen können, vergessen!
Plötzlich fuhr sie auf. Ihr war, als habe sie seine Stimme gehört, Fritz Herkas herrische Stimme, die nach ihr rief. Sie beugte den müden Kopf und sah mit gespanntem Blick ins Graue. Nichts. Niemand kam – nirgends ein Laut. Würde er sie niemals wieder rufen? Würde sie niemals wiederkommen dürfen, damit er sie schlüge oder küßte mit wilder Gier?
Sie sank in die Bank zurück und schluchzte laut. Wie war es nur möglich gewesen, daß dies gekommen war? Drei Jahre lang hatten sie nun zusammen gelebt in den zwei engen Kammern, er und sie und das Kind, die Christel! Sie war zu ihm gekommen auf sein Bitten, um ihm alles zu geben, was sie zu geben hatte, ihre Liebe, ihre Jugend, ihre Unschuld. Das Kind hatte sie mitgebracht; es hatte niemanden als sie auf der Welt, und Fritz Herka hatte es willig mit übernommen. Drei Jahre lang hatte sie nur für ihn gelebt. Während des Tages hatte sie für ihn gearbeitet, den kleinen Haushalt geführt, ihn verpflegt und versorgt, jeden Wunsch ihm von den Augen abgelesen; nachts hatte sie in seinen Armen geschlafen. Was war so plötzlich über ihn, zwischen sie gekommen, daß er das Haus vor ihr verschloß? Oft, und zuletzt immer öfter, hatte er sie um eines geringfügigen Anlasses willen hart und jähzornig angelassen, oft hatte er sie geschlagen, sie hungern lassen, aber immer wieder hatte er sie dann mit gedoppelter leidenschaftlicher Zärtlichkeit überhäuft, und immer wieder hatte sie ihm seine Heftigkeit, seinen blindwütigen Zorn verziehen. Er war jung und heißblütig, und die Acht-Stunden-Arbeit in der Glut des Hochofens machte nicht ruhiger und sanftmütiger. Und dann seit einigen Monaten hatte er zu trinken angefangen. Ob es das war, um dessentwillen er sie aus dem Hause gewiesen, oder –? Lottes Herz zog sich krampfhaft zusammen. Nein, nein, das konnte nicht sein! Aus ihren Armen in die einer anderen! Die heißen Liebesworte und heißeren Liebkosungen, die er ihr geschenkt, gleichzeitig einer anderen – nein, das tat Fritz Herka nicht. Er war ungerecht, sinnlos heftig und roh, ja roh war er auch, aber er war kein Schuft, der seine Küsse von einer zur Anderen trug.
Lotte richtete sich auf. Sie trocknete die Augen mit dem Zipfel ihres braunen, verschossenen Schultertuches und strich das wirre Haar aus der Stirn. Ja, so mußte es sein. Vom Trinken war es so plötzlich gekommen. Er konnte es nicht vertragen, daß sie gut meinend mahnte und bat, und kürzlich ihm den halben Wochenlohn abgebettelt, wie er meinte für sie selbst, aber sie hatte nur gewollt, daß er nicht alles in die Kantine trüge, um seinetwillen hatte sie es gewollt. Das Trinken tat dem Heißblütigen nicht gut, und was sollte werden, wenn am Ende der ganze Lohn dafür drauf ging? Schrecklich war er gewesen, als er das Geld ihr wieder abgefordert, als er sie blutig geschlagen hatte, weil sie es nicht gleich hatte hergeben wollen. Und von diesem Tage an war es immer schlimmer geworden, jetzt wußte sie es genau, bis er sie gestern abend, nachdem er sie mit dem Kinde ausgeschickt einen Schnaps zu holen, ausgesperrt und nicht wieder eingelassen hatte. Neben der Flasche hatte sie vor der Tür auf den Knieen gelegen, für sich und Christel um Einlaß gebettelt, vergebens, er hatte sich taub gestellt. Endlich, als sie nicht nachließ in ihrem großen Kummer, hatte er laut und roh gelacht: »Gib dir keine Mühe, mit uns ist es aus. Ich kann keine Aufpasser und Spione brauchen, die mir die Tropfen in die Kehle zählen.«
Da war sie aufgestanden, hatte Christel bei der Hand genommen und war davongegangen. Erst als es Nacht geworden, waren sie wieder herbeigeschlichen. Vielleicht hatte er sich anders besonnen, vielleicht sehnte er sich nach ihr und ihren zärtlichen Liebkosungen, wie so oft, nachdem er sie mißhandelt hatte. Aber die Tür war noch immer verschlossen gewesen, und durch das dünne Holz hatte sie sein regelmäßiges Schnarchen gehört.
Von den Nachbarn hätte sie gern einer für die Nacht aufgenommen, aber sie fürchteten sich alle vor Fritz Herkas Zorn. Sie wußten ja nicht, wie gut und lieb er sein konnte, lieb wie ein Kind, wenn man ihn nur zu nehmen verstand. Eine hätte ihm vielleicht getrotzt, die Frau des Heizers Türk, die Tür an Tür mit ihm wohnte. Sie hatte keine Angst vor ihm, sie hatte Lotte schon öfter beigestanden. Wurde Fritz heftig, war sie es noch mehr, schlug er, holte sie nicht minder kräftig aus. Aber sie war nicht zugegen gewesen, sie hatte über Nacht nach ihrer kranken Tochter unten in der Stabt gesehen. Heute würde sie vielleicht wieder da sein und bereit, wenigstens Christel aufzunehmen.
»Lotte, Lotte!«
Durch den mälig sich lichtenden Nebel tönte es zu ihr hin. Als sie aufblickte sah sie beim schwachen Schein der inzwischen angezündeten Laternen Christel auf sich zueilen. Sie trug ein Brot und einen irdenen Topf in den Händen. Hinter ihr ging der junge Herr Elje. Trotzdem Lotte ihn bisher nicht deutlich geschehen, hatte sie sich gesagt, daß er und kein anderer es sein könne, der sich so gütig ihrer angenommen. Sein Haus war das einzige, das hier in der Nähe lag. Ringsum wohnte niemand sonst als die Arbeiter und das Aufsicht führende Personal. Die höheren Beamten hatten alle ihre Wohnungen unten in der Stadt. Er war der einzige »wirkliche Herr« hier oben.
Da war Christel auch schon an ihrer Seite.
»Ach, Lotte, sieh' nur all die Herrlichkeiten! Und Herr Elje hat noch was in der Tasche, eine ganze Flasche Wein. Ach, und schön ist es bei ihm, schöner kann es beim Kaiser nicht sein!«
Else schob mit einem Blick auf die totbleiche Lotte das Kind beiseite
»Lass' jetzt deine Schwester. Sie braucht eine Stärkung, ehe du weiter mit ihr sprichst.«
Er hatte mit der Flasche einen kleinen Becher aus der Tasche gezogen und füllte ihn rasch mit Wein.
»Gib deiner Schwester ein paar Krumen Brot.«
Er rief es besorgt der neugierig zuschauenden Christel zu, die eine mächtige Brotscheibe in der Hand hielt. Das Kind stopfte der Halbohnmächtigen ein paar Bissen in den Mund. Lotte schluckte mühsam und streckte instinktiv die Hand nach dem Becher aus, den Else schon bereit hielt. Wie eine Verlechzte trank sie das Glas in einem Zuge leer. Dann überredete er sie, obwohl sie heftig widerstrebte, ein wenig Fleisch aus dem Topfe zu nehmen. Sie dankte ihm in abgebrochenen Lauten, ohne daß sie es gewagt hätte, ihn dabei anzusehen. Seit sie wieder ein wenig zu Kräften gekommen war, hatte sie das Gefühl, er müsse ihr ihre Schande vom Antlitz lesen, die Schande des zurückgewiesenen, mißachteten Weibes.
Als ob er wisse, was in ihr vorgehe, beugte er sich ein wenig zu ihr herab und sagte halblaut, so daß Christel, die am anderen Ende der Bank saß und gierig ihre Brotscheibe verzehrte, es nicht hören konnte.
»Kann ich Ihnen sonst in nichts, in gar nichts helfen? Ich kenne so viel von den Leiden dieser Welt. Möchten Sie mir nicht ein wenig Vertrauen schenken?« Ohne daß er vielleicht sich dessen bewußt war, griff er nach ihrer kalten wie erstarrten Hand und hielt sie einen Augenblick sanft in seiner warmen fest. Lotte entzog sie ihm langsam und schüttelte den Kopf. Nein, sie konnte, konnte nicht, es war allzuschwer.
»Vielleicht – ich will nicht in Sie dringen – aber wenn Sie das Kind fortschicken – es hat mir nichts erzählen dürfen – ich wollte nicht ohne Ihr Wissen in Ihr trauriges Geheimnis dringen – aber wenn Sie niemanden sonst haben – so jung und unberaten, wie Sie sind – Sie dürfen keine zweite Nacht im Freien verbringen –«
Lotte schluchzte auf. Das selbstlose Mitleid des Fremden griff ihr ans Herz. Sie wollte sprechen, aber konnte sie denn, ohne ihn anzuklagen, ihn, den sie liebte trotz allem!
Sie rief das Kind herbei. Sie hatte ihm etwas sagen wollen, bis es kam, war was sie gedacht, ihrem müden Kopf schon wieder entschwunden.
»Was soll ich, Lotte? Schmeckt's nicht fein?«
Nun hatte sie sich wieder besonnen.
»Lauf nach Haus, Christel, aber laß dich nicht sehn – du weißt schon, und schau zu, ob die Frau Türk zurück ist, dann bring mir Bescheid.«
Christel nickte verständnisvoll und trabte davon. Dann kehrte sie plötzlich wieder um.
»Du, aber nicht alles aufessen, Lotte. Es ist zu gut.«
Elje lächelte.
»Es gibt mehr, Kleine, aber nun lauf.«
»Elje hatte sich neben das Mädchen gesetzt. Sie hielt den Kopf halb abgewendet und sah mit traurigem, gespanntem Blick ins Leere, als ob sie da etwas suche, was sich nicht finden lassen wollte. Mit Entzücken betrachtete Elje das feine Profil, die schön gezeichnete Braue, die langen, sanft nach aufwärts gebogenen Wimpern über dem blauen Auge. Halb aufgelöst hing das reiche blonde Haar im Nacken und fiel nach vorne zu über den Ansatz des feinen weißen Halses.
»Wollen Sie mir nicht ein wenig vertrauen?«
Sie wendete sich zu ihm um. In das weiche, süße Gesicht war plötzlich etwas hartes, Kaltes getreten.
»Es ist eine sehr alltägliche Geschichte. Sie dürfte Sie wenig interessieren. Ein Mädchen, das einem Mann alles gegeben, und ein Mann, der des Mädchens überdrüssig geworden ist.«
Sie sprach rauh und bitter. Plötzlich war es wie etwas Unerträgliches über sie gekommen, daß ein Mann, der nicht Fritz Herka war, sich um sie kümmerte.
»Sollte es kein Mißverständnis sein – sollte es keinen Rückweg geben? Er hat es vielleicht nicht so schlimm gemeint. Männer haben oft rauhe Art. Hinter ihr verbirgt sich die Liebe.«
Sie sah ihn groß und fragend an. Er sprach für ihn, er nahm ihn in Schutz, er entschuldigt ihn! Wenn er recht hätte!
Ein Leuchten ging über ihr blasses Gesicht.
»Glauben Sie, daß es möglich ist? Daß alles wieder gut werden kann?«
Wie jung sie war, wie leicht sie Hoffnung und Glauben ihr Herz wieder öffnete! Und so voll von süßem Liebreiz erschien sie ihm, daß es ihm unmöglich dünkte, ein Mann der sie einmal in seinen Armen gehalten, würde sie ihr nicht weit und freudig wieder öffnen.
»Ja,« sagte er einfach, aus tiefster Überzeugung, »warum sollte es nicht? Alles kann wieder gut werden, wenn zwei Menschen sich lieb haben.«
Sie sprang auf.
»Kommen Sie mit mir! Wollen Sie? Sie sind so anders als wir alle, Sie werden Frieden zwischen uns machen.« Sie griff nach seiner Hand und drückte sie in der ihren, plötzlich warm gewordenen.
»O, wie ich Ihnen danke! Kommen Sie, kommen Sie!« In fliegender Hast schritt sie ihm voran, den Weg, den sie das Kind zuvor geschickt hatte. Dann blieb sie plötzlich stehn und erzählte ihm kurz die Geschichte dieser drei Jahre.
»Und Sie glauben noch immer, daß es wieder gut werden kann?«
Er sah sie mit einem stillen Lächeln an.
»Da es Ihr Glück ist, ja, o ja!«
Als sie vor dem Hause standen, griff sie's doch plötzlich mit hartem Bedenken an.
Wenn er ihr dennoch die Tür wiese – in Gegenwart des Fremden!
Hinter ihr stand Christel und zupfte sie am Rock.
»Ich wollte gerade zu dir. Komm schnell, er ist oben und die Türk hat ihm schon den Kopf zurechtgesetzt.«
»Ich brauche die Türk nicht mehr« – sie sah mit dankbarem Blick zu ihrem Begleiter auf – »sie hätte es auch nicht tun sollen, nur dich sollte sie behalten.«
Langsam stiegen sie die steile steinerne Stiege hinauf.
Vor der letzten Stufe, da, wo sie gestern gekniet und vergebens um Einlaß gefleht hatte, blieb sie stehen. Dann trat sie rasch ein paar Stufen wieder zurück und winkte Conrad Elje, voran zu gehen.
Rasch entschlossen trat er bei dem Arbeiter ein und zog die Tür hinter sich zu.
Fritz Herka saß am Tisch, hatte eine übelriechende qualmende Lampe vor sich und rauchte aus einer kurzen Pfeife schlechten Tabak.
Als der Fremde eintrat, stieß er den Tisch zurück, daß die Lampe ins Wanken kam und die Zeitungsblätter, in denen er gelesen hatte, zu Boden flogen.
Elje wollte etwas sagen, aber der andere ließ ihn gar nicht erst zu Worte kommen.
»Womit kann ich dienen?« fragte Herka kurz angebunden. Dabei schoben sich seine Brauen, schwarze, dicke Brauen, eng zusammen, und eine kleine, senkrechte Falte über der Nasenwurzel trat scharf hervor.
»Mein Name ist Elje, Conrad Elje. Wir kennen uns wohl vom Sehen, Herr Herka. Wir sind ja sozusagen Nachbarn.«
Herka murmelte widerwillig etwas, das wohl eine Höflichkeit bedeuten sollte, und schob dem unerwarteten Gast den Stuhl hin, auf dem er selbst zuvor gesessen hatte. Ein zweiter brauchbarer schien in der engen Kammer nicht vorhanden zu sein. Der einzige, rechter Hand, vor dem zerwühlten Bett, war hoch mit Kleidungsstücken bepackt.
Elje sah schnell von dem Winkel fort, in dem das Bett stand. Etwas Schmerzliches zog sich in ihm zusammen. Die Stimme versagte ihm einen Augenblick, dann setzte er noch einmal an und sprach nun gegen seine Gewohnheit laut und rasch, die Augen fest auf das düstere Gesicht des jungen Menschen geheftet.
»Ich komme ungerufen und in einer Angelegenheit, die nicht die meine ist. Ich bitte Sie, mir einen Augenblick zuzuhören.«
Herka trat unruhig von einem Fuß auf den andern. Gespannt blickte er von Elje auf die Tür und zurück. Es war, als wittere er, wer da draußen mit über dem Busen zusammengepreßten Händen angstvoll auf eine Entscheidung wartete. Aber er sprach kein Wort. Nur immer finsterer wurde sein Gesicht.
»Es handelt sich um keine geschäftliche, nur um eine rein persönliche Angelegenheit. Es handelt sich um –« Else suchte einen Augenblick nach einem Ausdruck, der ungefähr dem Verhältnis der beiden entsprach und doch nichts Verletzendes hatte – »ja, es handelt sich um Ihre Braut, Herr Herka.«
Herka zuckte zusammen. Ein unbezähmbarer Zorn, wilde, ungezügelte Eifersucht brachen plötzlich in seinem Antlitz auf.
»Was, was haben Sie mit – mit meiner Braut zu schaffen? Woher kennen Sie das Mädchen?« Er brachte es nur mühsam zwischen den knirschenden Zähnen hervor.
»Ihre Frage ist vollkommen berechtigt, Herr Herka. Ich kannte das Fräulein nicht vor heute abend. Ich fand sie mit ihrer kleinen Schwester in einem bedauernswerten Zustand in den Anlagen. Fräulein Lotte selbst bat mich, sie hierher zu begleiten, Sie zu bitten, wieder Frieden zu machen.«
Herka hatte seinen Zorn bemeistert, aber er sah Elje noch immer mißtrauisch an. Er war ein schöner Mensch, ein Mensch, der den Weibern wohl gefährlich werden konnte, besonders den weichmütigen, zärtlichen wie Lotte eines war. Wenn er löge? Wenn sie sich heute abends nicht zum ersten Male gesehen hätten? Wenn Lotte hinter seinem Rücken die langen Tage während er auf Arbeit war mit diesem Milchgesicht – mit diesem Vornehmen –? Trau' einer dem Weiberpack!
Herka warf die Pfeife, die längst ausgegangen war und die er nur mechanisch noch zwischen den Zähnen gehalten hatte, auf den Boden, daß sie in Stücke zerbrach.
»Der Teufel soll mich holen, wenn ich das glaube!«
Elje hatte sehr wohl bemerkt, was in dem Manne vorging, aber er zog es vor den Blinden zu spielen.
»Daß Ihre Braut Frieden machen möchte? Sie brauchen sie nur selbst zu fragen. Sie steht vor der Tür.«
Herka machte ein paar Schritte auf die dünne Planke zu, dann fuhr er wieder zurück.
»Nein, ich will sie nicht wiederhaben. Sie mag bleiben, wo sie ist – wer weiß, bei wem sie sich inzwischen umhergetrieben –« er streifte Elfe mit einem wilden Blick – »und überhaupt sie spioniert, sie schnüffelt, sie ist mir auf den Fersen, ich – ich mag sie nicht mehr –« Leise wurde die Tür aufgeklinkt. Elje hatte es vernommen, noch ehe Herka aus seinem düstern Brüten aufgeschreckt war. Ein weicher, schluchzender Laut, so wie er unter den Weiden am schwarzen Teich hervorgebrochen, drang zu den beiden Männern.
Elje trat tief in den Schatten des Zimmers zurück. Mit schlürfenden Schritten nahte sich das gebrochene Weib.
»Sage das nicht, Fritz, nur das nicht – ich will ja tun, was du willst – ich will ja sein, wie du willst – bloß sei mir wieder gut – habe mich wieder lieb!«
Ein paar Augenblicke ließ er sie vor sich stehn und sah ihr mit verschränkten Armen zu. Dann riß er sie an sich, und ohne auf den Fremden zu achten, bedeckt er ihr blasses, verweintes Gesicht mit wilden Küssen.
Elje ging leise davon. Seine Aufgabe war erfüllt. Auf der Treppe blieb er noch einmal stehn. Etwas Dumpfes, nie zuvor Gekanntes preßte ihm das Herz zusammen! Hatte er diesem armen, süßen Geschöpf wirklich zu seinem Glück verholfen?
Ein helles, jubelndes Lachen tönte hinter der Tür.
Er seufzte schwer. Ja, es mußte wohl so sein. Rasch stieg er die Treppe hinunter und ging aus dem Haus.
Unten lungerte Christel und wartete auf ihn. Sie aß noch immer.
»Wie war's, Herr Elje, hat er sie geschlagen?«
Mit der rohen Neugier des Kindes fragte sie. Peinlich berührt schüttelte Elje den Kopf.
»Nein, nein, es ist alles gut.«
Die Kleine trottete ein Stückchen weiter neben ihm her. Er wollte sie fortschicken, dann fiel ihm ein, daß er ihr noch etwas Notwendiges zu sagen habe.
»Christel, wenn irgend etwas vorkommt, du weißt was ich meine – wenn deine Schwester wieder in Not gerät – dann kommst du zu mir – gleich, hörst du – du läßt sie nicht wieder Tag und Nacht ohne Obdach umherlaufen –«
Die Kleine schüttelte eifrig den Kopf.
»Ich komme gleich, ganz bestimmt Herr Elje.«
»Und auch sonst, wenn du willst, kannst du Frau Gerding besuchen. Ihr habt ja heut Freundschaft geschlossen.«
Christels kleines mageres Gesicht leuchtete auf.
»Ja, und sie hat mir eine Weihnachtsstolle versprochen und Äpfel, viel Äpfel.«
»Aber nun geh' heim –«
»Soll ich Lotte nicht grüßen?«
Elje überhörte geflissentlich die Frage.
»Gute Nacht, Christel.«
Trotzdem es spät geworden war, setzte Elje sich sogleich an seine Arbeit, neben die Frau Gerding das Nachtmahl gestellt hatte.
Er schob Glas und Teller beiseite und suchte die Stellen auf, die er niedergeschrieben, bevor er seinen Spaziergang angetreten hatte. Er überlas sie ein paarmal ohne den Sinn zu verstehen, ohne den Zusammenhang wieder zu finden.
Zwischen die Zeilen schob sich ungerufen, mit greifbarer Deutlichkeit die feine, schmiegsame Gestalt, das liebreizende Gesicht des jungen Weibes, das finstere Antlitz des leidenschaftlichen, ungezügelten Mannes.
Feder und Blatt entsanken seiner Hand. Er schloß die Augen und vergrub das Gesicht in den Händen, um diese beiden nicht mehr zu sehn, die ihn folterten, quälten. Aber in der Dunkelheit mit der er sich selbst umgab, stieg, was er nicht sehen wollte, nur immer deutlicher vor ihm auf.
Die enge, dürftige Kammer in Rauch und Qualm gehüllt, in dem halbdunkeln Winkel das zerwühlte Bett – Not und Armut und wilde, düstere Leidenschaft. Er hört den wehen, schluchzenden Angstruf des verstoßenen Weibes – er sah und hörte den Kuß, der die Wiederaufgenommene empfing und den sie zärtlich erwiederte – er hörte das helle, jauchzende Lachen des Glücks. Und in ihm selbst brach etwas auf, von dem er in seinem stillen, beschaulichen Gelehrtenleben jahrelang nicht mehr gewußt, die Sehnsucht nach dem Weibe. Und je heftiger er sie von sich wies, um so größer, heißer, unbezwinglicher wuchs sie an, und mit tiefem Erschrecken machte er sich klar, daß es die Sehnsucht nach einem bestimmten Weibe war, die ihm das Herz zerwühlte, die Sehnsucht nach diesem armen, mißachteten Geschöpf.
Und während der Einsame gegen sich selbst tobte, sich selbst bezwang, erduldete das zarte junge Weib wonnebebend all die wilden Liebkosungen, welche die Leidenschaft des rohen Mannes ihr auferlegte.
Conrad Elje arbeitete wie er noch nie in seinem Leben gearbeitet hatte. Er gönnte sich nur gerade noch die Muße zum Schlafen und Essen. An die Luft ging er selten mehr, und wenn es geschah, verließ er das Blockhaus zumeist zu nächtlicher Stunde. Alle Sonntage fuhr er im festgeschlossenen Wagen zu seinem Vater in die Stadt herunter. Alltags suchte er ihn niemals mehr in der Fabrik auf, wie er es sonst häufig getan hatte. Er entschuldigte sich mit Arbeitsüberbürdung. Er hatte zu lange gefeiert, es galt nun endlich nachzuholen. Der Vater mahnte zur Mäßigung.
»Du siehst nicht gut aus mein Junge, ja du kommst mir in den letzten Wochen beinahe ein wenig gealtert vor. Dir fehlt die Frau. Schau um und mach, daß du eine hübsche, brave, gesunde bekommst.«
Conrad antwortete nicht und arbeitete fort. Seit er von dem Mädchen nichts mehr sah und hörte, war er wieder ruhiger geworden. Dachte er an sie – und die Gedanken ließen sich nicht immer befehlen – so war es mit einer stillen, fürsorglichen Zärtlichkeit. Wenn es ihr nur gut ging, wenn sie nur glücklich war, wenn die gläubige Hingabe an diesen brutalen Mann sie nur nicht allzuviel kostete!
Manchmal auch träumte er von ihr mit wachen Augen. Er sah sie losgelöst von dieser, jeder Schönheit baren Umgebung. Anstatt der Dürftigkeit, der Armut und Roheit umgab sie der reinliche, schimmernde Glanz eines neuen, sorglosen Lebens. Er sah sie in ihrer zierlichen Anmut, reizend gekleidet, durch schöne, festliche Räume gehn, sah wie ihre Sinne den Alltag abstießen und wach wurden für die Feiertagsstimmungen des Lebens. Aber er wies die Träume von sich und versenkte sich aufs neue in seine Arbeit. Er war genesen von dem kurzen, fiebernden Rausch, er mußte es sein, denn sie war ja glücklich, da sie nicht an seine Tür klopfte.
Einmal, es war im November gewesen, der Schnee lag dicht über der Landschaft, da hatte er unten bei Frau Gerding Christels Stimme gehört. Das Herz hatte für einen Augenblick seinen Schlag ausgesetzt, die Kehle war ihm plötzlich wie zugeschnürt gewesen, so daß er nicht atmen, nicht schlucken konnte. Aber sogleich hatte die Spannung nachgelassen. Er hatte Christels helles Lachen und ihren Dank für irgend eine Gabe vernommen. Dann war sie auch schon wieder zur Tür heraus gewesen.
Bei Tisch hatte Frau Gerding gesagt: »Die Christel war hier und läßt schön grüßen und es sei alles munter und wohlauf.«
Da hatte er genickt und gemeint, daß ihn das vom Herzen freue.
Jetzt war Weihnachten vorüber. Christel hatte längst die ihr versprochenen Äpfel und Stollen – und wie Conrad Elje seine alte gutherzige Gerding kannte – noch etliches andere in Empfang genommen.
Die Arbeit, die ihn so lange festgehalten nahte sich ihrem Ende. Conrad dachte daran in vierzehn Tagen bis drei Wochen Arbeitsschluß zu machen und nach Ägypten zu gehn. Er hatte heute mittags, es war gerade ein Sonntag, schon mit dem Vater darüber gesprochen.
So hart der Abschied von seinem Jungen Richard Elje jedesmal ankam, hatte er doch lebhaft zugeredet. Es war höchste Zeit, daß Conrad von der Arbeit fortkam.
Auf dem Heimweg, den er im offenen Schlitten nahm, berechnete er, daß er sich in den ersten Februartagen bequem würde auf den Weg machen können. Und es war wohl gut so, sehr gut. Ein kleiner Seufzer, halb der Entsagung, halb der Befreiung, hob seine Brust.
Der Diener half ihm aus dem Schlitten. Dann, als er die Treppe zu seinem Schlafzimmer heraufsteigen wollte, vertrat ihm Frau Gerding den Weg.
»Einen Augenblick, Herr Elje.«
Sie traten in das hellerleuchtete Eßzimmer. Elje legte die Hand über die überanstrengten, letzthin müde gewordenen Augen.
»Herr Elje, die Kleine ist hier – die Christel – schon den ganzen Nachmittag –«
Frau Gerdings gutmütiges Gesicht zeigte einen so seltsamen Ernst, daß es Conrad eisig durch die Glieder fuhr.
»Ist ein Unglück geschehen?«
»Beinahe, Herr Elje. Das arme Geschöpf wollte in den Schwarzen Weiher gehn. Die Kleine hat das Unglück noch rechtzeitig durch ihr Geschrei verhindert.«
»Und – was geschah weiter?«
»Sie ist hier, Herr Elje, Christel hat sie halb bewußtlos hergeschleppt. Sie hockt in der kleinen Kammer neben der Küche, sie will Sie unter keinen Umständen sehn. Das arme Ding ist halbtot vor Scham und Kummer, er soll sie gräßlich mißhandelt haben, der rohe Patron, Und solch ein Kind wie diese Christel macht all diesen Schmutz mit durch! Es ist zum Erbarmen, und doch ist sie von der Schwester nicht fortzubekommen, sie hängt an ihr wie ein treuer Hund.«
Conrad ließ Frau Gerding reden, ohne sie auch nur ein einzigesmal zu unterbrechen. Er hätte nur gewünscht sie spräche fort ohne Ende, damit er sich fassen, zu einem Entschluß kommen könne diesem Neuen, Unerwarteten, plötzlich über ihn Hereinbrechenden gegenüber. Sie war hier, unter seinem Dach – fort von jenem auf immer. Was sollte geschehn?! Hatte er es selbst laut herausgerufen oder war es wieder Frau Gerdings Stimme gewesen, die diese Worte gesprochen hatte? Sie kamen wohl von der kleinen eifrigen Frau, denn die Gerding trat jetzt einen Schritt näher auf ihn zu und fragte, wie es schien, zum zweiten Male: »Ja, was soll nun geschehn, Herr Elje? Sie will partout nicht hier bleiben. Aber was fängt man mit ihr an jetzt, wo es beinahe Nacht ist und Sonntag dazu, wo sie alle unterwegs sind die wüsten Kerle und von der Kantine hin und her gehen und man nirgends vor ihnen sicher ist.«
Conrad hatte sich gefaßt. Er war ganz ruhig geworden, innerlich ruhig. Hatte er dazu monatelang an sich gearbeitet, war er dazu mit sich fertig geworden, um sich jetzt von einem Zufall überrumpeln zu lassen? Man hatte ein armes, junges, mißhandeltes Geschöpf unter seinen Schutz gestellt; er sollte ihm werden. Und in drei Wochen hatte er auch dies hinter sich und war wieder allein bei den Pyramiden.
»Sie bleibt natürlich. Wenn sie mich nicht sehen will, gut. Räumen Sie ihr unten ein Zimmer ein, Frau Gerding, ihr und dem Kind. Behalten Sie die beiden bei sich und gut unter Augen, bis sich etwas anderes für sie gefunden hat.«
»Das wird das beste sein – aber wollen Sie wirklich nicht einmal selbst –!?«
Er unterbrach sie rasch.
»Alles übrige morgen, liebe Gerding. Ich will noch arbeiten. Ich habe weniger Zeit zu verlieren denn je; in drei Wochen will ich am Nil sein.«
»Schon wieder,« seufzte die Alte, der es jedesmal einen Stich versetzte, wenn ihr Herr wieder zu »den Wilden« wollte.
Conrad hörte nicht mehr auf sie. Er lief eilig die Treppe hinauf. Oben angekommen, verließ ihn die Fassung aufs neue. Er schloß die Abschlußtür an der Treppe, er verriegelte die Eingänge seines Schlaf- und Arbeitszimmers, daß nur ja kein Laut, kein Hauch von unten zu ihm heraufdränge.
Es war nicht das wilde Fieber des Begehrens, wie es ihn vor Monaten gepackt hatte, das ihn heute bis in den innersten Kern seines Wesens durchwühlte, es war die Erkenntnis, die mit der plötzlichen Einkehr Lottes in sein Haus jäh in ihm aufgesprungen war, daß er weit mehr als eine begehrliche Leidenschaft für dieses Mädchen empfand, daß er dieses Mädchen liebte, liebte aus der Tiefe seiner Seele heraus, liebte mit jedem Gedanken, mit jedem Atemzug. Er hatte sich instinktiv mit allen Kräften gegen diese Empfindung gewehrt, er hatte gegen sich selbst getobt, er hatte zu bezwingen geglaubt, was ihn zu ihr zog, es zu töten versucht durch die Flucht in die rastlose Arbeit – vergebens, alles vergebens. Er war diesem süßen, blassen, gefallenen und mißachteten Geschöpf verfallen mit seinem ganzen Sein, diesem Sein, das er so lange in stillschweigender Abwehr vor jedem fremden Eindringen bewahrt hatte.
Conrad hatte den schweren Pelz beiseite geworfen und lief mit großen, aufgeregten Schritten durch die Zimmer. »Was sollte werden?« Diesmal sprach er es selbst und laut genug vor sich hin.
Er konnte sich anders besinnen, sie aus dem Hause weisen lassen. Er konnte die Arbeit im Stich lassen, dem Diener klingeln, ihn die Sachen packen heißen und morgen mit dem Frühesten auf und davon sein. Eines wäre so feige wie das andere gewesen, eines wie das andere hätte die Arme, Verlassene, Hilflose ins sichere Verderben gestürzt, in das eisige Schneewasser des schwarzen Weiher oder vielleicht schlimmer noch, in die schwüle, verderbenschwangere Atmosphäre zurück, aus der sie kam. Keines durfte sein. Also etwas anderes. Er fand nichts, nichts! Ja doch eines. Er konnte die Gerding mit ihr fortschicken, mit ihr und Christel, an einen hübschen, stillen Ort, wo sie vor Fritz Herka sicher war. Aber würde Lotte es tun? Würde sie das sichtbare, aufdringliche Almosen von ihm annehmen? Er kannte so wenig von ihr, und doch sagte ihm sein tiefes Empfinden für sie – nein, sie täte es nicht.
Er hatte sich nicht getäuscht. Als die Gerding Lotte den Vorschlag machte, mit ihr und dem Kinde fortzugehen, brach sie in Tränen aus. Sie wollte fort, ja, aber allein mit Christel, arbeiten für sie beide.
Die Alte hatte Mühe gehabt, sie überhaupt da zu halten. Auf der Stelle hatte sie fortbegehrt, nur daß sie zu schwach und krank und vor Kummer gänzlich aufgerieben war, um ihren Entschluß gleich durchzuführen.
Am vierten Tage schien dieser Entschluß ernst werden zu wollen. Lotte schickte Christel zu Frau Türk, damit sie ihr zu ihren wenigen Habseligkeiten verhelfe. Da Herkas Wohnung offen gewesen war, brachte das Kind ihr und der Schwester armseliges Eigentum gleich mit zurück.
Lotte flocht ihr wundervolles Blondhaar in zwei starke Zöpfe, die sie kunstlos um den zierlichen Kopf steckte, dann legte sie ihr einziges Festkleid, ein dunkelblaues Wollkleid an, das ihre zarte Gestalt zierlich umschloß. Christel konnte sich nicht genug wundern und freuen. »So könntest du zum Kaiser gehen,« meinte sie bewundernd lächelnd.
Aber Lotte lächelte nicht mit. Ihre Augen, wenn sie auch mehr weinten, verloren den traurigen, suchenden Ausdruck nicht.
»Lauf' zu Frau Gerding in die Küche und frage, wann ich Herrn Elje sprechen könne.«
Christel blieb wie angewurzelt stehn.
»Ich denke, du willst ihn nicht sehn?«
»Ich habe mich anders besonnen. Ich will ihm danken und ihm Lebewohl sagen.«
»Lebewohl! Ach nein, Lotte!«
»Ja, gewiß. Ich gehe nachher in die Stadt hinunter und suche eine Stelle bei Kindern oder in der Wirtschaft.«
»Und ich –?« Christel war den Tränen nahe.
»Über dich will ich mit Herrn Elje sprechen. Er meint es gut mit uns.«
Eine halbe Stunde später stand Lotte oben vor Conrad Eljes Arbeitszimmer, nicht ganz so ruhig, als sie sich unten den Anschein gegeben hatte. Die Röte der Scham lag auf ihrem feinen Gesicht, es kostete sie einen harten Kampf, dem Manne, der Zeuge ihrer widerstandslosen Hingabe an Fritz Herka gewesen war, so tief erniedrigt vor Augen zu treten.
Conrad saß inmitten seiner Bücher und Handschriften, als sie bei ihm eintrat. Auch er verfärbte sich, er wurde bleich, alles Blut trat zu seinem Herzen zurück. Er fühlte, da sie zu ihm kam, sie komme, um Abschied zu nehmen.
Einen Augenblick blieb es totenstill zwischen ihnen.
Dann schob Else dem Mädchen ungeschickt einen Stuhl zu und sagte halblaut, ohne sie anzusehen: »Bitte, setzen Sie sich doch.«
Sie schüttelte nur leicht den blonden Kopf und blieb an die Schreibtischkante gelehnt stehn.
»Ich bin nur gekommen, um Ihnen zu danken, Herr Elje, für alles, alles.«
»Mir scheint, ich konnte wenig für Sie tun« meinte er mit trübem Lächeln.
»O doch, doch. Es war noch eine schöne Zeit. Es war sehr gut von Ihnen, daß Sie zu ihm gingen. Nun ist es vorbei.«
Sie unterdrückte mühsam das Schluchzen, das ihr in der Kehle aufstieg. Dann fuhr sie fort:
»Es war dasselbe jetzt wie damals und doch nicht dasselbe. Er – er hat wohl eine andere gern.«
Sie hatte das letztere kaum hörbar gesprochen. Nun brach sie doch auf dem Stuhl zusammen, den er ihr hingeschoben, in wortlosem, tränenlosem Schmerz.
Conrad legte leise seine Hand aus die ihre.
»Mut, Fräulein Lotte! Versuchen Sie's, sich ins Leben zurückzufinden.«
Sie seufzte ein wenig, dann sagte sie gefaßt: »Ja, ich werd's wohl müssen. Deshalb bin ich auch gekommen. Ich wollte – Ihnen Lebewohl sagen. Ich will in die Stadt, mir eine Stelle suchen.«
Er hörte gar nicht, was sie sprach, er sah sie nicht einmal an. Nur den sanften, wohltuenden Klang ihrer Stimme vernahm er, und zum erstenmal fiel es ihm auf, wie hübsch und fein sie sich auszudrücken verstand. Er hatte sie bisher ja auch kaum sprechen gehört. Nur die zerrissenen Laute eines in seinen Tiefen aufgewühlten Gemütes hatte er vernommen.
Auch sie hatte nicht zu ihm hingesehn. Ihre Augen waren durch das Zimmer geschweift und waren verwundert an all den Büchern und Schriften hängen geblieben, die Wände und Schränke füllten.
»Wie gelehrt es hier ist,« meinte sie, sich zu einem halben Lächeln zwingend. »Das muß dem Kopf weh tun und den Augen, das alles zu lesen und zu schreiben.«
»Dem Kopf nicht so sehr, den Augen ja. Wenigstens spüre ich es letzthin an den meinen, daß sie leicht müde werden. Der viele Schnee mag sie auch angegriffen haben.«
»Dann sollten Sie ausruhen, Herr Elje.«
»In drei – in vier Wochen ja. Bis dahin muß noch ein Abschnitt fertig werden. Freilich, ich sollte –« Er hielt den Blick auf ihre schlanken Hände gerichtet, welche die Arbeit nicht zu verderben vermocht hatte. Ein Gedanke hatte ihn gepackt, der ihn nicht wieder los ließ. Wenn diese feinen Hände dafür geschickt zu machen wären!
Lotte schaute noch immer im Zimmer umher.
»Wenn Vater das hätte sehen können!«
»Hatte Ihr Vater Interesse für Bücher?«
»O sehr – es ging uns nicht immer so schlecht wie heut'.«
»Ihr Vater ist tot?«
»Beide Eltern, ja – sie starben in schwerer Not. Früher – mein Vater war Volksschullehrer gewesen in Schlesien – haben sie bessere Zeiten gesehn. Ich kann mich nicht mehr darauf besinnen. Vater verlor seine Stelle, und es ging dann schnell bergab mit ihm. Er starb als ich vierzehn Jahre alt war. Während er mich unterrichtete, hat er mir oft von alten Zeiten erzählt. Mutter starb bald darauf und ließ mich und die Kleine allein. Dann wurden wir hierher verschlagen.«
Während sie sprach, rang Elje sichtlich mit einem Entschlusse. Jetzt, als sie aufstand, um zu gehen, trat er einen Schritt näher auf sie zu.
»Ich will nun gehen, und ich danke Ihnen noch einmal für alles, alles. Und – seien Sie mir nicht böse, wenn ich noch eine Bitte an Sie habe. Würden Sie Christel noch für ein paar Tage hier behalten, bis ich unten in der Stadt für mich eine Stelle und für das Kind ein Unterkommen gefunden habe?«
Conrad Elje lächelte. Ihre Bitte kam ihm sehr gelegen. »Ich stelle eine Gegenbitte, Fräulein Lotte. Christel bleibt hier und Sie suchen, wenn es Ihnen so genehm, eine kleine Wohnung für Sie beide in der Stadt, eine Stelle aber suchen Sie nicht, wenigstens für die ersten Wochen nicht.«
Sie sah ihn verständnislos an.
»Weshalb nicht?«
»Weil ich, ein abgefeimter Egoist, auf Ihre Hilfe rechne Fräulein Lotte.«
»Sie, Herr Elje, auf mich?« Es lag eine maßlose Verwunderung in ihrem Ton.
»Ja, auf Sie, Fräulein Lotte, wenigstens möchte ich den Versuch machen. Ich fühle, daß meine Augen zu aller Schreib- und Lesearbeit nicht mehr auf vier ganze Wochen taugen, würden Sie mir die Ihren, und dazu Ihre« – er warf einen bewundernden Blick auf ihre Hände – »gewiß sehr geschickten Hände leihen? Kurz und gut, würden Sie mir vier Wochen als Sekretärin dienen wollen?«
Lotte wurde dunkelrot. Wie er sie beschämte dadurch, daß er sie so hoch stellte! Daß er ihr antrug, ihm bei seiner Arbeit zu Diensten sein zu dürfen! Es war sicherlich nichts als eine neue edelmütige Handlungsweise von ihm, sie in ihrem Schmerz aufzurichten!
Sie schüttelte trübe den reizenden Kopf.
»Es ist sehr gut von Ihnen Herr Elje, daß Sie so zur mir sprechen, so viel mir zutrauen, aber ich könnte es wohl gar nicht einmal. Mein bischen Gelerntes ist dahingegangen in den letzten Jahren. Lassen Sie mich ruhig gehn. Ich tauge zu nichts Ordentlichem mehr.«
Er aber hielt sie bei der Hand fest und sagte mit nachdrücklicher Bitte:
»Nein, Sie bleiben, Fräulein Lotte. Lassen Sie uns wenigstens einen Versuch machen!«
Also er meinte es wirklich ernst. Er wollte sie heben und halten, ihr Selbstbewußtsein ihr zurückgeben. Wie gut war dieser Mann! Wie selbstlos gut!
»Wenn Sie es wirklich wünschen, Herr Elje –«. Er hatte schon einen Tisch für sie freigemacht, eine Lage Papier, Tinte und Feder für sie zurechtgelegt.
»Bitte, setzen Sie sich. Ich will ein paar Sätze diktieren. Danach werden wir gleich sehn, ob es geht.«
Lotte setzte sich und nahm die Feder in ihre vor Aufregung fliegende Hand. Sie war des Schreibens seit lange ungewohnt.
Er diktierte, hinter ihr stehend, zwei, drei Sätze aus dem Kopf, dann sah er ihr über die Schulter.
Eine etwas hastige, aufgeregte Schrift, aber vollkommen orthographisch. Er atmete auf. Ein wenig Übung, ein wenig Ruhe und es würde gehen.
»Ich denke, es wird sich machen, Fräulein Lotte,« sagte er, seine Freude schwer verbergend. Er nahm ein Blatt vom Schreibtisch und reichte es ihr hin.
»Können Sie meine Schrift entziffern, Fräulein Lotte?«
Sie sah eine Weile aufmerksam auf das Blatt, dann las sie ziemlich fließend ein paar Reihen herunter.
»Sehen Sie, auch das geht. Also machen wir gleich den Anfang. Setzen Sie sich und schreiben Sie mir diesen Bogen ab. Wenn Sie ruhig und langsam schreiben, wird Ihre Schrift sogar sehr hübsch aussehn, und es ist eine gute Übung für morgen. Wir können dann morgen gleich mit der Hauptsache beginnen, das heißt, ich diktiere und Sie schreiben nach meinem Diktat. Ich lasse Sie hier mit Ihrer Arbeit allein. Nehmen Sie sich Zeit. Ich komme vor zwei Stunden nicht wieder. Ich will zu meinem Vater in die Fabrik. Unten sage ich Frau Gerding, daß sie mit Christel in die Stadt fährt – die beiden können meinen Schlitten benützen – und eine nette Wohnung für Sie sucht. Ist es recht so?«
»O, Herr Elje!«
Sie stand vor ihm, bleich vor Erregung, nach Worten suchend, die ihm danken sollten.
Er nahm ihre Hand und behielt sie einen Augenblick fest und warm in der seinen.
»Wenn Sie nur zufrieden sind, Fräulein Lotte.«
Mehr als die Hälfte der Zeit, die Conrad Elje sich für den Abschluß seiner Arbeit gesetzt hatte, war vorüber. Frau Gerding hatte unten in der Stadt ein nettes Zimmer für die Schwestern gefunden, und dazu eine Wirtin, die für Christel Sorge trug und auch ihren regelmäßigen Schulbesuch beaufsichtigte. Lotte hatte sich gut eingearbeitet, ohne jedoch eine besonders fixe Schreiberin geworden zu sein. Elje aber hatte erreicht, was er gewollt. Sich selbst hatte er ihre liebe, ihm unentbehrlich dünkende Gesellschaft geschenkt; ihr hatte er durch die Arbeit und den Einfluß, den seine Nähe auf sie übte, über das Schwerste fortgeholfen. Wirklich schien Lotte nicht nur ruhiger, auch heiterer schien sie geworden zu sein, und eines Tages sagte sie ihm ungefragt, es komme ihr vor, als seien nicht wenige Wochen, als seien Jahre seit jenem schweren Tage vorübergegangen, da sie dem Verzweiflungstode so nahe gewesen war.
An einem hellen und ziemlich kalten Tage zu Ende Januar hatten sie sich bei der Arbeit verspätet. Der Verleger, für den Conrad schrieb, hatte noch einen Notizenanhang gewünscht, der viel Mühe machte und Conrads Abreise noch um etwas hinausschob. Er hatte sich äußerlich ungehalten über den Aufschub gezeigt. Innerlich frohlockte und jubelte er. Um eine ganze Woche länger ihre liebe, sanfte Stimme hören, ihr süßes Gesicht, ihre feine Gestalt sehen, welcher Preis wäre ihm dafür zu hoch gewesen!
Während sie sonst gegen vier Uhr die gemeinsame Arbeit abschlossen, damit Lotte noch bei guter Zeit die Stadt erreichte, war es heute sechs Uhr vorüber, gerade als Lotte aufbrach.
»Sie dürfen unter keiner Bedingung mehr allein gehen, Fräulein Lotte. In einer halben Stunde ist es dunkel.«
Conrad hatte den Mantel schon umgenommen. Sie sträubte und wehrte sich.
»Es hilft Ihnen nichts. Die gute Gerding geht um nichts in der Welt bei Nacht und Nebel aus dem Haus, und der Diener ist mit dem Schlitten nach Kodnow zur Schmiede gefahren. Der Fuchs war mit seinem Eisen nicht ganz im stande.«
Ehe Lotte weitere Widerrede gefunden hatte, waren sie schon aus dem Haus. Der nächste Weg führte durch die Anlagen. In wenigen Minuten mußten sie an jener Bank unter den Weiden vorbeikommen, auf der Conrad sie zum erstenmal gesehen hatte.
Ob Lotte jener Stunde dachte, da er sie schluchzend dort gefunden, von dort ihr den Weg zu ihrem vermeintlichen Glück zurückgebahnt hatte? Es war von kurzer Dauer gewesen. Würde das Glück, das er selbst ihr zu schenken hoffte, langlebiger sein?
Sie ging vor ihm her auf dem schmalen, festgetretenen Schneeweg, auf dem nur für eines Platz war. Leicht schritt sie aus, wie von innerer Fröhlichkeit belebt. Sollte sie so ganz schon über das fort sein, was ihr vor kurzen Wochen noch ans Leben zu gehen schien? Sollte ihre Seele schon neuen Eindrücken zugänglich sein? Fühlte sie, ohne daß es ausgesprochen ward, was sie ihm war? Was er ihr gab? War sie in der stillen Sicherheit seiner tiefen Neigung instinktiv eine andere geworden? Fing sie an abzuwägen zwischen dem sanften, reinen Frieden seines Hauses und der wüsten, leidenschaftgeschwängerten Atmosphäre, die durch Jahre ihre Welt gewesen war? –
Die Biegung des schmalen Weges ließ ihn für einen Augenblick ihr feines, zartes Gesicht sehn, die warmen, blauen, sprechenden Augen. Nie war sie ihm so ganz und nur Weib erschienen. In ihrer feinen Anmut wie eigens für die Liebe geschaffen, für eine zarte, tragende, stützende Liebe. Wie mußte gerade dieses liebliche Geschöpf unter ihrer Kehrseite gelitten haben!
Jetzt wurde der Blick auf die Bank unter den Weiden frei, nicht von Nebel umwallt wie an jenem Septemberabend, klar in all ihren Umrissen hob sie sich gegen das schneebeladene Weidengebüsch ab.
In zwei Schritten war Conrad an Lottes Seite. Sie sollte nicht allein sein mit dieser Erinnerung. Er nahm ihre Hand und hielt sie in der seinen fest. So schritten sie vorüber, hinunter zu dem schmalen Weg am Fluß. Auch hier ließ Conrad die schlanke Hand nicht, aus der eine köstliche Wärme zu ihm überströmte. Erst als der Schnee neben dem schmalen Wege, auf dem er mit Lotte ging, so hoch wurde, daß er undurchschreitbar ward, blieben sie stehn.
Es war fast dunkel geworden, sie konnten den Ausdruck ihrer Gesichter nicht mehr unterscheiden, aber Conrad hatte das Gefühl, daß ihre Augen forschend in die seinen gingen. Was fragten sie ihn? Oder wollten sie ihm etwas sagen, ihm die Frage beantworten, die ihm die Seele verbrannte?
»Lotte,« sagte er leise, zu der einen Hand auch noch ihre andere in die seine nehmend, »Ist das vorüber?«
Ein Beben ging durch ihren zarten Körper. Sie seufzte leise auf. In Schmerz oder Befreiung?
»Lotte,« sagte er noch einmal und legte leicht die freie Hand auf ihre Schulter, »Sie können mir Antwort geben, können mir vertrauen – ich habe Sie sehr lieb.«
Sie stand ganz still und sprach kein Wort, aber Conrad fühlte das Blut in ihren feinen Händen klopfen.
»Ein Wort nur, Lotte, sprich, ist es vorüber?«
Eine bange lange Minute Totenstille. Conrad glaubte sein eigenes Herz schlagen zu hören in seiner unsäglichen Angst. Dann sank sie weinend an seine Schulter.
Er preßte sie an sich. Unaussprechliche Wonne durchströmte ihn.
»Süßes, süßes Weib,« flüsterte er und bedeckte ihren Mund, ihr zartes weißes Gesicht mit seinen Küssen.
Die Arbeit wurde beiseite gelegt. Von Ägypten war nicht mehr die Rede. Conrad Elje lebte, atmete nur noch für dies feine, blasse Geschöpf, dessen ein Arbeiter seines Vaters überdrüssig geworden war.
Es gab Stunden in denen er sich diese brutale Wahrheit ins Gesicht sagte.
Diese Stunden kamen zuerst alle Tage. Dann schloß er sich in sein Zimmer ein und tobte gegen sich selbst, daß er aufgehoben hatte, was ein anderer fortgeworfen, daß er sich selbst schmachvoll erniedrigt hatte, daß er glücklich war in dieser seiner Erniedrigung, daß er sie um nichts hätte missen mögen.
Wenn dann Lotte kam, waren diese Stunden wie ausgelöscht. Was er in verzweifelter Selbstqual gegen sich und sie vorgebracht, war vergessen. Es gab keine Schuld, es gab keine Schande, es gab keine Verantwortung mehr; nichts blieb als ein trauriger Irrtum, der dies in tiefster Seele reine und keusche Geschöpf in die Arme eines verrohten Menschen getrieben. Dies war vorüber. Sie war gerettet durch ihn, sie war sein, sein Geschöpf; ihre Seele hatte sich zurückgefunden zu ihrer ursprünglichen Keuschheit, ihr Leib war gereinigt durch seine Liebe.
Mitten in die Frühlingsstürme seiner Leidenschaft trat sein Vater vor ihn hin, ernst und bekümmert wie Conrad den Lebensfrohen, Sicheren, Tüchtigen nie gesehen. Er legte ihm die Hand auf die Schulter und sah ihm ins Gesicht.
»Was ist's mit dir, mein Junge? Hast du das nötig? Und hier in deinem eigenen Hause?«
Conrad atmete schwer. Er errötete und wurde dann bleich bis in die Lippen.
Elje erschrack. Des Sohnes ganzes Wesen war durchzittert von ernster Wahrheit.
Er ließ sich schwer auf einen Stuhl fallen.
»So, so – und du weißt, daß man sie drüben kennt, und der schwarze Teufel der Herka erzählt, daß sie seine Geliebte war.«
Die Stimme versagte ihm.
Auch Conrad schwieg eine lange Weile. Dann sagte er schwer und langsam:
»Ich werde sie heiraten Vater. Dann ist sie Conrad Eljes Weib, und niemand wird es mehr wagen sie anzutasten.«
Es kam fast feierlich aus seinem Munde.
Elje stützte den wirr gewordenen Kopf in die Hand. Zu diesem Ende also hatte er seine letzte und beste Lebenshoffnung auf einen Enkel gesetzt!
Aber er sagte nichts mehr. Er kannte seinen Sohn. Er brauchte ihn nur anzusehen, um zu wissen, daß er eher vom Leben, als von diesem Weibe lassen würde.
Conrad ergriff es tief, daß sein Vater um ihn litt. Tröstend beugte er sich zu ihm nieder.
»Kenne sie nur erst Vater und du wirst anders von ihr denken!«
An diesem Tage kam Lotte nicht zu ihm herauf. Christel war krank und bedurfte ihrer. Conrad Elje konnte noch einmal stille Einkehr halten, bevor er Lotte seinen Entschluß offenbarte.
Phase um Phase, Punkt um Punkt überdachte er geschehenes und empfundenes. Er verschwieg sich nichts, er verhüllte, verhehlte sich nichts. Sie hatte diesen Herka geliebt, ja. Ein junges, aller Mittel bares, verlassenes Geschöpf war sie in die Arme des ersten gefallen, die sich ihr geöffnet hatten. Daß sie an einen solchen gekommen war ein Unglück, keine Schuld; sie war frei gewesen sich hinzugeben; sie hatte die Leidenschaft, die er ihr geschenkt keiner andern gestohlen. Es war niemand übervorteilt, niemand betrogen, niemand belogen worden. Zwei freie Menschen hatten sich zu einem traurigen Irrtum zusammengefunden. Das kam oft vor, es war kein Verbrechen, keine unsühnbare Schuld. Besser behütete, vom Leben weicher gebettete Mädchen verfielen täglich einem gleichen Los, nur mit dem Unterschied vielleicht, daß sie heimlicher beim Werk waren, während Lotte sich freimütig zu ihrer Liebe bekannt hatte.
Und weiter dachte Conrad Elje, zu dem gelangend, was für ihn der springende Punkt war: daß sie von dem Irrtum dieser Liebe genesen war durch die seine, daß von ihr abgefallen, was ihr von der schwülen Unreine jener Atmosphäre angehaftet, daß sie sich zu ihrem ursprünglichen, angeborenen Sein zurückgefunden, daß Denken und Sinne ihr aufgegangen waren für jenes verfeinerte, vertiefte Empfinden, welches das Leben frei macht von dem beklemmenden Ballast der bloßen Materie, von dem erstickenden Dunst des Alltags, und es zu jener Reinheit und Höhe erhebt, auf der allein es wert ist, gelebt zu werden.
Mit dem unausrottbaren Idealismus seines Wesens hing Conrad Elje sich an diese Überzeugung. Schritt für Schritt ging er seinen Erinnerungen nach, und immer leichter und still beglückter wurde ihm zu Sinn. Lottes äußere Erscheinung, wie sie sich trug und bewegte, wie sie dachte und sprach, die Art ihrer Liebesäußerungen, in allem sah er sie werden und wachsen und sich vertiefen, aus allem empfand er das Hervorbrechen ihrer ursprünglich subtilen Natur, der das Leben, ohne daß eine Schuld sie traf, grobe Schlacken aufgelegt hatte. Fast körperlich fühlte er, wie sich sein Herz ihr zu weitete, sie ganz in sich aufnahm, sie umfing und umhüllte mit seiner zarten Güte, sie, sein Weib, seine Gattin, die künftige Mutter seiner Kinder!
Als Lotte am nächsten Morgen zu ihm kam, empfing er sie tief bewegt. Nichts von jener froh erregten Lust, mit der er sie sonst stürmisch an seine Brust zu reißen pflegte.
Sanft und weich, wie ein ihm Geheiligtes, umfing er sie und küßte statt der zu ihm aufgehobenen Lippen ihre Augen, die verwundert in die seinen sahen.
»Hast du dich gar nicht nach mir gesehnt den ganzen, langen Tag?« fragte sie enttäuscht.
»Doch, doch, mein Liebling.«
Er zog sie auf sein Knie, und streichelte leise ihr wundervolles blondes Haar.
»So sehr hab ich mich nach dir gesehnt, daß ich darüber nachgedacht habe, auf welche Weise ich dich für immer bei mir halten könnte. Möchtest du immer bei mir sein?«
Sie sah ihn aufs neue verwundert an.
Dann bezwungen von dem hingebenden Liebesausdruck, der auf seinem Antlitz lag, beugte sie sich zu ihm und küßte ihn auf den Mund.
Da übermannte die Leidenschaft ihn aufs neue.
»Du, du!« stammelte er und preßte sie an sich, daß ihr der Atem versagte. »Ach du!«
Er bedeckte ihr Haar, ihren feinen weißen Hals, ihr Gesicht mit glühenden Küssen. Wie leblos lag sie in seinem Arm und ließ den wilden Sturm seiner Leidenschaft über sich ergehen.
Und plötzlich mitten im Rausch ließ er sie.
Er sprang auf und lief rastlos im Zimmer hin und her. Er sah bleich und verstört aus.
Dann sank er vor dem Stuhl nieder, auf dem sie saß, und bedeckte ihre Hände mit Küssen.
»Verzeih, Liebste. Ich wollte das nicht. Es soll nicht mehr sein – jetzt nicht – du sollst ja meine Braut sein – meine geliebte Braut – und in vier Wochen mein angebetetes Weib. Willst du mich? Sage, willst du mich?«
Wie versteinert saß sie da. Wachte oder träumte sie? Was er da sagte, war ja ganz unmöglich – sie Conrad Eljes Frau? Sie sah auf ihn nieder. Sie konnte sein Gesicht nicht sehen, das noch immer auf ihren Händen lag.
»Meine Frau, meine liebe, liebe Frau!«
Was war über ihn gekommen? Hatte er plötzlich den Verstand verloren, daß er auf diesen Gedanken verfallen war? War es ein schlechter Scherz? Das sah ihm nicht gleich. Sie, durch Jahre vor aller Augen Fritz Herkas Geliebte, sie wollte er zu seiner Frau machen? Er, Conrad Elje, der vornehme, gelehrte Mann, dermaleinst der Besitzer alles dessen, was um sie war; der Herr über alles, was ihr Blick rings im Umkreis erreichen konnte, des Bodens, der Leute, der Millionen tragenden Werke?
Sie sprang auf, sie fürchtete sich förmlich vor ihm.
»Conrad, steh auf, ich bitte dich, du darfst so etwas gar nicht aussprechen.«
Er erhob sich und umfing sie zart.
»Weshalb nicht mein Liebes, da es doch mein Ernst ist!«.
»Geh, so etwas gibt es nicht. Das ist unmöglich.«
»Wenn man sich lieb hat, ist nichts unmöglich. Oder hast du mich nicht lieb?«
Sie antwortete nicht und sah ihn immer nur an wie einen, der nicht weiß, was er spricht.
Conrad lächelte. Ihr offenbarer Unglaube belustigte und entzückte ihn zugleich. Es tat ihm unsäglich wohl, zu fühlen, daß sich nie ein berechnender Gedanke in ihre Liebe zu ihm gestohlen hatte.
»Komm einmal her Liebling, und hör mir gut zu.«
Sie setzte sich mit einem ungläubigen, zerstreuten Lächeln gehorsam auf einen Stuhl ihm gegenüber. Das ganze kam ihr wie eine höchst unwahrscheinliche Geschichte, die ihr von andern erzählt wurde, vor.
Er war ganz hingenommen von seiner Sache. Seine Augen strahlten, sein letzthin von Erregungen und Arbeit bleich gewordenes Gesicht färbte sich mit dem Rot der Freude. Er erzählte von Lottes zukünftigem Walten als liebe, geliebte Hausfrau, von dem glückseligen Frieden, den sie einander bereiten würden, von seinen Arbeiten, an denen sie immer mehr teil haben würde. Er sprach von allem, mit dem er sie schmücken und ihr Leben reich machen wollte; von den Schönheiten der Welt, die er ihr zeigen würde, und davon, daß sie jetzt, in wenigen Wochen schon als Beginn des neuen Lebens eine Reise machen wollten, um ihr junges Glück in irgend einem blumigen Winkel des Südens zu verstecken.
Wie ein glänzender Strom mit bunten, farbigen Uferbildern glitt seine Rede über sie hin. Zuerst trachtete sie aufmerksam auf ihn zu hören, zu erfassen was er zu ihr sprach, zu begreifen, daß wirklich von ihm und ihr die Rede war. Dann mit einem Male zerriß ihr der Faden und plötzlich war sie mit ihren Gedanken weit von ihm fort, drüben in dem kleinen Arbeiterhaus mit den kahlen steinernen Stiegen und den beiden engen, dumpfigen Kammern, die sie mit Fritz Herka bewohnt hatte. Ganz deutlich, so deutlich wie lange nicht, hörte sie seine Stimme, die nach ihr rief, herrisch trotzig, wie es seine Gewohnheit war. Alles Blut stieg ihr in die Schläfen. Sie fühlte es förmlich, wie er sie bei der Hand packte, sie über die Schwelle riß, sie schalt und stieß, weil sie dies oder jenes nicht recht gemacht hatte, und sie dann in seinen Armen begrub, mit seinen Liebkosungen förmlich erstickte.
Schreckhaft fuhr sie zusammen, als sich jetzt eine Hand auf die ihre legte. Verwundert starrte sie auf die feinen, schlanken, vornehmen Finger, die ihr in jeder Linie fremd geblieben waren, während die rauhe, kräftige, fest zupackende Arbeitshand, die sie noch eben um ihren Nacken zu spüren vermeint hatte, ihr vertraut war in jedem Adergeäst, in jedem Hautgefüge.
»Wovor erschrickst du liebes Herz?«
Er zog sie, die auf keine seiner letzten Fragen mehr geantwortet hatte, zärtlich an seine Brust.
Hastig machte Lotte sich los und sprang auf.
»Ich muß fort – Christel – sie ist noch immer nicht ganz wohl –«
Er hielt sie bei den Händen fest.
»Noch einen Augenblick bleib,« bat er, »ich habe dir noch so viel zu sagen – auch von meinem Vater, den du mit mir lieb haben mußt.«
Eine plötzlich aufgeschreckte, zielbewußte Hast, wie er sie an der sanft-lässigen Willenlosen nie gekannt, hatte sich ihrer bemächtigt.
»Nein, laß – ich muß gehn – übermorgen, morgen, wenn du willst –«
Enttäuscht und traurig sah er zu ihr hin, die ohne seine Hilfe schon in das kleine, schwarze Jackett geschlüpft war, und den zierlichen Hut über dem blonden Haarknoten feststeckte. Dann plötzlich stieg etwas Warmes, Freudiges in ihm auf. Hätte er sie anders haben mögen? Ehrte es sie nicht, daß sie nun, da er sie zu seinem Weibe begehrt, das Beisammensein allein mit ihm kürzte, statt es auszudehnen?
Er nahm ihre Hand und küßte sie dankbar. Verlegen sah sie zur Seite.
»Ich habe heut abend in der Stadt zu tun, für uns zu tun, Lotte. Darf ich auf einen Augenblick zu dir kommen? – so um die siebente Stunde? – Christel ist ja daheim.«
Sie nickte flüchtig. Er nahm ihren gesenkten Kopf in beide Hände und hob ihn zu sich auf.
»Was ist dir, meine Lotte? Du siehst so – so förmlich geängstigt aus. Fürchtest du dich vor mir?«
Er flüsterte es kaum hörbar dicht an ihrem Ohr.
Lotte wehrte heftig ab.
»O nein, nein!«
Sie hob sich auf die Fußspitzen und küßte ihn auf die Backe.
Dann eilte sie die Treppe hinunter und zum Hause hinaus.
Draußen lief sie besinnungslos vorwärts ohne auf den Weg zu achten. Nur das Haus hinter sich haben, nur allein sein, sich klar werden über das, was er ihr gesagt hatte und das ihr wie ein Alp auf der Brust lag.
Erst als sie die Chaussee erreicht hatte mit den weiten, frosterstarrten, schneebedeckten Äckern zu beiden Seiten, als Conrad Eljes Blockhaus und die Arbeiterhäuser weit hinter ihr lagen, atmete sie auf und fing an, langsamer zu gehn. Trotz der scharfen Kälte war ihre Stirn schweißbedeckt.
Zu Haus wartete Christel, die schon wieder in der Schule gewesen war, mit dem Essen auf sie. Lotte rührte keinen Bissen an und schickte das Kind zur Wirtsfrau hinunter. Dann verriegelte sie ihre Kammer. Ihr ungeschultes Gehirn brauchte Ruhe und Zeit zum Denken. Nach und nach erst löste, entwirrte sich das Chaos, das Conrad Elje heute in ihr entfesselt hatte. Lotte seufzte schwer. Warum hatte er es getan? Warum mußte er auf diesen unseligen Gedanken kommen? Er war so lieb und gut mit ihr gewesen. Sie war ihm so von Herzen dankbar und zugetan, ja und sie hatte ihn auch lieb, wahrhaft lieb. Gern hatte sie ihm ihre Zärtlichkeiten geschenkt, seinen Liebkosungen sich hingegeben, die sie aufgerichtet hatten von der beschämenden Erniedrigung, die Fritz Herka ihr zugefügt, die sie hatten vergessen lassen, was ihr mit dem Geliebten verloren war. Aber das – was Conrad Elje heute gesagt – seine Frau werden, nein, das konnte sie nicht. Vor dem Leben, das er ihr geschildert hatte, graute ihr förmlich. Was andere jubelnd angenommen hätten, auch da, wo keine Neigung sie an den Mann gefesselt, schreckte sie ab. Vor der stillen, friedlichen Glückssicherheit, die er ihr geschildert, wich sie angstvoll zurück. Ein ganzes Leben lang an der Seite dieses Mannes Pflichten üben, denen sie nicht gewachsen war, ein Wohlleben genießen, nach dem sie nicht verlangte, ein Glück empfangen, das ihr keines war – nein, nein – das nicht – lieber zurück ins Elend, in die Schande. Aber was, da er einmal gesprochen, sollte werden? Was geschehen?
Ein Bild der Verzweiflung, saß sie da. Das wirre Blondhaar hing ihr um das erregte Gesicht, müde hielt sie die wundgerungenen Hände im Schoß. Sie konnte nicht, nein, sie konnte nicht! Nicht aus Pflichtgefühl gegen sich selbst und das Kind – nicht aus Dankbarkeit gegen ihn. Warum aber, warum konnte sie nicht nach dem greifen, was jeder andern ein großes, unverdient in den Schoß gefallenes Glück bedeutet hätte?
Plötzlich riß sie angstvoll die Augen weit auf und krampfte die Hände aufs neue ineinander. Wie ein Blitz war die grelle furchtbare Erkenntnis vor ihr aufgeleuchtet: sie konnte nicht, weil dies »Glück« sie für Zeit und Ewigkeit von Fritz Herka getrennt haben würde.
Gleich einem Wunder starrte Lotte diese Erkenntnis an. Nun war es endlich klar, ganz klar. Befreit atmete sie auf. War sie denn blind gewesen, blind und taub und fühllos zugleich, daß sie geglaubt hatte ihre Augen seien für anderes geschaffen, als für die Armut und die Not und die Häßlichkeit, in der ihre Liebe geboren und stark geworden war, daß sie gemeint hatte anderes hören zu können, als die Sprache, die Fritz Herka sprach, eine andere Luft atmen zu können, als die er selber atmete, anderes fühlen zu können, als die Liebkosungen, die er gab?
Fremd war ihr die Welt bisher geblieben, in die der andere sie hatte führen wollen, fremd würde sie ihr ewig bleiben. Sie war nicht für Schönheit und Wohlleben und die verfeinerten Sitten der Vornehmen gemacht, sie wollte es auch gar nicht sein, hatten sie und Conrad Elje dies kurze Zeit geglaubt, so hatten sie einander, so hatten sie sich selbst belogen.
Noch einmal atmete Lotte tief und befreit. Sie war der Lüge ledig und des Scheins, sie war wieder sie selbst. Fort mit dem Stolz und Trotz, der sie dazu getrieben in Conrad Eljes Liebe Aufrichtung zu suchen von dem, was Herka ihr angetan; fort mit der Scheinbildung, mit der sinnlosen Zugehörigkeit zu Dingen und Verhältnissen, die sie weder begreifen noch bewerten konnte; fort mit dem Tand, dem äußeren Zierrat, den diese Dinge und Verhältnisse ihr umgehängt.
Sie nahm die wenigen Schmuckstücke ab und warf sie auf den Tisch. Sie riß das Kleid auf und streifte es von den Schultern. Aus der Tiefe des alten Schrankes suchte sie mit fliegenden Händen den unscheinbaren Rock, die schlichte Blouse hervor, in denen sie Fritz Herka gedient, ihn geliebt hatte, in denen sie sie selbst, und trotz allem so unendlich glücklich gewesen war. Sie wollte es wieder sein. Alle Not, alle Entbehrungen, alle harte Arbeit, ja selbst die unausbleiblichen Mißhandlungen unter denen ihre Liebe so riesengroß geworden war, wollte sie wieder auf sich nehmen; nur heraus aus diesem schönen Schein, aus diesem frommen Wahn, die auf ihr lagen wie eine schwere, unerträgliche Last, die sie zu Boden drückte, sie zermalmte.
Draußen vom Kirchturm schlug es sechs Uhr.
Lotte fuhr zusammen. Wenn sie fort wollte, war es die höchste Zeit. In einer Stunde konnte Conrad Elje hier sein. Auge in Auge würde sie den Mut nicht finden ihm zu sagen, was sie ihm sagen mußte.
Sie riß ein Blatt aus Christels Schreibheft, das vor ihr auf dem Tisch lag. Ohne Besinnen schrieb sie mit fliegenden Händen:
»Lieber Conrad, verzeih mir, aber ich kann deine Frau nicht werden. Es wäre ein Unglück für mich und kein Glück für dich. Ich danke dir für alles, was du an mir und der Christel getan. Wir werden dir deine Guttaten nie vergessen. Lebe wohl und vergiß mich. Ich bin ein armes Mädchen wie tausend andere und gar nicht wert, daß ein Mann wie du mich lieb hat. Lotte.«
Sie ließ das Blatt offen liegen. Er würde es finden oder Christel würde es ihm geben. Jemand anders betrat die Kammer nicht.
Dann nahm sie das braune, verschlissene Tuch um, das sie seit ihrer Flucht von Fritz Herka nicht mehr getragen hatte, und schlich sich aus dem Hause. Langsam, vorsichtig spähend ob er, den sie niemals wiederzusehen hoffte, ihr nicht in den Weg kam, ging sie dicht an die Häuser gedrückt durch die engen Straßen der Stadt. Draußen auf freiem Felde erst fing sie zu laufen an wie ein tolles Kind, welches das Ziel des Weges nicht erwarten kann. Sie lief und lief, ohne inne zu halten, als ob sie all' die verlorenen Monde, Wochen, Tage, Stunden in einer einzigen halben wieder einholen müsse. Erst an dem roten Backsteintor, das den Eingang zu der Arbeiter-Colonie bildete, stand sie still. Sie strich das wirre Haar von den Schläfen und atmete ein paarmal tief auf. Aus allen Fenstern schimmerte rötlicher Lichtschein. Die Leute waren daheim und beim Nachtmahl. Auch er würde es sein. Die Türk würde ihn versorgt haben, wie sie es wohl die ganze Zeit über getan hatte, wenn nicht eine andere –!
Plötzlich war alle Freudigkeit in ihr ausgelöscht. Wenn das wäre, wenn das möglich wäre –! Und warum sollte es nicht – da sie selbst –! Rasch und elastisch richtete sie sich wieder auf.
Vor allem mußte Fritz Herka die Wahrheit hören über sie, aus ihrem eigenen Munde. Nahm er sie dann wieder an sein Herz, so hatte sie nichts zu verzeihen, zu vergessen. Sie blieb dann entweder fürs Leben seine Schulderin oder die Schuld des einen ging in der des andern auf.
Ohne Besinnen lief sie um zwanzig Schritte weiter vor das Haus, in dem Herka wohnte. Die Fenster waren hell, auf der Stiege alles still. Sie schlich sich herauf wie damals im Herbst, als sie hinter Conrad Else hergeschlichen war, aber sie blieb nicht feige zurück wie damals, sondern klinkte mit raschem Entschluß die Tür auf.
Herka saß am Tisch, der Tür gerade gegenüber. Vor ihm das unberührte Mahl. Ihm zur Seite auf der Tischecke stand die Lampe und beleuchtete ein verwüstetes, schmerzdurchwühltes Gesicht. Beim Klang der sich wieder schließenden Tür sprang er auf. Seine Augen weiteten sich, als ob sie ein Gespenst sähen. Er streckte beide Hände abwehrend gegen Lotte aus.
»Du?« Er preßte es zwischen den knirschenden Zähnen hervor – »Du? Was willst du bei mir? Hier ist kein Ort für Conrad Eljes Braut.«
Sie trat bis an die Kante des Tisches, hinter dem er stand.
»Was weißt du davon?« sagte sie fest und ruhig.
»Sie höhnen drüben auf den Werken. Irgend wer hat's heraus und herum gebracht.«
»Lass' sie höhnen – es ist nicht wahr.«
»Warum lügst du? Ich hab ihm gut aufgepaßt seitdem. Er ist in die Stadt hinunter, das Aufgebot zu bestellen.«
Wild brach der Haß aus seinen Augen.
»So wird er es wieder abbestellen, wenn er meinen Brief gelesen hat.«
Er trat hinter dem Tisch vor und packte sie bei den Händen.
»Welchen Brief?«
»Einen Brief, der ihm sagt, daß ich seine Frau nicht werden kann.«
Er stieß sie zurück, daß sie taumelte und lachte laut.
»Närrin, und du meinst wirklich, ich sollte das glauben –? Einen Conrad Elje schlägt kein Weib aus – am wenigsten ein armes Luder wie du.«
»Ich hab's getan,« sagte sie ruhig.
Mit einem einzigen großen Schritt war er wieder bei ihr. Er packte sie an den Schultern, er rüttelte sie und warf ihren zarten Körper zwischen seinen harten Fäusten hin und her.
»Halte mich nicht zum Narren, sprich die Wahrheit, Lotte – das tatest du? Und warum?«
»Weil ich dich liebe, Fritz Herka, und weil ich ohne dich nicht leben kann.«
Er brach vor ihr zusammen wie ein gefällter Stamm. Er verbarg das Gesicht in den Falten ihres ärmlichen Rockes und schluchzte laut. Dann sprang er auf und riß sie in seine Arme.
»Lotte, ein Hundsfott, der einem Weibe das vergißt!« Tränen rannen über sein Gesicht.
Sie lag in seinem Arm, von seinen rauhen Liebkosungen fast erstickt. Rings um sie her grinste die Arbeit, die Not, die Häßlichkeit. Sie aber lächelte selig in seine finsteren Augen hinein.